Die Sinne - unsere Fenster zur Welt
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1 1 Die Sinne – unsere Fenster zur Welt 1.1 Wahrnehmung findet im Gehirn statt – 2 1.1.1 Gefangen in der Maskenwelt – 2 1.1.2 Das Gehirn, das rätselhafte Organ der Wahrnehmung – 2 1.2 Wie kommt die Welt in unseren Kopf? – 4 1.2.1 Von der Sinneszelle zur Wahrnehmung – 4 1.2.2 Wahrnehmung ist ein Urteilsakt des Gehirns – 5 1.3 Sinneswelten – 6 1.3.1 Sinneswelt, die erste! – 6 1.3.2 Sinneswelt, die zweite! – 7 1.3.3 Sinneswelt, die dritte! – 8 1.4 Vom Sinn der Sinne – 9 S. Frings, F. Müller, Biologie der Sinne, DOI 10.1007/978-3-8274-2273-6_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
2 Kapitel 1 • Die Sinne – unsere Fenster zur Welt Nichts ist für uns normaler, als unsere Sinne jeder- aber die Ärzte meinten, das könnte sich nach einiger 1 zeit zu benutzen. Sie begleiten nicht nur unser Le- Zeit auch wieder legen. Sein Sehvermögen erholte ben, sie bestimmen es sogar wesentlich mit, denn sich nach und nach. In den Sehtests konnte er selbst alles, was wir wissen, alles, was wir erfahren haben, kleine Objekte und Buchstaben erkennen, konnte wurde uns von unseren Sinnen vermittelt. Unsere Farben unterscheiden und bewegten Objekten pro- Sinne funktionieren so effizient und schnell, dass wir blemlos mit den Augen folgen. Alles wäre normal uns normalerweise nie Gedanken darüber machen, erschienen, hätte sein Sehvermögen nicht bei einer wie sie ihre Aufgabe erledigen – und das heißt, wie ganz bestimmten Aufgabe versagt: Thomas Braun wir uns eigentlich in der Welt zurechtfinden. Und konnte keine Gesichter mehr erkennen. doch lohnt es sich, gerade darüber nachzudenken. Wenn eine Krankenschwester den Raum be- Gewinnen wir dabei doch weniger Erkenntnis über trat, wusste er nie, welche der Stationsschwestern es die Welt als vielmehr über uns selbst. Wie kommt war. Schlimmer noch: Er erkannte selbst die Men- das Wissen über die Welt in unseren Kopf? Welche schen nicht mehr, mit denen er seit vielen Jahren Sinne nutzen wir dafür? Wie funktionieren sie? Was aufs engste verbunden war: seine Frau und seine fängt unser Gehirn mit der Sinnesinformation an? beiden Töchter. Es wurde schnell klar, dass es sich Nach welchen Kriterien entscheidet es, was zu tun nicht um ein Gedächtnisproblem handelte. Thomas ist? Wie unterscheiden sich unsere Sinne von denen Braun hatte weder seine Familie noch seine Freun- der Tiere? Wenn Sie Antworten auf diese spannen- de vergessen. Er erkannte seine Frau, seine Töchter den Fragen möchten, folgen Sie uns auf eine Reise und Freunde an der Stimme, an bestimmten per- durch die Welt der Sinne. sönlichen Verhaltensweisen und Bewegungen oder auch an der Kleidung. Er erinnerte sich an alle Be- gebenheiten, die sie zusammen erlebt hatten. Er 1.1 Wahrnehmung findet im Gehirn sah Augen, Nase und Mund in ihren Gesichtern. Er statt sah, dass alle Menschen um ihn herum Gesichter hatten – aber diese Gesichter hatten ihre persön- 1.1.1 Gefangen in der Maskenwelt liche Individualität verloren. Sie waren nicht mehr identifizierbar – unpersönlich wie Masken. Ein Moment der Unachtsamkeit reichte, um das Leben von Thomas Braun radikal und für immer zu verändern. Es geschah auf der Baustelle, auf der 1.1.2 Das Gehirn, das rätselhafte Thomas Braun arbeitete. Die Ladung des Krans war Organ der Wahrnehmung schlecht gesichert und löste sich. Thomas Braun wurde durch einen herabstürzenden Balken getrof- Auch wenn die Geschichte unseres Herrn Braun fen, und sein Schutzhelm wurde heruntergerissen. erfunden ist, die Krankheit, Gesichter nicht erken- Bei dem Unfall verletzte sich Thomas Braun schwer nen zu können, existiert. Man spricht von Gesichts- am Kopf. Es kam zu Blutungen im Gehirn und zu blindheit oder Prosopagnosie (mehr dazu finden Schädigungen der Großhirnrinde im rechten und Sie in 7 Kap. 7 und 12). Sie kann wie in unserem linken Schläfenlappen. Als Thomas Braun nach lan- Beispiel nach Gehirnschädigungen auftreten, die ger Zeit das Bewusstsein wiedererlangte und seine durch Schlaganfälle, Tumore oder Verletzungen Frau an das Krankenbett trat, zögerte sie einen Mo- ausgelöst wurden. Wie kann man eine so unvor- ment, denn sie war sich nicht ganz sicher, was sie stellbare Krankheit erklären? Wie kann es sein, erwartete. Würde ihr Mann sprechen können, würde dass die Augen eines Menschen vollkommen per- er wissen, was passiert war? Was sie sofort irritierte, fekt funktionieren, er eine ganz normale Sehschärfe war, dass ihr Mann sie zwar ansah, aber keinerlei hat, problemlos lesen kann, Objekte des Alltags er- Reaktion zeigte. Erst als sie ihn ansprach, sagte er: kennt, ein Auto durch den Großstadtverkehr bewe- »Ach, Du bist es.« Im Gespräch zeigte er sich nicht gen kann, ohne einen Unfall zu verursachen, aber nur deprimiert, sondern auch etwas benommen. Er bei einer so »einfachen« Aufgabe versagt, das Ge- sähe alles irgendwie verschwommen und unklar, sicht eines Verwandten oder Bekannten zu erken-
1.1 • Wahrnehmung findet im Gehirn statt 3 1 . Abb. 1.1 Im Laufe unseres Lebens lernen wir Hunderte oder Tausende von Menschen kennen. Normalerweise fällt es uns leicht, jeden Einzelnen an seinem Gesicht zu erkennen. (privat und © Cheryl E. Davis/ shutterstock, © fotofrankyat/ photos. com, © olly/ fotolia.com, © Sutyagin/ shutterstock, © ForsterForest/ photos.com, © Anja Mataruga, Forschungszentrum Jülich) nen? Etwas, was wir alle ständig und »nebenbei« Gesichtern Probleme hatte, nicht aber bei anderen im Bruchteil einer Sekunde erledigen (. Abb. 1.1). visuellen Aufgaben, zeigt uns auch, dass Wahrneh- Die Antwort ist simpel: Die Aufgabe, Gesichter mungsprozesse auf verschiedenen Ebenen erfolgen. zu erkennen, ist alles andere als einfach. Bis heute Aber wie? Viele Menschen glauben, um sehen zu tun sich Computer schwer damit, Gesichter zu iden- können, würde es ausreichen, die Augen zu öffnen. tifizieren. Wenn wir das »so nebenbei erledigen«, Dann – so die Vorstellung – entsteht ein Bild der heißt das nicht, dass der Vorgang einfach ist. Es be- Umwelt auf der Netzhaut, wo es in Nervenimpulse deutet nur, dass die Vorgänge in unserem Gehirn, umgewandelt und über den Sehnerv an das Gehirn die unserer Wahrnehmung zugrunde liegen, im geschickt wird. Aus den Nervenimpulsen entsteht Normalfall so schnell und effizient erfolgen, dass wie auf einer Kinoleinwand ein neues Bild im Ge- wir sie nicht bemerken. In Wirklichkeit liegt dem hirn, das dann irgendwie analysiert wird. Dieses Erkennen von Gesichtern ein komplizierter Prozess Modell scheitert an einer einfachen Frage: Wer soll zugrunde, in dem eine Fülle von Informationen das Bild analysieren? Wir haben kein kleines Männ- ausgewertet werden muss. Uns wird erst dann klar, chen im Gehirn, das diese »Leinwand« betrachten dass es diesen neuronalen Auswerteprozess geben könnte. Und wäre dies der Fall, dann würden wir das muss, wenn er ausgefallen oder gestört ist und das Problem der Bildanalyse von unserem Sehsystem le- Gesichtererkennen nicht mehr funktioniert – so wie diglich in das Sehsystem des Männchens verlagern. im Fall von Thomas Braun. Die Tatsache, dass Tho- Nein, Sehen erfolgt anders, und der Weg vom Licht- mas Braun sehr spezifisch nur beim Erkennen von reiz zur Wahrnehmung ist kompliziert.
4 Kapitel 1 • Die Sinne – unsere Fenster zur Welt Das Gehirn muss beim Sehen eine gigantische miteinander kommunizieren. Dies funktioniert im 1 Informationsflut bearbeiten. Auf der Netzhaut Prinzip ähnlich wie die Kommunikation zwischen entsteht ein komplexes Mosaik aus Millionen von Menschen. Bildpunkten, und das Gehirn muss herausfinden, Nehmen wir an, wir möchten einen Freund welche der Mosaikbausteine zueinander gehören wissen lassen, was auf einem bestimmten Bild zu und ein Objekt ergeben. Das Gehirn muss Größe, sehen ist, können ihm aber keine Kopie davon schi- Form und Farbe von Bildpunkten, ihre Lage, Ent- cken. Kein Problem, für solche Zwecke haben wir fernung und Bewegung relativ zueinander und zu die Sprache entwickelt. Wenn wir ihm das Bild am uns auswerten. Weil diese Auswertung so komplex Telefon oder in einem Brief beschreiben, kann er ist, haben sich verschiedene Gehirnareale darauf sich eine Vorstellung davon machen, was darauf spezialisiert, jeweils nur bestimmte Aspekte unse- zu sehen ist. Wir verwenden dazu einen Code, die rer Umwelt zu bearbeiten: Farbe, Bewegung, Ob- Sprache. Die Elemente dieses Codes, die einzelnen jekte oder Gesichter. Wörter, haben keinerlei Ähnlichkeit mit den Ob- Die Tatsache, dass Gesichter eine besondere jekten auf dem Bild. Es sind lediglich Symbole da- Stellung im Katalog der Objekte einnehmen, denen für. Wir codieren die Information, der Empfänger wir im Alltag begegnen, ist leicht verständlich. decodiert sie wieder. Eine ähnliche Codierungs- Wir sind soziale Lebewesen und leben mit ande- arbeit leisten auch unsere Sinne. Sie benutzen zwar ren Menschen in einer Gemeinschaft zusammen. keine Worte, aber dafür einen anderen Code, den Es sind die Gesichter, die andere Individuen ein- des Nervensystems. Die Aufgabe des Gehirns be- deutig erkennbar machen. In der Entwicklung der steht darin, diesen Code zu decodieren und die In- Menschheit wurde es deshalb besonders wichtig, formation herauszulesen. Gesichter erkennen und analysieren zu können. Um zu verstehen, was unserer Wahrnehmung Durch das Gesichtererkennen konnten unsere Vor- zugrunde liegt, müssen wir also ganz am Anfang fahren Mitglieder der eigenen Gruppe von Frem- anfangen – bei den Sinneszellen in unseren Au- den unterscheiden – Freund von Feind. Das blitz- gen, Nasen und Ohren. Wir wollen in diesem Buch schnelle Erkennen des Gesichtsausdrucks konnte zeigen, wie Sinnes- und Nervenzellen funktionie- lebensrettend sein, wenn man der Attacke eines ren, wie Sinneszellen auf Reize reagieren und sie aggressiv dreinblickenden Zeitgenossen rechtzei- in die Sprache des Nervensystems übersetzen. Wir tig aus dem Weg gehen wollte. Es wundert deshalb werden uns ansehen, wie die Information in das nicht, dass Teile unseres Gehirns sich besonders Gehirn weitergeleitet wird, wie sie dort analysiert der Aufgabe widmeten, Gesichter und Mimik zu und verarbeitet wird. Schon jetzt müssen wir Sie erkennen. Bei Thomas Brauns Unfall wurde ein Teil vorwarnen, denn das, was Sie dabei entdecken dieser Auswertemaschinerie in seinem Gehirn zer- werden, könnte Sie irritieren: Ihre Sinnesorgane stört. So kam es zu diesem charakteristischen, sehr sind alles andere als nüchterne und neutrale Be- selektiven Funktionsausfall, der Prosopagnosie. obachter, deren Ziel es ist, Ihnen die Wirklichkeit objektiv und genau zu präsentieren. Vielmehr führt die Arbeitsweise Ihrer Sinnes- und Nerven- 1.2 Wie kommt die Welt in unseren zellen dazu, dass Ihr Gehirn Sie anlügt, immer und Kopf? immer wieder. Es lügt Sie an, um Ihnen genau die Information zu geben, die Sie in einer bestimm- 1.2.1 Von der Sinneszelle zur ten Situation brauchen. Dies mag zunächst wider- Wahrnehmung sprüchlich oder verwirrend klingen. Keine Sorge, der scheinbare Widerspruch wird sich auflösen, Um zu verstehen, was bei Menschen wie Thomas wenn wir uns in den folgenden Kapiteln ansehen, Braun passiert, müssen wir wissen, mit welcher wie die Evolution die Arbeitsweise unserer Sinne Art von Information unsere Sinnesorgane das Ge- formte und warum sie deshalb so und nicht anders hirn versorgen und wie verschiedene Gehirnareale funktionieren.
1.2 • Wie kommt die Welt in unseren Kopf? 5 1 A A B B . Abb. 1.2 Der Necker-Würfel ist eine sogenannte Kippfigur. Unser Gehirn kann seine dreidimensionale Struktur auf mehrere Arten interpretieren. Da es sich nicht entscheiden kann, ändert es immer wieder, meist im Abstand von mehreren Sekunden, seine Interpretation. Dabei kippt jedes Mal unsere Wahrnehmung. Wahrnehmung ist ein Entscheidungsakt des Gehirns. (© Anja Mataruga, Forschungszentrum Jülich) 1.2.2 Wahrnehmung ist ein Urteilsakt lysiert die Daten, die unsere Augen liefern, und des Gehirns interpretiert sie. Es fällt aufgrund der unzureichen- den Datenlage das Urteil, dass Ecke A hinten ist. Aber allein das Studium der Sinnes- und Nerven- Genau so nehmen wir den Würfel auch wahr. Dann zellen und das Entschlüsseln eines Codes reichen analysiert es die Daten erneut und fällt ein ande- nicht aus, um Wahrnehmung zu verstehen. Wir res Urteil: Es könnte auch Ecke B hinten sein. Und müssen auch die Seite des Empfängers betrach- schon hat sich unsere Wahrnehmung verändert! ten, denn Wahrnehmung ist viel mehr als nur eine Diese »Urteilsverkündungen« wiederholen sich Reaktion auf einen Sinnesreiz. Jedes Mal, wenn immer wieder, oft im Takt von etwa drei Sekunden. der Arzt mit seinem Hämmerchen auf die Sehne Blinzeln mit den Augen oder eine Augenbewegung unterhalb unserer Kniescheibe schlägt, schnellt der können das Fällen eines neuen Urteils auslösen. Unterschenkel reflektorisch nach vorn. Dieser Pa- Wir wollen dieses Phänomen an dieser Stelle tellarsehnenreflex ist eine einfache Reaktion unse- nicht weiter ergründen, sondern nur zwei wich- res Nervensystems auf einen Sinnesreiz – gleicher tige Tatsachen festhalten: Der eigentliche Sinnes- Reiz, gleiche Reaktion. Wäre Wahrnehmung eben- reiz ändert sich nicht – trotzdem kippt jedes Mal falls nur eine einfache Reaktion, müsste ein gleich unsere Wahrnehmung zugunsten des neu gefällten bleibender Reiz auch immer die gleiche Wahrneh- Urteils. Selbst bei einem so einfachen Objekt wie mung auslösen. Dies ist aber nicht der Fall, wie dem Necker-Würfel hängt unsere Wahrnehmung . Abb. 1.2 zeigt. entscheidend davon ab, wie unser Gehirn die Daten Der in . Abb. 1.2 dargestellte schematische interpretiert. Wir können also erwarten, dass bei Würfel wird auch Necker-Würfel genannt. Der komplexeren Objekten und Ereignissen die Wahr- Schweizer Kristallograf Louis Albert Necker de nehmung noch stärker von der Interpretation Saussure entdeckte ein interessantes Phänomen, durch unser Gehirn abhängen wird. Und: Zu jedem als er Kristalle studierte. Schauen Sie diesen Wür- Zeitpunkt können wir den Würfel nur auf die eine fel eine Zeit lang ganz ruhig an. Die meisten Be- oder die andere Weise sehen. Ein Urteil schließt das trachter können die dreidimensionale Struktur des andere in der Wahrnehmung aus. Wahrnehmung Würfels auf zwei Arten wahrnehmen: entweder so, ist ein Entscheidungsakt des Gehirns. dass die Ecke A nach hinten zeigt (wie in der mitt- Lassen Sie uns nun nach diesen einleitenden leren Abbildung), oder so, dass die Ecke B hinten Gedanken gemeinsam aufbrechen zu unserer Reise ist (rechte Abbildung). Dabei springt die Wahrneh- durch die faszinierende Welt der Sinne. Wir begin- mung zwischen diesen möglichen Zuständen hin nen unsere Reise in einem Einfamilienhaus in einer und her. Die Information in der linken Abbildung kleinen Vorstadtsiedlung. Hier schauen wir uns zu- reicht nicht aus, um die Ausrichtung des Würfels nächst einmal an, wozu Sinnesorgane fähig sind. im Raum eindeutig festzulegen. Das Gehirn ana-
6 Kapitel 1 • Die Sinne – unsere Fenster zur Welt 1.3 Sinneswelten staunliche Leistungen. Und schließlich erfordert das 1 Lesen des Kochrezepts die scharfe Abbildung der 1.3.1 Sinneswelt, die erste! Buchstaben auf der Netzhaut des Auges, die Ana- lyse ihrer komplexen Formen und ihrer Abfolge, den Hans Schneider stellt gerade die Sinfonie etwas Vergleich mit gespeicherten Buchstabenfolgen usw. lauter. Diese Stelle, an der die Holzbläser einset- So wichtig all diese Schritte für das Ehepaar zen und das Thema von Dur nach Moll wechselt, Schneider sein mögen, um sich auf ihr Abendessen liebt er besonders. Er schwenkt ein großvolumi- vorzubereiten, so eindrucksvoll die Leistung auch ges Glas mit Rotwein, bevor er es prüfend gegen anmutet – sie hat nichts mit der ursprünglichen bio- das Licht hält. »Was für ein Rot!«, murmelt er. Er logischen Funktion der Sinne zu tun. Unsere Sinnes- führt die Nase dicht über das Glas und atmet tief organe wurden nicht dazu entwickelt, einen Pinot ein (. Abb. 1.3), bevor er einen Schluck von dem Noir von einem Cabernet Sauvignon zu unterschei- Rotwein nimmt und ihn vorsichtig im Mund hin- den oder beim Klang einer Mozartsinfonie alles um und herbewegt. Dann atmet er langsam durch die uns herum zu vergessen. Natürlich ist es wunder- Nase aus, hält kurz inne und lässt den Wein in klei- bar, dass wir all das können, und es zeugt von der nen Schlucken die Kehle hinunterrinnen. »Dieser enormen Leistungsfähigkeit unserer Sinne, aber da- Cabernet Sauvignon ist viel besser als der letzte! für war das Ganze nie gedacht. Alle Organismen auf Dieser fruchtige Körper! Ich erkenne schwarze Jo- unserer Erde, auch wir, sind das Produkt einer lan- hannisbeere, Heidelbeere und einen Anklang von gen Evolution. Über viele Millionen von Jahren hin- Erdbeere«, sagt er mit Kennermiene. »Angenehmer weg entwickelten die Organismen Sinnesorgane zu Abgang, wenig Säure, ideal zu Fleisch und den Ros- einem einzigen Zweck – um die Überlebenschancen marinkartoffeln!« Seine Frau Claudia schmunzelt. des Organismus und seiner Art zu verbessern. Über- Das teure Weinkundeseminar blieb anscheinend leben heißt auf den Punkt gebracht: Nahrung, Ge- nicht ohne Auswirkungen. »Ich bin gleich so weit«, fahrenquellen und Fortpflanzungspartner erkennen sagt sie, überfliegt schnell das Rezept und gibt dann zu können und mit dem entsprechenden Verhalten noch etwas Cognac und eine Prise Cayennepfeffer darauf zu reagieren. In unserer hochtechnisierten an die Sauce. Als sie die Schüssel mit den Kartoffeln und weitgehend abgesicherten Welt klingt so eine anfasst, murmelt sie: »Aber die müssen noch mal in Aussage vielleicht unangemessen, und manchem die Mikrowelle, die sind kalt geworden.« »vergeistigten« Zeitgenossen erscheint sie mögli- Ist das nicht eine eindrucksvolle Demonstration cherweise auch »zu biologisch«. Dennoch entspricht menschlicher Sinnesleistung? Das Gehör kann nicht sie der Wahrheit. Wir modernen Menschen haben nur die verschiedenen Instrumente eines Sinfonieor- unsere Sinne von unseren wilden Ahnen geerbt, und chesters identifizieren. Es erkennt aus ihrem Zusam- die sogenannten Naturvölker setzen sie auch heute menklang auch komplexe Harmonien, die in uns noch für die gleichen Zwecke ein wie unsere Vor- Gefühle von Glück, aber auch Melancholie auslösen fahren vor Tausenden von Jahren. können. Die Temperatur der Speisen wird schnell Wir Angehörigen der westlichen Zivilisationen abgeschätzt, indem man mit der Hand die Schüssel leben in einer hochtechnisierten Umwelt und nutzen berührt. Für die Sauce werden die Aromen eines Co- unsere Sinne meist für Zwecke, die wenig mit der ur- gnacs raffiniert mit duftenden Kräutern und Gewür- sprünglichen biologischen Funktion zu tun haben. zen kombiniert. Als besonderer »Nervenkitzel« dient Wir müssen keine wilden Löwen mehr erspähen, die die Prise einer Substanz, die Schmerzzellen in der sich im hohen Gras verstecken. Stattdessen starren Mundhöhle reizt (es handelt sich dabei um das Cap- viele von uns stundenlang auf Computermonitore. saicin aus dem Cayennepfeffer). Der Geschmacks- Wir müssen nicht mehr all unsere Sinne aufbieten, und der Geruchssinn werden kombiniert, um das um unsere Nahrung mühsam im Wald zu suchen Bouquet aus Hunderten von Inhaltsstoffen in zwei – wir finden sie sorgsam aufgereiht im Supermarkt- verschiedenen Weinen zu vergleichen – wobei das regal. Aber trotzdem funktionieren auch bei uns die Aroma einer der beiden Flaschen nur noch aus der Sinne noch genauso wie vor einer Million Jahren, Erinnerung heraus abgerufen werden kann! In der als sie unseren Vorfahren halfen, in der Wildnis zu Tat erbringen professionelle Weinverkoster dabei er- überleben. Wenn wir verstehen wollen, wie unsere
1.3 • Sinneswelten 7 1 . Abb. 1.4 Die Jagd einer Katze ist nur erfolgreich, wenn alle ihre Sinnesorgane perfekt zusammenarbeiten. Ein Jagdtier schöpft alle Möglichkeiten seines hochentwickelten Sinnesapparats aus. (© Nadine Haase/ fotolia.com) dem Hintergrund verwirrender Düfte, dem inten- siven Geruch des Bodens und den unterschiedlich duftenden Blüten isoliert ihr Riechsystem eine eindeutige Geruchsnote. Eine Maus ist hier vor Kurzem entlang gehuscht. Die Katze bleibt stehen und hebt den Kopf. Ihre Vorderpfoten ruhen mit ihren samtweichen Ballen auf der Erde. Da! Die Tastsinneszellen in den Pfoten haben eine für uns unmerkliche Vibration des Bodens erspürt, die an- . Abb. 1.3 Bei der Analyse komplexer Aromen, wie man zeigt, dass sich ein kleines Tier in der Nähe bewegt. sie z. B. im Wein findet, erbringt unser Riechsystem erstaun- liche Leistungen. (© Kzenon/ fotolia.com) Das könnte die Maus sein! Die Ohren der Katze stellen sich auf. Sie sind beweglich, und die Katze dreht sie nach verschiedenen Richtungen, während Sinne funktionieren, dann dürfen wir also ihre bio- ihr hochempfindliches Gehör die Geräusche der logische Funktion nie außer Acht lassen. Denn die Umgebung aufnimmt. In ihrem Gehirn ist ein be- ursprüngliche Aufgabe der Sinne, unser Überleben stimmter Bereich jetzt besonders aktiv. Er verarbei- zu sichern, bestimmt auch heute noch, was wir wahr- tet die akustische Information, die von den Ohren nehmen und wie wir es wahrnehmen. Dies werden geliefert wird. Nun ein Rascheln! Das Orten einer wir im Laufe des Buches immer wieder sehen. Schallquelle ist eine der wichtigsten Aufgaben des Wenn wir nun einen realistischen Eindruck da- Gehörs. Das Hörsystem der Katze bestimmt dazu von erhalten wollen, wozu Sinne entwickelt wurden die Zeitdifferenz, die zwischen dem Auftreffen des und wozu sie in der Lage sind, folgen wir doch der Geräuschs am linken und am rechten Ohr liegt. Die Katze der Familie Schneider, die mangels Interesse Auswertung ergibt, dass das Geräusch von rechts an Weindegustation und Haute Cuisine in den Gar- vorn kommt. Die Information, wo die Geräusch- ten geflüchtet ist. quelle zu suchen ist, wird an andere Gehirnteile weitergeleitet, die nun die Regie übernehmen. Sie steuern die Muskeln, die den Kopf der Katze präzi- 1.3.2 Sinneswelt, die zweite! se in die entsprechende Richtung drehen. Die Katze blickt nun konzentriert in die Rich- Während die Katze durch das hohe Gras schleicht, tung, aus der das Geräusch gekommen ist. Auf dem wird sie plötzlich hellwach (. Abb. 1.4). Ihre Nase dunklen Boden und zwischen verwelkten Blättern hat eine Witterung aufgenommen. Schnuppernd ist die Maus gut getarnt (. Abb. 1.5), aber irgend- fährt sie mit der Nasenspitze über den Boden. Vor wann muss sie sich bewegen. Bewegung zu erken-
8 Kapitel 1 • Die Sinne – unsere Fenster zur Welt 1 . Abb. 1.6 Um an das Blut ihrer Beute zu gelangen, brauchen Zecken nur wenige Verhaltensschritte, die von . Abb. 1.5 Die Maus ist aufgrund ihrer Fellfarbe gut ge- einem Minimum an Information ausgelöst werden. Dement- tarnt. Man erkennt sie erst auf den zweiten Blick, oder wenn sprechend benötigen Zecken nur einen einfachen Sinnes- sie sich bewegt. Bei allen Tieren sind die Sehsysteme darauf apparat. Große Augen, die gutes Sehen ermöglichen, sucht ausgelegt, Bewegung zu detektieren. (© elvira gerecht/ man deshalb bei Zecken vergeblich. (© Erik Leist, Universität fotolia.com) Heidelberg) nen – genau dafür sind die Sehsysteme aller Tiere (und natürlich auch unser eigenes) optimiert. Denn des Gehirns weitergeleitet, die die Bewegung der Bewegung heißt entweder Futter oder Feind. Es ist Katze beim Angriff steuern. Die Katze muss mit der für das Überleben unerlässlich, beides schnell zu richtigen Kraft springen, sonst wird der Sprung zu erkennen. Blitzschnell richten sich die Augen der kurz oder zu weit und gibt der Maus die Chance zu Katze auf das sich bewegende Objekt aus. Es wird entkommen. Das Gehirn der Katze programmiert nun auf den zentralen Teil der Netzhaut abgebil- die Nervenbahnen vor, die die Muskeln steuern – det, mit dem die Katze am schärfsten sieht. Wenn dann springt sie. Die Maus hat keine Chance. Die die Maus sich bewegt, drehen kleine Muskeln die Krallen der Katzenpfote bohren sich durch das Fell Augen der Katze so, dass sie die ganze Zeit auf die der Maus, die Katze landet auf ihr und beginnt nach Maus gerichtet bleiben. Das Sehsystem analysiert kurzem Beschnuppern genüsslich, an ihrer Beute Form, Farbe und Größe des Objekts. Das Ergebnis zu lecken. Geruch und Geschmack der toten Maus passt zu den abgespeicherten Parametern für das lösen schnell Verdauungsreflexe aus. Die Sekretion Objekt »Maus« in der Kategorie »Gaumenkitzel«. von Speichel und Magensäure steigt sprunghaft Hochaktiv ist gleichzeitig aber auch ein ande- an. Und während sich die Katze mit ihrer erlegten rer Gehirnteil der Katze. Er ist dafür zuständig, die Beute beschäftigt, kommt gänzlich unbemerkt der Informationen aus zwei verschiedenen Sinnen ab- letzte Akteur dieser Gartenszene ins Spiel. zugleichen: die akustische Ortung der Schallquelle und die visuelle Lokalisation der sich bewegenden Maus. Die Analyse ist schnell und lässt keinen 1.3.3 Sinneswelt, die dritte! Zweifel: Geräuschquelle und Maus sind an dersel- ben Stelle! Nun muss das Ergreifen der Beute einge- Eine Zecke (. Abb. 1.6) hat sich vor Tagen auf einem leitet werden. Da beide Augen der Katze nach vorn hohen Halm in dem Grasbüschel niedergelassen, gerichtet sind, überlappen sich ihre Gesichtsfelder neben dem jetzt die Katze liegt. Seit dieser Zeit hat weitgehend. Aufgrund der verschiedenen Augen- sich die Zecke nicht bewegt. Lediglich die vorde- positionen ergeben sich jedoch winzige Unter- ren ihrer acht Beine sind langsam hin- und herge- schiede in den Bildern, die die beiden Augen auf- schwungen. An diesen Beinen sitzt die »Nase« der nehmen. Das Sehsystem der Katze kann aus diesen Zecke in Form grubenartiger Organe. Die Zecken- Unterschieden die Entfernung der Maus berech- nase reagiert nur auf eine kleine Auswahl chemi- nen. Diese Information wird an andere Bereiche scher Substanzen, wie sie im Stoffwechsel der Tiere
1.4 • Vom Sinn der Sinne 9 1 entstehen, die die Zecke zum Überleben braucht: Kohlendioxid, Ammoniak, Milchsäure und But- tersäure. Sobald unsere Zecke diese Substanzen in der Luft bemerkt, wird sie aktiv. Sie tastet nach der Duftquelle, registriert die Wärme des Katzen- körpers, lässt den Grashalm los, erwischt ein Kat- zenhaar und klammert sich fest. Im Fell der Katze wird dann der zweite Verhaltensschritt eingeleitet. Wieder sitzen die dafür nötigen Sinnesorgane an den Zeckenbeinen, damit sie die Beschaffenheit der Haut des Opfers registrieren können. Und dort, wo die Haut dünn, warm und feucht ist, bohrt die Ze- cke ihren Stechapparat durch die Haut der Katze, . Abb. 1.7 Ein Gepard erreicht bei der Jagd kurzfristig Ge- um Blut zu saugen. schwindigkeiten von 100 km pro Stunde. Die Jagd kann nur erfolgreich sein, wenn die Sinne und das Nervensystem des Gepards mit absoluter Präzision und höchster Geschwindig- 1.4 Vom Sinn der Sinne keit arbeiten. (© beckmarkwith/ fotolia.com) Anhand von zwei Beispielen haben wir gesehen, ausgelegt als das der Katze. Zecken reagieren auf wie die Sinne Aufgaben meistern, für die sie ur- Vibrationen, die durch die Bewegung ihrer Wirte sprünglich entwickelt wurden. Bei der Katze finden ausgelöst werden, auf wenige chemische Schlüs- wir den komplexen Sinnesapparat eines hochentwi- selreize und auf Körperwärme. Um ihr Überleben ckelten jagenden Säugetieres – spezialisiert darauf, und das Überleben ihrer Art zu sichern, braucht Beute aufzuspüren, zu lokalisieren und mit perfekt die Zecke nicht viel mehr, als sich vom Blut eines kontrolliertem Jagdverhalten zu erbeuten. Es ist Wirtes zu ernähren und sich mit anderen Zecken interessant, einen Schleichräuber wie die Katze zu fortzupflanzen. Genau deshalb hat sie auch nur beobachten. Noch faszinierender wird es, wenn wir dafür Sinne entwickelt. Die Farbe des Himmels, einem schnellen Jäger zuschauen. Die Sinnesleis- die detaillierte Beschaffenheit der Umgebung und tung, die ein Gepard erbringen muss, um mit der auch das Aussehen des Wirtes sind für die Zecke Geschwindigkeit von 100 km pro Stunde eine Ga- vollkommen irrelevant. Stünde ihr dafür ein kom- zelle zu erjagen, ist kaum vorstellbar (. Abb. 1.7). plexes Sehsystem wie das der Katze zur Verfügung, Das Sinnes- und Nervensystem der Katze ist wäre das reine Verschwendung. Die Unterhaltung ein hochentwickelter und leistungsfähiger Appa- eines Organs kostet den Organismus Energie und rat. Er nimmt die unterschiedlichsten Reize auf Ressourcen, die in diesem Falle anderswo, etwa in und wertet sie aus, wobei er die Information ver- Fortpflanzungsorganen, gewinnbringender einge- schiedener Sinne geschickt kombiniert. Jedes Teil- setzt werden können. Viele Zeckenarten sind in der ergebnis wird gebraucht, um den nächsten Schritt Tat blind oder besitzen lediglich einfache Augen, im Verhalten des Tieres zu steuern. Der Vergleich die bestenfalls Licht und Schatten unterscheiden zwischen Zecke und Katze macht eines klar: Ver- können. Die Sinneswelten von Katze und Zecke schiedene Organismen sind sehr unterschiedlich sind also extrem unterschiedlich. mit Sinnesapparaten ausgestattet. Die Sinneswelt Ein Organismus ist somit nicht dann optimal einer Zecke erscheint im Vergleich zum Säugetier mit Sinnesorganen ausgestattet, wenn er die emp- geradezu minimalistisch. Das Verhaltensrepertoire findlichsten Sinneszellen und die genauesten Aus- der Zecke ist viel einfacher als das eines Säuge- werteapparate besitzt, sondern wenn sein Überle- tieres. Für den Erfolg der Zecke ist es nicht not- ben am besten gesichert ist! Immer geht es beim wendig, den Ort des Opfers und seine Entfernung Überleben um zwei Aspekte: zum einen um das zur Zecke exakt zu bestimmen. Dementsprechend eigene Überleben (»Fressen und nicht selbst ge- ist das Sinnessystem einer Zecke gänzlich anders fressen werden«) und zum anderen um die Er-
10 Kapitel 1 • Die Sinne – unsere Fenster zur Welt haltung der Art (»Fortpflanzung ja oder nein«). 1 Genau dafür wurden die Sinne entwickelt. Diesen Zusammenhang dürfen wir beim Studium der Sin- ne nie aus den Augen lassen, auch nicht, wenn es um unsere eigene Wahrnehmung geht. Im folgenden Kapitel wollen wir genauer be- trachten, wie es zur Entwicklung der Sinne – nicht zuletzt auch der menschlichen Sinne – kam.
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