Anja Hertel: Ein Blitz aus heiterem Himmel. Wie eine gemalte Landschaft bei Wolfgang Mattheuer zur politischen Chiffre wird.

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Anja Hertel: Ein Blitz aus heiterem Himmel. Wie eine gemalte Landschaft bei Wolfgang Mattheuer zur politischen Chiffre wird.
Anja Hertel: Ein Blitz aus heiterem
                 Himmel. Wie eine gemalte
                 Landschaft bei Wolfgang Mattheuer
                 zur politischen Chiffre wird.

                 In: Marcus Böick, Anja Hertel, Franziska Kuschel
                 (Hg.): Aus einem Land vor unserer Zeit. Eine
                 Lesereise durch die DDR-Geschichte.
                 Berlin: Metropol 2012, S. 93 – 102.

© 2021 Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
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Anja H er tel

Ein Blitz aus heiterem Himmel
Wie eine gemalte Landschaft bei Wolfgang Mattheuer zur
politischen Chiffre wird

Ein Gemälde zeigt folgende Szenerie: Auf einer spiegelnden Wasserflä-
che schwimmt eine kleine Insel wie ein Stück Holz. Wenige Menschen
sind darauf versammelt. In einem Durcheinander von Müll und Satelli-
tenschüsseln verharren die Personen in ratloser Haltung. Sie schauen mit
verschränkten oder hängenden Armen auf das Meer hinaus, einer hockt
resigniert auf dem Boden, ein weiterer liegt mit ausgebreiteten Armen,
reglos. Kinder, Erwachsene und Alte sind dargestellt, ein Arbeiter und
eine Ärztin. Die Insel schwimmt ohne Haus, Baum und Lebensraum.
Nur ein Berg alten Metalls droht, in den Ozean zu rutschen. Die Enge,
die die Menschen empfinden müssen, spricht deutlich aus dem Bild.
Und in der Ferne, links am oberen Bildrand, schiebt sich eine schwarze,
dichte und bedrohliche Wolkenfront heran. Ein Blitz zuckt daraus her-
vor. Unablässig nähert sich das Gewitter der winzigen Insel, auf der sich
die Menschen drängen. Ihnen bleibt kein Handlungsraum, keine Mög-
lichkeit. Die Lage scheint aussichtslos. Es bleibt nur die eine Frage: „Was
nun?“
     Der Inhalt des beschriebenen Bildes lässt sich zunächst ohne Kontext
leicht interpretieren: Hier geht es um eine Gruppe von Inselgefangenen,
die weder den Raum noch das Material besitzen, um sich vor einem heran-
nahenden Gewitter zu schützen. Sie sind ihm ausgeliefert. Die Menschen
können nichts tun. Sie verharren in stiller Erwartung. Hier wird ein Gefühl
veranschaulicht, eine kollektive Befindlichkeit: Hilf- und ratlos verharren
die Figuren im Angesicht einer bedrohlichen Situation.
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     Wolfgang Mattheuer: Was nun?, 1980, Öl auf Hartfaser, 100 x 125 cm,
     Museum Ludwig, Köln. Galerie Schwind Leipzig. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

          Bei dem vorgestellten Gemälde handelt es sich um die Bildtafel „Was
     nun? “, die der Leipziger Maler und Grafiker Wolfgang Mattheuer 1980
     geschaffen hatte. Mattheuer war einer der bekanntesten Künstler der DDR
     und wurde geschätzt für seine ambivalenten Bildfindungen und deren viel-
     deutige symbolische Bezüge. 1927 im vogtländischen Reichenbach gebo-
     ren, studierte er bis 1948 in Leipzig Buchgrafik und Illustration. 1953 wurde
     er Assistent an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig,
     1956 Dozent, 1965 Professor. Er begründete zusammen mit Werner Tübke
     und Bernhard Heisig die „Leipziger Schule“. Seine Professur legte er 1974
     nieder. Im gleichen Jahr ging sein Name durch die Presse der DDR, als das
     Albertinum in Dresden sein Werk den Gemälden des berühmten Roman-
     tikers Caspar David Friedrich vergleichend gegenüberstellte. 1977 machte
     er sich auch in Westdeutschland einen Namen, als sechs seiner Werke zur
     documenta 6 in Kassel ausgestellt wurden. Im gleichen Jahr folgte die erste
     Einzelausstellung in Hamburg.
          Freunde und Zeitgenossen charakterisierten Mattheuer als scharfen
     Kritiker, der kein Blatt vor den Mund nahm, aber auch als introvertierten
Ein Blitz aus heiterem Himmel                               95

Zweifler und konsequenten Verteidiger menschlicher Werte. Seinen Gedan-
ken und Meinungen verlieh er in Wort und Bild Ausdruck: „Ich […] suche
das Heutige, das Problematische, das Wesentliche“,1 lautete ein viel zitierter
Leitsatz des Künstlers. Dabei spielten für ihn philosophische Fragen ebenso
eine Rolle wie die gesellschaftlichen und politischen Themen der DDR. Und
dafür fand er Gleichnisse: Wie ein politischer Liedermacher ersann er Bild-
chiffren, um einen abstrakten Gedanken oder eine Idee zu veranschaulichen.
Mit berühmten Gemälden wie „Die Flucht des Sisyphos“ oder „Hinter den
sieben Bergen“ klagte der Künstler in den Siebzigerjahren gesellschaftliches
und menschliches Fehlverhalten an. Nicht selten war der Realsozialismus
Ziel seiner Mahnungen. Er wollte das Bestehende verändern. Die Hoff-
nung auf einen demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz gab
er trotz wachsender Resignation bis in die späten Siebzigerjahre nicht auf.
Allein: Die DDR konnte seinen hohen Erwartungen nicht gerecht werden.
     „Was nun?“ ist eines der bekannten Gemälde des Künstlers. Eine Insel-
gesellschaft, deren Handlungsraum auf ein Minimum begrenzt ist, wird
von einem Unwetter heimgesucht. Resignation macht sich breit. Hier ist die
Geschichte einer unsicheren, möglicherweise problematischen und gefähr-
lichen Lage bildhaft veranschaulicht. Was oben noch allgemein gedeutet
wurde, soll nun konkret werden: Was beabsichtigte der Künstler mit dem
Gemälde? Vor welchem Hintergrund entstand es, wie ist es zu deuten? Wie
wurde es rezipiert? Der Beitrag soll aus einer kunstikonologischen Perspek-
tive zeigen, wie mittels Malerei politische Fragen thematisiert, reflektiert und
in einer spezifischen Bildsprache zum Ausdruck gebracht werden konnten.

Die Bildidee

Die ursprüngliche Idee für das Bild entstand bei einem alltäglichen Spazier-
gang des Künstlers durch das heimatliche Vogtland. Mattheuer war ein poli-
tischer Mensch, ein scharfer Denker und hehrer Kritiker. Auf der anderen
Seite liebte er die Natur und die Landschaft, ganz besonders die seiner Hei-

1   Ulrich Berkes, „… suche das Heutige, Problematische, Wesentliche“. Interview mit
    Wolfgang Mattheuer, in: Leipziger Volkszeitung vom 15. 8. 1973, S. 6.
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     mat im mitteldeutschen Dreiländereck. Hier besaß er ein Sommerhaus, in
     das er sich mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Ursula Mattheuer-Neustädt,
     gern zurückzog. Er schrieb poetische Zeilen über seine Natureindrücke und
     fertigte unzählige Zeichnungen und Ölstudien der Landschaft an. Darin fing
     er diffizile Stimmungen und jahreszeitliche Atmosphären ein. Hier beobach-
     tete er auch die menschlichen Eingriffe in die Natur, die industrielle Nutzung
     und Zerstörung. Politik und Landschaft hingen für ihn immer zusammen:
     „Ich male die Landschaft. Sehe zunächst nur die Schönheit der Farben, die
     Spannung der Formen. Aber während ich mich um das Bild mühe, denke
     ich gleichzeitig weiter. Und am Ende interessieren mich Ort und Farbigkeit
     an sich viel weniger. […] es wird ein ‚thematisches‘ Bild, in das die Fragen
     und Überlegungen eingegangen sind, die mir bei der Arbeit kamen.“2
          Auf Spaziergängen fand er Muße für Reflexionen, auch für kritische.
     Hier sah er die Veränderungen, hier wurden ihm die Zusammenhänge
     bewusst, und hier kamen ihm die Ideen für seine Bilder. So hatte die
     Grundidee für das Gemälde „Was nun?“ seinen Ursprung auch in einer der
     inspirierenden Wanderungen durch das Vogtland. Ende der Siebzigerjahre,
     erinnert sich seine Frau, fand Mattheuer auf einem seiner Streifzüge durch
     das Vogtland in der Talsperre Pöhl „beim Schwimmen ein Stück Treibholz“.3
     Das Fundstück beflügelte seine Fantasie, und er machte sich zunächst einen
     Spaß. Er montierte Schachfiguren auf dem Holzscheit und nannte das ent-
     standene Objekt „Inselspiel“ (Abb. 2). Die Begriffe „Insel“ und „Spiel“ ber-
     gen vielschichtige Assoziationen – ein erster Bezug zum Gesellschaftlichen
     verdeutlichte sich für den Künstler in dieser Plastik. Die „Insel“ war unter
     Kritikern der DDR eine allgegenwärtige Metapher: Auf der einen Seite ver-
     sinnbildlichte sie das von Mauern umgebene Land. Ihre Bedeutung reicht
     aber auf der anderen Seite weit darüber hinaus: Sie kann als Modell eines
     „utopischen Schauplatzes“ interpretiert werden – als „Paradiessurrogat“.4

     2   Peter Kost/Georg Kretschmann, Produktive Spannung zwischen Künstlerischem
         und Gedanklichem. Ein Gespräch mit Wolfgang Mattheuer, in: Bildende Kunst
         (1975) 6, S. 306–308, hier S. 307.
     3   Ursula Mattheuer-Neustädt, Bilder als Botschaft – Die Botschaft der Bilder. Am Bei-
         spiel Wolfgang Mattheuer. Ein Essay in zwei Teilen, Leipzig 1997, S. 94.
     4   Volkmar Billig, Inseln. Annäherungen an einen Topos und seine moderne Faszina-
         tion, Berlin 2004.
Ein Blitz aus heiterem Himmel                                 97

Wolfgang Mattheuer: Inselspiel, Holzfundstück mit Spielfiguren, H 14 x B 31,5 x T 23 cm,
Privatbesitz, und Die Narreninsel, 1979, Kugelschreiberzeichnung, 23 x 28 cm, Privat-
besitz. Galerie Schwind Leipzig. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Viele sahen in der Inselmetapher nicht selten das Scheitern einer Utopie
veranschaulicht, das sich mehr und mehr Menschen in der DDR eingeste-
hen mussten. Die Insel ist Utopia, der unerreichbare Ort. Man erkannte
spätestens nach den Ereignissen von 1968, als Truppen des Warschauer
Pakts in Prag die Reformbewegung blutig niederschlugen, dass es diesen
Ort nicht geben konnte. Ereignisse wie etwa die Ausbürgerung Wolf Bier-
manns im November 1976 schürten erneut Zweifel. Die Menschen hatten
sich in ihren Idealen und Sehnsüchten getäuscht, mussten aber auch erken-
nen, dass sie in gewisser Weise zum „Narren gehalten“ wurden.
     Mattheuer „spielte“ mit dem Gedanken der ge- bzw. enttäuschten Hoff-
nung. 1978 zeichnete er das Objekt „Inselspiel“, das er eher humorvoll aus
dem Fundholz gefertigte hatte, auf ein Stück Papier. Er gab den Schach-
figuren Gesichter, machte aus ihnen eine zeitgenössische Gesellschaft und
nannte die Zeichnung „Die Narreninsel“. In dieser Bleistiftskizze von 1979
liegt bereits die Idee für das spätere Gemälde „Was nun?“ verborgen. Von
wüstem Metallschutt umgeben, verharren Menschen aktionslos auf ihrer
Insel. Von der Ferne naht ein Gewitter, dem der Künstler mit scharfen Blei-
stiftstrichen Gestalt verliehen hat.
     Aus der humorigen Idee des „Inselspiels“ ist ein Bild mit tiefgründigen
symbolischen Bezügen geworden. So hat der Künstler in die Mitte des Bildes
einen Ikarus gezeichnet, der auf die Insel gestürzt ist. Reglos liegt er im Zen-
trum der Zeichnung. Ikarus war ein weitverbreitetes Motiv in der Kunst
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     und Literatur der DDR. Die mythologische Geschichte des Ikarus, der mit
     seinem Vater von der Insel Kreta flüchten musste, wurde auf der einen Seite
     vorbildhafte Figur für die Aufbaugeneration der DDR: Sein mutiger Auf-
     stieg mittels selbst gefertigter Flügel aus Wachs arrivierte zum Gründungs-
     bzw. Aufbruchsmotiv. Auf der anderen Seite avancierte sein tödlicher
     Absturz, als er der Sonne zu nah kam und die Wachsflügel schmolzen, zum
     Bild des Scheiterns. Der übermütige Aufbruch endet in einer Katastrophe.
     Ein Hoffnungsträger „stürzt ab“. Die Enge der Insel, auf der die Menschen
     teilnahmslos um den gestürzten Ikarus verharren, korrespondiert dabei mit
     einer gewissen Enge des Denkens und des Handelns – Verhaltensweisen,
     die Mattheuer generell und besonders an seinem Land kritisierte.
          Die symbolischen Bezüge der Zeichnung lassen sich fortsetzen: Satel-
     litenanlagen verweisen auf die einzige Möglichkeit, Informationen aus der
     Welt zu erhalten. Funktionslose Rohre und Stahlschutt beziehen sich kon-
     kret auf wirtschaftlichen Verfall und darauf, dass der Aufbau einer neuen
     Ordnung mit einer resignierten, bewegungslosen Gesellschaft Ende der
     Siebzigerjahre nicht mehr möglich scheint. Einst funktionales Material ver-
     rostet und vergeht.

     „Zwischen den Zeilen“ – Sinnbildmalerei

     Fast jedes Detail in Mattheuers Zeichnung „Die Narreninsel“ und dem
     Gemälde „Was nun? “ hat einen symbolischen Bezug. Künstler und Lite-
     raten suchten trotz kunstpolitischer Repressionen immer wieder Wege, auf
     denen sie ihren verborgenen Gedanken Ausdruck verleihen konnten. Und
     sie fanden sie zum Beispiel in der „Sinnbildmalerei“, die sich aus dem allzu
     eng gefassten sozialistischen Realismusbegriff als eine eigenständige Form
     gegenständlicher Malerei etablierte: Ab Mitte der Sechzigerjahre erregte
     in den offiziellen Ausstellungen der DDR eine Kunst Aufmerksamkeit, die
     nicht mehr nur die gewünschte Realität abbildete. Der Kunsttheoretiker
     Peter H. Feist prägte dafür den Begriff der „intelligenzintensiven Kunst“5

     5   Peter H. Feist, Realistische Gestaltung. Muß unsere Kunst intelligenzintensiv sein?,
         in: Bildende Kunst (1966) 8, S. 434–435.
Ein Blitz aus heiterem Himmel                           99

und bezeichnete damit eine Richtung in der realistischen Malerei, die
einen intellektuell gebildeten Betrachter voraussetzte: Historisch tradierte
Symbole aus der Kultur- und Geistesgeschichte sowie aus der Mythologie
kehrten in die Malerei ein. Gleichnishafte Bezüge zur aktuellen gesellschaft-
lichen oder politischen Lage waren intendiert. Mit Sinnbildern konnten
kollektive Befindlichkeiten ausgedrückt werden, ohne einen konkreten
Kontext zu verbalisieren. In Zeiten der Repression und Entmündigung ver-
breiten sich Gedanken häufig „durch die Blume“ oder „zwischen den Zei-
len“ – schon in der Kunst der Romantik oder der Neuen Sachlichkeit ver-
hielt es sich so. Die Geschichte der Malerei in der DDR ist in diesem Sinne
eine für diese Zeit außergewöhnliche und überaus interessante Geschichte.
Während in der westlichen Kunst die Formgestaltung Priorität gewann
und Künstler keinen konkreten Inhalt anstrebten, bezweckten Künstler der
DDR sowohl eine realistische Gestaltung als auch die sinnhafte Bildaussage.
Diese Einheit war durchaus auch von oben gewünscht, allerdings vielmehr
im Sinne der parteilichen Wirklichkeitsvorstellung. Die Realität aber sah
anders aus: Künstler und Betrachter tauschten sich kritisch über Politik
und Gesellschaft aus, indem der eine sinnbildlich verschlüsselte Bildinhalte
schuf und der andere sie (meist) auch verstand. Vergleichbar verhielt es sich
in der Literatur. Politik wurde poetisiert. Kritik äußerte sich im Stillen. Man
„übertrug“ den konkreten Sachverhalt „auf etwas anderes“, meta – phorein,
und kommunizierte in Chiffren.
     Zurück zu den Bildern Mattheuers. Die Zeichnung „Die Narreninsel“
sowie das Gemälde „Was nun? “ erhalten über die eher allgemeingültigen
symbolischen Bezüge aber noch einen ganz konkreten Sinn, einhergehend
mit dem politischen Entwicklungen Ende der Siebzigerjahre.

„Was nun?“ – Ein Bildinhalt wird konkret

Das Jahr 1979, in dem die Zeichnung „Die Narreninsel“ entstand, ist ein
historischer Markstein. Nach Jahren der Entspannungspolitik spitzte sich
der Ost-West-Konflikt wieder zu. Der Einmarsch sowjetischer Truppen in
Afghanistan 1979 läutete eine neue, offensive Phase des Kalten Krieges ein.
Die beiden Supermächte USA und Sowjetunion setzen eine weitere Spirale
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      des Wettrüstens in Gang: Am 12. Dezember 1979 beschloss die NATO die
      Stationierung von Mittelstreckenraketen, um an die verbesserte Rüstungs-
      technik der Sowjetunion anzuschließen. Das geteilte Deutschland befand
      sich inmitten des weltpolitischen Spannungsfeldes und spiegelte im Klei-
      nen den sich verschärfenden Ost-West-Konflikt.
           Mattheuer verfolgte die weltpolitischen Ereignisse mit Interesse. In sein
      Tagebuch schrieb er über die miserable Berichterstattung durch die Ost-
      medien zynisch: „Erführe ich aber von der ganzen Welt und unserer halben
      nur durch unsere Massenmedien und glaubte ich meinen Augen nicht, […]
      ich fühlte mich eingebettet in einen wunderschönen Gesellschaftskörper.
      […] Eine heile DDR-Welt machte, wenn nur die Raketen nicht drohten,
      über allen Wipfeln Ruh’.“6
           Mit den sich wandelnden Bedingungen erhielten die Bildkompositio-
      nen der „Narreninsel“ und des Gemäldes „Was nun? “ eine vollkommen
      neue Bedeutung. Bemerkenswerterweise wurde das Gemälde erst 1983
      einem breiten Publikum bekannt: als sich die Aufrüstungsoffensive überall
      bemerkbar machte – etwa in den allenthalben neu eingerichteten Raketen-
      stützpunkten, die den Menschen in der DDR nicht verborgen blieben. Das
      Bild war auf der Wanderausstellung „Zeitvergleich – Malerei und Grafik
      aus der DDR“ zu sehen, eine Ausstellung, die durch die Bundesrepublik von
      Berlin über Hamburg, München und Hannover nach Düsseldorf zog und
      Aufmerksamkeit erregte. Auf der Kunstausstellung der DDR in Dresden
      wurde hingegen nur ein Holzschnitt mit gleichem Motiv gezeigt, immerhin
      blieb das Motiv auch hier nicht unbekannt. Eindruck bei den Rezipienten
      hinterließ es in Ost wie in West.
           Vor allem das in der Ferne aufziehende Gewitter, das sich auf dem
      Gemälde „Was nun?“ der Insel unablässig nähert, verdeutlichte dem Publi-
      kum eine drohende Gefahr. Der Blitz faszinierte Mattheuer schon früher
      als Bildmotiv. So hatte er 1972 eine eindrucksvolle, geradezu prophetische
      Bildtafel mit einem markanten, tiefschwarzen Blitz aus azurblauem Himmel
      gestaltet. Das Bild trägt den bezeichnenden Titel „Blitz aus heiterem Him-
      mel“. Es zeigt eine Landschaft, wie sie etwa von oben aus einem Flugzeug

      6   Tagebucheintrag vom 30. 10. 1983, in: Wolfgang Mattheuer, Äußerungen, Leipzig
          1990, S. 173.
Ein Blitz aus heiterem Himmel                               101

    Wolfgang Mattheuer:
      Blitz aus heiterem
      Himmel, 1971/72,
       Öl auf Sperrholz,
             80 x 80 cm.
     Lindenau-Museum
              Altenburg.
        Galerie Schwind
                 Leipzig.
      © VG Bild-Kunst,
              Bonn 2021

wahrgenommen wird. Ein blauer Himmel mit weißen Schönwetterwölk-
chen überspannt eine kartografische Landschaft mit kleinen Dörfern und
Landstraßen. Aber: Aus dem heiteren Himmel zuckt ein monströser Blitz.
Mattheuer hatte ihn direkt in das Bildholz eingeritzt und angekohlt. Ein
Blitz aus heiterem Himmel – eine meteorologische Unmöglichkeit – kün-
digt sich nicht durch dunkle Wolken oder fernes Grollen an, sondern stößt
hier aus einem tiefblauen, klaren Himmel. Heinz Schönemann, Direktor
der Staatlichen Galerie Moritzburg zu Halle, erkannte in dem Bild ein ein-
gängiges Symbol für den schwelenden Ost-West-Konflikt: Hier offenbare
sich die Weltsicht eines Zeitgenossen, „der in der Mitte Europas […] im
Frieden lebt, in einem Frieden allerdings, der täglich und stündlich gefähr-
det ist“.7 Das war 1972.
     In dem Gemälde „Was nun?“ von 1980 fährt der Blitz nicht mehr aus
einem sprichwörtlich „heiteren“ Himmel. Das Gewitter schiebt sich aus der
Ferne heran. Wird es die Insel erreichen und eine Katastrophe anrichten?
7     Heinz Schönemann, Zwölf Bemerkungen zur Kunst Wolfgang Mattheuers, in: Aus-
      stellung Wolfgang Mattheuer. Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik, Plastik, Leip-
      zig 1978, S. 14–44, hier S. 18.
102                                      Anja Hertel

      Oder zieht es vorbei? Die Menschen auf der Insel brechen nicht in Panik
      aus, sie verharren in stiller Erwartung. Sie verschränken die Arme, sie bli-
      cken prüfend oder passiv auf die Wolkenfront. Würden sie sich regen und
      bewegen, würden sie sich eine Notbehausung auf der Insel bauen, würden
      sie sich zu schützen versuchen, das Gemälde wäre ein Sinnbild für Hand-
      lung und Agieren, für Hoffnung und Veränderung!
           Aber sie stehen still. Sie sind tatenlos. Ein eingängigeres Symbol für
      die Stimmung der Zeit, die Resignation und den verlorenen Mut, tatsäch-
      lich noch etwas verändern zu wollen bzw. zu können, hätte Mattheuer nicht
      schaffen können. Ein Historiker resümierte anlässlich des 50. Jahrestags
      des Mauerbaus: „Eine der beliebtesten Metaphern zur Kultur des ‚Kalten
      Krieges‘ ist das Wetter.“8 Das heraufziehende Gewitter, die neue Rüstungs-
      spirale, der verschärfte Konflikt der Großmächte vermochte unter der ost-
      deutschen Bevölkerung kein Aufbegehren mehr hervorzurufen. Resignation
      lautete der Gemütszustand vieler in den beginnenden Achtzigerjahren, und
      Mattheuer hat ihn in Form eines Symbolbildes zum Ausdruck gebracht.

      8   Andreas Kötzing, Ein Hauch von Frühling, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 61
          (2011) 31–34, S. 28–33, hier S. 28.
Aus einem Land
vor unserer Zeit
Eine Lesereise durch die DDR-Geschichte

Herausgegeben von

Marcus Böick
Anja Hertel
Franziska Kuschel

im Auftrag der Bundesstiftung
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Umschlagbild:
Zwei junge Frauen, die mit einer MZ ES 250 eine Spritztour unternehmen.
Bei Bergen auf Rügen werfen sie einen Blick auf die Karte, 3. Juli 1956.
Bundesarchiv, Bild 183-39531-0018 / Krueger.

ISBN: 978-3-86331-074-5

© 2012 Metropol Verlag
Ansbacher Straße 70
10777 Berlin
www.metropol-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Druck: SPPrint Consult, Berlin
Inhalt

Pr ol og
    von Marcus Böick, Anja Hertel und Franziska Kuschel                                                                                               ................................    9

„Wieder-E ntdeckungen“                                                 ................................................................................................................   13

Sabine P annen
    Montag ist Parteiversammlung!
    Alltag und soziale Praxis des SED-Parteilebens .......................................................... 15

Sandra Meenzen
    Praktizierter Antifaschismus
    Der Funktionär Heinz Tittl und der Umgang der SED mit einer
    NSDAP-Vergangenheit ............................................................................................................................. 25

Seba sti an Lindner
    Diener zweier Herren
    Strafvollzugspersonal zwischen Diensterfüllung und Konspiration
    im Frauengefängnis Hoheneck ......................................................................................................... 37

Maya Böhm
    „Was wird jetzt mit den Kindern?“
    Zur Lebenssituation von Kindern politisch inhaftierter Eltern
    in der DDR .............................................................................................................................................................. 47

Henning S c hulze
    „… Glücklichsein für jeden“
    Überlegungen zum Ideenhaushalt der sozialistischen Stadt                                                                                                  .........................   57
Ines Langel üddecke
    „Fortschritt durch Saatzucht“
    Wie die DDR den adligen Gutsbesitzer Ferdinand von Lochow
    wiederentdeckte ................................................................................................................................................. 67

Ul r ich Eisele
    Von Mitte nach Manhattan
    Der UN-Beitritt der DDR 1973 ...................................................................................................... 79

„Ander e Sichten“                                ........................................................................................................................................    91

Anja H er tel
    Ein Blitz aus heiterem Himmel
    Wie eine gemalte Landschaft bei Wolfgang Mattheuer zur
    politischen Chiffre wird ............................................................................................................................ 93

Evel yna S chmid t
    Hat jedes Gesellschaftssystem seinen Wahnsinnigen?
    Zur Politisierung des Wahnsinns in der Prosa der DDR
    und der Bundesrepublik .......................................................................................................................... 103

Eyk H enze
    Haushalten oder Aushalten
    Zur Ökonomie einer Lyrikreihe in der DDR                                                                         ...................................................................    113

Katr in Löffler
    Jugend nach Plan
    Jens Bisky schaut auf Ideale, Illusionen und Irrtümer zurück .................... 123

Steffi T öpfer
    Wer war „Aljoscha“?
    Legendenbildung um das Sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow                                                                                                                    ...    133
„Neu-E r kundungen“                                     ...............................................................................................................................    143

Agne t a Mar ia Jilek
    „Laßt uns pflügen, laßt uns bauen“
    Brigadebilder und Typenporträts in der DDR-Fotografie der
    frühen Fünfzigerjahre ................................................................................................................................ 145

Franzis ka Kuschel
    Von Ochsen und Eseln, Vögeln und Spinnen
    Eine Zoologie der DDR-Medienpolitik ................................................................................... 155

Lisa S choss
    Ein „Jiddenfilm“ im Fernsehen der DDR ......................................................................... 165

Thoma s Gr oss mann
    Blackout für Schnitzler
    Das Ende des „Schwarzen Kanals“ im Herbst 1989 ................................................ 177

Vanessa G anz
    Alles Diktatur, oder was?
    Erzählungen über deutsche Zeitgeschichte in Film und Theater .............. 187

„Über Gr enzen“                         ................................................................................................................................................   197

Mar ia Ma gd alen a Ver bur g
    Die ostdeutsche Dritte-Welt-Szene und der Westen oder
    Ein Stück deutsche Teilungsgeschichte nach 1989/90 ...................................... 199

Mar cus Böick
    Präsidentin, Managerin, Sekretärin
    Geschlechterbeziehungen und -bilder bei der Treuhandanstalt ................ 207

Tom Thieme
    1989/90 reloaded?
    Die Systemwechsel in Osteuropa und Maghreb im Vergleich                                                                                                      ......................    219
Seba sti an Richter
       Zwischen Orden und Spott
       Das vereinte Deutschland und seine DDR-Bürgerrechtler .............................. 231

Peter Römer
       Geteilte Geschichte, geteilte Politik
       Der deutsch-polnische Streit um die Anerkennung der
       Oder-Neiße-Grenze 1989/90 .............................................................................................................. 243

Angel a Sieb old
       Nach der Zweiteilung Europas
       Die Diskussion um Grenzöffnung und Grenzsicherung in
       Deutschland, Frankreich und Polen 1995 und 2007 .............................................. 255

Susanne S chw arz
       Von der Rückkehr nach Europa zur polnischen
       EU-Ratspräsidentschaft
       Einstellungen zur Europäischen Union in Polen zwischen
       2002 und 2011 .................................................................................................................................................... 265

Tina Menke
       Damals in der DDR – heute im Wedding
       Zwei Berliner Lehrerinnen über Kindheit im Osten,
       Migrationsgesellschaft und Unterrichtsalltag .................................................................. 277

Epilo g
       Gespräch mit Bernd Faulenbach am 8. Dezember 2011 ............................... 287

Abkürzungsverzeichnis                                                         ....................................................................................................................    305

Register                ...........................................................................................................................................................................   309

Die Aut or innen und Aut or en ................................................................................................. 313
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