Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'

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Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
Arbeit und Gesundheit in Zeiten
 der digitalen Transformation
        ‚Enterprise for Health‘
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
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Arbeit und Gesundheit in Zeiten
 der digitalen Transformation
      ‚Enterprise for Health‘
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Inhaltsverzeichnis

Vorwort                                                                                   5

‚Enterprise for Health‘ – ein Netzwerk für betriebliches Gesundheitsmanagement
Impulse und Ergebnisse aus fast zwei Jahrzehnten Netzwerkarbeit (2000 – 2018)             7

Megatrends in der Arbeitswelt: Digitale Transformation und alternde Erwerbsbevölkerung
Prof. Dr. Wilhelm Bauer                                                                  10

Die Basis für gesunde Mitarbeiter und Unternehmen schaffen
Prof. Dr. Isabell Welpe                                                                  13

„Gesundheitsförderung im Betrieb nutzt Unternehmen ebenso wie der Gesellschaft.“
Fünf Fragen an Prof. Dr. Rita Süssmuth, Präsidentin des Europäischen
Unternehmensnetzwerkes ‚Enterprise for Health‘                                           16

Anforderungen an das betriebliche Gesundheitsmanagement in einer digitalen Welt
Franz Knieps                                                                             18

Der größte Hebel für die Gesundheit ist Handlungsspielraum und Arbeitszufriedenheit
Im Gespräch mit Mitgliedern des Netzwerkes Enterprise for Health                         20

Das betriebliche Gesundheitsmanagement der Zukunft
Mitglieder des Netzwerkes benennen die wichtigsten Handlungsfelder                       24

Impulse für die Gesundheitsförderung und Prävention in der Arbeitswelt
Martin Spilker, Detlef Hollmann, Dr. Gregor Breucker, Dr. Julia Schröder                 27

Literatur                                                                                30
Autoren und Mitwirkende                                                                  32
Mitgliederliste ‚Enterprise for Health‘                                                  33
Teilnehmerliste                                                                          34
Job-Stressanalysis                                                                       36
Impressum                                                                                37

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Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Vorwort

2000 war die Geburtsstunde des Europäischen
Netzwerkes ‚Enterprise for Health‘. Damals
machten sich 20 europäische Unternehmen auf
den Weg, um ein Thema visionär zu diskutieren
und weiterzuentwickeln – ein Thema, das im
Rahmen der Unternehmenskultur- und Mana-
gementliteratur lange Zeit ein Schattendasein
führte: das betriebliche Gesundheitsmanage-
ment. Verortete man es doch bei der Verant-
wortlichkeit rein als Domäne der Betriebsärzte
und assoziierte mit den Aufgaben am ehesten
die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften,
in fortschrittlichen Fällen auch schon mal
mit Maßnahmen in Form von Rückenschulen,
Grippeschutzimpfungen oder Check-ups.

„Menschen nehmen Sorgen aus dem Unternehmen
mit nach Hause – Menschen kommen aber auch mit
Sorgen bereits in das Unternehmen.“ Das war einer
der Paradigmenwechsel, den das Netzwerk von
Beginn an in den Zielen und seiner Arbeit ver-         „Erhalt der Gesundheit ist nicht nur Teil der gesell-
innerlichte und damit die festgefügte Trennung         schaftlichen Verantwortung eines Unternehmens,
zwischen betrieblicher und persönlicher Sphäre         sondern bedarf der aktiven Mitwirkung des Einzel-
auflöste. Denn kein Mitarbeiter gibt am Werk-          nen!“ Diese Forderung nach einer stärkeren
tor Werte wie Respekt und Wertschätzung oder           Eigenverantwortung des Mitarbeitenden zum
Bedürfnisse nach Teilhabe und Sinnstiftung ab.         Erhalt seiner Leistungs- und Beschäftigungs-
                                                       fähigkeit nahm perspektivisch die Herausfor-
„Ein betriebliches Gesundheitsmanagement gehört        derungen einer modernen Arbeitswelt mit ihren
zur mitarbeiterorientierten Unternehmenskultur –       Anforderungen an Flexibilität, Agilität und
eine mitarbeiterorientierte Unternehmenskultur         Mobilität, aber auch an das lebenslange Lernen
ist aber die beste betriebliche Gesundheitspolitik.“   vorweg.
Das bedeutete einen weiteren Umdenkungs-
prozess, rückte er doch die Verantwortung und          „Betriebliches Gesundheitsmanagement beginnt mit
Zusammenarbeit aller betrieblichen Akteure in          der Prävention und Aufklärung, wartet also nicht
den Mittelpunkt. Man belässt die Aufgabe nicht         erst den Versorgungsfall ab – schon gar nicht umge-
mehr allein beim Betriebsarzt, sondern definiert       kehrt!“ Die Betonung der Vorbeugung unter-
die Gestaltung der Führungskultur und damit die        streicht, wie wichtig die Verhältnisprävention
Rolle der Führungskraft neu.                           durch eine mitarbeiterorientierte Arbeitskultur
                                                       ist, die Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglich-
                                                       keiten, Anerkennung und Sinnstiftung umfasst.

                                                                                                                                        5
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

                         Voraussetzung sind die Selbstreflexion der         Ich danke allen beteiligten Experten und Unter-
                         Führungskräfte und deren Sensibilität für ihren    nehmen, dem BKK Dachverband als Kooperations-
                         Führungsstil.                                      partner von Beginn an, den Projektverantwort-
                                                                            lichen Dr. Gregor Breucker und Detlef Hollmann,
                         Was heute als selbstverständlich gelten mag,       besonders aber der Präsidentin Professorin Dr.
                         bedeutete damals mit Blick auf die Suche nach      Rita Süssmuth für das großartige Engagement,
                         neuen Lösungen Pionierarbeit. Denn als das         viele kreative Impulse und die außergewöhnliche
                         Netzwerk unter der Präsidentschaft von Profes-     Verbundenheit über all die Jahre. Die vertrauens-
                         sorin Dr. Rita Süssmuth seine Arbeit aufnahm,      volle Zusammenarbeit hat das Europäische Netz-
                         war die Welt noch eine andere. Gerade einmal       werk ‚Enterprise for Health‘ fachlich und mensch-
                         zehn Jahre vorher hatte die Öffnung des Eisernen   lich zu etwas ganz Besonderem gemacht, weil
                         Vorhangs eine neue Phase der Globalisierung        sich alle mit Leidenschaft und Kompetenz dem
                         eingeläutet. Gleichzeitig steckte der technolo-    Netzwerkgedanken verschrieben haben.
                         gische Wandel noch in den Kinderschuhen. Das
                         Smartphone sollte erst sieben Jahre später die
                         digitale Weltbühne betreten und gemeinsam mit
                         der Künstlichen Intelligenz und Robotik die Art,   Liz Mohn
                         wie wir produzieren, arbeiten und kommunizie-      Stellvertretende Vorsitzende des Vorstandes
                         ren, revolutionieren.                              der Bertelsmann Stiftung

                         Wie zukunftsweisend viele Inhalte des Netz-
                         werkes waren, zeigt sich wohl am ehesten am
                         Beispiel der Diskussion von psychischen Belas-
                         tungen am Arbeitsplatz. Nicht nur, dass das
                         Netzwerk sehr früh die Folgen von Stress, Über-
                         forderung, Konflikten, Missachtung etc. auf die
                         Psyche und Leistungsfähigkeit des Menschen
                         thematisierte – mit der ganzheitlichen Betrach-
                         tung des Arbeitsumfeldes, von der Vereinbarkeit
                         von Erwerbsarbeit mit anderen Lebensbereichen
                         über den Umgang mit Diversität und Unterschied-
                         lichkeiten bis hin zum Wissensmanagement und
                         lebenslangen Lernen, wurde der Blickwinkel des
                         betrieblichen Gesundheitsmanagements ent-
                         scheidend erweitert.

                         Gleichzeitig war die außergewöhnliche Lern-
                         bereitschaft und methodik des Netzwerkes, z. B.
                         durch das Peergroup-Learning, in vielen Teilen
                         ihrer Zeit voraus. Die Selbstverständlichkeit
                         und Offenheit, mit der die Netzwerkmitglieder
                         ihr Wissen und ihre Erfahrungen innerhalb und
                         außerhalb des Netzwerkes geteilt haben, bleibt
                         vorbildlich – immer dem Grundsatz folgend:
                         Wissen ist kein Eigentum! Dabei hat sich ein-
                         mal mehr bestätigt, dass Websites und soziale
                         Medien für den Austausch von Informationen
                         wichtig sind, aber den Austausch Face to Face
                         nicht ersetzen können. Technologie sollte dem
                         Menschen folgen und nicht umgekehrt: Das gilt
                         nicht nur beim Thema „Gesundheit“.

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Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

‚Enterprise for Health‘ – ein Netzwerk für
betriebliches Gesundheitsmanagement

Impulse und Ergebnisse aus fast zwei Jahrzehnten Netzwerkarbeit
(2000 – 2018)

Anfang 2000 startete eine kleine Gruppe von                Depositos und das britische Pharmaunternehmen
Unternehmen gemeinsam mit den beiden Trä-                  SmithKlineBeecham. Von Beginn an leitete Prof.
gern, der Bertelsmann Stiftung und dem dama-               Dr. Rita Süssmuth das Netzwerk als Präsidentin,
ligen Bundesverband der Betriebskrankenkassen,             unterstützt durch einen wissenschaftlichen Bei-
das Projekt Europäisches Unternehmensnetz-                 rat, den Prof. Dr. Eberhard Ulich für die Arbeits-
werk ‚Enterprise for Health‘. Ziel des Netzwer-            psychologie und Prof. Dr. Jean-François Caillard
kes: das betriebliche Gesundheitsmanagement                für die Arbeitsmedizin bildeten.
vom Nischenthema zu einem zentralen Element
einer partnerschaftlichen Unternehmenskultur               Aus dem Projekt entwickelte sich bald ein dauer-
zu entwickeln. Zu den Gründungsunternehmen                 haftes Unternehmensnetzwerk, dem in den fast
gehörten Bertelsmann, Volkswagen, REWE,                    zwei Jahrzehnten 40 Unternehmen aus vielen
der norwegische Büromöbelhersteller HAG, die               europäischen Ländern sowie unterschiedlichen
portugiesische Sparkassengruppe Caixa Geral de             Branchen angehörten.

  ‚Enterprise for Health‘ – Unternehmenskultur und betriebliche Erfolgsfaktoren für Business
  Excellence Gesundheitspolitik
                                                                                y
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Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

                         ‚Enterprise for Health‘: die Mission                welt: Gesundheitsförderliche Arbeit und eine
                                                                             mitarbeiterorientierte Unternehmenskultur
                         Grundlage der Netzwerkarbeit war die geteilte       gehören zusammen, sind im besten Fall untrenn-
                         Überzeugung, eine mitarbeiterorientierte betrieb-   bar miteinander verbunden. Dabei finden sehr
                         liche Gesundheitspolitik voranzutreiben, sowohl     unterschiedliche kulturelle Ausprägungen – zwi-
                         in den beteiligten Mitgliedsunternehmen als         schen Branchen, Regionen in Europa, aber auch
                         auch darüber hinaus. In dieser Mission des Netz-    innerhalb von Unternehmen – Berücksichtigung.
                         werkes verband sich das langjährige Engagement      Erst und nur in dieser Verbindung kann sich
                         der beiden Trägerorganisationen in zwei sich        betriebliches Gesundheitsmanagement zu einem
                         ergänzenden Feldern – der partnerschaftlichen       Treiber von Business-Excellence entwickeln. Abb.1
                         Unternehmenskultur und der betrieblichen
                         Gesundheitsförderung.                               Dieses Grundverständnis hat das Netzwerk über
                                                                             seine gesamte Themen-Agenda durch Erfah-
                         Da die gesundheitliche Prävention auch durch        rungsaustausch, Expertenbeiträge und gemein-
                         die Europäische Kommission aufgegriffen und         sames Lernen entwickelt. In zwei internationalen
                         unterstützt wurde, lag es nahe, eine bewusst        Management-Konferenzen konnten andere
                         europäische Ausrichtung für das Netzwerk zu         Unternehmen sich in diesen Erfahrungsaus-
                         wählen – als Ausdruck einer engen Wertever-         tausch einbringen.
                         bundenheit, getragen von sozialem Zusammen-
                         halt und wirtschaftlichem Erfolg. Foto 1            Dieses erweiterte Gesundheitsverständnis setzt
                                                                             Kooperation zwischen verschiedenen innerbe-
                                                                             trieblichen Funktionen voraus – in ‚Enterprise
                         Die Ergebnisse der Netzwerkarbeit                   for Health‘ waren die Mitglieder verschiedener
                                                                             Handlungsfelder vertreten (Arbeitsmedizin,
                         Das wichtigste Ergebnis ist ein erweitertes Ver-    Arbeitsschutz, Personalmanagement, Werks-
                         ständnis bezüglich der Treiber und Erfolgsfakto-    leitungen, Arbeitsgestalter u. a.).
                         ren für die Gesundheitsförderung in der Arbeits-

8
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

‚Enterprise for Health‘ hat viele Impulse für                          •    Netzwerkansätze eignen sich gleichermaßen
Verbesserungen in den Mitgliedsunternehmen                                  für größere und multinational agierende Unter-
vermitteln können und seine Arbeitsergebnisse                               nehmen wie für kleinere und mittelständische
auch anderen Unternehmen zugänglich gemacht.                                Betriebe. KMU profitieren besonders von kom-
                                                                            munalen und regionalen Netzwerkmodellen.
Schließlich hat das Netzwerk, auf nationaler und                            Gerade hier setzt die nationale Präventions-
europäischer Ebene, auch zu einer Steigerung                                strategie in Deutschland einen Schwerpunkt,
des politischen Stellenwertes des betrieblichen                             denn sie fordert einen Ausbau der Kooperation
Gesundheitsmanagements beigetragen.                                         zwischen Betrieben, Krankenkassen und sons-
                                                                            tigen Akteuren in der betrieblichen Gesund-
‚Enterprise for Health‘ hat seine Netzwerkarbeit                            heitsförderung, besonders auf kommunaler
erfolgreich beendet. Die Ergebnisse werden zu-                              und regionaler Ebene.
künftig als Impulse für weiterführende und neue                        •    Mit der zunehmenden Digitalisierung wird sich
Initiativen, sowohl durch seine Mitglieder als auch                         die Arbeitswelt in den nächsten Jahren deutlich
durch die beiden Trägerorganisationen, genutzt.                             wandeln – auch besonders in Bezug auf die
                                                                            gesundheitlichen Belastungen der Beschäftig-
                                                                            ten. Vor allem die psychischen und sozialen
Impulse für Unternehmen und die                                             Arbeitsbedingungen werden für die betriebliche
                                                                            Gesundheitsförderung an Bedeutung gewinnen.
betriebliche Gesundheitspolitik
                                                                       Der von ‚Enterprise for Health‘ erprobte Netz-
•   Unternehmensnetzwerke sind optimal, wenn                           werkansatz ist der vielversprechende Weg, um
    es darum geht, gute Praxis in der betrieblichen                    diesen Herausforderungen zu begegnen. ‚Enter-
    Gesundheitsförderung zu verbreiten. Auf nati-                      prise for Health‘ – Unternehmen für Gesundheit
    onaler Ebene wirkt inzwischen das Deutsche                         – bleibt somit ein Treiber für gesundheitsförder-
    Netzwerk ‚Unternehmen für Gesundheit‘ in                           liche Arbeit (https://www.bertelsmann-stiftung.
    eine vergleichbare Richtung.                                       de/EFHvideo).

    ‚Enterprise for Health‘, 2000 – 2018

                       2002                                                                                    2013 – 2017
                       EfH-Netzwerktreffen                                                                     24. bis 28. EfH-Netzwerktreffen
                       • GlaxoSmithKline, London                                                               • BASF, Ludwigshafen
                       • Usinor, Aix-en-Provence                                                               • Eurofound, Dublin
                                                                                                               • BKK Dachverband, Berlin
                                                                                                               • BKK Dachverband, Berlin
      2000                                                                                                     • thyssenkrupp AG, Essen
      Start EfH als Projekt
                                      2004 – 2012
                                      6. bis 23. EfH-Netzwerktreffen

                                               2005
                                               EfH-Managementkonferenz:                                                     2018
                                               • Bertelsmann-Repräsentanz, Berlin                                           Abschluss des Netzwerkes EfH
              2001                                                                                                          • EfH-Fachgespräch, Berlin
              EfH-Netzwerktreffen
              • Abgeordnetenhaus, Berlin
                                                                           2008
                                                                           EfH-Managementkonferenz
                               2003                                        • GlaxoSmithKline, London
                               EfH-Netzwerktreffen
                               • Alcoa, Budapest
    	 

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Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Megatrends in der Arbeitswelt:
Digitale Transformation und alternde
Erwerbsbevölkerung

                         Prof. Dr. Wilhelm Bauer

                         „Nicht jeder muss Informatik studieren, aber jeder
                         muss sich in der digitalen Welt bewegen können.“

                         Zwei Zukunftstrends prägen hierzulande die
                         Arbeit: zum einen die digitale Transformation
                         der Arbeitsgesellschaft, die auch als „vierte
                         industrielle Revolution“ oder kurz als „Industrie
                         4.0“ bezeichnet wird. Auslöser und Beschleuni-
                         ger der digitalen Transformation ist der Fort-
                         schritt in den Feldern der Elektronik, der Mikro-
                         system- und der Informationstechnologie. Wir
                         sprechen hier vom „Internet der Dinge“, von
                         „Cyber-physischen Systemen“ oder von „lernen-
                         den Maschinen“ auf Basis künstlicher Intelligenz,
                         die eine neue Stufe der arbeitsteiligen Organisa-
                         tion von Wertschöpfungsprozessen einleiten. Die
                         Netzwerk-Ökonomie erschließt neue Produktivi-
                         tätspotenziale auf den globalen Märkten, was sich     Gesunde Arbeitsbedingungen
                         positiv auf den Lebensstandard der Menschen
                                                                               ermöglichen Beschäftigten den
                         auswirken wird. Foto 3
                                                                               Wandel
                         Zum anderen ist die Zukunft der Arbeit durch
                         eine alternde Erwerbsbevölkerung gekennzeich-
                         net. Am Fraunhofer IAO beforschen wir seit über       Die Regelaltersgrenze, die einen gesetzlichen
                         15 Jahren den sozio-demografischen Wandel. Was        Anspruch auf Altersrente begründet, wurde bereits
                         seinerzeit als akademische Diskussion begann,         vor über einem Jahrzehnt angehoben. Trotzdem
                         ist mittlerweile alltägliche Herausforderung in       sind derzeit nur etwa zwei Drittel der 55- bis
                         den Betrieben. Mittelständische Unternehmen,          64-jährigen Deutschen erwerbstätig. Ein erheb-
                         insbesondere jene abseits der attraktiven Metro-      licher Anteil des brachliegenden Arbeitskräftepo-
                         polregionen, berichten uns über ihre Schwierig-       tenzials umfasst leistungsgewandelte Personen.
                         keiten, qualifizierten Nachwuchs zu rekrutieren.      Daher gilt es zunächst, gesunde Arbeitsbedin-
                         Zudem fällt es vielen älteren Beschäftigten schwer,   gungen zu schaffen, damit Leistungswandlung
                         ihren Beruf bis zum gesetzlichen Renteneintritts-     kein Grund ist, um vor dem 67. Lebensjahr aus
                         alter auszuüben. Das betrifft nicht nur körperlich    dem Arbeitsleben auszuscheiden.
                         belastende Tätigkeitsfelder, wie etwa im Hand-
                         werk oder in der Logistik, sondern auch pflegende     Wir wissen, dass sich die Altersstruktur der
                         und pädagogische Berufe mit hoher emotionaler         Erwerbstätigen im Zuge des sozio-demogra-
                         Verausgabung.                                         fischen Wandels erheblich verändern wird. In

10
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Deutschland sinkt die Anzahl der Menschen im         laboration von Mensch und Roboter? Wie lassen
Erwerbsalter von derzeit knapp 50 Millionen auf      sich sensorbasierte Wertschöpfungsnetzwerke
etwa 44 Millionen im Jahr 2030. Zugleich werden      konsequenter am Kundenbedarf und weniger an
neue, digitale Technologien eine ganze Reihe von     innerbetrieblichen Strukturen ausrichten? Wie
Arbeitsplätzen ersetzen. Viele Tätigkeiten und       können digitale Plattformen individuelle Mobi-
Qualifikationen sind einfach nicht mehr erforder-    litätsbedürfnisse bündeln und dadurch den urba-
lich. Eine rein quantitative Betrachtung – etwa      nen Verkehr effizienter organisieren?
von Beschäftigtenzahlen – führt uns angesichts
dieser gegenläufigen Trends nicht weiter. Die        Die Beispiele veranschaulichen, dass die zukünf-
digitale Transformation hat vielmehr eine starke     tige Wertschöpfung verstärkt immaterielle Kom-

qualitative Dimension. Nicht ohne Grund wird die     ponenten einbezieht, wie kreative Ideen, Algorith-
öffentliche Diskussion von Themen wie Koopera-       men und Software. Die Kernidee der Digitalisie-
tion, Lernen, Kreativität und Gesundheit geleitet.   rung ist das Verbindende. Das mündet in neuen
Dies sind grundlegende Voraussetzungen, um           Formen einer kompetitiven und wertschöpfenden
disruptive Umwälzungen in einer komplex ver-         Kooperation, die sich mehr denn je am Kunden
netzten Arbeitswelt erfolgreich zu bewältigen.       und seinen speziellen Bedarfen orientieren. Somit
                                                     erfordern neue Jobs nicht nur digitales Know-how,
                                                     sondern auch soziale Kompetenzen. Nicht jeder
Jobanforderung 4.0: Digitales                        muss Informatik studieren, aber jeder muss sich
                                                     in der digitalen Welt bewegen können.
Know-how plus soziale Kompetenz

Damit sind wir bei einer Verbindung der beiden       Forderung und Fairness als
eingangs skizzierten Megatrends – der Digitali-
                                                     Eckpunkte gesunder Arbeit
sierung und des sozio-demografischen Wandels.
In der Arbeitsforschung geht es dabei um eine
fortschreitende Konvergenz von Mensch und            Zunächst sollten wir die Rolle des Menschen
Technik: Können Datenbrillen etwa die senso-         in einer digitalisierten Arbeitswelt betrachten:
rischen Leistungseinschränkungen älterer             Im Wirtschaftsleben wird das Quantitative und
Menschen angemessen kompensieren? Welche             Berechenbare verstärkt durch das Qualitative –
Sicherheitsstandards benötigen wir bei der Kol-      und damit Unberechenbare – ergänzt. Der ziel-

                                                                                                                                   11
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

                         gerichtete Umgang mit derart mehrdeutigen und        formation sehe ich die Notwendigkeit, dass die
                         unbeständigen Situationen ist eine Stärke des        Politik den Erfahrungsaustausch von Unterneh-
                         urteils- und entscheidungsfähigen Menschen.          men, Wissenschaft und Gesellschaft noch inten-
                         Seine kreativen und kommunikativen Fähigkei-         siver fördert, etwa anhand von sogenannten
                         ten machen den Unterschied bei der Kundenori-        „Reallaboren“. Derart interdisziplinäre und
                         entierung.                                           experimentelle Forschungsansätze können unter
                                                                              generationenübergreifenden Kontextbedingun-
                         Wir stellen in unseren Projekten immer wieder        gen eine Brücke zwischen Praxis und Theorie
                         fest, dass diejenigen Mitarbeiter am gesündesten     schlagen. Auf diese Weise entsteht Wissen, das
                         sind, die eine sinnvolle Arbeitstätigkeit als Her-   zukunftsweisende Veränderungen in unserer
                         ausforderung für ihr eigenes, zukunftsorientier-     Arbeitsgesellschaft bewirkt.
                         tes Wachstum wahrnehmen, die kreative Ideen in
                         ihre Arbeit einbringen können und Rückmeldung
                         hierüber erhalten; die faire und vertrauensvolle
                         Kooperationsbeziehungen mit ihren Vorgesetz-
                         ten und Kollegen pflegen. Gesunde Arbeitsbedin-
                         gungen respektieren die Unterschiedlichkeit der
                         Menschen. Gesunde Arbeit beschreibt eine Viel-
                         zahl jener kulturellen Merkmale, die den Erfolg
                         in der digitalen Wirtschaft ausmachen. Kurzum:
                         Wie kann sich ein gesunder Mensch an verän-
                         derte Arbeitsbedingungen anpassen, ohne „den
                         Boden unter den Füßen“ zu verlieren?

                         Von Best Practice lernen

                         In Kontext der Netzwerk-Ökonomie liegt die
                         vornehmliche Aufgabe der Politik nicht so sehr
                         im Erlass neuer Arbeitsschutzgesetze. Der Impuls
                         zu einer gesunden Arbeitsweise muss vielmehr
                         „von innen“ kommen, durch Einsicht und über-
                         zeugende Erfahrungen. Für die digitale Trans-

12
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Die Basis für gesunde Mitarbeiter
und Unternehmen schaffen

Prof. Dr. Isabell Welpe                               Die technologischen Entwicklungen wie Smart-
                                                      phones und Cloud-Lösungen bedingen beispiels-
Was können Führungskräfte und Organisatio-            weise die Gefahr, dass räumliche und zeitliche
nen tun, um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter          Flexibilität in eine exzessive oder quasi ständige
zu fördern und ihre Leistungsfähigkeit auch im        Erreichbarkeit von Arbeitnehmern für ihren
digitalen Zeitalter auf einem hohen Niveau zu         Arbeitgeber umschlägt.
halten? Flexible Arbeitsmodelle und die mobile
Nutzung digitaler Technologien einerseits sowie       Ob es jedoch zu einer konstanten Verfügbarkeits-
eine höhere Gesundheitsorientierung bei Füh-          erwartung kommt oder nicht, hängt maßgeblich
rungskräften und in Organisationen andererseits       von den Kommunikationsnormen im Team und
sind zwei wichtige Schlüsselfaktoren.                 von den Erwartungen der Organisation ab. So
                                                      profitieren alle Beteiligten davon, wenn die Norm
                                                      im Team eine unterschiedliche Nutzung mobiler
Flexible Arbeitsmodelle richtig                       Kommunikationskanäle vorsieht – wenn es also
                                                      in Ordnung ist, dass manche Teammitglieder
gestalten
                                                      mobil von zu Hause oder unterwegs aus kommu-
                                                      nizieren, andere dies aber beispielsweise gar
Flexible Arbeitsmodelle können einen sehr guten       nicht oder nur in Ausnahmefällen tun.1
Weg darstellen, um mit der höheren Belastung
von Arbeitnehmern im digitalen Zeitalter umzu-        Mit dem Phänomen der ständigen Erreichbarkeit
gehen. In einer unserer Studien mit 2000 Berufs-      steht auch die Beobachtung im Zusammenhang,
tätigen fanden wir beispielsweise sehr positive       dass flexible Arbeitsformen zu einer Extensivie-
Effekte von räumlicher und zeitlicher Flexibilität:   rung und Intensivierung der Arbeit führen kön-
Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsort an ihre per-       nen.2 Arbeitnehmer müssen mehr und intensiver
sönlichen Präferenzen anpassen können, also           arbeiten. Neben dem Gefühl, erreichbar sein zu
z. B. von daheim oder im Café arbeiten können,        müssen, spielt hier auch das Bedürfnis von Mit-
und auch ihre Arbeitszeiten nach den persön-          arbeitern eine Rolle, sich durch erhöhten Einsatz
lichen Arbeitszeitvorlieben flexibel gestalten        bei ihrem Unternehmen für die gewährte Flexi-
können, sind zufriedener mit ihrer Arbeit, haben      bilität zu „revanchieren“.
geringere Kündigungsabsichten, zeigen mehr
innovatives Verhalten am Arbeitsplatz, fühlen         Damit flexible Arbeitsmodelle auch tatsächlich
sich weniger gestresst und werden auch seltener       gesundheitsförderlich für Arbeitnehmer sind,
krank. Meta-Analysen bestätigen diesen Befund.        sollten Unternehmen darauf achten, dass Mit-
                                                      arbeiter diese nicht als einseitigen Vorteil für das
Allerdings sollten Führungskräfte und Organisa-       Unternehmen wahrnehmen. Sie sollten die Mög-
tionen einige Rahmenbedingungen für den Erfolg        lichkeit haben, Arbeitszeit und Arbeitsort auch
dieser flexiblen Arbeitsmodelle kennen.               an persönliche Bedürfnisse anzupassen. Dabei

                                                      1   Mazmanian, 2013.
                                                      2   Kelliher & Anderson, 2010.

                                                                                                                                        13
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

                         ist es auch wichtig zu beachten, dass flexible         nicht zu kurz kommt. Eine in den USA durch-
                         Arbeitsmodelle nicht für jeden gleich gut geeig-       geführte Studie4 zeigt beispielsweise, dass der
                         net sind. Arbeitnehmer haben unterschiedliche          Zusammenhang zwischen der im Homeoffice
                         Segmentierungsbedürfnisse zwischen Arbeits-            verbrachten Arbeitszeit (d. h. flexibler Arbeitsort-
                         und Privatleben3 – wer beide Bereiche gerne            wahl) und der Arbeits- und Lebenszufriedenheit
                         möglichst getrennt voneinander hält, hat weni-         von Arbeitnehmern die Form eines umgedrehten
                         ger Nutzen von flexiblen Arbeitsmodellen als           U hat – sehr wenig und sehr viel im Homeoffice
                         derjenige, der beide Bereiche gerne integriert.        verbrachte Arbeitszeit führte zu geringeren
                         Genauso wie Unternehmen flexible Arbeitsfor-           Zufriedenheitswerten als ein mittleres Maß an
                         men für diejenigen unterstützen sollten, die           Homeoffice-Zeit (~ 1,5 bis 2 Arbeitstage).
                         diese wahrnehmen möchten, sollten sie auch
                         akzeptieren, dass manche Mitarbeiter diese nicht
                         in Anspruch nehmen wollen.                             Gesunde Organisationen

                         Auch das Ausmaß, in dem Mitarbeiter flexible           Wenn ein Unternehmen sich insgesamt zu einer
                         Arbeitsmodelle nutzen, hat einen entscheidenden        „gesunden Organisation“ entwickeln möchte,
                         Einfluss darauf, wie viel sie und ihr Unterneh-        spielen drei zentrale Komponenten eine Rolle,
                         men von diesen profitieren können. Es scheint,         nämlich gesunde Arbeit, gesunde Führung und
                         als hätte dabei eine moderate Nutzung die posi-        ein gesundheitsförderliches Organisationsklima.5
                         tivsten Effekte, da sie einerseits die individuellen
                         Bedürfnisse von Mitarbeitern trifft, andererseits
                         aber auch der persönliche Kontakt der Kollegen
                                                                                4   Virick, DaSilva & Arrington, 2010.
                                                                                5   Wilson, DeJoy, Vandenberg, Richardson & McGrath,
                         3   Shockley & Allen, 2010.                                2004.

14
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Gesunde Arbeit                                        Gesundheitsförderliches
                                                      Organisationsklima
Ein angemessenes Arbeitspensum ist ebenso
wichtig wie ein hohes Kontroll- und Autono-
mieempfinden, also die Möglichkeit, selbst zu         Die Gesundheit der Mitarbeiter zu fördern liegt
bestimmen, wann und wie man seine Arbeit              nicht allein in den Händen individueller Füh-
erledigt. Arbeit ist zudem gesundheitsförder-         rungskräfte. Auch auf Organisationsebene muss
lich, wenn sie als sinnstiftend und bedeutsam         dieses Ziel verankert werden.
wahrgenommen wird. Auch Rollenklarheit, also
eindeutige Ziele und Verantwortlichkeiten bei der     Dabei ist ein unterstützendes und um das
Arbeit zu haben, ist wichtig.                         Wohlergehen der Mitarbeiter besorgtes Orga-
                                                      nisationsklima von hoher Bedeutung. Darunter
                                                      versteht man die Wahrnehmung der Mitarbeiter,
Gesunde Führung                                       dass die Organisation ihre Beiträge wertschätzt
                                                      und sich um ihr Wohlbefinden sorgt.8 In als
Führungskräfte können die Gesundheit ihrer            unterstützend wahrgenommenen Organisatio-
Mitarbeiter fördern. Am wichtigsten scheint es        nen geht es also nicht allein um das Erreichen
zu sein, dass Führungskräfte das Wohlbefinden         der organisationalen Ziele. Stattdessen wird auf
ihrer Mitarbeiter zu einer ihrer Prioritäten machen   dem Weg zur Zielerreichung auf die Werte und
und entsprechend gesundheitsorientiert führen.        Bedürfnisse der Mitarbeiter achtgegeben. Ent-
Gesundheitsorientiert führen kann jedoch nur          scheidungen der Organisation werden nicht auf
derjenige, der zunächst einmal auch auf sein          dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen, und
eigenes Wohlbefinden achtet – Führung beginnt         entsprechend wird Fairness im Umgang mit den
nicht von ungefähr mit dem Thema Selbstfüh-           Mitarbeitern an den Tag gelegt.
      6
rung .
                                                      Die Forschung zeigt, dass Mitarbeiter ein unter-
Im Sinne der Selbstführung gilt folgendes Prin-       stützendes Organisationsklima wertschätzen
zip: Wer als Führungskraft das Wohlbefinden           und sich durch erhöhten Einsatz, höhere Loya-
seiner Mitarbeiter positiv beeinflussen möchte,       lität und bessere Leistung an ihrer Organisation
sollte damit beginnen, über sein eigenes Wohl-        „revanchieren“.9
befinden nachzudenken („Wie geht es mir /
meiner Familie, wenn ich abends zu Hause noch
arbeite?“) und sein Verhalten entsprechend
anzupassen. Dass eine Vorbildwirkung von Füh-
rungskräften das Wohlbefinden der Mitarbeiter
positiv beeinflusst, ist bereits erwiesen: Füh-
rungskräfte, die eine klare Trennlinie zwischen
Beruf und Privatleben ziehen, zum Beispiel
indem sie keine Arbeit mit nach Hause neh-
men, regen bei ihren Mitarbeitern ein ähnliches
Verhalten an, was wiederum die empfundene
Erschöpfung ihrer Mitarbeiter und damit deren
Burnout-Risiko reduziert.7

6   Franke, Felfe & Pundt, 2014.                      8   Eisenberger, Huntington, Hutchison & Sowa, 1986.
7   Koch & Binnewies, 2015.                           9   Eisenberger, Armeli, Rexwinkel, Lynch & Rhoades, 2001.

                                                                                                                                       15
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

„Gesundheitsförderung im Betrieb nutzt
Unternehmen ebenso wie der Gesellschaft.“

                         Fünf Fragen an Prof. Dr. Rita Süssmuth, Präsidentin des Europäischen
                         Unternehmensnetzwerkes ‚Enterprise for Health‘

                         Prof. Dr. Rita Süssmuth, ehemalige Präsidentin        dass das Betriebsklima einen großen Einfluss
                         des Bundestages, wusste bereits im Jahr 2002:         auf die Gesundheit der Beschäftigten hat. Wenn
                         Gesundheit muss auch in Unternehmen ein               Beschäftigte sich als Menschen gesehen fühlen,
                         prominentes Thema sein, wenn man die Gesund-          wenn es Handlungsspielräume gibt und Arbeit-
                         heitswerte in der Bevölkerung verbessern möchte.      nehmer ihre Führungskraft als unterstützend
                         Sie wurde Präsidentin des ersten europäischen         erfahren, ist dies enorm gesundheitsförder-
                         Netzwerkes für Gesundheit im Unternehmen:             lich. Auch die Produktivität, die Motivation und
                         ‚Enterprise for Health‘.                              Belastbarkeit der Beschäftigten steigt. Aus die-
                                                                               sem Blickwinkel ist auch klar, dass Gesundheits-
                         Prof. Dr. Rita Süssmuth, 15 Jahre Präsidentin für     förderung mehr ist als ein gutes Sportangebot
                         ‚Enterprise for Health‘ – was hatten Sie sich von     im Betrieb. Diversität, Vereinbarkeit von Beruf
                         solch einem Netzwerk erhofft?                         und Familie oder demografischer Wandel – all
                                                                               diese Themen spielen auf diesen ganzheitlichen
                         Prof. Dr. Rita Süssmuth: Bereits zu meiner Zeit als   Gesundheitsbegriff ein. Deshalb nahmen wir
                         Familienministerin wurde mir sehr deutlich, dass      sie im Netzwerk auch als gesundheitsrelevante
                         Gesundheit nicht nur im Zuständigkeitsbereich         Themen auf.
                         von Erziehung, Ärzten oder Gesundheitswesen
                         liegt. Gesundheit ist vielmehr eine gesamtgesell-     Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?
                         schaftliche Aufgabe – in der die Arbeitswelt eine
                         wichtige Rolle spielt. Mit dem Netzwerk ‚Enter-       Prof. Dr. Rita Süssmuth: Bereits als wir anfingen,
                         prise for Health‘ schufen wir erstmals für Unter-     hatten einige Unternehmen ja bereits einiges
                         nehmen die Möglichkeit, sich über das Thema           getan, um ihre Beschäftigten in ihrer Gesund-
                         Gesundheit im Betrieb deutschland- und sogar          heit zu unterstützen. Doch in der Öffentlichkeit
                         europaweit auszutauschen. Ein wichtiger Schritt       war dies kaum bekannt. Zu Beginn, im Jahr
                         zu einer ganzheitlichen Gesundheitsförderung.         2002, stand deshalb im Vordergrund, die guten
                                                                               Beispiele zu finden und darüber öffentlich zu
                         Ganzheitliche Gesundheitsförderung – was verste-      berichten. Darauf bekamen wir sehr viel Reso-
                         hen Sie darunter genau? Foto 4                        nanz. Später rückten der Austausch untereinan-
                                                                               der, die Fachkonferenzen in den Vordergrund.
                         Prof. Dr. Rita Süssmuth: Aus Sicht des Unterneh-      Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen,
                         mens stand lange Zeit der Arbeitsschutz im            aber noch vor fünfzehn Jahren sprach kaum
                         Vordergrund. Ein ganzheitliches Gesundheits-          jemand über Prävention und ganzheitliche
                         verständnis ist mehr: Zum Arbeitsschutz kommt         Gesundheit im Betrieb. Ich denke, da haben wir
                         die Prävention für körperliche sowie seelische        einiges mit unserer Öffentlichkeitsarbeit nach
                         Gesundheit. Wir wissen heute zum Beispiel aus         vorne gebracht.
                         Studien ebenso wie aus der Praxis der Betriebe,

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Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Themen der   geht – also Fähigkeiten der Beschäftigten, auf
Zukunft?                                              die Unternehmen in der globalen Wirtschaft
                                                      unbedingt angewiesen sind. Unternehmen,
Prof. Dr. Rita Süssmuth: Dass wir neben der phy-      die sich um die ganzheitliche Gesundheit ihrer
sischen noch viel stärker auch die psychische         Beschäftigten kümmern, schaffen also letztlich
Gesundheit in den Fokus nehmen. Die Zunahme           eine Win-win-Situation. Das zeigten die Bei-
der psychischen Erkrankungen zeigt ja, dass hier      spiele aus unserem Netzwerk sehr deutlich. Und
etwas in Störung geraten ist. Und die Frage ist:      wir hoffen, dass diese Good Practice auch dieje-
Was können wir als Gesellschaft – und eben auch       nigen Unternehmen überzeugt, die bisher noch
in den Betrieben – dafür tun, um dem vorzubeu-        zögern.
gen oder auch gute Rehabilitierung möglich zu
machen, damit möglichst viele Menschen zurück
in Arbeit finden, wenn sie erkrankt waren?

Das klingt nach sehr viel Verantwortung für die
Unternehmen – passt das überhaupt in Zeiten von
Globalisierung, Kostendruck und Agilität?

Prof. Dr. Rita Süssmuth: Es geht nicht darum, die
Verantwortung für die Gesundheit der Menschen
auf die Betriebe zu verlagern. Es geht darum,
eine grundlegende Erkenntnis umzusetzen,
die für alle Seiten Gewinn bringt: Es ist heute
unmissverständlich klar, dass Gesundheit Hand
in Hand mit Innovationskraft und Produktivität

                                                                                                                                   17
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Anforderungen an das betriebliche Gesund-
heitsmanagement in einer digitalen Welt

                         Franz Knieps                                      für die Sozialversicherungsträger. Die digitale
                                                                           Arbeitswelt ist mit einer noch weiter gehenden
                         Stärkung und Verbreitung des betrieblichen        Arbeitszeitflexibilisierung verbunden, gleich-
                         Gesundheitsmanagements (BGM) gehören zum          zeitig entkoppelt sich die Arbeitstätigkeit immer
                         Markenkern der Betriebskrankenkassen.             häufiger von festgelegten Arbeitsorten – mobiles
                                                                           Arbeiten entwickelt sich zur Routine.
                         In immer mehr Unternehmen ist das BGM Teil
                         der Personal- und Gesundheitspolitik und damit    Diese Veränderungen, deren Folgen für unsere
                         auch ein immer wichtiger werdender Bestandteil    Gesellschaft insgesamt noch nicht absehbar
                         der Antworten auf die Herausforderungen, die      sind, betreffen die psychischen und sozialen
                         sich aus dem Wandel in der Arbeitswelt ergeben    Arbeitsbedingungen; neue Belastungs- und Res-
                         haben und weiterhin stellen werden. Mit der       sourcenkonstellationen entstehen, die Anforde-
                         Digitalisierung ist grundsätzlich eine Zunahme    rungen an die individuelle Eigenverantwortung
                         flexibler Arbeits- und Beschäftigungsformen       und Selbststeuerung nehmen deutlich zu. Wir
                         verbunden, mit aus gesundheitlicher Sicht         kennen aus jüngsten Forschungsergebnissen die
                         positiven Chancen, aber auch neuen Belastungen    zentralen Faktoren für den Gesundheitsschutz
                         und Beanspruchungen. Daraus ergeben sich neue     und die Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz
                         Gestaltungsfelder und aufgaben für die betrieb-   – eine mitarbeiterorientierte Führungskultur,
                         lichen Akteure, die Sozialpartner und ebenso      Vermeidung zu hoher Arbeitsverdichtung und

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Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

ausreichende Handlungs- und Entscheidungs-            als für Großunternehmen. Aus diesen Gründen
spielräume. Jetzt wird es darum gehen, das BGM        hat das BKK-System im letzten Jahr das „Deut-
an diesen Leitplanken so auszurichten, dass           sche Siegel Unternehmensgesundheit“ ins Leben
die Betriebe und vor allem die Beschäftigten          gerufen. Das Siegel ist ein Verfahren zur Beurtei-
eigenverantwortlich ihre Arbeit gesundheits-          lung der Qualität und Wirksamkeit des betrieb-
gerecht organisieren können.                          lichen Gesundheitsmanagements und damit ein
                                                      wichtiger und zukunftsorientierter Baustein für
Die Betriebskrankenkassen haben deshalb mit           den Erfolg und die Innovationskraft eines Unter-
der Entwicklung eines digitalen BGM-Baukas-           nehmens. Es bietet die Möglichkeit, das betrieb-
tens begonnen. In diesem Baukasten werden             liche Gesundheitsmanagement im Unternehmen
qualitätsgesicherte, digitale wie analoge Präven-     umfassend zu systematisieren. Handlungsfelder
tionsangebote zur Verfügung gestellt werden,          zur Verbesserung der psychischen und körperli-
die sich inhaltlich an den Herausforderungen          chen Gesundheit der Mitarbeitenden werden auf-
von Arbeiten 4.0 orientieren und die flexibel,        gezeigt und ergeben so einen fundierten Fahr-
d. h. passgenau für die Beschäftigten der Betriebs-   plan für die Weiterentwicklung des betrieblichen
krankenkassen und deren Kundenunternehmen,            Gesundheitsmanagements.
nutzbar sind.
                                                      Mit dem Präventionsgesetz hat die Politik gerade
‚Enterprise for Health‘ stand für das Ziel und den    hier die Krankenkassen in die Verantwortung
Anspruch, gesundheitliche Belange und Themen          genommen, die Verbreitung guter Praxis noch
in die betriebliche Personalpolitik zu integrieren.   stärker und effizienter zu fördern und umzu-
Nur die Berücksichtigung von gesundheitlichen         setzen. Die nationale Präventionsstrategie wird
Fragen im Führungsalltag von Unternehmen              den Ausbau der regionalen Koordinierungsstellen
schafft Chancen für eine gesundheitsförderliche       für die betriebliche Gesundheitsförderung weiter
Unternehmenskultur. Sie geht damit über gut           forcieren und dazu auch die Aktivitäten der Sozi-
gemeinte Leitbilder und allgemeine Führungs-          alversicherungsträger unter einem neuen nati-
grundsätze hinaus. Gemeinsam mit unserem              onalen Präventionsziel bündeln – der Stärkung
Partner, der Bertelsmann Stiftung, und den Mit-       der akteursübergreifenden Zusammenarbeit auf
gliedsunternehmen des Netzwerkes konnte in            lokaler und regionaler Ebene unter Einbindung
‚Enterprise for Health‘ ein äußerst fruchtbarer       der Unternehmensorganisationen.
und innovativer Erfahrungsaustausch organisiert
und umgesetzt werden. Viele der hier aktiven          Die Betriebskrankenkassen setzen sich sehr für
Unternehmen, darunter auch wichtige Träger-           diesen Weg ein, auch weil wir aus erfolgreichen
unternehmen der Betriebskrankenkassen, haben          Netzwerken wie ‚Enterprise for Health‘ gelernt
Pionierarbeit geleistet und sind auch Vorbilder       haben, wie Verbreitung ganz im Sinne des sozia-
für viele andere Unternehmen im Bereich des           len Marketings organisiert werden muss.
betrieblichen Gesundheitsmanagements.
                                                      Wir werden die fruchtbaren Impulse der Netz-
‚Enterprise for Health‘ ist schon vor fast zwei       werkarbeit in ‚Enterprise for Health‘ in zukünf-
Jahrzehnten als Netzwerkprojekt gestartet; mitt-      tigen Initiativen nutzen und gemeinsam mit
lerweile gibt es vielfältige Erfahrungen mit der      unseren Partnern weiterentwickeln.
Netzwerkarbeit, auch in der betrieblichen Prä-
vention. Netzwerke sind das wichtigste Werk-
zeug in der Verbreitung guter Praxis. Nach wie
vor ist die Zahl aktiver Unternehmen in Deutsch-
land, was die Umsetzung des BGM anbetrifft,
begrenzt. Vor allem kleinere Unternehmen müs-
sen zusätzliche Hürden überwinden, um ange-
passte und geeignete Vorgehensweisen nutzen zu
können: Gerade der Weg in ein nachhaltiges und
qualitatives BGM ist für sie wesentlich schwerer

                                                                                                                                   19
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Der größte Hebel für die Gesundheit ist
Handlungsspielraum und Arbeitszufriedenheit

                         Im Gespräch mit Mitgliedern des Netzwerkes Enterprise for Health

                         Über annähernd zwei Jahrzehnte tauschten sich        dass der Wandel noch nicht komplett vollzogen
                         BGM-Experten aus 40 europäischen Unterneh-           ist. Und durch den Druck im Geschäft geht der
                         men im Netzwerk ‚Enterprise for Health‘ aus. Ihr     Fokus auf die Gesundheit der Mitarbeiter oftmals
                         Ziel: die zukünftigen Herausforderungen für das      verloren. Die Führungskraft hat ganz schlicht
                         betriebliche Gesundheitsmanagement meistern          ihren Kopf woanders. Sie muss Ergebnisse brin-
                         und voneinander lernen.                              gen, steht extrem unter Zeitdruck. Dennoch sehe
                                                                              ich die positive Tendenz. An dieser Stelle ist es
                         Was hat sich in der Welt des BGM verändert? Was      auch an uns, den Akteuren des BGM, die Füh-
                         war früher undenkbar, was heute ganz normal ist?     rungskräfte immer wieder dabei zu unterstützen,
                                                                              einen gesunden Führungsstil zu pflegen. Foto 5
                         Dr. Ralf Franke, Siemens: Noch vor zehn Jahren
                         ging es bei Gesundheit im Betrieb ausschließlich     Wie schafft man es, die Führungskräfte mit ins
                         um die körperliche Gesundheit. Das hat sich um       Boot zu holen?
                         180 Grad gedreht. Heute ist es selbstverständlich,
                         dass es auch um die psychische Gesundheit geht.      Dr. Ralf Franke, Siemens: Gesundheit ist bei
                         Dazu kommt: Die Gesundheit der Mitarbeiter           uns ein fester Bestandteil der gesamten Füh-
                         ist eine Führungsaufgabe geworden. Führungs-         rungskräfte-Entwicklung geworden. Gesundheit
                         kräfte interessieren und engagieren sich für die     ist Thema im Grundlagenseminar Personalfüh-
                         Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Auch die Fokussie-     rung genauso wie in der Führungskräfte-Ent-
                         rung auf den Krankenstand lässt nach. Das sind       wicklung.
                         erfreuliche Entwicklungen.
                                                                              Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Man muss auf-
                         Dr. Olaf Tscharnezki, Unilever: Das sehen Sie aber   passen, dass man Führungskräfte nicht immer
                         sehr positiv. Ich würde eher sagen: Heute wird in    weiter unter Druck setzt. Für mich ist Incentivie-
                         den Unternehmen zwar viel mehr über Gesund-          rung gesunder Führung ein wichtiger Schritt, um
                         heit geredet, aber es wird nicht unbedingt viel      das System im Unternehmen zu verändern. Uns
                         mehr getan. Und was das Engagement von Füh-          geht es aber auch darum, die Vorgesetzten für das
                         rungskräften für die Gesundheit ihrer Mitarbei-      Thema Gesundheit wirklich zu begeistern und zu
                         ter betrifft – da sehe ich durchaus Entwicklungs-    motivieren.
                         bedarf.
                                                                              Wie gelingt das konkret?
                         Dr. Ralf Franke, Siemens: Da muss ich widerspre-
                         chen. Ich sehe viele Führungskräfte, denen sehr      Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Zum Beispiel,
                         bewusst ist, dass Gesundheit die Voraussetzung       indem wir uns bemühen, den Führungskräften
                         ist, damit Mitarbeiter ihr Potenzial entfalten       das Thema Gesundheit so näherzubringen, dass
                         können – und genau darum geht es im moder-           es sie überzeugt. Dabei ist es wichtig, auch die
                         nen Unternehmen. Aber es stimmt natürlich,           Bedenken und Überlastung der Führungskräfte

20
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

ernst zu nehmen und neue Ansätze zu entwickeln,        wir auch die Führungskräfte darin, frühzeitig zu
die das Thema transparent und praxisorientiert         erkennen, wenn beim Mitarbeiter etwas gesund-
transportieren.                                        heitlich schiefläuft und er Hilfe und Unterstüt-
                                                       zung braucht. Das funktioniert sehr gut.
Wir entwickeln deshalb derzeit ein E-Learning
für Führungskräfte zum Thema Gesundheit.               Sie nennen E-Learning und Gamifizierung als
Unter dem Motto „Digital First“ möchten wir die        erfolgreiche Tools in Ihren Betrieben – kann die
E-Learning-Schulung vor ein Präsenzseminar             Digitalisierung in Sachen Gesundheit Wege ebnen?
setzen. Erst im Anschluss folgt eine Präsenzver-       Zum Beispiel auch über gute Apps oder Telemedizin?
anstaltung, die das Thema vertieft. Die Präsenz-
veranstaltung bleibt nachhaltiger – da sind wir        Dr. Stefan Webendörfer, BASF: Derzeit spielt die
uns sicher. Aber per E-Learning können wir den         Digitalisierung noch eine untergeordnete Rolle.
Lerneffekt verbessern, und wir erreichen auch          Es ist ja viel die Rede davon, wie gut man Men-
mehr Führungskräfte als zuvor.                         schen per App in einem gesundheitsförderlichen
                                                       Lebensstil begleiten könnte. Aber ganz ehrlich:
Dr. Ralf Franke, Siemens: Da ist die Digitalisierung   Vieles, was ich da sehe, ist nicht seriös. Bis hin
auf jeden Fall ein Gewinn. Gerade weil man viele       zu Fehlinformationen, die über diese Apps ver-
erreicht und die Hemmschwelle sehr niedrig ist,        mittelt werden. In der Navigation durch die
sich dem Thema zu nähern. Wir haben beispiels-         Gesundheitsangebote ist es natürlich von Vor-
weise eine Antistigmatisierungskampagne ent-           teil, dass dies mit digitalen Tools optimiert wer-
wickelt mit einem gamifizierten E-Learning.            den kann.
Die Führungskräfte spielen Situationen in der
Interaktion mit Mitarbeitern durch und lernen,         Dr. Olaf Tscharnezki, Unilever: Ich sehe das ähn-
wie sich ihr Verhalten auf die Psyche des Mitar-       lich. Ich finde es nicht erstrebenswert, wenn
beiters auswirkt. Über E-Learning-Tools schulen        Menschen ein Armband oder eine App nutzen,

                                                                                                                                      21
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

                         die sie daran erinnern, dass sie jetzt eine Pause      sind dann wir als Experten gefragt. Führungs-
                         machen sollten oder sich bewegen. Mein Ansatz          kräfte brauchen nach meiner Erfahrung immer
                         wäre immer, den Menschen dabei zu helfen,              wieder Unterstützung und Impulse, damit sie
                         dass sie selbst merken, wie es ihnen geht und          gesunde Führung leben können.
                         was ihrer Gesundheit guttut. Insofern finde ich
                         vor allem Online-Coaching in bestimmten Berei-         Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Der strategi-
                         chen interessant: als Intervention bei leichten        sche Ansatz ist unverzichtbar. Nur wenn Gesund-
                         psychischen Störungen, depressiven Verstim-            heit systematischer Teil der Unternehmensleit-
                         mungen, Ängsten. Oder auch für Ernährung und           linien, der Führungsleitlinien etc. ist, wird sich
                         Bewegung. Diese Hilfe zur Selbsthilfe finde            auch eine gesunde Arbeitsatmosphäre einstellen.
                         ich erstrebenswert.                                    Gerade haben wir das Thema Gesundheit bei-
                                                                                spielsweise auch in die Ausbildungslehrgänge
                         Dr. Ralf Franke, Siemens: Auf jeden Fall bringt die    aufgenommen. Diese strukturelle Verankerung
                         Digitalisierung auch im BGM ganz neue Mög-             des Themas Gesundheit bereits zu Beginn der
                         lichkeiten mit sich. Wir denken durchaus darüber       beruflichen Karrieren bei Bertelsmann ist auch
                         nach, wie wir die Technologie nutzen können,           eine Folge des strategischen Ansatzes.
                         um die Kommunikation über weite Distanz zwi-
                         schen Führungskraft und Mitarbeiter zu verbes-         Dr. Andreas Tautz, Deutsche Post DHL Group:
                         sern. Viele Chefs sehen ihre Mitarbeiter ja kaum       Das stimmt. Aber es muss ja vor allem bei den
                         noch. Auch Telemedizin ist ein interessantes           Beschäftigten Akzeptanz finden. Das erfordert
                         Feld für das BGM. Und es könnten auch Apps             Vertrauen, in die Führungskräfte, in mich selbst
                         sein – natürlich nur fundierte.                        als Mitarbeiter, in meine Teamkollegen, und
                                                                                ebenso das Vertrauen der Führungskräfte in
                         Der Einstieg in das Thema gesunde Führung gelingt      ihre Teams. Es geht um die Selbstverständlich-
                         inzwischen offensichtlich oft. Doch wie etabliert      keit, sich am Arbeitsplatz authentisch verhalten
                         man gesunde Führung nachhaltig im Unternehmen?         zu können und dabei respektvoll miteinander
                                                                                umzugehen. Das sagt sich leicht, erfordert aber
                         Dr. Andreas Tautz, Deutsche Post DHL Group: Das        durchgängig die Anstrengung des Unterneh-
                         ist primär eine Frage der Unternehmens-DNA,            mens, die Basis hierfür zu legen und zu über-
                         dazu braucht es eine Grundüberzeugung, wie             prüfen, ob diese noch stimmt.
                         z. B. unser „Respekt und Resultate“-Leitbild,
                         dessen konsequente Umsetzung und den per-              Herr Franke sagte bereits: Der Fokus auf den
                         manenten Dialog mit den Beschäftigten. Wir             Krankenstand lässt nach – und das sei erfreulich.
                         müssen erklären, warum Entscheidungen ge-              Aber wie prüft man dann den Erfolg des BGM?
                         troffen werden, und wir müssen zuhören, was
                         unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benö-          Dr. Andreas Tautz, Deutsche Post DHL Group: Der
                         tigen, um einen hervorragenden Job zu machen.          Krankenstand ist natürlich ein harter und unver-
                         Instrumente wie die bei uns jährlich durchge-          zichtbarer Trendparameter! Er verleitet aber zu
                         führte Mitarbeiterbefragung helfen hier, aktuelle      Reaktion statt zu Prävention. Und er ist nicht
                         Trends und Handlungsbedarfe systematisch zu            kurzfristig zu beeinflussen – außer Sie wollen,
                         identifizieren.                                        dass Menschen aus Angst vor Repression krank
                                                                                zur Arbeit kommen. Dann wären wir beim soge-
                         Dr. Ralf Franke, Siemens: Es ist auf jeden Fall kein   nannten Präsentismus, und der ist im wahrsten
                         Selbstläufer. In dem Moment, wo der Vorstand           Sinne des Wortes kontraproduktiv. Man muss
                         das Thema für sich als wichtig erkennt und auch        die Zahlen und Erkenntnisse miteinander ver-
                         dafür einsteht, als Vorbild agiert und es voran-       knüpfen: In einem Datenanalyseprojekt haben
                         treibt, geht es in die Fläche. Nur dann findet es      wir unterschiedlichste Daten zur Beschäftig-
                         bei den Führungskräften Akzeptanz. Und dann            tenstruktur, dem Influenza-Index, der Arbeits-
                         kommen natürlich die Fragen: Was muss ich              mittelgestaltung, dem Glücksindex und der Mit-
                         tun? Wie kann ich die Gesundheit meiner Mit-           arbeiterbefragung miteinander korreliert. Nicht
                         arbeiter steuern und positiv beeinflussen? Da          überraschend spielten Alter und Geschlecht bei

22
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

den Krankenstands-Ursachen eine wichtige              den Standorten – diese Individualität ist wichtig,
Rolle – aber der größte Hebel zur Beeinflussung       denn jeder Standort hat andere Anforderungen.
der Beschäftigtengesundheit bzw. des Kranken-
standes war die von den Beschäftigten empfun-         Dr. Silke Wiedemann, thyssenkrupp: Von der Stra-
dene Handlungsfähigkeit und deren Arbeitszu-          tegie bis zur Kultur ist es ein langer Weg, das
friedenheit. Ein Gesundheitsmanagement ist also       erleben wir auch täglich. Was Inhalte angeht,
dann erfolgreich, wenn es durch ein wertebasier-      finde ich es ermutigend, dass Themen rund um
tes Management getragen, in alle Management-          die Psyche langsam aus der Tabu-Ecke kom-
strukturen integriert und in den Prozessen ver-       men – auch international. Im vergangenen Jahr
stetigt ist.                                          sprach ein chinesischer Geschäftsführer über die
                                                      Hilflosigkeit, die er erlebte, nachdem ein Mitar-
Gesundheitsmanagement im Unternehmen ist              beiter depressiv wurde. Und das war kein ver-
extrem komplex – dennoch die Frage: Kann man          trauliches Zweiergespräch, sondern in der Dis-
das Wesen des modernen Begriffs von Gesundheit        kussionsrunde nach meinem Vortrag auf einer
in wenigen Worten auf den Punkt bringen?              CEO-Konferenz.

Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Das Thema
Balance ist ein guter Überbegriff. Es geht um
mehr Balance in allen Bereichen. Nur so kann
dauerhafte Leistungsfähigkeit erhalten werden.
Im Arbeitsalltag heißt das, dass neben Leistungs-
zeiten auch Zeiten für Pausen oder Reflexion an
Bedeutung gewinnen. In Bezug auf den Lebens-
lauf kann das heißen, dass ein Unternehmen
Bedürfnisse von Beschäftigten sieht und bei-
spielsweise Teilzeitarbeit oder Sabbaticals mög-
lich macht, weil es der langfristigen Arbeitsfähig-
keit dient, wenn Menschen ihr Arbeitspensum
in bestimmten Lebensphasen verändern können.
Auch gesunde Ernährung oder Sport hat viel mit
Balance und Ausgewogenheit zu tun.

Ein weiterer großer Schritt hin zu einem moder-
nen BGM ist, dass man von der Fehlzeiten-
Betrachtung wegkommt und sich mehr um die
Mitarbeiter kümmert, die da sind. Das finde ich
sehr gut.

EfH war ein internationales Netzwerk – was sind
derzeit die größten Herausforderungen des BGM
aus der Sicht von europäischen und internationalen
Konzernen?

Dr. Stefan Webendörfer, BASF: Ganz klar – die
Umsetzung der Standards unseres BGMs an allen
Standorten, ganz gleich, ob großes oder kleines
Unternehmen. Wir haben dazu einen BGM-Leit-
faden mit fünf Punkten entwickelt – von Arbeits-
schutz bis zur betrieblichen Gesundheitsförde-
rung (BGF). Die konkrete Umsetzung erfolgt in

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Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation

Das betriebliche Gesundheitsmanagement
der Zukunft

                         Mitglieder des Netzwerkes benennen die wichtigsten Handlungsfelder

                         Die Mitglieder von ‚Enterprise for Health‘           liche Verankerung nicht. Sie muss auch mit
                         arbeiten in Konzernen, in denen Gesundheit als       Leben gefüllt werden. Das Ziel ist, dass Gesund-
                         Thema schon lange etabliert ist. Dennoch stel-       heit in allen Aspekten des Arbeitens eine Rolle
                         len Digitalisierung und Flexibilisierung auch        spielt, im Mitarbeitergespräch, in der Arbeitsge-
                         in diesen Firmen das Gesundheitsmanagement           staltung etc. Die Führungskräfte agieren selbst
                         vor große Herausforderungen. Was sind heute          als Vorbild. Bei der Umsetzung dieses strategi-
                         die größten Baustellen im BGM? Was brauchen          schen Ziels sehe ich allerdings auch eine große
                         Beschäftigte, um gesund zu bleiben? Und wie          Verantwortung für uns. Denn Führungskräfte
                         setzen wir ein modernes BGM in der Praxis um?        haben ja sehr viele Aufgaben. Um sie für das
                         Experten aus Unternehmen berichten:                  Thema Gesundheit mit ins Boot zu holen, muss
                                                                              man sie erreichen und auch überzeugen.“
                         Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Wir müssen die
                         Führungskräfte noch mehr überzeugen.                 Dr. Andreas Tautz, Deutsche Post DHL Group:
                                                                              Gesundheit fordert ein Management by Values.
                         „Der strategische Aspekt von BGM ist zwar nicht
                         ganz neu – wird aber jetzt erst nach und nach        „Da ist zuallererst das systematische Betrei-
                         tatsächlich umgesetzt. Gesundheit wird damit         ben des BGM – entlang der Anforderung von
                         zum festen Bestandteil der Arbeit. Das bedeutet,     Beschäftigten, Kunden und Investoren bzw.
                         dass das BGM in allen Leitlinien des Unterneh-       Stakeholdern. Also die Implementierung eines
                         mens verankert wird, z. B. auch in den Füh-          integrierenden Gesundheitsmanagementansat-
                         rungsleitlinien. Natürlich reicht die schrift-       zes, inklusive Arbeits- und Gesundheitsschutz

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