Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation - Enterprise for Health'
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Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 ‚Enterprise for Health‘ – ein Netzwerk für betriebliches Gesundheitsmanagement Impulse und Ergebnisse aus fast zwei Jahrzehnten Netzwerkarbeit (2000 – 2018) 7 Megatrends in der Arbeitswelt: Digitale Transformation und alternde Erwerbsbevölkerung Prof. Dr. Wilhelm Bauer 10 Die Basis für gesunde Mitarbeiter und Unternehmen schaffen Prof. Dr. Isabell Welpe 13 „Gesundheitsförderung im Betrieb nutzt Unternehmen ebenso wie der Gesellschaft.“ Fünf Fragen an Prof. Dr. Rita Süssmuth, Präsidentin des Europäischen Unternehmensnetzwerkes ‚Enterprise for Health‘ 16 Anforderungen an das betriebliche Gesundheitsmanagement in einer digitalen Welt Franz Knieps 18 Der größte Hebel für die Gesundheit ist Handlungsspielraum und Arbeitszufriedenheit Im Gespräch mit Mitgliedern des Netzwerkes Enterprise for Health 20 Das betriebliche Gesundheitsmanagement der Zukunft Mitglieder des Netzwerkes benennen die wichtigsten Handlungsfelder 24 Impulse für die Gesundheitsförderung und Prävention in der Arbeitswelt Martin Spilker, Detlef Hollmann, Dr. Gregor Breucker, Dr. Julia Schröder 27 Literatur 30 Autoren und Mitwirkende 32 Mitgliederliste ‚Enterprise for Health‘ 33 Teilnehmerliste 34 Job-Stressanalysis 36 Impressum 37 4
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Vorwort 2000 war die Geburtsstunde des Europäischen Netzwerkes ‚Enterprise for Health‘. Damals machten sich 20 europäische Unternehmen auf den Weg, um ein Thema visionär zu diskutieren und weiterzuentwickeln – ein Thema, das im Rahmen der Unternehmenskultur- und Mana- gementliteratur lange Zeit ein Schattendasein führte: das betriebliche Gesundheitsmanage- ment. Verortete man es doch bei der Verant- wortlichkeit rein als Domäne der Betriebsärzte und assoziierte mit den Aufgaben am ehesten die Einhaltung von Sicherheitsvorschriften, in fortschrittlichen Fällen auch schon mal mit Maßnahmen in Form von Rückenschulen, Grippeschutzimpfungen oder Check-ups. „Menschen nehmen Sorgen aus dem Unternehmen mit nach Hause – Menschen kommen aber auch mit Sorgen bereits in das Unternehmen.“ Das war einer der Paradigmenwechsel, den das Netzwerk von Beginn an in den Zielen und seiner Arbeit ver- „Erhalt der Gesundheit ist nicht nur Teil der gesell- innerlichte und damit die festgefügte Trennung schaftlichen Verantwortung eines Unternehmens, zwischen betrieblicher und persönlicher Sphäre sondern bedarf der aktiven Mitwirkung des Einzel- auflöste. Denn kein Mitarbeiter gibt am Werk- nen!“ Diese Forderung nach einer stärkeren tor Werte wie Respekt und Wertschätzung oder Eigenverantwortung des Mitarbeitenden zum Bedürfnisse nach Teilhabe und Sinnstiftung ab. Erhalt seiner Leistungs- und Beschäftigungs- fähigkeit nahm perspektivisch die Herausfor- „Ein betriebliches Gesundheitsmanagement gehört derungen einer modernen Arbeitswelt mit ihren zur mitarbeiterorientierten Unternehmenskultur – Anforderungen an Flexibilität, Agilität und eine mitarbeiterorientierte Unternehmenskultur Mobilität, aber auch an das lebenslange Lernen ist aber die beste betriebliche Gesundheitspolitik.“ vorweg. Das bedeutete einen weiteren Umdenkungs- prozess, rückte er doch die Verantwortung und „Betriebliches Gesundheitsmanagement beginnt mit Zusammenarbeit aller betrieblichen Akteure in der Prävention und Aufklärung, wartet also nicht den Mittelpunkt. Man belässt die Aufgabe nicht erst den Versorgungsfall ab – schon gar nicht umge- mehr allein beim Betriebsarzt, sondern definiert kehrt!“ Die Betonung der Vorbeugung unter- die Gestaltung der Führungskultur und damit die streicht, wie wichtig die Verhältnisprävention Rolle der Führungskraft neu. durch eine mitarbeiterorientierte Arbeitskultur ist, die Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglich- keiten, Anerkennung und Sinnstiftung umfasst. 5
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Voraussetzung sind die Selbstreflexion der Ich danke allen beteiligten Experten und Unter- Führungskräfte und deren Sensibilität für ihren nehmen, dem BKK Dachverband als Kooperations- Führungsstil. partner von Beginn an, den Projektverantwort- lichen Dr. Gregor Breucker und Detlef Hollmann, Was heute als selbstverständlich gelten mag, besonders aber der Präsidentin Professorin Dr. bedeutete damals mit Blick auf die Suche nach Rita Süssmuth für das großartige Engagement, neuen Lösungen Pionierarbeit. Denn als das viele kreative Impulse und die außergewöhnliche Netzwerk unter der Präsidentschaft von Profes- Verbundenheit über all die Jahre. Die vertrauens- sorin Dr. Rita Süssmuth seine Arbeit aufnahm, volle Zusammenarbeit hat das Europäische Netz- war die Welt noch eine andere. Gerade einmal werk ‚Enterprise for Health‘ fachlich und mensch- zehn Jahre vorher hatte die Öffnung des Eisernen lich zu etwas ganz Besonderem gemacht, weil Vorhangs eine neue Phase der Globalisierung sich alle mit Leidenschaft und Kompetenz dem eingeläutet. Gleichzeitig steckte der technolo- Netzwerkgedanken verschrieben haben. gische Wandel noch in den Kinderschuhen. Das Smartphone sollte erst sieben Jahre später die digitale Weltbühne betreten und gemeinsam mit der Künstlichen Intelligenz und Robotik die Art, Liz Mohn wie wir produzieren, arbeiten und kommunizie- Stellvertretende Vorsitzende des Vorstandes ren, revolutionieren. der Bertelsmann Stiftung Wie zukunftsweisend viele Inhalte des Netz- werkes waren, zeigt sich wohl am ehesten am Beispiel der Diskussion von psychischen Belas- tungen am Arbeitsplatz. Nicht nur, dass das Netzwerk sehr früh die Folgen von Stress, Über- forderung, Konflikten, Missachtung etc. auf die Psyche und Leistungsfähigkeit des Menschen thematisierte – mit der ganzheitlichen Betrach- tung des Arbeitsumfeldes, von der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit mit anderen Lebensbereichen über den Umgang mit Diversität und Unterschied- lichkeiten bis hin zum Wissensmanagement und lebenslangen Lernen, wurde der Blickwinkel des betrieblichen Gesundheitsmanagements ent- scheidend erweitert. Gleichzeitig war die außergewöhnliche Lern- bereitschaft und methodik des Netzwerkes, z. B. durch das Peergroup-Learning, in vielen Teilen ihrer Zeit voraus. Die Selbstverständlichkeit und Offenheit, mit der die Netzwerkmitglieder ihr Wissen und ihre Erfahrungen innerhalb und außerhalb des Netzwerkes geteilt haben, bleibt vorbildlich – immer dem Grundsatz folgend: Wissen ist kein Eigentum! Dabei hat sich ein- mal mehr bestätigt, dass Websites und soziale Medien für den Austausch von Informationen wichtig sind, aber den Austausch Face to Face nicht ersetzen können. Technologie sollte dem Menschen folgen und nicht umgekehrt: Das gilt nicht nur beim Thema „Gesundheit“. 6
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation ‚Enterprise for Health‘ – ein Netzwerk für betriebliches Gesundheitsmanagement Impulse und Ergebnisse aus fast zwei Jahrzehnten Netzwerkarbeit (2000 – 2018) Anfang 2000 startete eine kleine Gruppe von Depositos und das britische Pharmaunternehmen Unternehmen gemeinsam mit den beiden Trä- SmithKlineBeecham. Von Beginn an leitete Prof. gern, der Bertelsmann Stiftung und dem dama- Dr. Rita Süssmuth das Netzwerk als Präsidentin, ligen Bundesverband der Betriebskrankenkassen, unterstützt durch einen wissenschaftlichen Bei- das Projekt Europäisches Unternehmensnetz- rat, den Prof. Dr. Eberhard Ulich für die Arbeits- werk ‚Enterprise for Health‘. Ziel des Netzwer- psychologie und Prof. Dr. Jean-François Caillard kes: das betriebliche Gesundheitsmanagement für die Arbeitsmedizin bildeten. vom Nischenthema zu einem zentralen Element einer partnerschaftlichen Unternehmenskultur Aus dem Projekt entwickelte sich bald ein dauer- zu entwickeln. Zu den Gründungsunternehmen haftes Unternehmensnetzwerk, dem in den fast gehörten Bertelsmann, Volkswagen, REWE, zwei Jahrzehnten 40 Unternehmen aus vielen der norwegische Büromöbelhersteller HAG, die europäischen Ländern sowie unterschiedlichen portugiesische Sparkassengruppe Caixa Geral de Branchen angehörten. ‚Enterprise for Health‘ – Unternehmenskultur und betriebliche Erfolgsfaktoren für Business Excellence Gesundheitspolitik y sit n r he er tu iv ic ul D re l sk de n/ be en an te en ns hm rW ei er e rn be nt ch hk ne Le Le e U ftli it lic e ch be as es g n ed ha fis un re sC Ar ng hi sc ra de hr la sc le es r og Fü ne an ns ib er sin em be ex rt d d nt Bu un un pa Fl le D U d it t nd ei un be tu dh ar G iale e en un ht w it bs Er e ec em z es er n rk so r vo nba ag m - ge ho s en an its yc ei iss he Ps r Ve W nd u es G 7
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation ‚Enterprise for Health‘: die Mission welt: Gesundheitsförderliche Arbeit und eine mitarbeiterorientierte Unternehmenskultur Grundlage der Netzwerkarbeit war die geteilte gehören zusammen, sind im besten Fall untrenn- Überzeugung, eine mitarbeiterorientierte betrieb- bar miteinander verbunden. Dabei finden sehr liche Gesundheitspolitik voranzutreiben, sowohl unterschiedliche kulturelle Ausprägungen – zwi- in den beteiligten Mitgliedsunternehmen als schen Branchen, Regionen in Europa, aber auch auch darüber hinaus. In dieser Mission des Netz- innerhalb von Unternehmen – Berücksichtigung. werkes verband sich das langjährige Engagement Erst und nur in dieser Verbindung kann sich der beiden Trägerorganisationen in zwei sich betriebliches Gesundheitsmanagement zu einem ergänzenden Feldern – der partnerschaftlichen Treiber von Business-Excellence entwickeln. Abb.1 Unternehmenskultur und der betrieblichen Gesundheitsförderung. Dieses Grundverständnis hat das Netzwerk über seine gesamte Themen-Agenda durch Erfah- Da die gesundheitliche Prävention auch durch rungsaustausch, Expertenbeiträge und gemein- die Europäische Kommission aufgegriffen und sames Lernen entwickelt. In zwei internationalen unterstützt wurde, lag es nahe, eine bewusst Management-Konferenzen konnten andere europäische Ausrichtung für das Netzwerk zu Unternehmen sich in diesen Erfahrungsaus- wählen – als Ausdruck einer engen Wertever- tausch einbringen. bundenheit, getragen von sozialem Zusammen- halt und wirtschaftlichem Erfolg. Foto 1 Dieses erweiterte Gesundheitsverständnis setzt Kooperation zwischen verschiedenen innerbe- trieblichen Funktionen voraus – in ‚Enterprise Die Ergebnisse der Netzwerkarbeit for Health‘ waren die Mitglieder verschiedener Handlungsfelder vertreten (Arbeitsmedizin, Das wichtigste Ergebnis ist ein erweitertes Ver- Arbeitsschutz, Personalmanagement, Werks- ständnis bezüglich der Treiber und Erfolgsfakto- leitungen, Arbeitsgestalter u. a.). ren für die Gesundheitsförderung in der Arbeits- 8
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation ‚Enterprise for Health‘ hat viele Impulse für • Netzwerkansätze eignen sich gleichermaßen Verbesserungen in den Mitgliedsunternehmen für größere und multinational agierende Unter- vermitteln können und seine Arbeitsergebnisse nehmen wie für kleinere und mittelständische auch anderen Unternehmen zugänglich gemacht. Betriebe. KMU profitieren besonders von kom- munalen und regionalen Netzwerkmodellen. Schließlich hat das Netzwerk, auf nationaler und Gerade hier setzt die nationale Präventions- europäischer Ebene, auch zu einer Steigerung strategie in Deutschland einen Schwerpunkt, des politischen Stellenwertes des betrieblichen denn sie fordert einen Ausbau der Kooperation Gesundheitsmanagements beigetragen. zwischen Betrieben, Krankenkassen und sons- tigen Akteuren in der betrieblichen Gesund- ‚Enterprise for Health‘ hat seine Netzwerkarbeit heitsförderung, besonders auf kommunaler erfolgreich beendet. Die Ergebnisse werden zu- und regionaler Ebene. künftig als Impulse für weiterführende und neue • Mit der zunehmenden Digitalisierung wird sich Initiativen, sowohl durch seine Mitglieder als auch die Arbeitswelt in den nächsten Jahren deutlich durch die beiden Trägerorganisationen, genutzt. wandeln – auch besonders in Bezug auf die gesundheitlichen Belastungen der Beschäftig- ten. Vor allem die psychischen und sozialen Impulse für Unternehmen und die Arbeitsbedingungen werden für die betriebliche Gesundheitsförderung an Bedeutung gewinnen. betriebliche Gesundheitspolitik Der von ‚Enterprise for Health‘ erprobte Netz- • Unternehmensnetzwerke sind optimal, wenn werkansatz ist der vielversprechende Weg, um es darum geht, gute Praxis in der betrieblichen diesen Herausforderungen zu begegnen. ‚Enter- Gesundheitsförderung zu verbreiten. Auf nati- prise for Health‘ – Unternehmen für Gesundheit onaler Ebene wirkt inzwischen das Deutsche – bleibt somit ein Treiber für gesundheitsförder- Netzwerk ‚Unternehmen für Gesundheit‘ in liche Arbeit (https://www.bertelsmann-stiftung. eine vergleichbare Richtung. de/EFHvideo). ‚Enterprise for Health‘, 2000 – 2018 2002 2013 – 2017 EfH-Netzwerktreffen 24. bis 28. EfH-Netzwerktreffen • GlaxoSmithKline, London • BASF, Ludwigshafen • Usinor, Aix-en-Provence • Eurofound, Dublin • BKK Dachverband, Berlin • BKK Dachverband, Berlin 2000 • thyssenkrupp AG, Essen Start EfH als Projekt 2004 – 2012 6. bis 23. EfH-Netzwerktreffen 2005 EfH-Managementkonferenz: 2018 • Bertelsmann-Repräsentanz, Berlin Abschluss des Netzwerkes EfH 2001 • EfH-Fachgespräch, Berlin EfH-Netzwerktreffen • Abgeordnetenhaus, Berlin 2008 EfH-Managementkonferenz 2003 • GlaxoSmithKline, London EfH-Netzwerktreffen • Alcoa, Budapest 9
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Megatrends in der Arbeitswelt: Digitale Transformation und alternde Erwerbsbevölkerung Prof. Dr. Wilhelm Bauer „Nicht jeder muss Informatik studieren, aber jeder muss sich in der digitalen Welt bewegen können.“ Zwei Zukunftstrends prägen hierzulande die Arbeit: zum einen die digitale Transformation der Arbeitsgesellschaft, die auch als „vierte industrielle Revolution“ oder kurz als „Industrie 4.0“ bezeichnet wird. Auslöser und Beschleuni- ger der digitalen Transformation ist der Fort- schritt in den Feldern der Elektronik, der Mikro- system- und der Informationstechnologie. Wir sprechen hier vom „Internet der Dinge“, von „Cyber-physischen Systemen“ oder von „lernen- den Maschinen“ auf Basis künstlicher Intelligenz, die eine neue Stufe der arbeitsteiligen Organisa- tion von Wertschöpfungsprozessen einleiten. Die Netzwerk-Ökonomie erschließt neue Produktivi- tätspotenziale auf den globalen Märkten, was sich Gesunde Arbeitsbedingungen positiv auf den Lebensstandard der Menschen ermöglichen Beschäftigten den auswirken wird. Foto 3 Wandel Zum anderen ist die Zukunft der Arbeit durch eine alternde Erwerbsbevölkerung gekennzeich- net. Am Fraunhofer IAO beforschen wir seit über Die Regelaltersgrenze, die einen gesetzlichen 15 Jahren den sozio-demografischen Wandel. Was Anspruch auf Altersrente begründet, wurde bereits seinerzeit als akademische Diskussion begann, vor über einem Jahrzehnt angehoben. Trotzdem ist mittlerweile alltägliche Herausforderung in sind derzeit nur etwa zwei Drittel der 55- bis den Betrieben. Mittelständische Unternehmen, 64-jährigen Deutschen erwerbstätig. Ein erheb- insbesondere jene abseits der attraktiven Metro- licher Anteil des brachliegenden Arbeitskräftepo- polregionen, berichten uns über ihre Schwierig- tenzials umfasst leistungsgewandelte Personen. keiten, qualifizierten Nachwuchs zu rekrutieren. Daher gilt es zunächst, gesunde Arbeitsbedin- Zudem fällt es vielen älteren Beschäftigten schwer, gungen zu schaffen, damit Leistungswandlung ihren Beruf bis zum gesetzlichen Renteneintritts- kein Grund ist, um vor dem 67. Lebensjahr aus alter auszuüben. Das betrifft nicht nur körperlich dem Arbeitsleben auszuscheiden. belastende Tätigkeitsfelder, wie etwa im Hand- werk oder in der Logistik, sondern auch pflegende Wir wissen, dass sich die Altersstruktur der und pädagogische Berufe mit hoher emotionaler Erwerbstätigen im Zuge des sozio-demogra- Verausgabung. fischen Wandels erheblich verändern wird. In 10
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Deutschland sinkt die Anzahl der Menschen im laboration von Mensch und Roboter? Wie lassen Erwerbsalter von derzeit knapp 50 Millionen auf sich sensorbasierte Wertschöpfungsnetzwerke etwa 44 Millionen im Jahr 2030. Zugleich werden konsequenter am Kundenbedarf und weniger an neue, digitale Technologien eine ganze Reihe von innerbetrieblichen Strukturen ausrichten? Wie Arbeitsplätzen ersetzen. Viele Tätigkeiten und können digitale Plattformen individuelle Mobi- Qualifikationen sind einfach nicht mehr erforder- litätsbedürfnisse bündeln und dadurch den urba- lich. Eine rein quantitative Betrachtung – etwa nen Verkehr effizienter organisieren? von Beschäftigtenzahlen – führt uns angesichts dieser gegenläufigen Trends nicht weiter. Die Die Beispiele veranschaulichen, dass die zukünf- digitale Transformation hat vielmehr eine starke tige Wertschöpfung verstärkt immaterielle Kom- qualitative Dimension. Nicht ohne Grund wird die ponenten einbezieht, wie kreative Ideen, Algorith- öffentliche Diskussion von Themen wie Koopera- men und Software. Die Kernidee der Digitalisie- tion, Lernen, Kreativität und Gesundheit geleitet. rung ist das Verbindende. Das mündet in neuen Dies sind grundlegende Voraussetzungen, um Formen einer kompetitiven und wertschöpfenden disruptive Umwälzungen in einer komplex ver- Kooperation, die sich mehr denn je am Kunden netzten Arbeitswelt erfolgreich zu bewältigen. und seinen speziellen Bedarfen orientieren. Somit erfordern neue Jobs nicht nur digitales Know-how, sondern auch soziale Kompetenzen. Nicht jeder Jobanforderung 4.0: Digitales muss Informatik studieren, aber jeder muss sich in der digitalen Welt bewegen können. Know-how plus soziale Kompetenz Damit sind wir bei einer Verbindung der beiden Forderung und Fairness als eingangs skizzierten Megatrends – der Digitali- Eckpunkte gesunder Arbeit sierung und des sozio-demografischen Wandels. In der Arbeitsforschung geht es dabei um eine fortschreitende Konvergenz von Mensch und Zunächst sollten wir die Rolle des Menschen Technik: Können Datenbrillen etwa die senso- in einer digitalisierten Arbeitswelt betrachten: rischen Leistungseinschränkungen älterer Im Wirtschaftsleben wird das Quantitative und Menschen angemessen kompensieren? Welche Berechenbare verstärkt durch das Qualitative – Sicherheitsstandards benötigen wir bei der Kol- und damit Unberechenbare – ergänzt. Der ziel- 11
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation gerichtete Umgang mit derart mehrdeutigen und formation sehe ich die Notwendigkeit, dass die unbeständigen Situationen ist eine Stärke des Politik den Erfahrungsaustausch von Unterneh- urteils- und entscheidungsfähigen Menschen. men, Wissenschaft und Gesellschaft noch inten- Seine kreativen und kommunikativen Fähigkei- siver fördert, etwa anhand von sogenannten ten machen den Unterschied bei der Kundenori- „Reallaboren“. Derart interdisziplinäre und entierung. experimentelle Forschungsansätze können unter generationenübergreifenden Kontextbedingun- Wir stellen in unseren Projekten immer wieder gen eine Brücke zwischen Praxis und Theorie fest, dass diejenigen Mitarbeiter am gesündesten schlagen. Auf diese Weise entsteht Wissen, das sind, die eine sinnvolle Arbeitstätigkeit als Her- zukunftsweisende Veränderungen in unserer ausforderung für ihr eigenes, zukunftsorientier- Arbeitsgesellschaft bewirkt. tes Wachstum wahrnehmen, die kreative Ideen in ihre Arbeit einbringen können und Rückmeldung hierüber erhalten; die faire und vertrauensvolle Kooperationsbeziehungen mit ihren Vorgesetz- ten und Kollegen pflegen. Gesunde Arbeitsbedin- gungen respektieren die Unterschiedlichkeit der Menschen. Gesunde Arbeit beschreibt eine Viel- zahl jener kulturellen Merkmale, die den Erfolg in der digitalen Wirtschaft ausmachen. Kurzum: Wie kann sich ein gesunder Mensch an verän- derte Arbeitsbedingungen anpassen, ohne „den Boden unter den Füßen“ zu verlieren? Von Best Practice lernen In Kontext der Netzwerk-Ökonomie liegt die vornehmliche Aufgabe der Politik nicht so sehr im Erlass neuer Arbeitsschutzgesetze. Der Impuls zu einer gesunden Arbeitsweise muss vielmehr „von innen“ kommen, durch Einsicht und über- zeugende Erfahrungen. Für die digitale Trans- 12
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Die Basis für gesunde Mitarbeiter und Unternehmen schaffen Prof. Dr. Isabell Welpe Die technologischen Entwicklungen wie Smart- phones und Cloud-Lösungen bedingen beispiels- Was können Führungskräfte und Organisatio- weise die Gefahr, dass räumliche und zeitliche nen tun, um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter Flexibilität in eine exzessive oder quasi ständige zu fördern und ihre Leistungsfähigkeit auch im Erreichbarkeit von Arbeitnehmern für ihren digitalen Zeitalter auf einem hohen Niveau zu Arbeitgeber umschlägt. halten? Flexible Arbeitsmodelle und die mobile Nutzung digitaler Technologien einerseits sowie Ob es jedoch zu einer konstanten Verfügbarkeits- eine höhere Gesundheitsorientierung bei Füh- erwartung kommt oder nicht, hängt maßgeblich rungskräften und in Organisationen andererseits von den Kommunikationsnormen im Team und sind zwei wichtige Schlüsselfaktoren. von den Erwartungen der Organisation ab. So profitieren alle Beteiligten davon, wenn die Norm im Team eine unterschiedliche Nutzung mobiler Flexible Arbeitsmodelle richtig Kommunikationskanäle vorsieht – wenn es also in Ordnung ist, dass manche Teammitglieder gestalten mobil von zu Hause oder unterwegs aus kommu- nizieren, andere dies aber beispielsweise gar Flexible Arbeitsmodelle können einen sehr guten nicht oder nur in Ausnahmefällen tun.1 Weg darstellen, um mit der höheren Belastung von Arbeitnehmern im digitalen Zeitalter umzu- Mit dem Phänomen der ständigen Erreichbarkeit gehen. In einer unserer Studien mit 2000 Berufs- steht auch die Beobachtung im Zusammenhang, tätigen fanden wir beispielsweise sehr positive dass flexible Arbeitsformen zu einer Extensivie- Effekte von räumlicher und zeitlicher Flexibilität: rung und Intensivierung der Arbeit führen kön- Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsort an ihre per- nen.2 Arbeitnehmer müssen mehr und intensiver sönlichen Präferenzen anpassen können, also arbeiten. Neben dem Gefühl, erreichbar sein zu z. B. von daheim oder im Café arbeiten können, müssen, spielt hier auch das Bedürfnis von Mit- und auch ihre Arbeitszeiten nach den persön- arbeitern eine Rolle, sich durch erhöhten Einsatz lichen Arbeitszeitvorlieben flexibel gestalten bei ihrem Unternehmen für die gewährte Flexi- können, sind zufriedener mit ihrer Arbeit, haben bilität zu „revanchieren“. geringere Kündigungsabsichten, zeigen mehr innovatives Verhalten am Arbeitsplatz, fühlen Damit flexible Arbeitsmodelle auch tatsächlich sich weniger gestresst und werden auch seltener gesundheitsförderlich für Arbeitnehmer sind, krank. Meta-Analysen bestätigen diesen Befund. sollten Unternehmen darauf achten, dass Mit- arbeiter diese nicht als einseitigen Vorteil für das Allerdings sollten Führungskräfte und Organisa- Unternehmen wahrnehmen. Sie sollten die Mög- tionen einige Rahmenbedingungen für den Erfolg lichkeit haben, Arbeitszeit und Arbeitsort auch dieser flexiblen Arbeitsmodelle kennen. an persönliche Bedürfnisse anzupassen. Dabei 1 Mazmanian, 2013. 2 Kelliher & Anderson, 2010. 13
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation ist es auch wichtig zu beachten, dass flexible nicht zu kurz kommt. Eine in den USA durch- Arbeitsmodelle nicht für jeden gleich gut geeig- geführte Studie4 zeigt beispielsweise, dass der net sind. Arbeitnehmer haben unterschiedliche Zusammenhang zwischen der im Homeoffice Segmentierungsbedürfnisse zwischen Arbeits- verbrachten Arbeitszeit (d. h. flexibler Arbeitsort- und Privatleben3 – wer beide Bereiche gerne wahl) und der Arbeits- und Lebenszufriedenheit möglichst getrennt voneinander hält, hat weni- von Arbeitnehmern die Form eines umgedrehten ger Nutzen von flexiblen Arbeitsmodellen als U hat – sehr wenig und sehr viel im Homeoffice derjenige, der beide Bereiche gerne integriert. verbrachte Arbeitszeit führte zu geringeren Genauso wie Unternehmen flexible Arbeitsfor- Zufriedenheitswerten als ein mittleres Maß an men für diejenigen unterstützen sollten, die Homeoffice-Zeit (~ 1,5 bis 2 Arbeitstage). diese wahrnehmen möchten, sollten sie auch akzeptieren, dass manche Mitarbeiter diese nicht in Anspruch nehmen wollen. Gesunde Organisationen Auch das Ausmaß, in dem Mitarbeiter flexible Wenn ein Unternehmen sich insgesamt zu einer Arbeitsmodelle nutzen, hat einen entscheidenden „gesunden Organisation“ entwickeln möchte, Einfluss darauf, wie viel sie und ihr Unterneh- spielen drei zentrale Komponenten eine Rolle, men von diesen profitieren können. Es scheint, nämlich gesunde Arbeit, gesunde Führung und als hätte dabei eine moderate Nutzung die posi- ein gesundheitsförderliches Organisationsklima.5 tivsten Effekte, da sie einerseits die individuellen Bedürfnisse von Mitarbeitern trifft, andererseits aber auch der persönliche Kontakt der Kollegen 4 Virick, DaSilva & Arrington, 2010. 5 Wilson, DeJoy, Vandenberg, Richardson & McGrath, 3 Shockley & Allen, 2010. 2004. 14
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Gesunde Arbeit Gesundheitsförderliches Organisationsklima Ein angemessenes Arbeitspensum ist ebenso wichtig wie ein hohes Kontroll- und Autono- mieempfinden, also die Möglichkeit, selbst zu Die Gesundheit der Mitarbeiter zu fördern liegt bestimmen, wann und wie man seine Arbeit nicht allein in den Händen individueller Füh- erledigt. Arbeit ist zudem gesundheitsförder- rungskräfte. Auch auf Organisationsebene muss lich, wenn sie als sinnstiftend und bedeutsam dieses Ziel verankert werden. wahrgenommen wird. Auch Rollenklarheit, also eindeutige Ziele und Verantwortlichkeiten bei der Dabei ist ein unterstützendes und um das Arbeit zu haben, ist wichtig. Wohlergehen der Mitarbeiter besorgtes Orga- nisationsklima von hoher Bedeutung. Darunter versteht man die Wahrnehmung der Mitarbeiter, Gesunde Führung dass die Organisation ihre Beiträge wertschätzt und sich um ihr Wohlbefinden sorgt.8 In als Führungskräfte können die Gesundheit ihrer unterstützend wahrgenommenen Organisatio- Mitarbeiter fördern. Am wichtigsten scheint es nen geht es also nicht allein um das Erreichen zu sein, dass Führungskräfte das Wohlbefinden der organisationalen Ziele. Stattdessen wird auf ihrer Mitarbeiter zu einer ihrer Prioritäten machen dem Weg zur Zielerreichung auf die Werte und und entsprechend gesundheitsorientiert führen. Bedürfnisse der Mitarbeiter achtgegeben. Ent- Gesundheitsorientiert führen kann jedoch nur scheidungen der Organisation werden nicht auf derjenige, der zunächst einmal auch auf sein dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen, und eigenes Wohlbefinden achtet – Führung beginnt entsprechend wird Fairness im Umgang mit den nicht von ungefähr mit dem Thema Selbstfüh- Mitarbeitern an den Tag gelegt. 6 rung . Die Forschung zeigt, dass Mitarbeiter ein unter- Im Sinne der Selbstführung gilt folgendes Prin- stützendes Organisationsklima wertschätzen zip: Wer als Führungskraft das Wohlbefinden und sich durch erhöhten Einsatz, höhere Loya- seiner Mitarbeiter positiv beeinflussen möchte, lität und bessere Leistung an ihrer Organisation sollte damit beginnen, über sein eigenes Wohl- „revanchieren“.9 befinden nachzudenken („Wie geht es mir / meiner Familie, wenn ich abends zu Hause noch arbeite?“) und sein Verhalten entsprechend anzupassen. Dass eine Vorbildwirkung von Füh- rungskräften das Wohlbefinden der Mitarbeiter positiv beeinflusst, ist bereits erwiesen: Füh- rungskräfte, die eine klare Trennlinie zwischen Beruf und Privatleben ziehen, zum Beispiel indem sie keine Arbeit mit nach Hause neh- men, regen bei ihren Mitarbeitern ein ähnliches Verhalten an, was wiederum die empfundene Erschöpfung ihrer Mitarbeiter und damit deren Burnout-Risiko reduziert.7 6 Franke, Felfe & Pundt, 2014. 8 Eisenberger, Huntington, Hutchison & Sowa, 1986. 7 Koch & Binnewies, 2015. 9 Eisenberger, Armeli, Rexwinkel, Lynch & Rhoades, 2001. 15
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation „Gesundheitsförderung im Betrieb nutzt Unternehmen ebenso wie der Gesellschaft.“ Fünf Fragen an Prof. Dr. Rita Süssmuth, Präsidentin des Europäischen Unternehmensnetzwerkes ‚Enterprise for Health‘ Prof. Dr. Rita Süssmuth, ehemalige Präsidentin dass das Betriebsklima einen großen Einfluss des Bundestages, wusste bereits im Jahr 2002: auf die Gesundheit der Beschäftigten hat. Wenn Gesundheit muss auch in Unternehmen ein Beschäftigte sich als Menschen gesehen fühlen, prominentes Thema sein, wenn man die Gesund- wenn es Handlungsspielräume gibt und Arbeit- heitswerte in der Bevölkerung verbessern möchte. nehmer ihre Führungskraft als unterstützend Sie wurde Präsidentin des ersten europäischen erfahren, ist dies enorm gesundheitsförder- Netzwerkes für Gesundheit im Unternehmen: lich. Auch die Produktivität, die Motivation und ‚Enterprise for Health‘. Belastbarkeit der Beschäftigten steigt. Aus die- sem Blickwinkel ist auch klar, dass Gesundheits- Prof. Dr. Rita Süssmuth, 15 Jahre Präsidentin für förderung mehr ist als ein gutes Sportangebot ‚Enterprise for Health‘ – was hatten Sie sich von im Betrieb. Diversität, Vereinbarkeit von Beruf solch einem Netzwerk erhofft? und Familie oder demografischer Wandel – all diese Themen spielen auf diesen ganzheitlichen Prof. Dr. Rita Süssmuth: Bereits zu meiner Zeit als Gesundheitsbegriff ein. Deshalb nahmen wir Familienministerin wurde mir sehr deutlich, dass sie im Netzwerk auch als gesundheitsrelevante Gesundheit nicht nur im Zuständigkeitsbereich Themen auf. von Erziehung, Ärzten oder Gesundheitswesen liegt. Gesundheit ist vielmehr eine gesamtgesell- Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt? schaftliche Aufgabe – in der die Arbeitswelt eine wichtige Rolle spielt. Mit dem Netzwerk ‚Enter- Prof. Dr. Rita Süssmuth: Bereits als wir anfingen, prise for Health‘ schufen wir erstmals für Unter- hatten einige Unternehmen ja bereits einiges nehmen die Möglichkeit, sich über das Thema getan, um ihre Beschäftigten in ihrer Gesund- Gesundheit im Betrieb deutschland- und sogar heit zu unterstützen. Doch in der Öffentlichkeit europaweit auszutauschen. Ein wichtiger Schritt war dies kaum bekannt. Zu Beginn, im Jahr zu einer ganzheitlichen Gesundheitsförderung. 2002, stand deshalb im Vordergrund, die guten Beispiele zu finden und darüber öffentlich zu Ganzheitliche Gesundheitsförderung – was verste- berichten. Darauf bekamen wir sehr viel Reso- hen Sie darunter genau? Foto 4 nanz. Später rückten der Austausch untereinan- der, die Fachkonferenzen in den Vordergrund. Prof. Dr. Rita Süssmuth: Aus Sicht des Unterneh- Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, mens stand lange Zeit der Arbeitsschutz im aber noch vor fünfzehn Jahren sprach kaum Vordergrund. Ein ganzheitliches Gesundheits- jemand über Prävention und ganzheitliche verständnis ist mehr: Zum Arbeitsschutz kommt Gesundheit im Betrieb. Ich denke, da haben wir die Prävention für körperliche sowie seelische einiges mit unserer Öffentlichkeitsarbeit nach Gesundheit. Wir wissen heute zum Beispiel aus vorne gebracht. Studien ebenso wie aus der Praxis der Betriebe, 16
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Themen der geht – also Fähigkeiten der Beschäftigten, auf Zukunft? die Unternehmen in der globalen Wirtschaft unbedingt angewiesen sind. Unternehmen, Prof. Dr. Rita Süssmuth: Dass wir neben der phy- die sich um die ganzheitliche Gesundheit ihrer sischen noch viel stärker auch die psychische Beschäftigten kümmern, schaffen also letztlich Gesundheit in den Fokus nehmen. Die Zunahme eine Win-win-Situation. Das zeigten die Bei- der psychischen Erkrankungen zeigt ja, dass hier spiele aus unserem Netzwerk sehr deutlich. Und etwas in Störung geraten ist. Und die Frage ist: wir hoffen, dass diese Good Practice auch dieje- Was können wir als Gesellschaft – und eben auch nigen Unternehmen überzeugt, die bisher noch in den Betrieben – dafür tun, um dem vorzubeu- zögern. gen oder auch gute Rehabilitierung möglich zu machen, damit möglichst viele Menschen zurück in Arbeit finden, wenn sie erkrankt waren? Das klingt nach sehr viel Verantwortung für die Unternehmen – passt das überhaupt in Zeiten von Globalisierung, Kostendruck und Agilität? Prof. Dr. Rita Süssmuth: Es geht nicht darum, die Verantwortung für die Gesundheit der Menschen auf die Betriebe zu verlagern. Es geht darum, eine grundlegende Erkenntnis umzusetzen, die für alle Seiten Gewinn bringt: Es ist heute unmissverständlich klar, dass Gesundheit Hand in Hand mit Innovationskraft und Produktivität 17
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Anforderungen an das betriebliche Gesund- heitsmanagement in einer digitalen Welt Franz Knieps für die Sozialversicherungsträger. Die digitale Arbeitswelt ist mit einer noch weiter gehenden Stärkung und Verbreitung des betrieblichen Arbeitszeitflexibilisierung verbunden, gleich- Gesundheitsmanagements (BGM) gehören zum zeitig entkoppelt sich die Arbeitstätigkeit immer Markenkern der Betriebskrankenkassen. häufiger von festgelegten Arbeitsorten – mobiles Arbeiten entwickelt sich zur Routine. In immer mehr Unternehmen ist das BGM Teil der Personal- und Gesundheitspolitik und damit Diese Veränderungen, deren Folgen für unsere auch ein immer wichtiger werdender Bestandteil Gesellschaft insgesamt noch nicht absehbar der Antworten auf die Herausforderungen, die sind, betreffen die psychischen und sozialen sich aus dem Wandel in der Arbeitswelt ergeben Arbeitsbedingungen; neue Belastungs- und Res- haben und weiterhin stellen werden. Mit der sourcenkonstellationen entstehen, die Anforde- Digitalisierung ist grundsätzlich eine Zunahme rungen an die individuelle Eigenverantwortung flexibler Arbeits- und Beschäftigungsformen und Selbststeuerung nehmen deutlich zu. Wir verbunden, mit aus gesundheitlicher Sicht kennen aus jüngsten Forschungsergebnissen die positiven Chancen, aber auch neuen Belastungen zentralen Faktoren für den Gesundheitsschutz und Beanspruchungen. Daraus ergeben sich neue und die Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz Gestaltungsfelder und aufgaben für die betrieb- – eine mitarbeiterorientierte Führungskultur, lichen Akteure, die Sozialpartner und ebenso Vermeidung zu hoher Arbeitsverdichtung und 18
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation ausreichende Handlungs- und Entscheidungs- als für Großunternehmen. Aus diesen Gründen spielräume. Jetzt wird es darum gehen, das BGM hat das BKK-System im letzten Jahr das „Deut- an diesen Leitplanken so auszurichten, dass sche Siegel Unternehmensgesundheit“ ins Leben die Betriebe und vor allem die Beschäftigten gerufen. Das Siegel ist ein Verfahren zur Beurtei- eigenverantwortlich ihre Arbeit gesundheits- lung der Qualität und Wirksamkeit des betrieb- gerecht organisieren können. lichen Gesundheitsmanagements und damit ein wichtiger und zukunftsorientierter Baustein für Die Betriebskrankenkassen haben deshalb mit den Erfolg und die Innovationskraft eines Unter- der Entwicklung eines digitalen BGM-Baukas- nehmens. Es bietet die Möglichkeit, das betrieb- tens begonnen. In diesem Baukasten werden liche Gesundheitsmanagement im Unternehmen qualitätsgesicherte, digitale wie analoge Präven- umfassend zu systematisieren. Handlungsfelder tionsangebote zur Verfügung gestellt werden, zur Verbesserung der psychischen und körperli- die sich inhaltlich an den Herausforderungen chen Gesundheit der Mitarbeitenden werden auf- von Arbeiten 4.0 orientieren und die flexibel, gezeigt und ergeben so einen fundierten Fahr- d. h. passgenau für die Beschäftigten der Betriebs- plan für die Weiterentwicklung des betrieblichen krankenkassen und deren Kundenunternehmen, Gesundheitsmanagements. nutzbar sind. Mit dem Präventionsgesetz hat die Politik gerade ‚Enterprise for Health‘ stand für das Ziel und den hier die Krankenkassen in die Verantwortung Anspruch, gesundheitliche Belange und Themen genommen, die Verbreitung guter Praxis noch in die betriebliche Personalpolitik zu integrieren. stärker und effizienter zu fördern und umzu- Nur die Berücksichtigung von gesundheitlichen setzen. Die nationale Präventionsstrategie wird Fragen im Führungsalltag von Unternehmen den Ausbau der regionalen Koordinierungsstellen schafft Chancen für eine gesundheitsförderliche für die betriebliche Gesundheitsförderung weiter Unternehmenskultur. Sie geht damit über gut forcieren und dazu auch die Aktivitäten der Sozi- gemeinte Leitbilder und allgemeine Führungs- alversicherungsträger unter einem neuen nati- grundsätze hinaus. Gemeinsam mit unserem onalen Präventionsziel bündeln – der Stärkung Partner, der Bertelsmann Stiftung, und den Mit- der akteursübergreifenden Zusammenarbeit auf gliedsunternehmen des Netzwerkes konnte in lokaler und regionaler Ebene unter Einbindung ‚Enterprise for Health‘ ein äußerst fruchtbarer der Unternehmensorganisationen. und innovativer Erfahrungsaustausch organisiert und umgesetzt werden. Viele der hier aktiven Die Betriebskrankenkassen setzen sich sehr für Unternehmen, darunter auch wichtige Träger- diesen Weg ein, auch weil wir aus erfolgreichen unternehmen der Betriebskrankenkassen, haben Netzwerken wie ‚Enterprise for Health‘ gelernt Pionierarbeit geleistet und sind auch Vorbilder haben, wie Verbreitung ganz im Sinne des sozia- für viele andere Unternehmen im Bereich des len Marketings organisiert werden muss. betrieblichen Gesundheitsmanagements. Wir werden die fruchtbaren Impulse der Netz- ‚Enterprise for Health‘ ist schon vor fast zwei werkarbeit in ‚Enterprise for Health‘ in zukünf- Jahrzehnten als Netzwerkprojekt gestartet; mitt- tigen Initiativen nutzen und gemeinsam mit lerweile gibt es vielfältige Erfahrungen mit der unseren Partnern weiterentwickeln. Netzwerkarbeit, auch in der betrieblichen Prä- vention. Netzwerke sind das wichtigste Werk- zeug in der Verbreitung guter Praxis. Nach wie vor ist die Zahl aktiver Unternehmen in Deutsch- land, was die Umsetzung des BGM anbetrifft, begrenzt. Vor allem kleinere Unternehmen müs- sen zusätzliche Hürden überwinden, um ange- passte und geeignete Vorgehensweisen nutzen zu können: Gerade der Weg in ein nachhaltiges und qualitatives BGM ist für sie wesentlich schwerer 19
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Der größte Hebel für die Gesundheit ist Handlungsspielraum und Arbeitszufriedenheit Im Gespräch mit Mitgliedern des Netzwerkes Enterprise for Health Über annähernd zwei Jahrzehnte tauschten sich dass der Wandel noch nicht komplett vollzogen BGM-Experten aus 40 europäischen Unterneh- ist. Und durch den Druck im Geschäft geht der men im Netzwerk ‚Enterprise for Health‘ aus. Ihr Fokus auf die Gesundheit der Mitarbeiter oftmals Ziel: die zukünftigen Herausforderungen für das verloren. Die Führungskraft hat ganz schlicht betriebliche Gesundheitsmanagement meistern ihren Kopf woanders. Sie muss Ergebnisse brin- und voneinander lernen. gen, steht extrem unter Zeitdruck. Dennoch sehe ich die positive Tendenz. An dieser Stelle ist es Was hat sich in der Welt des BGM verändert? Was auch an uns, den Akteuren des BGM, die Füh- war früher undenkbar, was heute ganz normal ist? rungskräfte immer wieder dabei zu unterstützen, einen gesunden Führungsstil zu pflegen. Foto 5 Dr. Ralf Franke, Siemens: Noch vor zehn Jahren ging es bei Gesundheit im Betrieb ausschließlich Wie schafft man es, die Führungskräfte mit ins um die körperliche Gesundheit. Das hat sich um Boot zu holen? 180 Grad gedreht. Heute ist es selbstverständlich, dass es auch um die psychische Gesundheit geht. Dr. Ralf Franke, Siemens: Gesundheit ist bei Dazu kommt: Die Gesundheit der Mitarbeiter uns ein fester Bestandteil der gesamten Füh- ist eine Führungsaufgabe geworden. Führungs- rungskräfte-Entwicklung geworden. Gesundheit kräfte interessieren und engagieren sich für die ist Thema im Grundlagenseminar Personalfüh- Gesundheit ihrer Mitarbeiter. Auch die Fokussie- rung genauso wie in der Führungskräfte-Ent- rung auf den Krankenstand lässt nach. Das sind wicklung. erfreuliche Entwicklungen. Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Man muss auf- Dr. Olaf Tscharnezki, Unilever: Das sehen Sie aber passen, dass man Führungskräfte nicht immer sehr positiv. Ich würde eher sagen: Heute wird in weiter unter Druck setzt. Für mich ist Incentivie- den Unternehmen zwar viel mehr über Gesund- rung gesunder Führung ein wichtiger Schritt, um heit geredet, aber es wird nicht unbedingt viel das System im Unternehmen zu verändern. Uns mehr getan. Und was das Engagement von Füh- geht es aber auch darum, die Vorgesetzten für das rungskräften für die Gesundheit ihrer Mitarbei- Thema Gesundheit wirklich zu begeistern und zu ter betrifft – da sehe ich durchaus Entwicklungs- motivieren. bedarf. Wie gelingt das konkret? Dr. Ralf Franke, Siemens: Da muss ich widerspre- chen. Ich sehe viele Führungskräfte, denen sehr Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Zum Beispiel, bewusst ist, dass Gesundheit die Voraussetzung indem wir uns bemühen, den Führungskräften ist, damit Mitarbeiter ihr Potenzial entfalten das Thema Gesundheit so näherzubringen, dass können – und genau darum geht es im moder- es sie überzeugt. Dabei ist es wichtig, auch die nen Unternehmen. Aber es stimmt natürlich, Bedenken und Überlastung der Führungskräfte 20
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation ernst zu nehmen und neue Ansätze zu entwickeln, wir auch die Führungskräfte darin, frühzeitig zu die das Thema transparent und praxisorientiert erkennen, wenn beim Mitarbeiter etwas gesund- transportieren. heitlich schiefläuft und er Hilfe und Unterstüt- zung braucht. Das funktioniert sehr gut. Wir entwickeln deshalb derzeit ein E-Learning für Führungskräfte zum Thema Gesundheit. Sie nennen E-Learning und Gamifizierung als Unter dem Motto „Digital First“ möchten wir die erfolgreiche Tools in Ihren Betrieben – kann die E-Learning-Schulung vor ein Präsenzseminar Digitalisierung in Sachen Gesundheit Wege ebnen? setzen. Erst im Anschluss folgt eine Präsenzver- Zum Beispiel auch über gute Apps oder Telemedizin? anstaltung, die das Thema vertieft. Die Präsenz- veranstaltung bleibt nachhaltiger – da sind wir Dr. Stefan Webendörfer, BASF: Derzeit spielt die uns sicher. Aber per E-Learning können wir den Digitalisierung noch eine untergeordnete Rolle. Lerneffekt verbessern, und wir erreichen auch Es ist ja viel die Rede davon, wie gut man Men- mehr Führungskräfte als zuvor. schen per App in einem gesundheitsförderlichen Lebensstil begleiten könnte. Aber ganz ehrlich: Dr. Ralf Franke, Siemens: Da ist die Digitalisierung Vieles, was ich da sehe, ist nicht seriös. Bis hin auf jeden Fall ein Gewinn. Gerade weil man viele zu Fehlinformationen, die über diese Apps ver- erreicht und die Hemmschwelle sehr niedrig ist, mittelt werden. In der Navigation durch die sich dem Thema zu nähern. Wir haben beispiels- Gesundheitsangebote ist es natürlich von Vor- weise eine Antistigmatisierungskampagne ent- teil, dass dies mit digitalen Tools optimiert wer- wickelt mit einem gamifizierten E-Learning. den kann. Die Führungskräfte spielen Situationen in der Interaktion mit Mitarbeitern durch und lernen, Dr. Olaf Tscharnezki, Unilever: Ich sehe das ähn- wie sich ihr Verhalten auf die Psyche des Mitar- lich. Ich finde es nicht erstrebenswert, wenn beiters auswirkt. Über E-Learning-Tools schulen Menschen ein Armband oder eine App nutzen, 21
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation die sie daran erinnern, dass sie jetzt eine Pause sind dann wir als Experten gefragt. Führungs- machen sollten oder sich bewegen. Mein Ansatz kräfte brauchen nach meiner Erfahrung immer wäre immer, den Menschen dabei zu helfen, wieder Unterstützung und Impulse, damit sie dass sie selbst merken, wie es ihnen geht und gesunde Führung leben können. was ihrer Gesundheit guttut. Insofern finde ich vor allem Online-Coaching in bestimmten Berei- Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Der strategi- chen interessant: als Intervention bei leichten sche Ansatz ist unverzichtbar. Nur wenn Gesund- psychischen Störungen, depressiven Verstim- heit systematischer Teil der Unternehmensleit- mungen, Ängsten. Oder auch für Ernährung und linien, der Führungsleitlinien etc. ist, wird sich Bewegung. Diese Hilfe zur Selbsthilfe finde auch eine gesunde Arbeitsatmosphäre einstellen. ich erstrebenswert. Gerade haben wir das Thema Gesundheit bei- spielsweise auch in die Ausbildungslehrgänge Dr. Ralf Franke, Siemens: Auf jeden Fall bringt die aufgenommen. Diese strukturelle Verankerung Digitalisierung auch im BGM ganz neue Mög- des Themas Gesundheit bereits zu Beginn der lichkeiten mit sich. Wir denken durchaus darüber beruflichen Karrieren bei Bertelsmann ist auch nach, wie wir die Technologie nutzen können, eine Folge des strategischen Ansatzes. um die Kommunikation über weite Distanz zwi- schen Führungskraft und Mitarbeiter zu verbes- Dr. Andreas Tautz, Deutsche Post DHL Group: sern. Viele Chefs sehen ihre Mitarbeiter ja kaum Das stimmt. Aber es muss ja vor allem bei den noch. Auch Telemedizin ist ein interessantes Beschäftigten Akzeptanz finden. Das erfordert Feld für das BGM. Und es könnten auch Apps Vertrauen, in die Führungskräfte, in mich selbst sein – natürlich nur fundierte. als Mitarbeiter, in meine Teamkollegen, und ebenso das Vertrauen der Führungskräfte in Der Einstieg in das Thema gesunde Führung gelingt ihre Teams. Es geht um die Selbstverständlich- inzwischen offensichtlich oft. Doch wie etabliert keit, sich am Arbeitsplatz authentisch verhalten man gesunde Führung nachhaltig im Unternehmen? zu können und dabei respektvoll miteinander umzugehen. Das sagt sich leicht, erfordert aber Dr. Andreas Tautz, Deutsche Post DHL Group: Das durchgängig die Anstrengung des Unterneh- ist primär eine Frage der Unternehmens-DNA, mens, die Basis hierfür zu legen und zu über- dazu braucht es eine Grundüberzeugung, wie prüfen, ob diese noch stimmt. z. B. unser „Respekt und Resultate“-Leitbild, dessen konsequente Umsetzung und den per- Herr Franke sagte bereits: Der Fokus auf den manenten Dialog mit den Beschäftigten. Wir Krankenstand lässt nach – und das sei erfreulich. müssen erklären, warum Entscheidungen ge- Aber wie prüft man dann den Erfolg des BGM? troffen werden, und wir müssen zuhören, was unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benö- Dr. Andreas Tautz, Deutsche Post DHL Group: Der tigen, um einen hervorragenden Job zu machen. Krankenstand ist natürlich ein harter und unver- Instrumente wie die bei uns jährlich durchge- zichtbarer Trendparameter! Er verleitet aber zu führte Mitarbeiterbefragung helfen hier, aktuelle Reaktion statt zu Prävention. Und er ist nicht Trends und Handlungsbedarfe systematisch zu kurzfristig zu beeinflussen – außer Sie wollen, identifizieren. dass Menschen aus Angst vor Repression krank zur Arbeit kommen. Dann wären wir beim soge- Dr. Ralf Franke, Siemens: Es ist auf jeden Fall kein nannten Präsentismus, und der ist im wahrsten Selbstläufer. In dem Moment, wo der Vorstand Sinne des Wortes kontraproduktiv. Man muss das Thema für sich als wichtig erkennt und auch die Zahlen und Erkenntnisse miteinander ver- dafür einsteht, als Vorbild agiert und es voran- knüpfen: In einem Datenanalyseprojekt haben treibt, geht es in die Fläche. Nur dann findet es wir unterschiedlichste Daten zur Beschäftig- bei den Führungskräften Akzeptanz. Und dann tenstruktur, dem Influenza-Index, der Arbeits- kommen natürlich die Fragen: Was muss ich mittelgestaltung, dem Glücksindex und der Mit- tun? Wie kann ich die Gesundheit meiner Mit- arbeiterbefragung miteinander korreliert. Nicht arbeiter steuern und positiv beeinflussen? Da überraschend spielten Alter und Geschlecht bei 22
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation den Krankenstands-Ursachen eine wichtige den Standorten – diese Individualität ist wichtig, Rolle – aber der größte Hebel zur Beeinflussung denn jeder Standort hat andere Anforderungen. der Beschäftigtengesundheit bzw. des Kranken- standes war die von den Beschäftigten empfun- Dr. Silke Wiedemann, thyssenkrupp: Von der Stra- dene Handlungsfähigkeit und deren Arbeitszu- tegie bis zur Kultur ist es ein langer Weg, das friedenheit. Ein Gesundheitsmanagement ist also erleben wir auch täglich. Was Inhalte angeht, dann erfolgreich, wenn es durch ein wertebasier- finde ich es ermutigend, dass Themen rund um tes Management getragen, in alle Management- die Psyche langsam aus der Tabu-Ecke kom- strukturen integriert und in den Prozessen ver- men – auch international. Im vergangenen Jahr stetigt ist. sprach ein chinesischer Geschäftsführer über die Hilflosigkeit, die er erlebte, nachdem ein Mitar- Gesundheitsmanagement im Unternehmen ist beiter depressiv wurde. Und das war kein ver- extrem komplex – dennoch die Frage: Kann man trauliches Zweiergespräch, sondern in der Dis- das Wesen des modernen Begriffs von Gesundheit kussionsrunde nach meinem Vortrag auf einer in wenigen Worten auf den Punkt bringen? CEO-Konferenz. Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Das Thema Balance ist ein guter Überbegriff. Es geht um mehr Balance in allen Bereichen. Nur so kann dauerhafte Leistungsfähigkeit erhalten werden. Im Arbeitsalltag heißt das, dass neben Leistungs- zeiten auch Zeiten für Pausen oder Reflexion an Bedeutung gewinnen. In Bezug auf den Lebens- lauf kann das heißen, dass ein Unternehmen Bedürfnisse von Beschäftigten sieht und bei- spielsweise Teilzeitarbeit oder Sabbaticals mög- lich macht, weil es der langfristigen Arbeitsfähig- keit dient, wenn Menschen ihr Arbeitspensum in bestimmten Lebensphasen verändern können. Auch gesunde Ernährung oder Sport hat viel mit Balance und Ausgewogenheit zu tun. Ein weiterer großer Schritt hin zu einem moder- nen BGM ist, dass man von der Fehlzeiten- Betrachtung wegkommt und sich mehr um die Mitarbeiter kümmert, die da sind. Das finde ich sehr gut. EfH war ein internationales Netzwerk – was sind derzeit die größten Herausforderungen des BGM aus der Sicht von europäischen und internationalen Konzernen? Dr. Stefan Webendörfer, BASF: Ganz klar – die Umsetzung der Standards unseres BGMs an allen Standorten, ganz gleich, ob großes oder kleines Unternehmen. Wir haben dazu einen BGM-Leit- faden mit fünf Punkten entwickelt – von Arbeits- schutz bis zur betrieblichen Gesundheitsförde- rung (BGF). Die konkrete Umsetzung erfolgt in 23
Arbeit und Gesundheit in Zeiten der digitalen Transformation Das betriebliche Gesundheitsmanagement der Zukunft Mitglieder des Netzwerkes benennen die wichtigsten Handlungsfelder Die Mitglieder von ‚Enterprise for Health‘ liche Verankerung nicht. Sie muss auch mit arbeiten in Konzernen, in denen Gesundheit als Leben gefüllt werden. Das Ziel ist, dass Gesund- Thema schon lange etabliert ist. Dennoch stel- heit in allen Aspekten des Arbeitens eine Rolle len Digitalisierung und Flexibilisierung auch spielt, im Mitarbeitergespräch, in der Arbeitsge- in diesen Firmen das Gesundheitsmanagement staltung etc. Die Führungskräfte agieren selbst vor große Herausforderungen. Was sind heute als Vorbild. Bei der Umsetzung dieses strategi- die größten Baustellen im BGM? Was brauchen schen Ziels sehe ich allerdings auch eine große Beschäftigte, um gesund zu bleiben? Und wie Verantwortung für uns. Denn Führungskräfte setzen wir ein modernes BGM in der Praxis um? haben ja sehr viele Aufgaben. Um sie für das Experten aus Unternehmen berichten: Thema Gesundheit mit ins Boot zu holen, muss man sie erreichen und auch überzeugen.“ Lorena Israel Findley, Bertelsmann: Wir müssen die Führungskräfte noch mehr überzeugen. Dr. Andreas Tautz, Deutsche Post DHL Group: Gesundheit fordert ein Management by Values. „Der strategische Aspekt von BGM ist zwar nicht ganz neu – wird aber jetzt erst nach und nach „Da ist zuallererst das systematische Betrei- tatsächlich umgesetzt. Gesundheit wird damit ben des BGM – entlang der Anforderung von zum festen Bestandteil der Arbeit. Das bedeutet, Beschäftigten, Kunden und Investoren bzw. dass das BGM in allen Leitlinien des Unterneh- Stakeholdern. Also die Implementierung eines mens verankert wird, z. B. auch in den Füh- integrierenden Gesundheitsmanagementansat- rungsleitlinien. Natürlich reicht die schrift- zes, inklusive Arbeits- und Gesundheitsschutz 24
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