Archive - Landeshauptarchiv Koblenz
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Unsere Heft 66 2021 Archive Mitteilungen aus den rheinland-pfälzischen und saarländischen Archiven Demokratie und Wahlen Freiheit, Einheit und Abpfiff im Filmpalast. APERTUS oder: wie baut Demokratie – Fußball, Kino, Saarstaat man einen virtuellen das Hambacher Fest Seite 14 Lesesaal? von 1832 Seite 46 Seite 24
Unsere Archive Mitteilungen aus den rheinland-pfälzischen und saarländischen Archiven Demokratie und Wahlen
Inhaltsverzeichnis Thema: Demokratie und Wahlen Die Urschrift der Verfassung für Rheinland-Pfalz 1947 6 Bettina Johnen Demokratie erfahren 8 Manuela Hambuch Demokratie vor Ort gestalten 10 Clara Jung Wahlen zu Gremien der akademischen Selbstverwaltung 12 an der Universität des Saarlandes Wolfgang Müller Abpfiff im Filmpalast. Fußball, Kino, Saarstaat: Wie das „Wunder von Bern“ 14 das Referendum von 1955 vorwegnahm Paul Burgard Die St. Wendeler Wählerlisten von 1919 als Quelle zur weiblichen 18 Sozialgeschichte Andrea Recktenwald Politische Partizipationsprinzipien und ihre Umsetzung in der 20 ersten preußischen Gemeinderatswahl 1845/46 Katharina Thielen Freiheit, Einheit und Demokratie – das Hambacher Fest von 1832. 24 Digitalisierung von Justizakten aus dem Landesarchiv Speyer Gisela Fleckenstein Neu entdeckt Die nationalsozialistischen Ehrengerichte der Volksdeutschen 26 Bewegung in Luxemburg. Einblicke in ihre Tätigkeit nach Bestand 662,001 im Landeshauptarchiv Koblenz Simon Schmitz „Was geschieht […] mit dem baulich unglücklichen Kasten?“ 29 Pläne zur Umnutzung der ehemaligen Hachenburger Synagoge zum „Luftschutz-Haus“ 1939 Jens Friedhoff Spuren des „Hygiene-Pioniers“ Johann Peter Frank (1745 – 1821) 32 im Landesarchiv Speyer Isabell Weisbrod Restaurierungsmaßnahme bringt interessante Fundstücke zum Vorschein 34 Elisabeth Schuster Aus der Archivarbeit Teambewertung von Ministerial- und Bezirksregierungsakten 36 im Bereich Inneres Ellen Junglas und Anke Straßenburg Corona-Förderung für den digitalen Zugang zum Kulturerbe 38 des Karmelitenordens: Start-up-Projekt „Karmeltradition Mainz“ Kerstin Albers Impressum Unsere Archive Herausgeber Redaktion Mitteilungen aus den rheinland-pfälzischen Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz Dr. Elisabeth Andre, Dr. Christine Goebel, und saarländischen Archiven. und Landesarchiv Saarbrücken Andrea Grosche-Bulla, Dr. Ludwig Linsmayer Heft 66, 2021. in Zusammenarbeit mit dem Lenkungskreis unter Mitarbeit von Christine Frick und Demokratie und Wahlen. Archivtag Rheinland-Pfalz / Saarland. Isabell Weisbrod. Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren verantwortlich. Das Heft erscheint jährlich und wird kostenlos abgegeben. 4 Unsere Archive - Heft 66 I 2021
Blick von außen Stolpersteine in Diez – Spuren des Landeshauptarchivs im Stadtbild 40 Matthias Lang How the Landesarchive of Rheinland-Pfalz Made Possible 42 a Commemorative Adress in Canada Christopher R. Friedrichs Über die Grenzen 44 Frédéric Stroh Archiv im Wandel APERTUS oder: wie baut man einen virtuellen Lesesaal? 46 Beate Dorfey APERTUS – über die Pressekonferenz und die Entstehung des Films 50 Thomas Berg und Malte Schreer Von der Akte zum Tweet. Ein Lehrprojekt des Universitätsarchivs Mainz 54 Frank Hüther Kartensammlung Hellwig online. Zu einem neuen Kooperationsprojekt 56 des Landesarchivs Saarbrücken mit Wikimedia Commons David Schnur Archive und Geschichtskultur Die Wanderausstellung „Der gescheiterte Friede. Die Besatzungszeit 58 1918 – 1930 im heutigen Rheinland-Pfalz“. Ein Gemeinschaftsprodukt des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V. und der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz mit zahlreichen Partnern Ute Engelen NS-Justiz im Saarland 1935 – 1945. Ein Forschungsprojekt des saarländischen 62 Ministeriums der Justiz im Landesarchiv Saarbrücken Peter Wettmann-Jungblut Kurz und bündig Mehr als drei Jahrzehnte – Dr. Walter Rummel geht in den Ruhestand 64 Elsbeth Andre Neuer stellvertretender Leiter im saarländischen Landesarchiv 65 Ludwig Linsmayer Geschichte des jüdischen Lebens im Raum Koblenz 65 Andreas Metzing Reform des Urheberrrechts 66 Eike Alexander von Boetticher Neuerscheinung 66 Wolfgang Müller Autorinnen und Autoren 67 Kontakt Titelbild Satz und Layout Druck post@landeshauptarchiv.de oder Zug auf das Hambacher Schloss Refine Media Frohne Druck GmbH landesarchiv@landesarchiv.saarland.de 1832. Kolorierte Federlithographie. Dirk Diederich 57578 Elkenroth Historisches Museum der Pfalz, 56332 Dieblich Speyer / Peter Haag-Kirchner, HMP Speyer (CC BY-NC-SA). Unsere Archive - Heft 66 I 2021 5
Thema: Demokratie und Wahlen Foto: Landtag Rheinland-Pfalz/Torsten Silz. Vereidigung der Ministerpräsidentin Malu Dreyer (links) am 18. Mai 2021. Landtagspräsident Hendrik Hering (rechts) liest die Eidesformel aus der Urschrift der Verfassung vor. Die Urschrift der Verfassung für Rheinland-Pfalz 1947 Bettina Johnen Am 18. Mai 2022 ist es 75 Jahre Ernährungssituation und nahmen Neustadt/Pfalz, CDP), sowie Wilhelm her, dass die Rheinland-Pfälzerinnen zur Arbeit der vorläufigen Landesre- Froitzheim und Frau Holst aus dem und Rheinland-Pfälzer ihre Landes- gierung Stellung. Für die Detailarbeit Büro der Beratenden Versammlung verfassung in einer Volksabstim- an der Verfassung hatte die Ver- wirkten mit. Wilhelm Froitzheim war mung angenommen haben, gleich- sammlung einen Verfassungsaus- später der erste Direktor des Land- zeitig wurde an diesem Tag der erste schuss gebildet, dem 15 (später 17) tags Rheinland-Pfalz. Die abschlie- Landtag für das neue Bundesland Mitglieder von den Fraktionen CDP ßende Abstimmung der Beratenden gewählt. Den Text der Verfassung (heute: CDU), SPD, SV/LP (heute: Landesversammlung über die Ver- erarbeitete von November 1946 bis FDP) und KPD angehörten. Für das fassung fand am 25. April 1947 im April 1947 die Beratende Landesver- Anfertigen der Niederschrift der Ver- Hotel Rittersturz bei Koblenz statt. sammlung. Die sieben Frauen und fassung und die redaktionelle Arbeit Drei Tage lang hatten die Abgeord- 120 Männer dieser Versammlung am genauen Wortlaut war ein Re- neten dort zuvor letzte Detailfragen (127 Mitglieder) tagten im Koblen- daktionsausschuss zuständig, dem beraten.1 zer Stadttheater – in der vom Krieg die Abgeordneten Hubert Hermans Die Urschrift der rheinland-pfäl- zerstörten Landeshauptstadt Mainz (Landgerichtsdirektor aus Koblenz, zischen Verfassung wurde mit der gab es kein geeignetes Gebäude. In CDP) und Dr. Hans Hoffmann (Notar Schreibmaschine erstellt, an einigen acht zum Teil mehrtägigen Sitzun- aus Wachenheim, SPD) angehör- wenigen Stellen hat sie handschrift- gen berieten die Abgeordneten nicht ten. Auch der Vorsitzende des Ver- liche Korrekturen. Der Buchstabe „a“ nur über den Verfassungsentwurf, fassungsausschusses, Dr. Ludwig scheint bei der Schreibmaschine ein sondern auch über die schwierige Ritterspacher (Präsidialdirektor aus wenig gehakt zu haben, an verschie- 6 Unsere Archive - Heft 66 I 2021
LHA Ko Best. 710 Nr. 1071. denen Stellen sitzt er etwas unter der Textlinie. Das kleine „e“ sowie das große „E“ sind dafür ein wenig nach oben gerutscht. Das Papier ist rau und hat einen gräulichen Farb- ton. Insbesondere zum Rand hin sind die Bögen des 34 Seiten umfas- senden Dokuments leicht vergilbt. Links sind Blätter mit den typischen zwei Löchern für eine Ordnerheftung versehen. Hinten angefügt ist der Beschluss der Beratenden Landes- versammlung: „Vorstehende Verfassung wur- de von der Beratenden Landesver- sammlung für Rheinland-Pfalz in ihrer Sitzung vom 25. April 1947 be- schlossen.“ Der Beschluss wurde von Dr. Redaktionskonferenz der Beratenden Landesversammlung, o. D. (1946 – 1947). Ludwig Reichert (Bürgermeister aus Ludwigshafen, CDP), dem Präsi- des Landes Rheinland-Pfalz ein „Wir- ben.6 Die Materialität der Urschrift denten der Beratenden Landesver- Gefühl“, schreibt die Grundrechte und ihr Erhaltungszustand erlauben sammlung, unterschrieben. Zudem und Bürgerpflichten fest und regelt diese Nutzung der Urschrift in der trägt der Beschluss einen Stempel den Aufbau des Staates.4 Öffentlichkeit alle fünf Jahre. In der mit der Aufschrift „Beratende Lan- Die Bedeutung, welche die Ur- Zwischenzeit wird das bedeutende desversammlung für Rheinland- schrift noch heute für das Landesbe- Dokument lichtgeschützt und gut Pfalz“.2 wusstsein der Rheinland-Pfälzerin- verpackt in einem Archivkarton im Die unspektakuläre, fast schon nen und Rheinland-Pfälzer hat, lässt Tresor aufbewahrt. Allerdings kann unscheinbare Ausfertigung der Ur- sich u. a. daran ablesen, dass aus ihr dem Wunsch, die Verfassungs-Ur- schrift der Landesverfassung sagt die Eidesformel zur Vereidigung der schrift als Identifikationsbasis für viel über die Zeit aus, in der sie ent- Landesregierung verlesen wird. Als das Bundesland Rheinland-Pfalz7 im stand. Die Sorgen und Nöte der am 18. Mai 2021 Malu Dreyer erneut Landtag dauerhaft auszustellen, aus Nachkriegszeit ließen keinen Raum zur Ministerpräsidentin von Rhein- Gründen des Bestandschutzes nicht für eine aufwendige Gestaltung des land-Pfalz gewählt wurde, verlas entsprochen werden. Auch sind die Textes, für Siegel oder Schmuckblät- Landtagspräsident Hendrik Hering hohen Sicherheitsanforderungen, ter. Und dennoch ist die Urschrift der den Eid aus Artikel 100 der Landes- die an eine Präsentation des wert- Verfassung für Rheinland-Pfalz eine verfassung: vollen Archivales gestellt werden der bedeutendsten Archivalien aus „Ich schwöre bei Gott dem All- müssen, in einem öffentlichen Raum der jüngeren Geschichte des Bun- mächtigen und Allwissenden, dass schwer umsetzbar. Für Ausstellungs- deslandes. Ihr Entstehungsprozess ich mein Amt unparteiisch, getreu zwecke ließ der Landtag deshalb dokumentiert den wichtigsten Mei- der Verfassung und den Gesetzen 2021 drei detailgetreue Faksimiles lenstein bei der Entstehung des Lan- zum Wohl des Volkes führen werde, erstellen. Die Reproduktionen sollen des Rheinland-Pfalz als demokrati- so wahr mir Gott helfe.“5 zukünftig für alle Besucherinnen und scher Staat. Die Landesverfassung Malu Dreyer hatte den rech- Besucher im Landtag sichtbar und will eine wirksame Brandmauer sein, ten Arm zum Schwur erhoben und erlebbar sein, stellvertretend für die damit sich nationalsozialistisches sprach die Worte nach. Aufgrund der Urschrift der Verfassung, die sich Unrecht und Gräueltaten nicht wie- Feierlichkeit des Augenblicks hatten das Volk von Rheinland-Pfalz am 18. derholen.3 Sie gibt den Bewohnern sich alle Anwesenden im Saal erho- Mai 1947 gegeben hat.8 1 Vgl. Protokoll über die 8. Sitzung der Beratenden Landesversammlung 3 Vgl. Protokoll über die 8. Sitzung der Beratenden Landesversammlung vom vom 23. bis 25. April 1947, Drucksache 16, S. 3 und 5 – 8; Klaas, Helmut: 23. bis 25. April 1947, Drucksache 16, S. 3 und 5. Die Verfassung für Rheinland-Pfalz. Entstehungsstufen und Beratung, in: 4 Vgl. Wagner, Edgar: „Packt an! Habt Zuversicht!“, S. 127 – 171 und 293. Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz. Eine Dokumentation, bearbeitet von Helmut Klaas (Veröffentlichungen der Kommission des 5 Artikel 100 Verfassung für Rheinland-Pfalz. Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Band 1), Boppard 6 Vgl. Protokoll der 1. Plenarsitzung der 18. Wahlperiode Landtag Rheinland- am Rhein 1978, S. 33 – 70, hier: S. 40 – 70; Klaas, Helmut: Die Beratungen Pfalz vom 18. Mai 2021, S. 34 f.: https://dokumente.landtag.rlp.de/landtag/ des Verfassungsentwurfs in der Beratenden Landesversammlung, in: plenarprotokolle/1-P-18.pdf [22.06.2021]. ebenda, S. 209 – 353, hier: S. 209 – 218; Wagner, Edgar: „Packt an! Habt Zuversicht!“ Über die Entstehung des Landes Rheinland-Pfalz und seinen 7 Vgl. Wagner, Edgar: „Packt an! Habt Zuversicht!“, S. 127 – 171 u. 293. Beitrag zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe des 8 Vgl. Vorspruch Landesverfassung für Rheinland-Pfalz. Landtags Rheinland-Pfalz, Heft 35), Mainz 2007, S. 127 – 171 und 293. 2 Vgl. Archiv des Landtags Rheinland-Pfalz: Urschrift der Verfassung für Rheinland-Pfalz. Unsere Archive - Heft 66 I 2021 7
Thema: Demokratie und Wahlen BArch, B 198 Bild-2017-0221-020. Foto: Jürgen Nobel. Schüler*innen in der Dauerausstellung der Erinnerungsstätte. Demokratie erfahren Manuela Hambuch Eifrig machen die Schülerin- Geschichte in Rastatt. An diesem an- anhand ausgewählter archivischer nen und Schüler des Leistungskur- erkannten außerschulischen Lernort Quellen sowohl mit den nationalso- ses Geschichte Notizen auf ihren lassen sich anhand von historischen zialistischen Gewaltverbrechen als Arbeitsblättern, während ihnen die Quellen der schwierige und mutige auch mit deren Aufarbeitung inner- Geschichtsvermittlerin vor dem Kampf für Freiheit, Rechtsstaat, De- halb der demokratischen Grundord- Modell der Paulskirche die histo- mokratie und nationale Einheit in nung der Bundesrepublik auseinan- risch herausragenden Leistungen Deutschland selbstständig oder mit dersetzen. der Frankfurter Nationalversamm- Anleitung erforschen. Hierfür wer- Doch nicht nur bei einem Besuch lung erklärt – mit viel Begeisterung, den Arbeitsmaterialien für Schul- vor Ort lässt sich mit historischen die sich auf die Elftklässer über- klassen kostenfrei zur Verfügung ge- Quellen Demokratiegeschichte ent- trägt. Rasch sind sie im Gespräch stellt. Die Themenauswahl ist breit decken. Virtuelle Ausstellungen und und diskutieren miteinander über gefächert und lässt sich gut in die Dokumente zur Zeitgeschichte so- Verfassung, Gesetzgebung, Grund- Unterrichtsgestaltung einbinden. wie Online-Quellenportale bieten und Menschenrechte. Ein weiterer besonderer außer- unterschiedliche Ansätze, sich Wis- Möglich ist das in der Bundes- schulischer Lernort ist der Dienst- sen über die schwierigen Wege zu archiv-Erinnerungsstätte für die Frei- ort des Bundesarchivs in Ludwigs- Freiheit und Demokratie oder über heitsbewegungen in der deutschen burg. Schulklassen können sich hier demokratische Traditionen anzueig- 8 Unsere Archive - Heft 66 I 2021
BArch, B 106/58988. BArch, B 122/28035. Mit einer kleinen Anfrage der SPD im Bundestag erreichte die Stellungnahme des Diskussion um eine Herabsetzung des Wahlalters am 19. Januar Bundesministeriums für 1966 die Bundesregierung (BT-Drs. V/194). Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Herabsetzung des Wahlalters, 1. August 1968. nen, aber auch außergewöhnliche mationen. Reizvoll ist es zum z. B., kussionen zwischen 1970 und 1972 Frauen und Männer kennenzulernen, den Briefwechsel über die Reichs- befasst sich eine neue virtuelle Aus- die die deutsche Demokratie mitge- verfassung 1919 im Nachlass des stellung „So entsteht ein Gesetz: staltet haben. Diese online zur Ver- Politikers und Staatsrechtlers Hugo Von 21 auf 18“. Welche hohe Bedeu- fügung gestellten Quellen und deren Preuß zu lesen, sich mit Deulig- tung dem Wahlrecht als zentralem Erläuterungstexte richten sich an Wochenschau-Aufnahmen an ge- Baustein der Demokratie zukommt, Schulen, Fachhochschulen, Univer- sellschaftliche Höhepunkte in den spiegeln die ausgewählten Fotos sitäten, Einrichtungen der Jugend- 1920er/1930er Jahren zu erinnern und Dokumente wider, die durch Be- und Erwachsenenbildung und sollen oder Anna Müller-Linkes Werben gleittexte kommentiert werden. gerne nachgenutzt werden. für das Frauenwahlrecht zu sehen. Es lohnt sich, in den virtuellen Eine besonders attraktive Wis- Wer mag, kann sein Wissen über die Angeboten des Bundesarchivs zu sensquelle ist das Online-Quellen- Weimarer Zeit sogar spielerisch ver- stöbern oder sich gleich für einen portal „Weimar – Die erste deutsche tiefen und dabei erfahren, für welche persönlichen Besuch vor Ort zu ent- Demokratie“ mit vielen digitalisier- Partei man 1919 gestimmt hätte. scheiden. ten Quellen zur Geschichte der Wei- Mit der Herabsetzung des Wahl- marer Republik und verständlich alters von 21 auf 18 Jahre und den aufbereiteten Hintergrundinfor- damit verbundenen politischen Dis- Unsere Archive - Heft 66 I 2021 9
Thema: Demokratie und Wahlen Foto: Kai Myller. Podiumsdiskussion, Filmvorführung oder Workshop - während der Koblenzer Wochen der Demokratie regen zahlreiche Veranstaltungen zur Auseinandersetzung mit Demokratie in all ihren Facetten an. Demokratie vor Ort gestalten Clara Jung 2021 ist „Superwahljahr“. Im gerinnen und Bürgern mitzubestim- Glaubwürdigkeit von Wahlergebnis- September steht die Bundestags- men, wer das Land regiert, und da- sen sowie der Verbreitung von Ver- wahl an, im März wurden die Land- mit auch das gesellschaftliche Leben schwörungserzählungen wird deut- tagswahlen in Rheinland-Pfalz unter indirekt mitzugestalten. lich, dass Demokratie gefährdet und Corona-Bedingungen durchgeführt Doch gerade in diesem Jahr ist Demokratiebildung daher von be- und auch in sechs anderen Bundes- deutlich geworden, dass Demokratie sonderer Relevanz ist. ländern werden die Sitze der Partei- mehr bedeutet, als zu wählen. Gera- Die Stadt Koblenz setzt sich en in den Landesregierungen neu de in Zeiten wieder aufkeimender seit einigen Jahren auf unterschied- gewählt. gruppenbezogener Menschenfeind- lichen Ebenen für die Stärkung von Das Wahlrecht ist eines der be- lichkeit, wachsender Skepsis gegen- Demokratie ein. Gemeinsam mit deutendsten Rechte innerhalb einer über den Befugnissen der Regierung engagierten zivilgesellschaftlichen Demokratie. Es ermöglicht den Bür- in Krisenzeiten und gegenüber der Akteurinnen und Akteuren werden 10 Unsere Archive - Heft 66 I 2021
Foto: Clara Jung. Ideen entwickelt, wie Demokratie vor Ort gelebt werden kann. Diverse Projekte und Veranstaltungen regen zur Auseinandersetzung mit der de- mokratischen Kultur und der Vergan- genheit an. Dabei sind auch lokal an- sässige Institutionen wie die Archive wichtige Partner in der durch das Bundesprogramm „Demokratie le- ben!“ geförderten Partnerschaft für Demokratie Koblenz, gerade wenn es um Erinnerungskultur und Demo- kratiegeschichte geht. Als Stadt mit über 2000-jähri- gen historischen Wurzeln und als „Stadt der Archive“ (Sitz des Bun- desarchivs, Landeshauptarchivs und Stadtarchivs) befasst sich Koblenz seit einigen Jahren auf systematisie- rende Weise mit einem Gesamtkon- zept „Erinnerungskultur“. Um die Ak- tivitäten im Kontext von allgemeiner historischer Erinnerungskultur und im Besonderen der Gedenkarbeit ausgehend von Initiativen, Vereinen Zitate an der Koblenzer Rathausfassade regen dazu an, individuelle Antworten und öffentlichen Einrichtungen sinn- auf die Frage „Wozu Demokratie?“ zu finden. voll zu bündeln, wurde vor einigen Jahren die Themenrunde „Erinne- tie“ zu veranstalten, um im Dialog auch die Rittersturzkonferenz zum rungskultur im Kulturraum Koblenz“ mit den Bürgerinnen und Bürgern 75. Mal, bei der 1948 entscheiden- seitens des Kulturdezernats initiiert. aktiv zu einer Erneuerung der De- de Beratungen zur Verfassung des Damit soll ein nachhaltig funktionie- mokratie im 21. Jahrhundert beizu- Grundgesetzes stattfanden. Die rendes Netzwerk auf- und ausgebaut tragen. Der Programmtitel „Wozu Stadt Koblenz ist seither unmittelbar werden, das als eine wesentliche Demokratie?“ soll ein gemeinsames mit der Entstehung der Demokratie Grundlage zur Aufrechterhaltung Nachdenken über das Zusammenle- in der Bundesrepublik Deutschland eines historischen Interesses und ben in Stadt und Region und die akti- verbunden. Für die Umsetzung von geschichtlichen Bewusstseins der ve Gestaltung des gesellschaftlichen Projekten anlässlich dieser Jubiläen Koblenzer Bürgerinnen und Bürgern Zusammenhalts anstoßen. hat sich eine lokale Arbeitsgruppe beitragen soll. So haben sich Möglichkeiten konstituiert, die insbesondere auch 2018 – anlässlich des 70-jähri- der Verknüpfung zwischen dem Er- aus den in Koblenz ansässigen Ar- gen Jubiläums der sogenannten Rit- halt von demokratischen Strukturen chiven besteht, die in der Recherche tersturzkonferenz – wurden die „Ko- sensibilisierenden und Demokratie unterstützen sowie eigene Angebo- blenzer Wochen der Demokratie“ fördernden sowie öffentliches Ge- te, z. B. in Form von Ausstellungen, ins Leben gerufen, in deren Rahmen schichtsbewusstsein unterstützen- organisieren. jährlich zahlreiche Veranstaltungen den Maßnahmen im Zusammen- Die Stadt Koblenz ist seit Anfang und Projekte vor Ort durchgeführt hang mit relevanten historischen 2021 sowohl Mitglied im rheinland- werden, die die Auseinandersetzung Erinnerungsjubiläen ergeben. pfälzischen Bündnis „Demokratie mit der Bedeutung und den verschie- Während in 2021 das Festjahr gewinnt!“ als auch in der bundes- denen Dimensionen von Demokratie „1700 Jahre jüdisches Leben in weiten AG „Orte der Demokratiege- anregen. Anlass für die Veranstal- Deutschland“ bundesweit, mit zahl- schichte“. Damit besteht über das tungsreihe waren allerdings auch die reichen Veranstaltungen auch in Ko- lokale Bündnis der Partnerschaft für Veränderungen der demokratischen blenz, begangen wird, folgen weitere Demokratie hinaus auch ein landes- Kultur in Deutschland und Euro- gerade für Koblenz besondere Jubi- und bundesweites Netzwerk, das pa. Diese Ausgangspunkte haben läen: 2022 wird Rheinland-Pfalz 75 dem Engagement der Stadt Koblenz die Stadt Koblenz dazu bewegt, die Jahre alt. Das Bundesland wurde in für die Stärkung der demokratischen „Koblenzer Wochen der Demokra- Koblenz gegründet. 2023 jährt sich Kultur zugutekommt. Unsere Archive - Heft 66 I 2021 11
Thema: Demokratie und Wahlen Universitätsarchiv Saarbrücken, Sammlung Leo Jungmann (Fotos) und Sammlung ÖTV. Sitzung des studentischen Parlaments 1956 im Hörsaal der Philosophischen Fakultät. Wahlen zu Gremien der akade- mischen Selbstverwaltung an der Universität des Saarlandes Wolfgang Müller „Studenten wählen Vorsitzen- zösischen Kultur zuwies, und einer akt der oder die Vorsitzende des All- den – Ludwig Limburg siegte ohne „nach einer halben Stunde in allge- gemeinen Studierendenauschusses Opposition“. Mit dieser Schlagzeile meiner Heiterkeit“ versandenden übrigens nicht mehr durch die Aula berichtete die „Saarbrücker Zeitung“ Debatte „begab man sich akademi- getragen, aber vom Studierenden- am 7. Dezember 1948 über eine der sche Lieder singend, zum Studen- parlament, dem höchsten Gremium ersten Wahlen an der gerade ge- tenball in den Klubräumen der Uni- der verfassten Studierendenschaft, gründeten Universität des Saarlan- versität. Vorher hatte Limburg aber bestimmt. Bei den gerade am 21. des, die Ludwig Limburg mit einem die schwerste Probe des Abends zu Mai 2021 mit einer Beteiligung bei „eindrucksvollen Sieg“ bereits im bestehen. Von den Kommilitonen der Verhältniswahl von 2,45 Prozent ersten Wahlgang als Präsidenten auf einen Tisch gehoben, wie einst beendeten Wahlen zum 67. Studie- der Studentenschaft im Amt bestä- die alten Franken ihre Häuptlinge rendenparlament errangen der Ring tigte. Nach einer programmatischen auf den Schild stellten, wurde er in Christlich-Demokratischer Studen- Rede, in der er der neuen Universität schwindelnder Höhe durch die Aula ten 10, die Grüne Hochschulgruppe die Aufgabe einer Vermittlerin zwi- getragen.“ Saar 8, die Aktiven Idealisten 7, die schen der deutschen und der fran- Heute werden nach dem Wahl- JUSO HSG und Unabhängige 6 und 12 Unsere Archive - Heft 66 I 2021
die Liberale Hochschulgruppe 2 Sit- Fakultäten, des Senats und des Kon- ze. Das Parlament umfasst demnach zils die Rektorwahl durch das Konzil. 33 Abgeordnete – 13 nach Direkt- Heute wird der Universitätspräsi- und 20 nach Listen-Wahl. dent durch Senat und Hochschulrat Eine herausragende Bedeutung gewählt. kommt auf universitärer Ebene ins- Bereits dieser kursorische Über- besondere den Gruppen-Urwahlen blick zeigt, wie intensiv die akade- zu, in denen in zwei- oder dreijähri- mische Selbstverwaltung durch gem Turnus die vier universitären Wahlen geprägt ist und welche Her- Gruppen Hochschullehrerinnen und ausforderungen daraus für die Über- Hochschullehrer, akademische Mit- lieferungssicherung im Universitäts- arbeiterinnen und Mitarbeiter, Stu- archiv resultieren. Während sich die dierende sowie administrativtech- Besetzung der verschiedenen univer- nische Mitarbeiterinnen und Mit- sitären Positionen in den Protokollen arbeiter ihre Repräsentanten für die der jeweiligen Gremien spiegelt und Kollegialorgane wie Senat, Fakultäts- die Ergebnisse der Gruppen-Urwah- räte und die beiden Bereichsräte für len lange in analoger und inzwischen Theoretische Medizin und Biowis- in virtueller Form dokumentiert wer- senschaften sowie für Klinische Me- den, zeigt sich im Umfeld der Wahl dizin bestimmen. Auch der Beirat für oder Wiederwahl eines Universi- denen Ausschüsse informieren über Frauenfragen wird aus Vertreterin- tätspräsidenten oder einer Präsi- die Diskussionsfelder der studenti- nen der verschiedenen universitären dentin ein besonderes Interesse in schen Politik, die Wahl und Kontrolle Gruppen gebildet. der inner- und außeruniversitären des Allgemeinen Studierendenaus- Während unter französischer Öffentlichkeit mit verschiedenen Be- schusses und seiner Referentinnen Ägide im Zeichen hierarchisch-zen- richten, Diskussionen und Stellung- und Referenten oder die Wahl der tralistischer Strukturen der Rektor nahmen zu Aspekten der künftigen studentischen Vertreterinnen und auf Vorschlag des Verwaltungsrates Universitätsentwicklung. Im Bereich Vertreter in diversen universitären durch die Regierung des Saarlandes der Studierendenschaft illustrieren Gremien oder dem Studentenwerk ohne Wahl ernannt wurde, erfolgte die Programme, Plakate, Flugblätter mit seinen vielfältigen sozialen Auf- nach dem mit dem politischen Um- und Flyer der verschiedenen studen- gaben. Insbesondere die Überliefe- bruch an der Saar 1955 verbun- tischen Gruppen und Vereinigungen rung der Studierendenschaft gilt als denen Übergang zum deutschen die jeweiligen hochschulpolitischen Seismograph des Zeitgeistes und Universitätssystem kollegialer und Ziele. Die Protokolle des Studieren- verweist auf Vernetzungen zu aktu- dezentraler Mitverantwortung der denparlaments und seiner verschie- ellen sozialen Bewegungen. Unsere Archive - Heft 66 I 2021 13
Thema: Demokratie und Wahlen LA SB, NL Hartmann. Foto: Paul Hartmann. Der Gloria-Palast in Saarbrücken wurde als Filmtheater lange vor der Fertigstellung des Gebäudes im Oktober 1951 eröffnet. Hier fand am 10. Juli 1954 die Saar-Premiere des Dokumentarfilms über den deutschen WM-Sieg statt. Abpfiff im Filmpalast Fußball, Kino, Saarstaat: Wie das „Wunder von Bern“ das Referendum von 1955 vorwegnahm Paul Burgard Das Pfeifkonzert war nicht zu der deutschen Mannschaft folgten kleinen Industrierevier ein dritter, überhören. Manche behaupteten nämlich nicht die von allen erwar- ein europäischer Weg in die Zukunft später, man habe es sogar noch teten nationalen Freudengesänge beschritten werden. Drei Monate weit entfernt vom „Gloria“, im Stadt- deutscher Schlachtenbummler in nach dem Fußballfilmskandal hatten zentrum Saarbrückens vernommen. der Schweiz. Sondern ein schwarzes die Regierungschefs aus Paris und Jedenfalls pfiffen sich viele der gut Loch und eine abrupte Schlussse- Bonn endlich die scheinbar richtige tausend Besucher während der Pre- quenz, die auch dem völlig unbedarf- Formel für diese Zukunft gefunden. mierenvorstellung im drei Jahre zu- ten Kinobesucher verriet, dass hier Das Saarland sollte danach zum ers- vor eröffneten Filmpalast an diesem die grobe Schere des Zensors am ten integrierten europäischen Staat 9. Juli 1954 lautstark ihren Unmut Werk gewesen war. werden, autonom im Inneren, nach von der Seele. Was sie beim Betrach- Das Saarland war nach dem außen vertreten durch die gerade im ten des Dokumentarfilms über das Zweiten Weltkrieg gut zehn Jah- Entstehen begriffenen europäischen kurz zuvor stattgefundene „Wun- re lang ein ganz besonderes Land. Institutionen. Und wenn alles gut der von Bern“ aufbrachte, war nicht Abgetrennt von Deutschland, mit gegangen wäre für die Saarländer, etwa das, was sie sahen. Sondern Frankreich in einer Wirtschafts- und dann wäre Saarbrücken sogar zur das, was sie nicht sehen und hören Währungsunion verbunden, soll- Montanhauptstadt der ersten Euro- durften. Nach den Bildern vom Sieg te in dem 2500 Quadratkilometer päischen Gemeinschaft geworden. 14 Unsere Archive - Heft 66 I 2021
LA SB, NL Hartmann. Foto: Paul Hartmann. In der Qualifikation zur Weltmeisterschaft 1954 traf die bundesdeutsche Mannschaft am 28. März 1954 in Saarbrücken auf die Auswahl des Saarlandes. Im Bild der Wimpeltausch zwischen den beiden Kapitänen Fritz Walter (l.) und Peter Momber (r.). Alles gut wäre in diesem Fall aber Sog „Heim ins Reich“ unwidersteh- granten einen demokratischen Staat nur geworden, wenn die Saarländer lich machte und gerade das „Wun- im Zeichen des Antifaschismus auf- in ihrer Mehrheit für das „Europäi- der von Bern“ gezeigt hatte, dass bauen wollten, klang der mittlerweile sche Saarstatut“ gestimmt hätten. die West-Deutschen wieder wer aus der Nationalhymne getilgte Teil Das Votum sollte gut ein Jahr nach sein konnten, wieder aufgenommen des Deutschlandliedes noch 1954 dem „Wunder von Bern“, im Oktober waren in die internationale Völker- wie eine Anrufung der bösen Geister 1955, stattfinden. familie, in die zivilisierte Welt. Das der Vergangenheit, wie ein Introitus Dass und welche Probleme es „Deutschland, Deutschland über al- zum Rückfall in die Barbarei. Um ge- mit dem Saarstatut geben könnte, les“, von den Fußballfans in Bern mit nau das zu verhindern, hatte man genau das zeigte sich, freilich nicht einer die NS-Vergangenheit hinweg- mit französischer Unterstützung zum ersten Mal, an jenem Julitag tönenden Inbrunst gesungen und hohe Hürden aufgebaut, versuchte, im Gloriakino. Europa war für die von den Dokumentarfilmern fest- die junge Demokratie auf ein sturm- allermeisten Saarländer (damals gehalten: Ausgerechnet diese Ge- festes Fundament zu stellen – auch allerdings auch für die allermeisten sangseinlage war von den saarländi- wenn dazu bisweilen nur bedingt Europäer) politisch noch ein völlig schen Zensoren herausgeschnitten demokratische Instrumente zum unbeschriebenes Blatt. Deutschland worden, ausgerechnet für ein saar- Einsatz kamen. Das Verbot oder die hingegen, so sehr es durch den na- ländisches Publikum, für das diese Nichtzulassung von demokratischen tionalsozialistischen Zivilisations- Zeilen im Jahr 1954 noch eine ganz Parteien, deren Ziel die Wiederver- bruch diskreditiert war, blieb für die andere, sehnsuchtsvolle Bedeutung einigung mit Deutschland war, ge- meisten Menschen an der Saar ein hatten. hörte etwa dazu. Oder Eingriffe in sehr vertrautes Terrain, das selbst- Was für einen Großteil der Saar- die Freiheit der Medien, manchmal verständliche Heimatland, das mit länder eine politische Sehnsucht mussten die Gemaßregelten sogar zunehmender Entfernung vom war, war für die Protagonisten des vorübergehend ihr Erscheinen ein- Supergau des Jahres 1945 immer Saarstaats ein politischer Alptraum. stellen. Selbst Überwachung und attraktiver wurde. Zumal jetzt auch Für sie, die vom Nationalsozialismus Abhörung von tatsächlichen oder noch das Wirtschaftswunder den Verfolgten, die nach 1945 als Remi- vermeintlichen Saarstaatgegnern Unsere Archive - Heft 66 I 2021 15
Thema: Demokratie und Wahlen LA SB, Plakatsammlung. tause von Parma“ oder die bei der verständlich zu folgen. Jugend so beliebten „Zoro“-Filme; Die Zensoren befanden sich da- der Mann mit Maske und Peitsche mit in einer hochnotpeinlichen Si- könne die „Jeunesse dorée“ gegen tuation. Sie konnten die empörten die reale Erwachsenenwelt aufwie- Pfiffe des heimischen Premieren- geln, befürchtete man im Saarland. publikums quasi schon kommen Sogar „Dick und Doof“ waren nicht hören. Schließlich kannten sie die ohne weiteres vorzeigbar, jedenfalls Erwartungen und die Einstellungen nicht in dem Streifen, in dem sie als des Kinopublikums, auch die politi- „Rekruten“ auftraten. Der allergröß- schen. Zu allem Übel wurde der Film te Skandal der bundesrepublikani- der Prüfstelle erst wenige Stunden schen Film- und Sittengeschichte vor der nachmittäglichen Premiere stellte hingegen im Saarland über- vorgelegt. Hektik und Panik waren haupt kein Problem dar. „Die Sünde- ein guter Nährboden für die dilettan- rin“ mit der ungefähr zwei Zehntelse- tischste aller Lösungen. Der Schnitt kunden lang barbusig zu sehenden wurde nicht mehr passfähig festge- Hildegard Knef in der Hauptrolle legt, sondern nur noch die eigentli- bereitete den saarländischen Film- che Nationalhymne extrahiert. Wel- zensoren jedenfalls keinerlei Kopf- che Wirkung das haben würde, war schmerzen. Der Film durfte tatsäch- abzusehen. Zuerst, nachdem ihnen lich laufen – freilich nur als ein von das Urteil der Prüfstelle bekannt- Der Aushang des Filmplakats für den deutschen Revuefilm „Die Dritte von der Saarbrücker Zeitung verbreiteter gegeben worden war, liefen Film- rechts“ wurde polizeilich verboten. Aprilscherz. verleiher und Kinobesitzer Sturm. Einer möglichen Gefährdung Sie drohten mit der gerichtlichen der Jugend und einer amoralischen Verfolgung des Falls – und mit der Unterminierung des „Saarvolks“ Öffentlichkeit. Dann trat eben diese galt fast die gesamte Aufmerk- Öffentlichkeit auf den Plan, noch viel befanden sich im Arsenal der von samkeit der saarländischen Film- stürmischer als die Filmunterneh- Johannes Hoffmann gelenkten Saar- prüfstelle. Der Doku-Film „Fußball- mer. In jeder Vorführung, nicht nur in Demokratie. Eine „Demokratie unter weltmeisterschaft 1954“, der mit der Premiere, brachte sie ihren Un- Vorbehalt“ nannte sie deshalb der seinen 90 Minuten Länge zum Kino mut mit gellendem Pfeifkonzert zum Historiker Armin Heinen. Ein Vor- genauso gut wie zum Fußball pass- Ausdruck. Und nach jeder Veranstal- behalt, der eben auch in einer Film- te, ließ solche Gefährdungen natür- tung vermehrte sich die Zahl derer, zensur zum Ausdruck kam, die im lich nicht erwarten. Hätten sie allein die vom Skandal wussten. Er wur- Gegensatz zur Bundesrepublik kei- entscheiden können, die Männer de zum Stadtgespräch. Der „worst ne Freiwillige Selbst-, sondern eine von der Saarbrücker Filmprüfstelle case“ war eingetreten, die Zensur staatliche Kontrolle war. hätten den Streifen vielleicht so- hatte genau das Szenario heraufbe- Jeder Streifen, der in die saar- gar ohne Schnitt passieren lassen, schworen, das sie durch ihre Arbeit ländischen Kinos kam, musste die in der Hoffnung, dass die politisch ja eigentlich verhindern sollte. staatliche Zensurbehörde passieren. problematischen Momente ganz Erst nach dieser Erfahrung be- Sie sei strenger gewesen als die spa- am Ende des Films in der allge- mühte man sich um die Begrenzung nische, heißt ein immer wieder zitier- meinen Euphorie untergingen. Der eines Schadens, der längst grenzen- tes Bonmot, das dabei vermutlich deutschlandpolitisch besonders los geworden war. Das Hymnen- auch uralte inquisitorische Gedan- sensibilisierte Innenminister Hec- Loch zum Schluss des Filmes wurde ken assoziieren wollte. Am ehesten tor, Sohn einer vor den Nazis ge- nun mit Wochenschau-Szenen ge- traf diese Assoziation in der Hand- flüchteten Saarlouiser Familie mit füllt, die die Heimkehr der Fußball- habung der Fragen von Sitte und französischem Pass, hatte jedoch helden aus Bern zeigten, Szenen, die Anstand, von Religion und Moral zu. schon zuvor darauf bestanden, natürlich auch vorher durch die Saar- Die Reihe der Filme, die deswegen dass die Szene mit dem Deutsch- Zensur gegangen sein mussten. Ge- verboten oder geschnitten werden landlied unbedingt zensiert werden rade das Resümee dieser Nachbes- musste, liest sich heute beeindru- müsse. Kurz vor der Sitzung der serung, in seiner positiven Tendenz ckend. Helmut Käutners Film „Große Filmprüfstelle war dieser Wunsch ebenso beeindruckend wie in seiner Freiheit Nummer 7“ (der schon von von Kriminalrat Leibrock höchstper- Komik, belegt die subversive Kraft, den Nazis verboten worden war) ge- sönlich übermittelt worden. Dem die im System des Saarstaats selbst hörte dazu ebenso wie die preisge- hatte die Kommission unter ihrem steckte, die wohl in jeder Demokratie krönte Stendal-Verfilmung „Die Kar- Vorsitzenden Mutzenbecher selbst- unter (halbdemokratischem) Vorbe- 16 Unsere Archive - Heft 66 I 2021
halt angelegt ist. „Der Unterzeich- hatten schon Jahre vor dem Skandal LA SB, N Press Ph A 96, 33. Foto: Erich Oettinger. nete“, schreibt der oberste Zensor mit dem „Wunder von Bern“ einige Mutzenbecher, „hat sich dann bei denkwürdige Spiele stattgefunden, der ersten öffentlichen Vorführung deren politische Symbolik weit hö- in der Neufassung überzeugt, dass her zu taxieren war als ihre sportli- diese Lösung als voll geglückt an- che Bedeutung. gesprochen werden muss. Das Pu- Fußball und Kino gehörten spä- blikum nahm jetzt die Vorführung testens seit den 1920er Jahren zur widerspruchslos hin und wer von saarländischen DNA wie Kohle und der Angelegenheit nichts gehört hat- Stahl. Beide boten also hervorragen- te, wird jetzt überhaupt nichts von de Gelegenheiten, um das Ohr an der vorgenommenen Veränderung die „vox populi“ zu legen, um in gro- wahrgenommen haben. Da die An- ßer Unmittelbarkeit die politischen gelegenheit aber inzwischen offen- Wünsche und Vorstellungen der bar planmäßig zum Tagesgespräch Saarländer zu erkunden. Die Vertre- in der Stadt aufgebauscht worden ter der ersten saarländischen Demo- ist, werden es allerdings leider nicht kratie fremdelten aber sowohl mit allzuviele sein.“ dem Fußball als auch mit dem Kino, In den Saarbrücker Kinos wur- begriffen beide nicht als potenzielle de im Sommer 1954 das Ergebnis Foren für die politische Zukunftsge- der Volksabstimmung vom Oktober staltung, sondern als Gefahrenorte. 1955 vorweggenommen. Das war Sie nutzen Kino und Fußballstadion Das saarländische Kabinett mit spätestens im August 1955 nicht deshalb nicht als Spielplätze, um die Ministerpräsident Johannes Hoffmann mehr zu übersehen. Denn gut ein Öffentlichkeit für die eigenen Visio- (3. v. l.) und Innenminister Edgar Jahr nach der kläglich gescheiterten nen zu gewinnen, sondern als Stät- Hector (2. v. l.), 1954. Zensur des „Wunders von Bern“ wur- ten volkspädagogischer Erziehung, den nicht nur die Zensoren, sondern an denen die politische Kultur für alle Protagonisten des Saarstaats die eigenen Zwecke zurechtgestutzt und die Vordenker eines Europäi- werden sollte. Ähnlich wie ihre Zen- Schnitt, „so würden keine Beden- schen Saarstatuts ausgepfiffen. Und soren mit einer Schere im Kopf aus- ken bestehen, die Nationalhymnen wieder fand der Akt der massenhaf- gestattet, versuchten Hoffmann und aller Länder, also auch der der Bun- ten öffentlichen Empörung in und seine Mitstreiter, die politische Rea- desrepublik, singen zu lassen. Im vor einem Kino statt. Die „Wartburg“, lität so zu dokumentieren, wie sie augenblicklichen Übergangsstadi- wo die „Europäer“ in jenem August exklusiv von ihnen gesehen werden um aber müsse das Abspielen der ‘55 ihren Wahlkampf eröffneten, der wollte. Wer seinen „Film“ über die deutschen Hymne ein Anreiz zu De- wohl geschichtsträchtigste Platz des Realität im Spiegelkabinett entwirft, monstrationen geben […].“ So lan- saarländischen Sonderwegs im 20. darf sich allerdings nicht wundern, ge die „richtige“ Demokratie noch Jahrhundert, war nämlich auch der wenn die wirkliche Wirklichkeit plötz- nicht da ist, so könnte man diese Ort, an dem das saarländische Kino lich ein völlig anderes Bild abgibt. Die Sätze vom Kino in den Plenarsaal in den Kriegstrümmern des Jahres Saarstaat-Führung fiel dennoch aus übertragen, wagen wir noch ein 1945 wiedergeboren worden war. allen Wolken, als ihr 1955 die Rech- bisschen Demokratur. So etwas hat Diese lokale Übereinstimmung zwi- nung präsentiert wurde. noch nie funktioniert, in keinem de- schen cineastischer und politischer Die Tumulte um das „Wunder mokratischen Gemeinwesen, nicht Kritik, die „prima vista“ natürlich von Bern“ im Juli 1954 demonst- im Gloria-Filmpalast 1954 und erst eine zufällige war, entbehrte auf den rierten Möglichkeiten und Grenzen recht nicht beim Referendum von zweiten Blick nicht der inneren Logik. der Zensur, belegten aber vor allem 1955. Denn das Kino war im Saarland der den politischen Aggregatzustand, fünfziger Jahre ein ganz besonderer in dem sich der Saarstaat bereits in Ort der Öffentlichkeit, mit seinem jenem Jahr befand. Die Hilflosigkeit Angebot und seinen Besucherzahlen derer, die den Staat auch im Kino Die Akten zur saarländischen Filmzensur und zum stand das kleine Land stets an der in Szene zu setzen hatten, hätte Fußballfilm von 1954 befinden sich im Landesarchiv europäischen Kinospitze. In seiner eigentlich alle alarmieren müssen. Saarbrücken, vor allem in den Beständen Staats- kanzlei und Informationsamt. Bedeutung für das große Publikum „Wenn wir an der Saar erst einmal Die Zitate aus LA SB, StK 2028. den Europa-Status hätten“, so be- Mehr zum Saar-Kino der 1950er, zur Filmzensur konnte das Kino nur noch von einem und dem hier präsentierten Fall in dem vom Autor Ort getoppt werden: vom Fußball- gründete Zensur-Vorsitzender Mut- gemeinsam mit Gabi Hartmann und Klaus Peter Weber herausgegebenen Band: Filmrausch. Das stadion. Und auch an diesem Platz zenbecher die Entscheidung zum Kinowunder im Saarland, Saarbrücken 2019. Unsere Archive - Heft 66 I 2021 17
Thema: Demokratie und Wahlen Die St. Wendeler Wählerlisten von 1919 als Quelle zur weiblichen Sozialgeschichte 1 Andrea Recktenwald Beim Thema „Wahlen und De- zum Wahlbezirk III sind leider nicht (67) die größten Gruppen. Seit zehn mokratie“ fallen sofort die Grundsät- mehr vorhanden. Jahren existiert an der Marienstraße ze einer demokratischen Wahl ins Betrug der Personenkreis bei das Marienkrankenhaus der Fran- Gedächtnis. Allgemein, unmittelbar, der Reichstagswahl 1912 noch 1459 ziskanerinnen mit Schwestern und frei, gleich und geheim sind die Vo- Bürger, stieg dieser 1919 schon im Pfründnerinnen, die jetzt ebenfalls raussetzungen einer Wahl in diesem I. und II. Bezirk zusammen auf 3052 wahlberechtigt sind. Genauso wie Sinne. Vor allem das Prinzip der All- Stimmen. Darunter waren jeweils et- die St. Wendeler Lehrerinnen, von gemeinheit, das heute die Partizipa- was mehr als die Hälfte weiblich. Die denen einige in der Maria-Magda- tion aller Bürgerinnen und Bürger ab Einwohnerzahl umfasste laut Versor- lenenkapelle wohnen, die zeitweise dem 18. Lebensjahr in Deutschland gungsstatistik ca. 7872 Personen.4 als Schule dient. Insgesamt zählt der und Europa ermöglicht, trägt maß- Informationen zur Person, wie Bezirk 16 Pädagoginnen, was wohl geblich zu diesem demokratischen Alter, Stand und Wohnort, sind mit dem Lehrermangel nach dem Krieg Prozess bei. Bis vor hundert Jah- verzeichnet und lassen jeden Einzel- geschuldet ist. Auch hier entdeckt ren war aber ein großer Teil der Be- nen greifbar erscheinen. Die Stellung man eine Anzahl Näherinnen (17) völkerung in Deutschland nicht zur der Frau innerhalb der Haus- und Ar- und weitere fünf Modistinnen. In den Stimmabgabe berechtigt. Erst nach beitsgemeinschaft lässt sich in den Tabakfabriken und dem Eisenbahn- dem ersten Weltkrieg konnten Frau- Listen vor allem aus ihrem Stand ab- ausbesserungswerk finden Frauen en bei der Wahl zur verfassungge- lesen und soll hier kurz vorgestellt Anstellung als Arbeiterinnen. benden Nationalversammlung zum werden. Ahnenforscher erhalten durch ersten Mal teilnehmen2 und auch Im Stimmbezirk I haben mehr die Aufstellung einen Einblick in die selbst gewählt werden. als die Hälfte (458) der Frauen den Wohn- und Berufssituation ihrer Vor- In St. Wendel sind keine Hinwei- Stand als Ehefrau. Es folgen die fahren zu einem bestimmten Zeit- se dafür auszumachen, dass Frauen ohne Stand oder Gewerbe (147), punkt und können sich somit eine aktiv für ihr Wahlrecht eingetreten von denen die meisten unverheira- bessere Vorstellung ihres Lebens in wären. Jedoch begannen sie sich tete Töchter sind, was sich aus der der Stadt machen. Für Sozial- und 1918 im Verein katholischer er- Familienzusammensetzung ergibt. Wirtschaftshistoriker ergeben sich werbstätiger Frauen und Mädchen Die größte Gruppe unter den Beru- aufschlussreiche Anhaltspunkte zur und dem Verein der weiblichen kauf- fen stellt die Anstellung als Dienst- sozialen Zusammensetzung der männischen Angestellten und Be- magd (67) dar. Daneben gibt es eine Stadt und ein erweiterter Blick auf amtinnen beruflich zu organisieren.3 größere Anzahl von Näherinnen (12) das Gewerbe. Für wissenschaftliche und private und zwei Modistinnen. Von der regen Die Wählerlisten erweitern somit Nutzer des Stadtarchivs St. Wendel Handelstätigkeit in der Bahnhof- und den Blick auf einen größeren Teil der hat diese Erweiterung der Stimmbe- Brühlstraße zeugen die zahlreichen Gesellschaft, was die Geschichte der rechtigten heute noch einen weite- Verkäuferinnen, Bürogehilfinnen und Stadt vollständiger macht, und las- ren Wert. Enthält doch eine Akte (D Kontoristinnen. Die Spanne der Be- sen ein heterogeneres Bild der Frau- 1.76) Wählerlisten zu verschiede- schäftigungen von Frauen reicht von en der Zeit erkennen. nen Wahlen in den 1910er Jahren. Köchinnen, Arbeiterinnen, Lehrerin- 1919 fanden in der Stadt sowohl die nen, zwei Geschäftsinhaberinnen, Wahlen zur deutschen Nationalver- einer Filialleiterin, einer Buchhändle- sammlung als auch zur preußischen rin bis zu einer Medizinstudentin. Landesversammlung statt. Zu den Im Stimmbezirk II stellen eben- Stimmbezirken I und II sind Listen falls die Ehefrauen (402), Frauen vollständig erhalten. Unterlagen ohne Stand (167) und Dienstmägde 18 Unsere Archive - Heft 66 I 2021
Foto: Stadtarchiv St. Wendel. 1 Benutzte Literatur: Kretschmer, Rudolf: Die Geschichte der Stadt St. Wendel 1914 – 1986, Band 1 – 3, St. Wendel 1986; Müller, Max: Die Geschichte der Stadt St. Wendel von ihren Anfängen bis zum Weltkriege, St. Wendel 1981 (Nachdruck). 2 Daneben wurde das Wahlrecht auch auf Soldaten und alle ab dem 20. Lebensjahr erweitert. 3 Siehe Kretschmer 2. Band, S. 556. 4 Siehe Kretschmer 1. Band, S. 237. Unsere Archive - Heft 66 I 2021 19
Thema: Demokratie und Wahlen StAK 623 Nr. 2162, S. 212. Unterschriftensammlung für eine Petition gegen die falsche Zensusberechnung vom 19.4.1846. Politische Partizipationsprinzi- pien und ihre Umsetzung in der ersten preußischen Gemeinde- ratswahl 1845/46 Katharina Thielen Wer darf wählen? Aktuelle De- handelt, ist bekannt. Im vorliegen- in den rheinischen Provinziallandta- batten über die Veränderung poli- den Beitrag wird daher ein pragma- gen und stellte einen Kompromiss tischer Partizipationsformen und tischer Zugang zu jener eingangs zwischen der vom Innenministerium -forderungen durch globale Heraus- gestellten Frage eröffnet und ein in angestrebten Einführung der preußi- forderungen rücken diese Grund- der Demokratiegeschichte eher ver- schen Städteordnung und einzelner satzfrage wieder in den Vordergrund nachlässigtes Ereignis in den Fokus von den Rheinländern verteidigter und zeigen, dass institutionalisierte gerückt: Die Einführung der Gemein- Prinzipien der französischen Kom- Beteiligungschancen an politischen deordnung für die preußische Rhein- munalverwaltung dar.2 Dabei unter- Entscheidungsprozessen vor ihrem provinz im Vorfeld der Revolution schied sich die neue Rechtsgrund- gesellschaftspolitischen Hintergrund von 1848/49.1 lage im Wesentlichen nur durch das zu bewerten sind. Dass es sich dabei Die Gemeindeordnung war das Wahlrecht von der bis dato gültigen um ein vielschichtiges Konfliktfeld Ergebnis langwieriger Diskussionen Munizipalordnung. Im Gegensatz zu 20 Unsere Archive - Heft 66 I 2021
dem darin festgeschriebenen Vor- gen und alle weiteren anfallenden Im Speziellen wurden erprobte schlagsrecht aller (!) freien, männli- Verwaltungsgeschäfte eigenhändig, Arbeitsweisen angewendet und die chen Bürger ab 21 Jahren barg das so dass seine mehr als 400 im Stadt- Ermittlung der Wahlberechtigten neue Recht auf die direkte Wahl der archiv überlieferten Aktenbände den von vorneherein mit der Steuerpoli- Gemeindevorsteher unter Preußen Benutzer*innen einen unmittelbaren tik verbunden. Neben dem üblichen großes Konfliktpotential, das im Fol- – wenn auch schwer zu entziffern- Gebrauch von Höchstbesteuerten- genden anhand einer Verwaltungs- den – Einblick in die Aushandlungs- listen hatten die Koblenzer Stadträte akte aus dem Stadtarchiv Koblenz prozesse des preußischen Verwal- zehn Jahre zuvor eine Einwohner- aufgezeigt wird. tungsalltags eröffnen. Dabei war liste für die Erhebung einer Einkom- Das Drei-Klassen-Wahlrecht be- die Ernennung des aus dem rechts- menssteuer erstellt, auf die sie für rechtigte nur die männlichen Bürger rheinischen Ehrenbreitstein stam- die Ermittlung der Stimmberechtig- über 25 Jahre, die einen Grundsteu- menden Juristen zum Nachfolger ten zurückgreifen konnten, zumal erbetrag von mindestens 2 Talern des letzten französischen Maires Jo- die „Prozedur zur Auffindung der und einen Klassensteuerbetrag von hann Joseph Mazza (1752 – 1828) Meistbeerbten“ – wie Maehler an- mindestens 4 Talern zahlten, zur im Jahr 1818 zunächst umstritten, merkte – „die nemliche war“.10 Diese politischen Meinungsäußerung. Des sollte sich aber als wichtiger Stabi- beruhte auf der subjektiven Kennt- Weiteren war ein bestimmtes Min- litätsfaktor herausstellen, der sich nis einer Einschätzungskommis- desteinkommen notwendig, dessen lediglich an einem weiteren Regie- sion, die im November 1845 inner- Festsetzung den Städten zunächst rungssitz etablierte.6 halb des Stadtrats gewählt wurde selbst überlassen war und zwischen Der Kölner Oberbürgermeister und von der Auskunftsbereitschaft 200 und 600 Talern betragen soll- Adolph Steinberger (1777 – 1866) der Bevölkerung abhängig war. Im te. Dabei hatten die amtierenden befand sich seit 1823 im Amt und Fall der klassifizierten Einkommens- Stadträte von Koblenz am 13. Ja- wurde zu Beginn der Wahlvorberei- steuer – die im Übrigen nach nur nuar 1846 „nach langer vielseitiger tungen von seinem gleichaltrigen Ko- einem Jahr wieder aufgehoben wur- Diskussion sich einstimmig dafür blenzer Kollegen kontaktiert, um Un- de – sollten das Grundeigentum, das ausgesprochen, daß mit zweihun- klarheiten aus dem Weg zu räumen. Kapitalvermögen, die Gehalts- und dert Thaler Einkommen die Qualität Auf eine „gehorsamste Anfrage“, Pensionszahlungen sowie die Ge- eines Meistbeerbeten eintrete“.3 Die ob Militärs, Geistliche und Lehrer zu werbeeinnahmen aller männlichen Mehrheit der 30 Honoratioren war den Wahlberechtigten gehörten und und weiblichen Gemeindemitglie- in der Franzosenzeit aufgewachsen „die Gehälter der Beamten wie im der erfasst werden – Militär, Klerus und seit mehr als zehn Jahren im Gesetz vom 11. Juli 1822 festge- und Schullehrer ausgenommen. Amt. Warum sie sich für das größt- legt, nur zur Hälfte berechnet wer- Aufgrund der Auskunftspflicht der mögliche Maß an politischen Par- den sollen, wie dies auch bei der Behörden konnten die Gehälter tizipationsrechten aussprachen, Einkommenssteuer 1837 der Fall ge- von Beamten und Angestellten ex- obwohl (oder gerade weil?) sie der wesen war“,7 hatte Maehler nämlich akt – per Gesetz allerdings nur zur lokalen Oberschicht angehörten, von der zuständigen übergeordne- Hälfte – berechnet werden.11 geht aus der darauffolgenden, 438 ten Regierungsbehörde noch keine Ohne Rücksicht auf die ehema- Seiten umfassenden Dokumenta- Antwort erhalten. Steinberger leitete ligen Steuerzahlerinnen wurde dar- tion „betreffend die Gemeindeord- eine vage formulierte Zustimmung aufhin nach dieser Vorgehensweise nung vom 23. Jul. 1845 und deren der Kölner Regierung weiter und verfahren und die erste von insge- Einführung“4 hervor.5 räumte ein, dass „die Frage ob akti- samt drei Wählerlisten veröffent- Die Verwaltungsakte ist in der ve Militärs dazugehören hier nicht licht. Darin wurden 955 erwachse- Überlieferungsgeschichte der rhei- aufgeworfen worden“8 sei. Solche nen Bürgern von insgesamt 18.523 nischen Bezirksregierungsstädte in überregionalen Absprachen waren Einwohnerinnen und Einwohnern ihrer Art herausragend, weil sie di- im streng hierarchisch strukturierten mit einem geschätzten Gesamt- vergierende zeitgenössische Parti- preußischen Behördenapparat kei- vermögen von 501.210 Talern das zipationsvorstellungen und deren neswegs angelegt und sind nur sel- Recht zur Wahl ihrer Repräsentanten praktische Umsetzung detailliert wi- ten nachzuverfolgen. Im Allgemeinen erteilt. Dieses Ergebnis entsprach ca. derspiegelt. Der Grund dafür ist ihr weisen sie auf die Schwerfälligkeit 5,2 Prozent der Bevölkerung, wobei Entstehungszusammenhang am des kollegialen Verwaltungssystems, etwa gleich viele Personen über die Ende der fast 30-jährigen Amts- die damit verbundenen Kommunika- niedrigste Gehaltssumme von 200 zeit von Abundius Maehler (1777 tionsprobleme zwischen der unteren bis 300 Talern und über die höchste – 1853). Als einziger preußischer und mittleren Verwaltungsebene und Gehaltssumme von über 600 Talern Oberbürgermeister protokollierte er deren Kompensation durch persönli- verfügten. Trotz Ungenauigkeiten die wöchentlichen Stadtratssitzun- che Netzwerke hin.9 gibt die Tabelle Auskunft über die Unsere Archive - Heft 66 I 2021 21
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