AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
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Inhalt «Ich bin Anführer*in der Revolution» – Stimmen aus dem Herbst 2019 und dem Jahr danach (Astrid Fischer).............................................................................................................................................. 5 Der unvollendete «arabische Frühling» (Harald Etzbach)............................................................................ 9 I. Verortung: Linke Perspektiven................................................................................................... 17 I.I. Solidarität und politische Teilhabe......................................................................................... 17 Vom Libanon bis zum Irak, von Bagdad nach Beirut... es ist eine Revolution (Ansar Jasim, Sami Adnan)............................................................................................................... 17 «Many friends in the mountains» (Schluwa Sama)......................................................................... 21 Gleichberechtigung beginnt im Kopf (Norma Musih)...................................................................... 24 I.II Strukturelle Ausbeutung und Gewalt..................................................................................... 29 Die libanesische Revolution: Ohne die Hausangestellten (Banchi Yimer)..................................... 29 Impressum Ahlams Schreie – Es gibt keine Freiheit ohne die Freiheit der Frauen (Hanna Al-Taher)..............32 Erstellt mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche I.III (Ohn)Macht und staatliches Versagen.................................................................................. 35 Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Für diese Publikation ist allein die Heraus‑ Was Gaza mit München gemeinsam hat (Clemens Messerschmid)............................................ 35 geberin verantwortlich. Die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt Problematischer «Wiederaufbau» in Syrien (Harald Etzbach)....................................................... 38 des Zuwendungsgebers wieder. Die kurdische Frage als Klassenfrage (Schluwa Sama, Ardalan Bastani)..................................... 41 Für ihre Beiträge sind allein die Autor*innen verantwortlich. Die Inhalte entsprechen nicht zwingend den Positionen der Rosa‑Luxemburg‑Stiftung. II. Bewegung: Proteste, Aufbruch und Widerstand.......................................................................... 49 Herausgegeben von der Rosa‑Luxemburg‑Stiftung II.I Forderungen im öffentlichen Raum....................................................................................... 49 Redaktionsteam: Katja Hermann (V.i.S.d.P.), Astrid Fischer (Konzeption), Juliane Drückler «Neue Wege, um miteinander in Beziehung zu treten» (Miriam Younes, Lara Bitar)..................... 49 Lektorat (Dossier‑Texte): Harald Etzbach Der Streik der Lehrer*innen in Jordanien 2019 (Hanna Al-Taher)................................................... 52 Gestaltung und Druck: Hinkelsteindruck Trauer, Stolz und eine Geschichte, die noch nicht zu Ende geschrieben ist (Schluwa Sama)..........56 ISBN 978‑3‑948250‑23‑2 II.II Kunst und Auseinandersetzung............................................................................................ 59 «Kunst ist Widerstand gegen die Tötungsmaschinerie» (Anna-Theresa Bachmann, Saeed Al-Batal)..................................................................................... 59 © 2020 Rosa‑Luxemburg‑Stiftung Fotoreportage: Das Dasein in Echtzeit und jenseits der Realität Alle Rechte vorbehalten. (Lilian Mauthofer, Dayna Ash)........................................................................................................... 62 «Unsere Zeit kommt wieder, wenn sich die Machthaber sicher fühlen» Rosa‑Luxemburg‑Stiftung (RLS) (Mareike Transfeld, Abdulsalam Al-Rubaidi).................................................................................... 82 Zentrum für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit Referat Westasien Straße der Pariser Kommune 8a III. Ausblick: Reflexionen zu Europa................................................................................................ 86 10243 Berlin «Satire ist ein gutes Mittel...» (Daniel Walter, Karl Sharro).............................................................. 86 «Die internationale Hilfe greift zu kurz» (Anna-Theresa Bachmann, Karin Mlodoch).................... 89 Bildnachweis: «Wir müssen Politiken für eine gemeinsame Zukunft formulieren» Fotos Titel, S. 2‑3, S. 14‑15, S. 46‑47: Lilian Mauthofer (Gamze Kafar, Neşe Özgen).............................................................................................................. 92 Fotostrecke (S. 62‑81): Lilian Mauthofer und Dayna Ash Foto (S. 84‑85): Joud Hassan Die Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Westasien (Katja Hermann)................................................. 96 2
«Ich bin Anführer*in der Revolution» Stimmen aus dem Herbst 2019 und dem Jahr danach ‑ eine Einleitung Astrid Fischer Seit Oktober 2019 kommt es im Libanon und im steht in krassem Widerspruch zu der klientelisti- Irak zu Massenprotesten ‑ und auch in anderen schen Politik entlang konfessioneller Trennlinien Ländern Westasiens1 finden immer wieder De- der letzten Jahre und Jahrzehnte ‑ in dem Sinne monstrationen statt. Ungeachtet unterschiedlicher also eine revolutionäre Entwicklung. Gefordert Ansätze, Entwicklungen und Akteure ‑ gemeinsam wird nicht nur der Rücktritt einer Regierung (was ist den Bewegungen und Initiativen der Wille nach sowohl im Libanon, als auch im Irak zunächst gesellschaftlichen Veränderungen, gerechten öko- gelang). Vielmehr geht es hier um langfristige nomischen Verhältnissen und politischem Wandel. Veränderungen wie den radikalen Umbau des Die hier vorliegende Sammlung von Interviews, politischen Systems und gesellschaftlichen Wan- Kurzanalysen und Berichten ist der Versuch, die del. Angesichts gewaltsamer Repressionen und Vielschichtigkeit dieser breiten Protestbewegun- pandemie-bedingter Beschränkungen stellt sich gen zu zeigen und ihre lautstarken Forderungen allerdings die Frage, wie konsequent Forderun- nach Veränderung möglichst authentisch zu über- gen nach einem politischen Umsturz, radikalen setzen.2 Änderungen der ökonomischen Machtstrukturen und/oder einem Ende kultureller Bevormundung Demonstrationen, soziale Proteste tatsächlich aufrechterhalten werden (können). In diesem Sinne handelt es sich eher um revolutionä- oder Revolution? re Prozesse als um ein fertiges Ergebnis. Nicht zuletzt bei der Erstellung dieser Publikation Gleichzeitig spiegelt der Revolutionsbegriff hier wurde die Frage, inwieweit man bei den Protest- das Selbstverständnis der Menschen wider, die bewegungen von Revolutionen sprechen könne, vor Ort auf die Straße gehen. Und, indem sie «der kontrovers diskutiert. So wird der Herbst 2019 im Revolution» zumindest vorübergehend absolu- Libanon häufig als «Oktoberrevolution» bezeich- te Priorität einräumen, verfolgen sie quasi auch net und auch die Protestierenden im Irak sprechen einen «revolutionären» Lebensstil und entspre- von einer Revolution. Ausschlaggebend aus ihrer chende Ziele wie die Besetzung des öffentlichen Sicht ist dabei die breite, landesweite Unterstüt- Raums, einen offenen Dialog ohne Hierarchien, zung der Proteste vieler, sehr unterschiedlicher ein solidarisches Miteinander, etc. gesellschaftlicher Gruppen. Diese neue Einheit In diesem Zusammenhang kann auch einer der 1 Westasien ist die geografische Bezeichnung der Region, wohl bekanntesten Sprechchöre der Massenpro- die sich mittlerweile auch international immer weiter teste im Libanon «Ich bin Anführer*in der Revolu- durchsetzt, während der Begriff Naher/Mittlerer Osten eine eurozentrische Perspektive nahelegt. Auch das für tion» verstanden werden, reflektiert dieser doch diese Publikation verantwortliche Referat der RLS trägt deutlich das Selbstverständnis der Demonstrie- den Namen Westasien-Referat. renden wider, niemandem hinterherzurennen, 2 Auch wenn wir uns bei der Auswahl der Beiträge um sondern selbst die Entwicklung voranzutreiben. eine möglichst breit angelegte Darstellung verschiede- Gleichzeitig zeigt sich hier aber auch ein Anspruch ner linker Proteste, Akteure und Aktionsformen bemüht an die Außenwelt – an uns, als Beobachtende: haben, zeigt diese Sammlung nur Ausschnitte. So fehlen Sucht nicht einzelne Held*innen oder Sprecher*in- beispielsweise Beiträge über Proteste und Initiativen von LGBTQ-Aktivist*innen; auch konnte auf Entwicklungen in nen, die in unserem Namen agieren – wir alle, jede einigen Ländern (z.B. Saudi-Arabien oder Golfstaaten) und jeder Einzelne weiß, warum wir protestieren nicht eingegangen werden. und was auf dem Spiel steht. 4 5
Wie also lassen sich Protest und soziale Bewe- Verortung will einige der Hintergründe sozialer Pro- Dieses Heft wäre nicht ohne Unterstützung und nen bei Hinkelsteindruck für die sachkundige Un- gung in dieser Vielfalt darstellen? Welche Bilder teste in der Region beleuchten und stellt progressi- Vermittlung weiterer Sachkundiger entstanden, terstützung, fachliche Beratung und Umsetzung. werden den verschiedenen Akteuren und Initiati- ve Ansichten zu Solidarität und Teilhabe neben die konkret: ven gerecht, ohne andere unmittelbar auszublen- Stimmen linker Aktivist*innen und kritischer Beob- Öffentlich – ein besonderer Dank an Erwin Heil den? Zu nennen sind in diesem Zusammenhang achter*innen zu Ausbeutung und Gewalt, sowie zu Sprachlich - ich möchte mich, auch im Namen der und die Kolleg*innen aus der Online-Redaktion der v.a. die kleineren emanzipatorischen Aufbrüche (Ohn)macht und staatlichem Versagen. RLS, besonders bei den Übersetzer*innen bedan- RLS für ihren Sachverstand und die Kreativität, mit und Initiativen, wie ein Gewerkschaftsstreik in Jor- ken, die häufig unter Zeitdruck das nötige Gespür denen sie die Inhalte unserer Arbeit regelmäßig danien, öffentliche Proteste gegen häusliche Ge- Bewegung versucht, die Dynamiken einzelner an den Tag legten, die Beiträge informativ und le- veröffentlichen. walt oder künstlerische Formen des Widerstands. emanzipatorischer Proteste wiederzugeben und senswert zu machen. Diese mögen für sich nicht den Begriff Revolution konzentriert sich dabei auf Aktionen im öffent- Dieses Heft handelt von Aufbruch – daher gilt in Anspruch nehmen, sind politisch aber dennoch lichen Raum sowie auf Beispiele künstlerischer Visuell - es war großartig, die wunderbaren Bilder mein persönlicher Dank den wunderbaren Men- relevant. Daher haben sie hier, wie bereits im On- Formen von Widerstand. der Proteste, Großdemonstrationen und einzelner schen, die mich im letzten Jahr dabei unterstützt line-Dossier, ihren Platz gefunden. Aktionen zu sehen. Auch wenn sich nun doch nur haben. Ausblick beschäftigt sich mit Rolle und Einfluss wenige Fotos in der Publikation wiederfinden, gilt Europas in der bzw. auf die Region und formuliert mein besonderer Dank allen Fotograf*innen, auf Berlin, den 6. November 2020 Hintergrund und Aufbau der Erwartungen an Sicht- und Politikwechsel, Priori- deren Arbeiten wir hier zurückgreifen konnten. täten und Nachhaltigkeit von Entwicklungszusam- Astrid Fischer ist Politikwissenschaftlerin und Publikation menarbeit sowie den Umgang mit Geflüchteten. Technisch – es ist immer ein besonderer Moment, hat für das Westasien-Referat der Rosa-Luxem- wenn aus digitalen Daten ein Heft zum Durchblät- burg-Stiftung die hier vorliegende Publikation kon- Die vorliegende Publikation ist eine Auswahl von Die hier abgedruckten Interviews lassen Aktivist*in- tern und Lesen wird ‑ vielen Dank an alle Kolleg*in- zipiert und redaktionell betreut. Beiträgen, die weitgehend 2019/2020 entstanden nen vor Ort direkt zu Wort kommen und spiegeln sind und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) deren Hoffnung auf Veränderungen wider. Auch die in ihrem Westasien-Dossier online veröffentlicht Fotoarbeit von Lilian Mauthofer und Dayna Ash Das wurden. Ziel des Dossiers ist es, «... hinter die Dasein in Echtzeit und jenseits der Realität5 setzt Schlagzeilen und Stereotype zu blicken und al- sich in ausdrucksstarken Portraits mit den Hoff- ternative Perspektiven vorzustellen, also Diskus- nungen und Träumen junger Libanes*innen ausei- sionen um emanzipatorische Ansätze für Verän- nander. In direkter Reaktion auf die Explosion im derungen abzubilden...»3. Diese Veröffentlichung Hafen von Beirut am 4. August 2020 wird hier u.a. stellt nun einige der Beiträge vor, die über einen die Rolle von Diaspora thematisiert. reinen Problemaufriss hinausgehen und progres- sive Ansätze und Impulse darstellen, über die es sich lohnt, mehr zu erfahren.4 Dabei ging es uns nicht darum, möglichst viele Entwicklungen in der Danke! Region abzubilden, sondern darum, Schlaglichter zu setzen, Sichtgewohnheiten zu verlassen und Wir möchten uns bei den Aktivist*innen und Ge- zum Nach- bzw. Weiterdenken anzuregen. sprächspartner*innen in Westasien und anderswo bedanken, die ihre Zeit, Gedanken und Aufmerk- Nicht zum ersten Mal gehen Menschen in der Re- samkeit zur Verfügung gestellt haben und ohne gion auf die Straße, um gegen Missstände oder die das Westasien-Dossier heute kaum die Res- korrupte Eliten zu demonstrieren. Der Historiker source und Inspiration wäre, die es ist. Einen be- Harald Etzbach bezieht sich in seinem einleiten- sonderen Anteil daran haben die Autor*innen, die den Beitrag daher auf den «arabischen Frühling» erste Ideen in passende Worte und Fragen pack- zehn Jahre zuvor, stellt Zusammenhänge zwi- ten und diese mit Sorgfalt und Sachverstand zu schen den verschiedenen Aufständen her und den nun vorliegenden Interviews, fundierten Bei- zeigt die Prozesshaftigkeit der gesellschaftlichen trägen und Analysen ausgearbeitet haben. und politischen Widerstände. Besonderer Dank gilt dabei Harald Etzbach für Der Hauptteil der Publikation gliedert sich in drei seine redaktionelle Begleitung und das Lektorat Bereiche: der Dossier-Texte, Juliane Drückler und Katja Her- mann für ihre Arbeit in der Dossier-Redaktion und den Kolleg*innen im Westasien-Referat und den Regional-Büros der RLS für wertvolle Impulse so- 3 Alle Beiträge unter: https://www.rosalux.de/dossiers/ wie ihre kompetente Unterstützung. westasien; weitere Informationen zur Arbeit der RLS in Westasien finden sich am Ende dieser Publikation. 4 Diese wurden für die Printfassung redaktionell gesichtet 5 Der englische Originaltext To exist within real-time and und entsprechend angepasst. outside of reality findet sich im Westasien-Dossier online. 6 7
Der unvollendete «arabische Frühling» Zehn Jahre Aufstands- und Protestbewegungen in Westasien und Nordafrika – ein Überblick Harald Etzbach «Ash-shab yurid isqat an-nizam» – das Volk will Am 25. Januar begannen die Proteste in Ägypten, den Sturz des Regimes war die zentrale Parole je- ab Anfang Februar wurden sie von Streiks beglei- ner politischen Bewegung, die Ende 2010 als «ara- tet, an denen sich Hunderttausende von Arbei- bischer Frühling»1 zunächst Tunesien, dann Ägyp- ter*innen beteiligten. Bis zum Sturz des Regimes ten und schließlich weitere Länder Nordafrikas dauerte es diesmal nur gut zwei Wochen: Am 11. und Westasiens erfasste. Dazu gehörten neben Februar 2011 trat Staatschef Husni Mubarak zu- den beiden genannten im Wesentlichen Syrien, rück, ein Militärrat übernahm die Regierungsge- Bahrain, Libyen und der Jemen; in vielen anderen schäfte. Ländern wie Jordanien, Marokko oder dem Oman fanden kleinere Proteste statt. In Tunesien war es In Bahrain gelang der Regimesturz nicht. Hier wur- die Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mo- de der revolutionäre Prozess von außen erstickt, hamed Bouazizi, die die Proteste gegen die Re- als Mitte März saudische Truppen in das Land gierung auslöste. Bouazizi hatte seine Verzweif- einmarschierten und kurz darauf im Verein mit lungstat nach einer Reihe von Willkürmaßnahmen der bahrainischen Armee mit brutaler Gewalt ge- durch die Polizei begangen. Die Demonstrationen, gen oppositionelle Demonstrant*innen vorgingen. die im Laufe der nächsten Wochen überall im Land stattfanden, weiteten sich rasch zu einer wirkli- Im Jemen und in Libyen gelang es zwar, die jewei- chen Aufstandsbewegung aus, und relativ schnell ligen Machthaber zu stürzen, die Aufstandsbe- stürzte dann tatsächlich das erste Regime: Mitte wegungen mündeten jedoch in Bürgerkriege, bei Januar 2011 verließ der autokratisch regierende denen sich in wechselnden Bündnissen Teile der Präsident Zine el-Abidine Ben Ali das Land in Rich- alten Regime mit opportunistischen Gruppen der tung Saudi-Arabien. Aufstandsbewegung verbanden. Die beiden bis heute anhaltenden Konflikte sind zudem verbun- 1 Drei Anmerkungen zur Begrifflichkeit: 1. Die Verwendung der eingängigen Formulierung «arabischer Frühling» soll den mit massiven internationalen Interventionen. nicht suggerieren, dass es sich bei den Bewegungen, die 2010/2011 in Westasien und Nordafrika begannen, um ein Die größte Tragödie des «arabischen Frühlings» Phänomen von kurzer Dauer handelt. Vielmehr sollte bei ereignete sich in Syrien. Inspiriert von den Ereig- der Lektüre des Textes deutlich werden, dass sie Ausdruck nissen in Tunesien und Ägypten hofften die Men- eines langfristigen Prozesses sind. 2. Der Fokus des Tex- tes liegt auf den arabischen Ländern. Dabei ist klar, dass schen hier, das Regime des damals bereits über es in Westasien und Nordafrika auch nicht-arabische Staa- 40 Jahre herrschenden Assad-Clans zumindest ten und Gemeinschaften gibt. «Arabisch» ist zudem nicht zu politischen und sozialen Reformen bewegen in einem ethnisierenden Sinne gemeint, sondern im Sinne zu können. Tatsächlich stellte die Bewegung die von «arabischsprachig». 3. Der Begriff «Revolution» wurde Legitimität des Systems zunächst nicht infrage. in diesem Text verwendet, da er auch von den Akteur*innen Lokaler Auslöser der Proteste war die Verhaftung selbst verwendet wird. Ob es sich bei den Prozessen von 2010/11 und den Folgejahren tatsächlich um Revolutionen von Kindern in der südsyrischen Stadt Daraa. Nach handelt, bleibt Gegenstand der Debatte. verhaltenen Anfängen kam es im Laufe des Som- 8 9
mers 2011 zu großen Demonstrationen in Städten anschließenden Stagnation des Weltmarktprei- cher Institutionen aus. Beispiele sind Algerien, sequent die Forderungen des Internationalen Wäh- wie Homs und Hama. Das Regime reagierte mit ses für Öl. Ägypten oder der Sudan. In diesen drei Ländern ist rungsfonds um, was zu einer weiteren Verarmung brutaler Härte und setzte die Armee gegen die De- zudem die Armee der zentrale Machtfaktor, was großer Teile der Bevölkerung geführt hat.6 monstrant*innen ein, mehrere Hundert Menschen In den siebziger Jahren hatte der Ölboom hohe erklärt, dass in diesen Fällen der jeweilige Präsi- wurden bereits in den ersten Monaten der Protest- Wachstumsraten garantiert. Davon profitierten dent relativ leicht gestürzt und durch eine andere In Syrien reagierte das Regime von Anfang an mit bewegung getötet. auch jene Länder der Region, die keine Erdölpro- Person ersetzt werden konnte, da die Armee die gnadenloser Härte und setzte die Armee und seine duzenten waren – unmittelbar durch zwischen- Kontinuität des bestehenden Systems garantiert. berüchtigten Geheimdienste gegen friedliche De- staatliche Finanztransfers oder mittelbar durch In vollständig patrimonialen Staaten ist dies so monstrant*innen ein. Als Antwort darauf bildete Arbeitsmigration. Allerdings fand keine Diversifi- nicht möglich, da mit der Person des «Herrschers» sich aus Zivilist*innen und desertierten Soldaten Blockierte Entwicklung und (neo)- zierung der wirtschaftlichen Strukturen statt. Die (egal, ob König, Emir oder Präsident) unmittelbar die Freie Syrische Armee (FSA), der es zunächst patrimonialer Staat Einnahmen aus dem Ölgeschäft flossen haupt- der gesamte Staat infrage gestellt ist. Wozu ein tatsächlich gelang, die Armee des Regimes aus sächlich in den Dienstleistungssektor oder in solcher Staat, der sich in seiner Existenz bedroht Teilen des Landes zu vertreiben – u.a. aus Alep- Die revolutionären Bewegungen in Westasien und hochspekulative Bereiche wie die Immobilienwirt- sieht, in der Lage ist, haben in den letzten Jahren po, der zweitgrößten Stadt Syriens. Der Mangel an Nordafrika ab 2010 waren der Ausdruck einer tie- schaft. insbesondere die syrischen Aktivist*innen erfah- finanzieller und militärischer Unterstützung sowie fen Krise und einer Blockierung der politischen ren müssen. das Fehlen einer einheitlichen militärischen und und ökonomischen Entwicklung.2 Besonders be- Verschärft wurde diese Entwicklung durch die politischen Führung schwächten die FSA jedoch troffen davon waren junge Menschen; sie waren neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der nachhaltig. An ihre Stelle traten vielfach islamisch es auch, die die Bewegung trugen und das Bild neunziger Jahre. Das neoliberale Dogma der Pri- geprägte Milizen, die von Saudi-Arabien und den der vielen Proteste und Demonstrationen prägten. vatisierung staatlicher Betriebe, der Kürzung von Arabischer Thermidor Golfstaaten finanziert wurden. Auch Frauen spielten und spielen dabei eine her- Sozialleistungen und des Primats von Privat- ausragende Rolle. wirtschaft und Freihandel hatte in den Ländern Ungefähr ab dem Jahr 2013 kam der revolutionä- Auf der anderen Seite erhielt das Assad-Regime Nordafrikas und Westasiens besonders fatale Fol- re Prozess zum Erliegen, eine Welle reaktionärer ab 2013 Unterstützung von der libanesischen Nordafrika und Westasien weisen eine der höchs- gen. Es gibt keine klare Trennung zwischen «öf- Restauration erfasste die Region. Diejenigen Kräf- Hisbollah und dann auch unmittelbar von den ten Raten von Jugendarbeitslosigkeit weltweit auf. fentlich» und «privat», Korruption und Nepotismus te, die die Protestbewegungen initiiert hatten – iranischen Revolutionsgarden. Zugleich fand ein So ist es möglicherweise kein Zufall, dass die Be- führten regelmäßig dazu, dass z.B. privatisierte die Jugend, Arbeiter*innen, Intellektuelle –, waren gnadenloser Krieg gegen die Zivilbevölkerung wegungen des «arabischen Frühlings» gerade in Betriebe von Personen übernommen wurden, die politisch und organisatorisch nicht in der Lage, statt, bei dem Fassbomben und Chemiewaffen Tunesien ihren Ausgang nahmen. In dem nordaf- in enger politischer und/oder verwandtschaftli- im revolutionären Prozess eine Führungsrolle zu zum Einsatz kamen. Diese Politik der verbrann- rikanischen Land gibt es selbst im Vergleich zu cher Beziehung zu den politisch herrschenden Eli- übernehmen. Andere Kräfte mit eigenen Zielvor- ten Erde wurde fortgesetzt, als ab 2015 auch anderen Ländern der Region eine ausgesprochen ten stehen.4 stellungen schlossen sich der Bewegung an und Russland auf der Seite des Regimes in den Krieg hohe Arbeitslosigkeit der Generation zwischen 15 übernahmen schließlich die Führung, insbeson- eintrat. Russische Kampfbomber bombardierten und 29 Jahren (27,5 Prozent 2010 und 40 Prozent Wesentliche Ursache hierfür ist eine spezifische dere galt dies für Organisationen, die der Muslim- in der Folgezeit nicht nur oppositionelle Milizen, 2011).3 Zugleich verfügen viele junge Menschen Ausprägung von Staatlichkeit, die man in Anleh- bruderschaft nahestehen. Die Ende der zwanziger sondern auch Schulen und Krankenhäuser. Eine über einen hohen Bildungsgrad, wie zum Beispiel nung an Max Webers Herrschaftstypologie als pa- Jahre in Ägypten gegründete islamistische Or- besondere Situation entstand im Nordosten des Universitätsabschlüsse. trimonial oder neopatrimonial bezeichnen kann. ganisation hat Ableger in vielen arabischen Län- Landes, wo es der kurdisch dominierten Verwal- Ein patrimonialer Staat befindet sich gewisserma- dern und stand dort oftmals in Opposition zu den tung mit einer Politik wechselnder Bündnisse Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammen- ßen «im Besitz» der herrschenden Familie. Es gibt herrschenden Regimen. Diese Entwicklung führte gelang, eine Art Autonomiegebiet zu errichten. hang auch die neuen Informationstechnologien, keine Trennung von Staatsapparat und Herrscher- zu einer zunehmenden Marginalisierung der fort- Heute sind etwa 13 Millionen Syrer*innen auf der soziale Netzwerke etc., die von der jungen Gene- familie, die Streitkräfte funktionieren als «Privat- schrittlichen Kräfte. Flucht, die Hälfte davon sind Binnenflüchtlinge. ration in großem Umfang für die Mobilisierung ge- armee». Die Monarchien der Region gehören in Die Zahl der Toten wird zwischen 400.000 und nutzt wurden. Videos von Demonstrationen und diese Kategorie, aber ebenso einige nominelle Re- In Ägypten wurde die politische Arena zunehmend knapp 600.000 geschätzt. andere Nachrichten konnten sich so wie ein Lauf- publiken wie der Irak unter Saddam Hussein, Liby- von einer Auseinandersetzung zwischen Vertre- feuer in der gesamten Region verbreiten. en oder Syrien.5 ter*innen des alten Regimes auf der einen und An- In Tunesien kam es nach 2010/11 tatsächlich for- hänger*innen der Muslimbrüder auf der anderen mal zu einer politischen Demokratisierung. Eine Die Unfähigkeit der Volkswirtschaften der arabi- Neopatrimoniale Staaten zeichnen sich demge- Seite beherrscht. Diese Situation verschärfte sich, wichtige Rolle spielte hierbei der Gewerkschafts- schen Staaten, für eine wachsende Zahl junger genüber durch eine gewisse Autonomie staatli- als im Juni 2012 Mohammed Mursi von der Frei- dachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du Menschen einigermaßen adäquate Arbeitsplät- heits- und Gerechtigkeitspartei (eine Gründung der Travail). Nachdem die nach der Revolution gebil- ze zu schaffen, ist auf die spätestens seit Mitte 4 Ein besonders markantes Beispiel hierfür ist Rami Makh- Muslimbruderschaft) zum Präsidenten gewählt dete Verfassungsgebende Versammlung im De- der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts louf, ein Cousin des syrischen Präsidenten Baschar al- wurde. Mursis zunehmend autoritäre Tendenzen, zember 2014 ihre Arbeit beendet hatte, wechselten niedrigen Wachstums- und Investitionsraten zu- Assad, der über ein weit gefächertes Netzwerk vor dem aber auch die desolate Wirtschaftslage führten zu einige mehr oder weniger kurzlebige Regierungen rückzuführen – eine Folge des Verfalls und der Krieg bis zu 60 Prozent der syrischen Wirtschaft kontrol- neuen Protesten und Demonstrationen. Am 3. Juli aus Islamisten, Vertreter*innen des alten Regimes lierte, vgl. Lina Saigol, Assad cousin accused of favouring 2013 putschte das Militär unter Führung des Mili- und Technokrat*innen einander ab. Teile der Oppo- 2 Vgl. Gilbert Achcar, Le people veut. Une exploration rad- family, in: Financial Times, 21. April 2011. https://www. icale du soulèvement arabe, Paris, Sindbad, Actes Sud, ft.com/content/e29a73f8-6b78-11e0-a53e-00144fea- tärratschefs Abd al-Fattah Al-Sisi. Al-Sisi, der knapp sition, darunter auch die UGTT, wurden kooptiert. 2013, S. 23– 62 u. 63–114. b49a. ein Jahr später zum Präsidenten gewählt wurde, hat 3 International Labour Office (ILO): Youth Unemployment 5 Zur Herausbildung des patrimonialen Staates am Beispiel seitdem ein Regime etabliert, das an Brutalität und 6 Vgl. Amr Khafagy Celebrating poverty: the IMF in Egypt, and Migration. Country Brief: Tunisia. https://www.ilo. Syriens vgl. Joseph Daher, Syria after the Uprisings. The Unterdrückung weit über seine Vorgänger hinaus- in: Open Democracy, 15. November 2019 https://www. org/wcmsp5/groups/public/---ed_emp/---ed_emp_msu/ Political Economy of State Resilience, London 2019, S. geht. Ökonomisch setzt die Al-Sisi-Regierung kon- opendemocracy.net/en/oureconomy/celebrating-pover- documents/publication/wcms_219632.pdf. 1–37. ty-imf-egypt/. 10 11
Der IWF hat Tunesien ein striktes Sparprogramm Die Forderungen und Themen dieser neuen Pro- Militärs, Zivilisten strafrechtlich zu verfolgen. Die Orientierung auf individuelle «Lösungen» kann – auferlegt, 2019 waren über 36 Prozent der jungen testwellen revolutionärer Bewegungen jedoch un- Zudem überträgt sie dem Präsidenten auch das vor allem, wenn sie mit einem Gefühl der politischen Tunesier*innen arbeitslos.7 Fast scheint es so, als terscheiden sich nicht wesentlich von jenen der direkte, persönliche Kommando über die Sicher- Enttäuschung verbunden ist – zur Schwächung von sei das Land nach zehn Jahren wieder an den Aus- Jahre 2010/11. Nach wie vor geht es um Demo- heitskräfte und das Militär, unter Umgehung der Bewegungen führen. Zugleich gibt es in der jungen gangspunkt von 2010 zurückgekehrt. kratie und soziale Gerechtigkeit. Allerdings haben bestehenden Kommandostruktur. Generation jedoch auch eine große Unterstützung die Protagonist*innen der Bewegung auch Lern- für die Protestbewegungen, viele sind der Überzeu- prozesse durchlaufen. Insbesondere Fragen der Auch das Assad-Regime in Syrien versucht, die Si- gung, dass die Proteste sich auch in naher Zukunft (Selbst-)Organisation der Bewegungen spielen tuation für seine Zwecke zu nutzen, indem es die fortsetzen werden. Man kann daher davon ausge- Die zweite Welle: revolutionäre dabei immer wieder eine wichtige Rolle. Lieferung medizinischer und anderer Hilfsgüter hen, dass die Pandemie nur zu einem Aussetzen der Bewegungen ab 2018 Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammen- in Regionen, die nicht unter seiner unmittelbaren Bewegung, nicht aber zu ihrem Ende führen wird. hang die Entwicklung im Sudan. Im Unterschied Kontrolle stehen, verhindert. Auf der anderen Seite Revolutionäre Prozesse setzen sich fort, solange zu anderen arabischen Ländern (abgesehen von kontrolliert es den Strom internationaler Hilfsleis- die ihnen zugrundeliegenden Widersprüche fortbe- Tunesien mit der UGTT) hat die Bewegung hier tungen in Regierungsgebiete. stehen. eine Führung in Form der Sudanese Professio- Die «longue durée» der arabischen Daher ist es kaum verwunderlich, dass im Dezem- nals Association (SPA). Allerdings ist die SPA Die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie Revolutionen ber 2018 mit dem sudanesischen Aufstand in nicht eine Führung im Sinne einer Partei, sondern in der Region werden massiv sein: Der Internati- Westasien und Nordafrika eine zweite Welle der ein breites Netzwerk, das einige Jahre im Unter- onale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass das Die Zukunft der Region liegt im Ungewissen, neue revolutionären Erhebungen begann. Bereits im grund existierte und sich mit dem Aufstand vom Bruttosozialprodukt in den Ländern Westasiens regionale und internationale Konstellationen sind Juni desselben Jahres war – international wenig Dezember 2018 zu einer Vereinigung der Ge- im Jahr 2020 um 4,7 Prozent schrumpfen wird.9 entstanden, deren Auswirkungen sich noch nicht beachtet – die jordanische Regierung nach Pro- werkschaften und Berufsverbände aller Schlüs- In einigen Ländern, wie etwa dem Irak oder dem abschätzen lassen, und es gibt mehr Grund zur Be- testen gegen die von ihr verhängten Sparmaßnah- selsektoren entwickelte. Zurzeit wird das Land Libanon, wird der Rückgang noch bedeutender sorgnis als zur Euphorie. Viel wird davon abhängen, men zurückgetreten. Es folgten im Februar 2019 von einem Übergangsrat regiert, in dem Vertre- sein.10 Auslandsüberweisungen, die in vielen Län- ob es den revolutionären und emanzipatorischen der algerische Aufstand und seit Oktober 2019 ter*innen der Aufstandsbewegung neben dem dern eine wichtige Rolle bei der Stützung der na- Kräften gelingt, dauerhafte und demokratisch funk- massive soziale und politische Proteste im Irak Militärkommando vertreten sind – eine klassi- tionalen Wirtschaft spielen, werden nach Berech- tionierende organisatorische Formen für sich zu und im Libanon. Auswirkungen dieser Aufstände sche Situation der Doppelherrschaft, in der sich nungen der Weltbank als Folge der internationalen finden. Zurzeit lässt sich mit Gewissheit nur eins waren in vielen Ländern der Region zu spüren. So auf Dauer eine der beiden Seiten gegen die ande- ökonomischen Krise sogar bis zu 20 Prozent zu- sagen: Der 2010/11 begonnene Prozess ist nicht zu organisierte zum Beispiel in Marokko der Front so- re durchsetzen wird. rückgehen.11 Wie wenig sich die grundlegenden Ende. Die sozialen Widersprüche, die im sogenann- cial marocain (FSM), ein Zusammenschluss linker Auf der «Grassroots»-Ebene gibt es zudem unzäh- sozio-ökonomischen Probleme der Region gelöst ten «arabischen Frühling» zum Ausdruck kamen, Parteien und Gewerkschaften, im Februar 2020 lige autonome «Widerstandskomitees», in denen (und sich im Gegenteil durch die Pandemie noch bestehen fort und werden immer wieder zu Unru- mehrere große Demonstrationen, auf denen die Tausende zumeist junge Menschen organisiert verstärkt) haben, zeigt sich daran, dass 15 Prozent hen, Aufständen und revolutionären Erhebungen in Freilassung von politischen Gefangenen und sozi- sind. der dort lebenden 18-24-Jährigen aktiv versuchen der Region führen. Selbst wenn es gelingt, das eine ale Verbesserungen gefordert wurden.8 Und auch zu emigrieren, weitere 27 Prozent haben dies zu- oder andere autokratische Regime abzusetzen, wird in Ägypten kam es trotz massiver Repression im mindest bereits einmal erwogen.12 dies nicht genügen. Die politische Revolution bleibt Herbst 2019 in verschiedenen Städten zu Protes- Arabische Revolutionen in Zeiten der ohne eine soziale Revolution immer unvollständig. ten mit mehreren Tausend Teilnehmer*innen. Die zweite Welle unterscheidet sich jedoch von Pandemie Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissen- der ersten. Einer der auffälligsten Unterschiede ist, schaftler und arbeitet als Übersetzer und Journa- dass islamistische Bewegungen diesmal so gut Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie Anfang list. Er publiziert zu Themen des Nahen Ostens und 9 International Monetary Fund, World Economic Outlook Up- wie keine Rolle in der Protestbewegung spielen. 2020 führte zunächst zu einem Stillstand der date, June 2020. A Crisis Like No Other, An Uncertain Re- zur US-amerikanischen Außenpolitik. Dies liegt schlicht daran, dass Islamisten überall neuen Massenmobilisierungen – Demonstra- covery https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issu- Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissen- Teil der bekämpften Regime waren oder eng mit tionen und Versammlungen auf öffentlichen es/2020/06/24/WEOUpdateJune2020; in der Studie sind schaftler und arbeitet als Übersetzer und Journa- ihnen kooperierten. So war das Regime von Omar Plätzen waren nicht mehr möglich. Die autokra- die Zahlen für West-und Zentralasien zusammengefasst. list. Er publiziert hauptsächlich zu Themen Wei al-Baschir im Sudan eine Mischung aus Militärdik- tischen Regime nutzten dies oftmals zu einem 10 Joelle M. Abi-Rached/ Ishac Diwan, The Socioeconomic und Nordafrikas und zur US-amerikanischen Au- tatur und islamistischer Herrschaft. In Algerien Zurückdrängen der Bewegung und einer weiteren Impact of COVID-19 on Lebanon: A Crisis Within Crises, ßenpolitik. Juni 2020 https://www.euromesco.net/publication/the- hatte die Partei der Muslimbruderschaft, der Mou- Verschärfung der Repression und der autoritären socioeconomic-impact-of-covid-19-on-lebanon-a-crisis- vement de la société pour la paix, lange Zeit die Re- Kontrolle. So erließ die algerische Regierung im within-crises/; United Nations Development Programme gierung von Abdelaziz Bouteflika in einem «präsi- April ein Gesetz, das die Verbreitung von «fake (UNDP), Impact of Covid-19 on the Iraqi Economy, 6. dentiellen Block» unterstützt. Und im Irak und im news» verbietet. Dies führte dazu, dass in den Oktober 2020 https://www.iq.undp.org/content/iraq/en/ Libanon waren islamistische Kräfte – diesmal in letzten Monaten immer wieder Aktivist*innen der home/library/Stabilization/impact-of-covid-19-on-the- iraqi-economy.html. der schiitischen Variante – wesentliche Bestand- Opposition aufgrund von Posts in den sozialen 11 COVID-19 Crisis Through a Migration Lens. Migration and teile der jeweiligen Regierung. Medien zu längeren Haftstrafen verurteilt wur- Development Brief 32, April 2020 [http://documents1. 7 Tunisia: Youth unemployment rate from 1999 to 2019 den. In Ägypten war eine der ersten Reaktionen worldbank.org/curated/en/989721587512418006/pdf/ https://www.statista.com/statistics/813115/youth-un- des Al-Sisi-Regimes die Novellierung des Not- COVID-19-Crisis-Through-a-Migration-Lens.pdf]. employment-rate-in-tunisia/. standsgesetzes, das am 22. April in Kraft trat. 12 Young Arabs look to emigrate as pandemic wrecks econ- 8 Jules Crétois, Maroc: le « Front social », c’est quoi?, in: Die Neufassung erweitert im Wesentlichen die omies, in: Financial Times, 6. Oktober 2020 Jeune Afrique, 26. Februar 2020 https://www.jeuneafrique. ohnehin schon beträchtlichen Befugnisse des https://www.ft.com/content/349a60db-6b12-4210-a2f1- com/901319/politique/maroc-le-front-social-cest-quoi/. 019b3e38c280. 12 13
I. Verortung: Linke Perspektiven I.I Solidarität und politische Teilhabe Vom Libanon bis zum Irak, von Bagdad nach Beirut... es ist eine Revolution Ansar Jasim, Sami Adnan Seit Oktober 2019 ist es im Irak zu Massenpro- den 25. Oktober angekündigt. Während des Feier- testen gekommen, die auch viele gesellschaftli- tags fanden dann keine Demonstrationen statt. che Schichten zusammenbrachten. Ansar Jasim sprach mit dem Aktivisten Sami Adnan über die Die Leute sind sich bewusst, dass sie keine Ver- Hintergründe der Proteste. bindung zwischen Religion und Politik wollen. Unsere Angelegenheit hat nichts mit Religion zu Ansar Jasim: Seit dem 1. Oktober kommt es in vie- tun, und wir wollen auch keine religiöse Lösung. len Regionen des Irak zu Massenprotesten. Anders Schon abends am 24. Oktober waren die Leute auf als in der Vergangenheit handelt es sich weder um den Straßen, und es waren allein 5000 Leute nur in kleine Gruppen, noch verklang der Protest bisher. Bagdad auf dem Tahrir-Platz. Warum halten die Proteste an? Was ist die Strategie bei den jetzigen Protesten im Sami Adnan: Am Anfang war das Motto der Pro- Vergleich zu Anfang Oktober? teste «I go out to take my right». Nachdem der Staat diese Proteste unterdrückt hat und es Tote Wenn du von oben auf den Tahrir-Platz siehst, dann gab, haben die Leute beschlossen, am 25. Okto- siehst du, dass die Leute an und in den Gebäuden ber wieder auf die Straße zu gehen, um wieder ihre des Tahrir-Platzes verteilt sind und natürlich auch Rechte einzufordern. auf dem Tahrir-Platz selbst. Warum ist das so? Weil die Scharfschützen des Regimes , die auf die Was ist zwischen dem 1. Oktober und jetzt – An- Demonstrant*innen geschossen haben, vorher auf fang November 2019 – passiert? den Gebäuden verteilt waren. Also haben die Pro- testierenden beschlossen, die Gebäude zu beset- Die Proteste hielten eine Zeit lang an und hörten zen. Nach den Demonstrationen Anfang Oktober dann auf. Das Leben in Bagdad war wieder eini- und nachdem Bewaffnete in die Wohnviertel ein- germaßen normal geworden. In dieser Zeit gab es gedrungen waren und Menschen teilweise in ihren einen religiösen Feiertag, al-Arba‘in1 ‑ deswegen Häusern ermordet wurden2, haben die Leute be- hörten die Proteste auf. Keiner hat diesen Feier- schlossen, sich zu schützen. Die Menschen im Irak tag für seine politischen Zwecke genutzt. Es gab haben viel Krieg erlebt. Jeder weiß, wie man eine die Angst, dass es sonst heißen könne, dass der Waffe benutzt, auch wenn die Leute Gewalt nicht Feiertag eine Rolle gespielt habe und Religion ein mögen. Nicht jeder hat aber eine Waffe, und es Motivationsgrund sei. Der Feiertag war am 20. Ok- bestand große Angst, dass es noch zu einer weite- tober und die große Demonstration war dann für ren Eskalation kommen würde. Also haben die De- 1 Schiitischer Feiertag: der 40. Tag nach Aschura, dem Fei- 2 Adnan bezieht sich hier auf die Ermordung von Hussein ertag, an dem des Todes von Imam Hussein in Kerbela Adel und Sara Madani, Associated Press, 3.10.2019 [Anm. (680) gedacht wird. Red.]. 16 17
monstrant*innen begonnen, kleine Molotow-Cock- Egal, was sie sagen, dass sie Häuser und Boden natürlich Parolen, die Frauen betreffen, wie «Hört er im Irak. Es sind vor allem die Bewohner*in- tails zu bauen, um so zu verhindern, dass jemand verteilen oder Arbeitslosengeld einführen und Ar- auf, Frauen zu töten». Denn tatsächlich wurden in nen der armen Viertel, wie etwa Madinat as-Sadr in ihr Stadtviertel eindringt. beitsplätze schaffen wollen. Wovon denn? den letzten Jahren gezielt weibliche Aktivist*in- oder Ghazaliya, wo das Tuktuk als Transportmit- Ende Oktober sind aber immerhin sieben Mitglie- nen ermordet. Sie wurden als politisch Aktive er- tel unverzichtbar ist. Dieses Prekariat hat eine Gab es eine Organisation für die Demonstration der des Parlaments zurückgetreten. Es bleibt für mordet, nicht als Feminist*innen. Insbesondere Tuktuk-Gewerkschaft gegründet, wenn auch nur vom 25. Oktober? Oder besteht der Erfolg darin, mich aber purer Opportunismus. Denn die Natur in Bagdad war die Präsenz der Schülerinnen und auf Facebook. Viele von ihnen können nicht mal dass es eine Mobilisierung ohne Mobilisierung des Staates war ja auch schon vorher klar. Dieser älteren Frauen auf dem Tahrir-Platz stark. Außer- schreiben. gibt? Schritt kann aber dabei helfen, nach außen zu sig- dem sind Letztere es, die mit ihrer Care-Arbeit nalisieren, dass die Lage im Irak ernst ist und dass ihre Söhne beim Protest unterstützen. Wir haben Zunächst war die Idee, dass sie die Leute kosten- Es ist wichtig zu verstehen, dass alle Mobilisie- wir eine neue Regierungsform mit einem neuen zwar Frauen-NGOs, aber keine feministische Be- los zum Tahrir-Platz bringen. Dann kam es zu die- rungen vom 1. bis zum 25. Oktober völlig spontan ökonomischen System brauchen. wegung. ser intensiven Gewalt, und da wir nur so wenige entstanden sind. Es gibt keine einzige Partei, die Krankenwagen in Bagdad haben, sind die Tuktuks teilgenommen hat. Die Leute haben keine Alterna- Offenbar gibt es viele Parallelen zum Sudan und Sind die Demonstrationen nun also Ausdruck des zu Krankenwagen geworden. tive. Sie sind an einem Punkt angelangt, sich zu Libanon. Es geht nicht einfach um eine korrupte kompletten Scheiterns des ökonomischen Sys- fragen, was sie noch tun können. Es gibt derzeit Regierung oder eine dysfunktionale Ökonomie. Die tems nach 2003? Auf einmal liebten die Menschen sie. Vorher ha- keine Organisation oder Partei, die für die Massen Forderungen der Protestierenden gehen viel weiter. ben sie sie gehasst, weil das Tuktuk nervig ist: es überzeugend wäre. Deswegen passiert es spon- Es wird ein grundlegend neues System gefordert. Es ist nicht gescheitert, denn es ist ja immer noch kommt immer von allen Seiten, ist überhaupt nicht tan. Man schreibt was auf Facebook mit einem da. Die Lösung liegt weder bei der Regierung noch zivilisiert, sieht hässlich aus. Die Fahrer sind nicht Hashtag und wo man ist, und kann so Leute mo- Bei den Protesten im Libanon wurde gerufen: «Vom beim irakischen Volk. Selbst wenn wir eine politi- sonderlich intellektuell und haben immer die Mu- bilisieren. Libanon bis zum Irak, von Bagdad nach Beirut –es sche Alternative hätten, hätten wir keine ökonomi- sik total laut aufgedreht. Die Situation jetzt hat die ist eine Revolution und die stirbt nicht» (min Lubn- sche: Wenn man die Grenzen des Iraks zur Türkei Leute zusammengebracht. Ein Tuktuk ist jetzt et- Wie hat sich der erfolgreiche Massenprotest vom an lil-Irak, min Baghdad la Beirut, thawra wahida ma und zum Iran für einen Tag schließt, dann stirbt was Heiliges geworden. Die Tuktuk-Fahrer selber 25. Oktober auf die Gesellschaft ausgewirkt? bitmut). Du kannst fünf gemeinsame Forderungen der Irak. Wir sind komplett abhängig von ihnen. sagen, dass sie auch nicht Tuktuk fahren wollen: feststellen: Wir sind also kein souveräner Staat. Eine Ände- Gebt uns eine Arbeitsgelegenheit oder Arbeitslo- Daraufhin haben sich weitere Schichten dem Pro- rung kann nur durch einen Schock hervorgebracht senhilfe und ich zerstöre mein Tuktuk noch heute. test angeschlossen: Das Besondere am Protest 1. Sturz des Systems werden: Wenn die Leute auf der Straße bleiben Oder aber: Erkennt das Tuktuk offiziell als öffent- zwei Tage später, also am 27. Oktober, war die 2. Eindämmung der Korruption und die Öl-Firmen schädigen, so wie letztes Jahr liches Transportmittel an und lasst mich richtig Teilnahme der Mittelschicht. Zunächst hatte die 3. Ende des Milizenstaates in Basra, dann würde der internationale Markt damit arbeiten. Mittelschicht aus Angst, dass der Staat den An- 4. Echte Souveränität des Staates spüren, was im Irak passiert und etwas ändern gestellten ihre Gehälter streicht, nicht teilgenom- 5. Soziale Gerechtigkeit müssen, sodass immerhin eine kleine Besserung Was sind eure Ängste bezüglich der Weiterentwick- men. Einen Tag später haben die Oberschüler*in- eintreten würde. Vielleicht könnten wir produzie- lung der Bewegung und der Reaktion des Staates nen ihre Teilnahme angekündigt. Wir können also Wir haben im Libanon und im Irak das gleiche rendes Gewerbe aufbauen etc. Wir haben Millio- und internationaler Akteure? nicht so tun, als wären die Schüler*innen von ei- konfessionalistisch-klientelistische System. Wir nen arbeitsbereite junge Menschen, und es wer- nem anderen Stern, es ist ja gerade ihre Zukunft, haben sogar die gleichen Milizen mit gleicher den noch mehr. Aber es gibt keine Ökonomie, die Es gibt viele Ängste: dass es eine direkte Einmi- die hier entschieden wird. Das Besondere ist aber, Symbolik und Finanzierung. Es geht nicht einfach sie absorbieren könnte. schung aus dem Ausland geben wird, dass der dass die Schüler*innen wirklich in der Funktion darum, dass die Leute Arbeitsplätze wollen, das Staat aufgelöst wird, oder dass es vorgezogene als Schüler*innen teilnehmen, sie tragen sogar ist sicher die Hauptforderung. Aber die Leute wis- Internationalist*innen müssen dafür sorgen, dass Wahlen gibt. Das Problem ist, wenn etwas kommt, ihre Schulkleidung. Ihr erster Protesttag war ein sen genau, woher das Problem kommt. Es kann ihre Regierungen uns in Ruhe lassen: Deutsch- das nicht den Interessen des Iran dient, dann wer- Schultag. Es war Sonntag, und da ist normalerwei- nur eine grundlegende Lösung geben, nicht ein- land, Iran, Großbritannien, die USA, demonstriert den die Milizen des Iran eingreifen. Dann wird es se Unterricht. Das gleiche ist der Fall mit den Stu- fach eine oberflächliche Änderung. Die Regierung gegen eure Regierungen, dass sie uns einfach in einen Bürgerkrieg geben, dann wird es eine Katas- dent*innen. Auch die Lehrenden sind dabei und hat den Protestierenden 200.000 Dinar (ca. 150 Ruhe lassen. Wir wollen hier keine NGOs oder Ent- trophe geben. Das haben wir ja schon mal erlebt. haben die Student*innen ermutigt, an den Pro- US-Dollar) angeboten, wenn man sich online als wicklungshilfe. Wir wollen einfach alleine etwas in Wir haben 35 irakische Milizen, die im Interesse testen teilzunehmen. Das ist Solidarität über alle arbeitslos registriert. Viele haben sich nicht regis- diesem Land machen, ohne ständig in Abhängig- des Iran arbeiten. Das sind also tausende Solda- gesellschaftlichen Teile hinweg. Der ganze Irak triert, weil sie das als Bestechung empfanden. Am keit zu geraten. ten. braucht eine Lösung, nicht nur die arbeitende bzw. 25. Oktober war die Demonstration enorm groß, arbeitslose Klasse. d.h. die Leute haben ein klares Zeichen gesetzt, Die prominentesten Symbole dieser Proteste sind Ihr wärt ja nicht auf den Straßen, wenn ihr nicht dass sie grundlegende Änderungen wollen und jetzt schon die dreirädrigen Miniautos namens Tuk- auch an Veränderungen glauben würdet, oder? Was ist deine Einschätzung, was die Zugeständnis- sich auch nicht einfach mit diesem Arbeitslosen- tuk. Wie kommt das? Was sind also die Hoffnungen? se der Regierung angeht? geld zufriedengeben. Das Fahrzeug wurde seit Beginn 2017 in den Irak Die Leute müssen auf den Straßen bleiben. Dann Es gab bisher weder Zugeständnisse oder irgendei- Am 25. Oktober gab es auch eine deutliche Prä- importiert. Das gab es vorher nicht. Es ist viel billi- gibt es noch die Hoffnung, dass die Milizen we- ne Änderung der Politik, noch gibt es irgendwelche senz von Frauen auf den Demonstrationen. Haben ger als ein Auto. Wer sind die Tuktuk-Fahrer? Das nigstens in Bagdad durch eine Gegenkraft im Staat Hoffnung. Es ist ganz einfach zu erklären: Öl-Geld- sie eigene Forderungen? sind Arbeitslose, und das Tuktuk ist eine Arbeits- wie dem Anti-Terrorismus-Regiment, welches nicht Öl. Der Staatshaushalt des Irak basiert auf den Erd- möglichkeit. Es ist ein Transportmittel, das recht unter iranischem Einfluss steht, sondern eher eine öleinnahmen. Was sollen sie den Leuten anbieten, Sie haben keine eigenen Forderungen. Sie sind billig ist, so 2500 US-Dollar. Eine Strecke kostet amerikanische Erfindung war, unter Kontrolle ge- wenn das Jahresbudget schon ausgeschöpft ist? Teil der Menge. Einige Feminist*innen haben aber 1-2 US-Dollar. Das Transportsystem ist sehr teu- halten werden. Das wäre keine gute Lösung, aber 18 19
besser als andere Szenarien. Hoffnungen brau- selbst in die Hand zu nehmen und eine Alterna- chen irgendwie einen Idealzustand. Bei der Revo- tive zu bilden für die Zeit, wenn der Staat sich lution von 1958, als die Monarchie gestürzt wurde, aus den Gebieten zurückzieht. Gleichzeitig ist gab es eine Partei, Massen auf den Straßen, und die Idee verbreitet, dass eine Präsidialherrschaft es gab Kraft. Wenn es eine Revolution gibt, dann vielleicht eine Lösung wäre. Dann sehen sie aber muss es eine politische Alternative geben, die die Ägypten und Syrien und ziehen diese Idee wie- Macht übernehmen kann. Idealerweise ist das eine der zurück. progressive Massenpartei. Dann ist es eine Revolu- tion. Jetzt haben wir aber keine politische Alterna- Weiterer Beitrag im Westasien-Dossier: «Many friends in the mountains» tive, der die Menschen folgen könnten. Das ist total Die Revolution kommt zurück – Versprochen! On- Eine andere kurdische Geschichte essentiell. Wenn nämlich, wie in Basra im letzten line-Interview mit Sami Adnan vom Juni 2020 Schluwa Sama Jahr, die Stadt außerhalb der staatlichen Kontrolle https://www.rosalux.de/mediathek/media/ele- gerät, dann muss eine Partei die Macht überneh- ment/1281. men und den Staat neu repräsentieren. Das haben wir nicht im Irak. Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik Aber der politische Aktivismus bedeutet doch auch und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas stu- einen Lernprozess. diert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftli- cher Solidarität aus theoretischer und praktischer «No friends but the mountains» [Keine Freunde Widersprüchen oder eine kurdische Geschichte Das ist unsere Hoffnung, dass diese Demonstra- Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und außer den Bergen, Anm. d. Red.] ist wohl das be- von «unten», zum Beispiel von kurdischen Bäu- tionen nun eine politische Alternative hervorbrin- Irak. kannteste geflügelte Wort, um eine weitverbreite- erinnen im Irak. Zunächst jedoch die Frage, wie gen werden. Es gibt einige Politaktivist*innen te Sicht auf die kurdische Geschichte zusammen- Kurd*innen zur Minderheit wurden. auf der Straße, die dabei helfen wollen, dass die Sami Adnan ist politischer Aktivist aus Bagdad zufassen: Diese sieht die kurdische Minderheit Menschen lokale Volkskomitees in den Städten und einer der Gründer von «Workers against Sec- entweder als Opfer oder als Widerstandskämp- und an ihren Arbeitsplätzen gründen. So wür- tarianism» im Irak. fer*innen, immer allein gelassen und von Feinden Dekolonisierung kurdischer Geschichte: den die Menschen lernen, ihre Angelegenheiten umgeben. Häufig wird daraus der Schluss gezo- gen, es brauche einen kurdischen Staat. als wir zur Minderheit erklärt wurden Ich liebe die Berge, aber sehe nicht ein, warum ich Dass Kurd*innen zu einer Minderheit gemacht als Kurdin keine anderen Freunde außer den Ber- werden und dass wir dies bis heute so weitertra- gen gehabt haben soll. Wie also sieht eine kom- gen, ist unter anderem auf die koloniale Politik plexere kurdische Geschichtsschreibung aus, die Frankreichs in Syrien und Großbritanniens im Irak auch die Lebensrealitäten der tatsächlichen Be- zurückzuführen. völkerung Kurdistans widerspiegelt? Und wie wur- den Kurd*innen zur Minderheit? Dass koloniale Mächte Minderheiten benutzt ha- ben, um ihre eigene koloniale Macht zu stützen, Die Erzählung kurdischer Geschichte bricht per ist für viele ehemals kolonialisierte Länder schon se nationalstaatliche Denkmuster von einheit- lange klar. Für Kurdistan ist diese Tatsache weni- licher Geschichtsschreibung auf, vor allem in ger gut erforscht. Ähnlichkeiten gibt es trotzdem, Ländern wie der Türkei, Syrien oder dem Irak. In wie das Beispiel meiner Heimatstadt Amadiye, ge- der Folge ist es jedoch ebenfalls illusorisch, eine legen im äußersten Norden Kurdistan-Iraks, zeigt. einzige, lineare kurdische Geschichte erzählen Von 1930 bis 1950 hatten die Briten dort ein Mili- zu wollen, in denen Kurd*innen meist auf zwei tärcamp als Erholungsort für ihre Soldaten aufge- Rollen reduziert werden: entweder sind sie Opfer baut1. Die Region wurde aber schon 1918 von den oder sie leisten heroischen Widerstand. Zudem Briten besetzt.2 Zur Unterstützung der britischen basiert diese Art der kurdischen Geschichts- Truppen wurden die Iraq Levies aufgebaut, wobei schreibung auf den Erfahrungen des Kurdisch- zunehmend und zum Ende hin nur noch christli- seins in der Türkei. Dass die Politik der Türkei zentral ist, um kurdische Geschichte zu verste- 1 Ammann, Birgit (2004a/2005, S.182-184): Kleine Ge- hen, ist ganz klar. Dabei werden jedoch andere schichte der Stadt Amadiya: Von streitbaren Fürsten, kur- dischen Juden und grausamen Zeiten. In: Europäisches Erfahrungen von Kurd*innen in Ländern wie dem Zentrum für Kurdische Studien. Kurdische Studien. 4.+5., Irak, Syrien und dem Iran unsichtbar gemacht. Zu S. 175–226. oft werden nationalistische Mythen kurdischer 2 Ammann, Birgit (2004b/2005, S. 218): Ser Amadia: Ama- Eliten übernommen, die Kurd*innen als homo- teuraufnahmen aus der Umgebung des Sommercamps genen, isolierten Block darstellen. Dabei bleibt der Royal Air Force im irakischen Kurdistan. In: Europäi- wenig Raum für eine komplexe Geschichte mit sches Zentrum für Kurdische Studien. Kurdische Studien. 4.+5., S. 227–256. 20 21
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