AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"

 
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AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
«ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION»

AUFBRUCH UND
SOZIALE PROTESTE
IN WESTASIEN
                                       1
AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
Inhalt

                                                                                                «Ich bin Anführer*in der Revolution» – Stimmen aus dem Herbst 2019 und dem Jahr danach
                                                                                                (Astrid Fischer).............................................................................................................................................. 5
                                                                                                Der unvollendete «arabische Frühling» (Harald Etzbach)............................................................................ 9

                                                                                                I. Verortung: Linke Perspektiven................................................................................................... 17
                                                                                                   I.I. Solidarität und politische Teilhabe......................................................................................... 17
                                                                                                		 Vom Libanon bis zum Irak, von Bagdad nach Beirut... es ist eine Revolution
                                                                                                		 (Ansar Jasim, Sami Adnan)............................................................................................................... 17
                                                                                                		 «Many friends in the mountains» (Schluwa Sama)......................................................................... 21
                                                                                                		 Gleichberechtigung beginnt im Kopf (Norma Musih)...................................................................... 24

                                                                                                  I.II Strukturelle Ausbeutung und Gewalt..................................................................................... 29
                                                                                                		 Die libanesische Revolution: Ohne die Hausangestellten (Banchi Yimer)..................................... 29
    Impressum                                                                                   		 Ahlams Schreie – Es gibt keine Freiheit ohne die Freiheit der Frauen (Hanna Al-Taher)..............32

    Erstellt mit finanzieller Unterstützung des Bundesministeriums für wirtschaftliche            I.III (Ohn)Macht und staatliches Versagen.................................................................................. 35
    Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Für diese Publikation ist allein die Heraus‑          		 Was Gaza mit München gemeinsam hat (Clemens Messerschmid)............................................ 35
    geberin verantwortlich. Die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt        		 Problematischer «Wiederaufbau» in Syrien (Harald Etzbach)....................................................... 38
    des Zuwendungsgebers wieder.                                                                		 Die kurdische Frage als Klassenfrage (Schluwa Sama, Ardalan Bastani)..................................... 41
    Für ihre Beiträge sind allein die Autor*innen verantwortlich. Die Inhalte entsprechen
    nicht zwingend den Positionen der Rosa‑Luxemburg‑Stiftung.
                                                                                                II. Bewegung: Proteste, Aufbruch und Widerstand.......................................................................... 49
    Herausgegeben von der Rosa‑Luxemburg‑Stiftung                                                   II.I Forderungen im öffentlichen Raum....................................................................................... 49
    Redaktionsteam: Katja Hermann (V.i.S.d.P.), Astrid Fischer (Konzeption), Juliane Drückler   		 «Neue Wege, um miteinander in Beziehung zu treten» (Miriam Younes, Lara Bitar)..................... 49
    Lektorat (Dossier‑Texte): Harald Etzbach                                                    		 Der Streik der Lehrer*innen in Jordanien 2019 (Hanna Al-Taher)................................................... 52
    Gestaltung und Druck: Hinkelsteindruck                                                      		 Trauer, Stolz und eine Geschichte, die noch nicht zu Ende geschrieben ist (Schluwa Sama)..........56

    ISBN 978‑3‑948250‑23‑2                                                                        II.II Kunst und Auseinandersetzung............................................................................................ 59
                                                                                                		 «Kunst ist Widerstand gegen die Tötungsmaschinerie»
                                                                                                		 (Anna-Theresa Bachmann, Saeed Al-Batal)..................................................................................... 59
    © 2020 Rosa‑Luxemburg‑Stiftung                                                              		 Fotoreportage: Das Dasein in Echtzeit und jenseits der Realität
    Alle Rechte vorbehalten.                                                                    		 (Lilian Mauthofer, Dayna Ash)........................................................................................................... 62
                                                                                                		 «Unsere Zeit kommt wieder, wenn sich die Machthaber sicher fühlen»
    Rosa‑Luxemburg‑Stiftung (RLS)                                                               		 (Mareike Transfeld, Abdulsalam Al-Rubaidi).................................................................................... 82
    Zentrum für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit
    Referat Westasien
    Straße der Pariser Kommune 8a                                                               III. Ausblick: Reflexionen zu Europa................................................................................................ 86
    10243 Berlin                                                                                		 «Satire ist ein gutes Mittel...» (Daniel Walter, Karl Sharro).............................................................. 86
                                                                                                		 «Die internationale Hilfe greift zu kurz» (Anna-Theresa Bachmann, Karin Mlodoch).................... 89
    Bildnachweis:                                                                               		 «Wir müssen Politiken für eine gemeinsame Zukunft formulieren»
    Fotos Titel, S. 2‑3, S. 14‑15, S. 46‑47: Lilian Mauthofer                                          (Gamze Kafar, Neşe Özgen).............................................................................................................. 92
    Fotostrecke (S. 62‑81): Lilian Mauthofer und Dayna Ash
    Foto (S. 84‑85): Joud Hassan                                                                Die Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Westasien (Katja Hermann)................................................. 96

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AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
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AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
«Ich bin Anführer*in der Revolution»
    Stimmen aus dem Herbst 2019 und dem Jahr danach ‑ eine Einleitung
     Astrid Fischer

     Seit Oktober 2019 kommt es im Libanon und im                    steht in krassem Widerspruch zu der klientelisti-
     Irak zu Massenprotesten ‑ und auch in anderen                   schen Politik entlang konfessioneller Trennlinien
     Ländern Westasiens1 finden immer wieder De-                     der letzten Jahre und Jahrzehnte ‑ in dem Sinne
     monstrationen statt. Ungeachtet unterschiedlicher               also eine revolutionäre Entwicklung. Gefordert
     Ansätze, Entwicklungen und Akteure ‑ gemeinsam                  wird nicht nur der Rücktritt einer Regierung (was
     ist den Bewegungen und Initiativen der Wille nach               sowohl im Libanon, als auch im Irak zunächst
     gesellschaftlichen Veränderungen, gerechten öko-                gelang). Vielmehr geht es hier um langfristige
     nomischen Verhältnissen und politischem Wandel.                 Veränderungen wie den radikalen Umbau des
     Die hier vorliegende Sammlung von Interviews,                   politischen Systems und gesellschaftlichen Wan-
     Kurzanalysen und Berichten ist der Versuch, die                 del. Angesichts gewaltsamer Repressionen und
     Vielschichtigkeit dieser breiten Protestbewegun-                pandemie-bedingter Beschränkungen stellt sich
     gen zu zeigen und ihre lautstarken Forderungen                  allerdings die Frage, wie konsequent Forderun-
     nach Veränderung möglichst authentisch zu über-                 gen nach einem politischen Umsturz, radikalen
     setzen.2                                                        Änderungen der ökonomischen Machtstrukturen
                                                                     und/oder einem Ende kultureller Bevormundung
     Demonstrationen, soziale Proteste                               tatsächlich aufrechterhalten werden (können). In
                                                                     diesem Sinne handelt es sich eher um revolutionä-
     oder Revolution?                                                re Prozesse als um ein fertiges Ergebnis.

     Nicht zuletzt bei der Erstellung dieser Publikation             Gleichzeitig spiegelt der Revolutionsbegriff hier
     wurde die Frage, inwieweit man bei den Protest-                 das Selbstverständnis der Menschen wider, die
     bewegungen von Revolutionen sprechen könne,                     vor Ort auf die Straße gehen. Und, indem sie «der
     kontrovers diskutiert. So wird der Herbst 2019 im               Revolution» zumindest vorübergehend absolu-
     Libanon häufig als «Oktoberrevolution» bezeich-                 te Priorität einräumen, verfolgen sie quasi auch
     net und auch die Protestierenden im Irak sprechen               einen «revolutionären» Lebensstil und entspre-
     von einer Revolution. Ausschlaggebend aus ihrer                 chende Ziele wie die Besetzung des öffentlichen
     Sicht ist dabei die breite, landesweite Unterstüt-              Raums, einen offenen Dialog ohne Hierarchien,
     zung der Proteste vieler, sehr unterschiedlicher                ein solidarisches Miteinander, etc.
     gesellschaftlicher Gruppen. Diese neue Einheit
                                                                     In diesem Zusammenhang kann auch einer der
     1   Westasien ist die geografische Bezeichnung der Region,      wohl bekanntesten Sprechchöre der Massenpro-
         die sich mittlerweile auch international immer weiter       teste im Libanon «Ich bin Anführer*in der Revolu-
         durchsetzt, während der Begriff Naher/Mittlerer Osten
         eine eurozentrische Perspektive nahelegt. Auch das für
                                                                     tion» verstanden werden, reflektiert dieser doch
         diese Publikation verantwortliche Referat der RLS trägt     deutlich das Selbstverständnis der Demonstrie-
         den Namen Westasien-Referat.                                renden wider, niemandem hinterherzurennen,
     2 Auch wenn wir uns bei der Auswahl der Beiträge um             sondern selbst die Entwicklung voranzutreiben.
         eine möglichst breit angelegte Darstellung verschiede-      Gleichzeitig zeigt sich hier aber auch ein Anspruch
         ner linker Proteste, Akteure und Aktionsformen bemüht       an die Außenwelt – an uns, als Beobachtende:
         haben, zeigt diese Sammlung nur Ausschnitte. So fehlen
                                                                     Sucht nicht einzelne Held*innen oder Sprecher*in-
         beispielsweise Beiträge über Proteste und Initiativen von
         LGBTQ-Aktivist*innen; auch konnte auf Entwicklungen in      nen, die in unserem Namen agieren – wir alle, jede
         einigen Ländern (z.B. Saudi-Arabien oder Golfstaaten)       und jeder Einzelne weiß, warum wir protestieren
         nicht eingegangen werden.                                   und was auf dem Spiel steht.

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AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
Wie also lassen sich Protest und soziale Bewe-                 Verortung will einige der Hintergründe sozialer Pro-              Dieses Heft wäre nicht ohne Unterstützung und          nen bei Hinkelsteindruck für die sachkundige Un-
gung in dieser Vielfalt darstellen? Welche Bilder              teste in der Region beleuchten und stellt progressi-              Vermittlung weiterer Sachkundiger entstanden,          terstützung, fachliche Beratung und Umsetzung.
werden den verschiedenen Akteuren und Initiati-                ve Ansichten zu Solidarität und Teilhabe neben die                konkret:
ven gerecht, ohne andere unmittelbar auszublen-                Stimmen linker Aktivist*innen und kritischer Beob-                                                                       Öffentlich – ein besonderer Dank an Erwin Heil
den? Zu nennen sind in diesem Zusammenhang                     achter*innen zu Ausbeutung und Gewalt, sowie zu                   Sprachlich - ich möchte mich, auch im Namen der        und die Kolleg*innen aus der Online-Redaktion der
v.a. die kleineren emanzipatorischen Aufbrüche                 (Ohn)macht und staatlichem Versagen.                              RLS, besonders bei den Übersetzer*innen bedan-         RLS für ihren Sachverstand und die Kreativität, mit
und Initiativen, wie ein Gewerkschaftsstreik in Jor-                                                                             ken, die häufig unter Zeitdruck das nötige Gespür      denen sie die Inhalte unserer Arbeit regelmäßig
danien, öffentliche Proteste gegen häusliche Ge-               Bewegung versucht, die Dynamiken einzelner                        an den Tag legten, die Beiträge informativ und le-     veröffentlichen.
walt oder künstlerische Formen des Widerstands.                emanzipatorischer Proteste wiederzugeben und                      senswert zu machen.
Diese mögen für sich nicht den Begriff Revolution              konzentriert sich dabei auf Aktionen im öffent-                                                                          Dieses Heft handelt von Aufbruch – daher gilt
in Anspruch nehmen, sind politisch aber dennoch                lichen Raum sowie auf Beispiele künstlerischer                    Visuell - es war großartig, die wunderbaren Bilder     mein persönlicher Dank den wunderbaren Men-
relevant. Daher haben sie hier, wie bereits im On-             Formen von Widerstand.                                            der Proteste, Großdemonstrationen und einzelner        schen, die mich im letzten Jahr dabei unterstützt
line-Dossier, ihren Platz gefunden.                                                                                              Aktionen zu sehen. Auch wenn sich nun doch nur         haben.
                                                               Ausblick beschäftigt sich mit Rolle und Einfluss                  wenige Fotos in der Publikation wiederfinden, gilt
                                                               Europas in der bzw. auf die Region und formuliert                 mein besonderer Dank allen Fotograf*innen, auf         Berlin, den 6. November 2020
Hintergrund und Aufbau der                                     Erwartungen an Sicht- und Politikwechsel, Priori-                 deren Arbeiten wir hier zurückgreifen konnten.
                                                               täten und Nachhaltigkeit von Entwicklungszusam-                                                                          Astrid Fischer ist Politikwissenschaftlerin und
Publikation                                                    menarbeit sowie den Umgang mit Geflüchteten.                      Technisch – es ist immer ein besonderer Moment,        hat für das Westasien-Referat der Rosa-Luxem-
                                                                                                                                 wenn aus digitalen Daten ein Heft zum Durchblät-       burg-Stiftung die hier vorliegende Publikation kon-
Die vorliegende Publikation ist eine Auswahl von               Die hier abgedruckten Interviews lassen Aktivist*in-              tern und Lesen wird ‑ vielen Dank an alle Kolleg*in-   zipiert und redaktionell betreut.
Beiträgen, die weitgehend 2019/2020 entstanden                 nen vor Ort direkt zu Wort kommen und spiegeln
sind und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS)                 deren Hoffnung auf Veränderungen wider. Auch die
in ihrem Westasien-Dossier online veröffentlicht               Fotoarbeit von Lilian Mauthofer und Dayna Ash Das
wurden. Ziel des Dossiers ist es, «... hinter die              Dasein in Echtzeit und jenseits der Realität5 setzt
Schlagzeilen und Stereotype zu blicken und al-                 sich in ausdrucksstarken Portraits mit den Hoff-
ternative Perspektiven vorzustellen, also Diskus-              nungen und Träumen junger Libanes*innen ausei-
sionen um emanzipatorische Ansätze für Verän-                  nander. In direkter Reaktion auf die Explosion im
derungen abzubilden...»3. Diese Veröffentlichung               Hafen von Beirut am 4. August 2020 wird hier u.a.
stellt nun einige der Beiträge vor, die über einen             die Rolle von Diaspora thematisiert.
reinen Problemaufriss hinausgehen und progres-
sive Ansätze und Impulse darstellen, über die es
sich lohnt, mehr zu erfahren.4 Dabei ging es uns
nicht darum, möglichst viele Entwicklungen in der              Danke!
Region abzubilden, sondern darum, Schlaglichter
zu setzen, Sichtgewohnheiten zu verlassen und                  Wir möchten uns bei den Aktivist*innen und Ge-
zum Nach- bzw. Weiterdenken anzuregen.                         sprächspartner*innen in Westasien und anderswo
                                                               bedanken, die ihre Zeit, Gedanken und Aufmerk-
Nicht zum ersten Mal gehen Menschen in der Re-                 samkeit zur Verfügung gestellt haben und ohne
gion auf die Straße, um gegen Missstände oder                  die das Westasien-Dossier heute kaum die Res-
korrupte Eliten zu demonstrieren. Der Historiker               source und Inspiration wäre, die es ist. Einen be-
Harald Etzbach bezieht sich in seinem einleiten-               sonderen Anteil daran haben die Autor*innen, die
den Beitrag daher auf den «arabischen Frühling»                erste Ideen in passende Worte und Fragen pack-
zehn Jahre zuvor, stellt Zusammenhänge zwi-                    ten und diese mit Sorgfalt und Sachverstand zu
schen den verschiedenen Aufständen her und                     den nun vorliegenden Interviews, fundierten Bei-
zeigt die Prozesshaftigkeit der gesellschaftlichen             trägen und Analysen ausgearbeitet haben.
und politischen Widerstände.
                                                               Besonderer Dank gilt dabei Harald Etzbach für
Der Hauptteil der Publikation gliedert sich in drei            seine redaktionelle Begleitung und das Lektorat
Bereiche:                                                      der Dossier-Texte, Juliane Drückler und Katja Her-
                                                               mann für ihre Arbeit in der Dossier-Redaktion und
                                                               den Kolleg*innen im Westasien-Referat und den
                                                               Regional-Büros der RLS für wertvolle Impulse so-
3   Alle Beiträge unter: https://www.rosalux.de/dossiers/      wie ihre kompetente Unterstützung.
    westasien; weitere Informationen zur Arbeit der RLS in
    Westasien finden sich am Ende dieser Publikation.
4   Diese wurden für die Printfassung redaktionell gesichtet   5   Der englische Originaltext To exist within real-time and
    und entsprechend angepasst.                                    outside of reality findet sich im Westasien-Dossier online.
6                                                                                                                                                                                                                                        7
AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
Der unvollendete «arabische Frühling»
    Zehn Jahre Aufstands- und Protestbewegungen in Westasien und Nordafrika –
    ein Überblick
    Harald Etzbach

    «Ash-shab yurid isqat an-nizam» – das Volk will                  Am 25. Januar begannen die Proteste in Ägypten,
    den Sturz des Regimes war die zentrale Parole je-                ab Anfang Februar wurden sie von Streiks beglei-
    ner politischen Bewegung, die Ende 2010 als «ara-                tet, an denen sich Hunderttausende von Arbei-
    bischer Frühling»1 zunächst Tunesien, dann Ägyp-                 ter*innen beteiligten. Bis zum Sturz des Regimes
    ten und schließlich weitere Länder Nordafrikas                   dauerte es diesmal nur gut zwei Wochen: Am 11.
    und Westasiens erfasste. Dazu gehörten neben                     Februar 2011 trat Staatschef Husni Mubarak zu-
    den beiden genannten im Wesentlichen Syrien,                     rück, ein Militärrat übernahm die Regierungsge-
    Bahrain, Libyen und der Jemen; in vielen anderen                 schäfte.
    Ländern wie Jordanien, Marokko oder dem Oman
    fanden kleinere Proteste statt. In Tunesien war es               In Bahrain gelang der Regimesturz nicht. Hier wur-
    die Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mo-                    de der revolutionäre Prozess von außen erstickt,
    hamed Bouazizi, die die Proteste gegen die Re-                   als Mitte März saudische Truppen in das Land
    gierung auslöste. Bouazizi hatte seine Verzweif-                 einmarschierten und kurz darauf im Verein mit
    lungstat nach einer Reihe von Willkürmaßnahmen                   der bahrainischen Armee mit brutaler Gewalt ge-
    durch die Polizei begangen. Die Demonstrationen,                 gen oppositionelle Demonstrant*innen vorgingen.
    die im Laufe der nächsten Wochen überall im Land
    stattfanden, weiteten sich rasch zu einer wirkli-                Im Jemen und in Libyen gelang es zwar, die jewei-
    chen Aufstandsbewegung aus, und relativ schnell                  ligen Machthaber zu stürzen, die Aufstandsbe-
    stürzte dann tatsächlich das erste Regime: Mitte                 wegungen mündeten jedoch in Bürgerkriege, bei
    Januar 2011 verließ der autokratisch regierende                  denen sich in wechselnden Bündnissen Teile der
    Präsident Zine el-Abidine Ben Ali das Land in Rich-              alten Regime mit opportunistischen Gruppen der
    tung Saudi-Arabien.                                              Aufstandsbewegung verbanden. Die beiden bis
                                                                     heute anhaltenden Konflikte sind zudem verbun-
    1   Drei Anmerkungen zur Begrifflichkeit: 1. Die Verwendung
        der eingängigen Formulierung «arabischer Frühling» soll      den mit massiven internationalen Interventionen.
        nicht suggerieren, dass es sich bei den Bewegungen, die
        2010/2011 in Westasien und Nordafrika begannen, um ein       Die größte Tragödie des «arabischen Frühlings»
        Phänomen von kurzer Dauer handelt. Vielmehr sollte bei       ereignete sich in Syrien. Inspiriert von den Ereig-
        der Lektüre des Textes deutlich werden, dass sie Ausdruck    nissen in Tunesien und Ägypten hofften die Men-
        eines langfristigen Prozesses sind. 2. Der Fokus des Tex-
        tes liegt auf den arabischen Ländern. Dabei ist klar, dass
                                                                     schen hier, das Regime des damals bereits über
        es in Westasien und Nordafrika auch nicht-arabische Staa-    40 Jahre herrschenden Assad-Clans zumindest
        ten und Gemeinschaften gibt. «Arabisch» ist zudem nicht      zu politischen und sozialen Reformen bewegen
        in einem ethnisierenden Sinne gemeint, sondern im Sinne      zu können. Tatsächlich stellte die Bewegung die
        von «arabischsprachig». 3. Der Begriff «Revolution» wurde    Legitimität des Systems zunächst nicht infrage.
        in diesem Text verwendet, da er auch von den Akteur*innen
                                                                     Lokaler Auslöser der Proteste war die Verhaftung
        selbst verwendet wird. Ob es sich bei den Prozessen von
        2010/11 und den Folgejahren tatsächlich um Revolutionen      von Kindern in der südsyrischen Stadt Daraa. Nach
        handelt, bleibt Gegenstand der Debatte.                      verhaltenen Anfängen kam es im Laufe des Som-

8                                                                                                                     9
AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
mers 2011 zu großen Demonstrationen in Städten                   anschließenden Stagnation des Weltmarktprei-                      cher Institutionen aus. Beispiele sind Algerien,         sequent die Forderungen des Internationalen Wäh-
wie Homs und Hama. Das Regime reagierte mit                      ses für Öl.                                                       Ägypten oder der Sudan. In diesen drei Ländern ist       rungsfonds um, was zu einer weiteren Verarmung
brutaler Härte und setzte die Armee gegen die De-                                                                                  zudem die Armee der zentrale Machtfaktor, was            großer Teile der Bevölkerung geführt hat.6
monstrant*innen ein, mehrere Hundert Menschen                    In den siebziger Jahren hatte der Ölboom hohe                     erklärt, dass in diesen Fällen der jeweilige Präsi-
wurden bereits in den ersten Monaten der Protest-                Wachstumsraten garantiert. Davon profitierten                     dent relativ leicht gestürzt und durch eine andere       In Syrien reagierte das Regime von Anfang an mit
bewegung getötet.                                                auch jene Länder der Region, die keine Erdölpro-                  Person ersetzt werden konnte, da die Armee die           gnadenloser Härte und setzte die Armee und seine
                                                                 duzenten waren – unmittelbar durch zwischen-                      Kontinuität des bestehenden Systems garantiert.          berüchtigten Geheimdienste gegen friedliche De-
                                                                 staatliche Finanztransfers oder mittelbar durch                   In vollständig patrimonialen Staaten ist dies so         monstrant*innen ein. Als Antwort darauf bildete
                                                                 Arbeitsmigration. Allerdings fand keine Diversifi-                nicht möglich, da mit der Person des «Herrschers»        sich aus Zivilist*innen und desertierten Soldaten
Blockierte Entwicklung und (neo)-                                zierung der wirtschaftlichen Strukturen statt. Die                (egal, ob König, Emir oder Präsident) unmittelbar        die Freie Syrische Armee (FSA), der es zunächst
patrimonialer Staat                                              Einnahmen aus dem Ölgeschäft flossen haupt-                       der gesamte Staat infrage gestellt ist. Wozu ein         tatsächlich gelang, die Armee des Regimes aus
                                                                 sächlich in den Dienstleistungssektor oder in                     solcher Staat, der sich in seiner Existenz bedroht       Teilen des Landes zu vertreiben – u.a. aus Alep-
Die revolutionären Bewegungen in Westasien und                   hochspekulative Bereiche wie die Immobilienwirt-                  sieht, in der Lage ist, haben in den letzten Jahren      po, der zweitgrößten Stadt Syriens. Der Mangel an
Nordafrika ab 2010 waren der Ausdruck einer tie-                 schaft.                                                           insbesondere die syrischen Aktivist*innen erfah-         finanzieller und militärischer Unterstützung sowie
fen Krise und einer Blockierung der politischen                                                                                    ren müssen.                                              das Fehlen einer einheitlichen militärischen und
und ökonomischen Entwicklung.2 Besonders be-                     Verschärft wurde diese Entwicklung durch die                                                                               politischen Führung schwächten die FSA jedoch
troffen davon waren junge Menschen; sie waren                    neoliberalen Strukturanpassungsprogramme der                                                                               nachhaltig. An ihre Stelle traten vielfach islamisch
es auch, die die Bewegung trugen und das Bild                    neunziger Jahre. Das neoliberale Dogma der Pri-                                                                            geprägte Milizen, die von Saudi-Arabien und den
der vielen Proteste und Demonstrationen prägten.                 vatisierung staatlicher Betriebe, der Kürzung von
                                                                                                                                   Arabischer Thermidor                                     Golfstaaten finanziert wurden.
Auch Frauen spielten und spielen dabei eine her-                 Sozialleistungen und des Primats von Privat-
ausragende Rolle.                                                wirtschaft und Freihandel hatte in den Ländern                    Ungefähr ab dem Jahr 2013 kam der revolutionä-           Auf der anderen Seite erhielt das Assad-Regime
                                                                 Nordafrikas und Westasiens besonders fatale Fol-                  re Prozess zum Erliegen, eine Welle reaktionärer         ab 2013 Unterstützung von der libanesischen
Nordafrika und Westasien weisen eine der höchs-                  gen. Es gibt keine klare Trennung zwischen «öf-                   Restauration erfasste die Region. Diejenigen Kräf-       Hisbollah und dann auch unmittelbar von den
ten Raten von Jugendarbeitslosigkeit weltweit auf.               fentlich» und «privat», Korruption und Nepotismus                 te, die die Protestbewegungen initiiert hatten –         iranischen Revolutionsgarden. Zugleich fand ein
So ist es möglicherweise kein Zufall, dass die Be-               führten regelmäßig dazu, dass z.B. privatisierte                  die Jugend, Arbeiter*innen, Intellektuelle –, waren      gnadenloser Krieg gegen die Zivilbevölkerung
wegungen des «arabischen Frühlings» gerade in                    Betriebe von Personen übernommen wurden, die                      politisch und organisatorisch nicht in der Lage,         statt, bei dem Fassbomben und Chemiewaffen
Tunesien ihren Ausgang nahmen. In dem nordaf-                    in enger politischer und/oder verwandtschaftli-                   im revolutionären Prozess eine Führungsrolle zu          zum Einsatz kamen. Diese Politik der verbrann-
rikanischen Land gibt es selbst im Vergleich zu                  cher Beziehung zu den politisch herrschenden Eli-                 übernehmen. Andere Kräfte mit eigenen Zielvor-           ten Erde wurde fortgesetzt, als ab 2015 auch
anderen Ländern der Region eine ausgesprochen                    ten stehen.4                                                      stellungen schlossen sich der Bewegung an und            Russland auf der Seite des Regimes in den Krieg
hohe Arbeitslosigkeit der Generation zwischen 15                                                                                   übernahmen schließlich die Führung, insbeson-            eintrat. Russische Kampfbomber bombardierten
und 29 Jahren (27,5 Prozent 2010 und 40 Prozent                  Wesentliche Ursache hierfür ist eine spezifische                  dere galt dies für Organisationen, die der Muslim-       in der Folgezeit nicht nur oppositionelle Milizen,
2011).3 Zugleich verfügen viele junge Menschen                   Ausprägung von Staatlichkeit, die man in Anleh-                   bruderschaft nahestehen. Die Ende der zwanziger          sondern auch Schulen und Krankenhäuser. Eine
über einen hohen Bildungsgrad, wie zum Beispiel                  nung an Max Webers Herrschaftstypologie als pa-                   Jahre in Ägypten gegründete islamistische Or-            besondere Situation entstand im Nordosten des
Universitätsabschlüsse.                                          trimonial oder neopatrimonial bezeichnen kann.                    ganisation hat Ableger in vielen arabischen Län-         Landes, wo es der kurdisch dominierten Verwal-
                                                                 Ein patrimonialer Staat befindet sich gewisserma-                 dern und stand dort oftmals in Opposition zu den         tung mit einer Politik wechselnder Bündnisse
Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammen-                  ßen «im Besitz» der herrschenden Familie. Es gibt                 herrschenden Regimen. Diese Entwicklung führte           gelang, eine Art Autonomiegebiet zu errichten.
hang auch die neuen Informationstechnologien,                    keine Trennung von Staatsapparat und Herrscher-                   zu einer zunehmenden Marginalisierung der fort-          Heute sind etwa 13 Millionen Syrer*innen auf der
soziale Netzwerke etc., die von der jungen Gene-                 familie, die Streitkräfte funktionieren als «Privat-              schrittlichen Kräfte.                                    Flucht, die Hälfte davon sind Binnenflüchtlinge.
ration in großem Umfang für die Mobilisierung ge-                armee». Die Monarchien der Region gehören in                                                                               Die Zahl der Toten wird zwischen 400.000 und
nutzt wurden. Videos von Demonstrationen und                     diese Kategorie, aber ebenso einige nominelle Re-                 In Ägypten wurde die politische Arena zunehmend          knapp 600.000 geschätzt.
andere Nachrichten konnten sich so wie ein Lauf-                 publiken wie der Irak unter Saddam Hussein, Liby-                 von einer Auseinandersetzung zwischen Vertre-
feuer in der gesamten Region verbreiten.                         en oder Syrien.5                                                  ter*innen des alten Regimes auf der einen und An-        In Tunesien kam es nach 2010/11 tatsächlich for-
                                                                                                                                   hänger*innen der Muslimbrüder auf der anderen            mal zu einer politischen Demokratisierung. Eine
Die Unfähigkeit der Volkswirtschaften der arabi-                 Neopatrimoniale Staaten zeichnen sich demge-                      Seite beherrscht. Diese Situation verschärfte sich,      wichtige Rolle spielte hierbei der Gewerkschafts-
schen Staaten, für eine wachsende Zahl junger                    genüber durch eine gewisse Autonomie staatli-                     als im Juni 2012 Mohammed Mursi von der Frei-            dachverband UGTT (Union Générale Tunisienne du
Menschen einigermaßen adäquate Arbeitsplät-                                                                                        heits- und Gerechtigkeitspartei (eine Gründung der       Travail). Nachdem die nach der Revolution gebil-
ze zu schaffen, ist auf die spätestens seit Mitte                4   Ein besonders markantes Beispiel hierfür ist Rami Makh-       Muslimbruderschaft) zum Präsidenten gewählt              dete Verfassungsgebende Versammlung im De-
der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts                         louf, ein Cousin des syrischen Präsidenten Baschar al-        wurde. Mursis zunehmend autoritäre Tendenzen,            zember 2014 ihre Arbeit beendet hatte, wechselten
niedrigen Wachstums- und Investitionsraten zu-                       Assad, der über ein weit gefächertes Netzwerk vor dem         aber auch die desolate Wirtschaftslage führten zu        einige mehr oder weniger kurzlebige Regierungen
rückzuführen – eine Folge des Verfalls und der                       Krieg bis zu 60 Prozent der syrischen Wirtschaft kontrol-     neuen Protesten und Demonstrationen. Am 3. Juli          aus Islamisten, Vertreter*innen des alten Regimes
                                                                     lierte, vgl. Lina Saigol, Assad cousin accused of favouring
                                                                                                                                   2013 putschte das Militär unter Führung des Mili-        und Technokrat*innen einander ab. Teile der Oppo-
2    Vgl. Gilbert Achcar, Le people veut. Une exploration rad-       family, in: Financial Times, 21. April 2011. https://www.
     icale du soulèvement arabe, Paris, Sindbad, Actes Sud,          ft.com/content/e29a73f8-6b78-11e0-a53e-00144fea-              tärratschefs Abd al-Fattah Al-Sisi. Al-Sisi, der knapp   sition, darunter auch die UGTT, wurden kooptiert.
     2013, S. 23– 62 u. 63–114.                                      b49a.                                                         ein Jahr später zum Präsidenten gewählt wurde, hat
3    International Labour Office (ILO): Youth Unemployment       5   Zur Herausbildung des patrimonialen Staates am Beispiel       seitdem ein Regime etabliert, das an Brutalität und      6   Vgl. Amr Khafagy Celebrating poverty: the IMF in Egypt,
     and Migration. Country Brief: Tunisia. https://www.ilo.         Syriens vgl. Joseph Daher, Syria after the Uprisings. The     Unterdrückung weit über seine Vorgänger hinaus-              in: Open Democracy, 15. November 2019 https://www.
     org/wcmsp5/groups/public/---ed_emp/---ed_emp_msu/               Political Economy of State Resilience, London 2019, S.        geht. Ökonomisch setzt die Al-Sisi-Regierung kon-            opendemocracy.net/en/oureconomy/celebrating-pover-
     documents/publication/wcms_219632.pdf.                          1–37.                                                                                                                      ty-imf-egypt/.
10                                                                                                                                                                                                                                                  11
AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
Der IWF hat Tunesien ein striktes Sparprogramm                     Die Forderungen und Themen dieser neuen Pro-         Militärs, Zivilisten strafrechtlich zu verfolgen.              Die Orientierung auf individuelle «Lösungen» kann –
auferlegt, 2019 waren über 36 Prozent der jungen                   testwellen revolutionärer Bewegungen jedoch un-      Zudem überträgt sie dem Präsidenten auch das                   vor allem, wenn sie mit einem Gefühl der politischen
Tunesier*innen arbeitslos.7 Fast scheint es so, als                terscheiden sich nicht wesentlich von jenen der      direkte, persönliche Kommando über die Sicher-                 Enttäuschung verbunden ist – zur Schwächung von
sei das Land nach zehn Jahren wieder an den Aus-                   Jahre 2010/11. Nach wie vor geht es um Demo-         heitskräfte und das Militär, unter Umgehung der                Bewegungen führen. Zugleich gibt es in der jungen
gangspunkt von 2010 zurückgekehrt.                                 kratie und soziale Gerechtigkeit. Allerdings haben   bestehenden Kommandostruktur.                                  Generation jedoch auch eine große Unterstützung
                                                                   die Protagonist*innen der Bewegung auch Lern-                                                                       für die Protestbewegungen, viele sind der Überzeu-
                                                                   prozesse durchlaufen. Insbesondere Fragen der        Auch das Assad-Regime in Syrien versucht, die Si-              gung, dass die Proteste sich auch in naher Zukunft
                                                                   (Selbst-)Organisation der Bewegungen spielen         tuation für seine Zwecke zu nutzen, indem es die               fortsetzen werden. Man kann daher davon ausge-
Die zweite Welle: revolutionäre                                    dabei immer wieder eine wichtige Rolle.              Lieferung medizinischer und anderer Hilfsgüter                 hen, dass die Pandemie nur zu einem Aussetzen der
Bewegungen ab 2018                                                 Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammen-         in Regionen, die nicht unter seiner unmittelbaren              Bewegung, nicht aber zu ihrem Ende führen wird.
                                                                   hang die Entwicklung im Sudan. Im Unterschied        Kontrolle stehen, verhindert. Auf der anderen Seite
Revolutionäre Prozesse setzen sich fort, solange                   zu anderen arabischen Ländern (abgesehen von         kontrolliert es den Strom internationaler Hilfsleis-
die ihnen zugrundeliegenden Widersprüche fortbe-                   Tunesien mit der UGTT) hat die Bewegung hier         tungen in Regierungsgebiete.
stehen.                                                            eine Führung in Form der Sudanese Professio-                                                                        Die «longue durée» der arabischen
Daher ist es kaum verwunderlich, dass im Dezem-                    nals Association (SPA). Allerdings ist die SPA       Die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie                     Revolutionen
ber 2018 mit dem sudanesischen Aufstand in                         nicht eine Führung im Sinne einer Partei, sondern    in der Region werden massiv sein: Der Internati-
Westasien und Nordafrika eine zweite Welle der                     ein breites Netzwerk, das einige Jahre im Unter-     onale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass das                    Die Zukunft der Region liegt im Ungewissen, neue
revolutionären Erhebungen begann. Bereits im                       grund existierte und sich mit dem Aufstand vom       Bruttosozialprodukt in den Ländern Westasiens                  regionale und internationale Konstellationen sind
Juni desselben Jahres war – international wenig                    Dezember 2018 zu einer Vereinigung der Ge-           im Jahr 2020 um 4,7 Prozent schrumpfen wird.9                  entstanden, deren Auswirkungen sich noch nicht
beachtet – die jordanische Regierung nach Pro-                     werkschaften und Berufsverbände aller Schlüs-        In einigen Ländern, wie etwa dem Irak oder dem                 abschätzen lassen, und es gibt mehr Grund zur Be-
testen gegen die von ihr verhängten Sparmaßnah-                    selsektoren entwickelte. Zurzeit wird das Land       Libanon, wird der Rückgang noch bedeutender                    sorgnis als zur Euphorie. Viel wird davon abhängen,
men zurückgetreten. Es folgten im Februar 2019                     von einem Übergangsrat regiert, in dem Vertre-       sein.10 Auslandsüberweisungen, die in vielen Län-              ob es den revolutionären und emanzipatorischen
der algerische Aufstand und seit Oktober 2019                      ter*innen der Aufstandsbewegung neben dem            dern eine wichtige Rolle bei der Stützung der na-              Kräften gelingt, dauerhafte und demokratisch funk-
massive soziale und politische Proteste im Irak                    Militärkommando vertreten sind – eine klassi-        tionalen Wirtschaft spielen, werden nach Berech-               tionierende organisatorische Formen für sich zu
und im Libanon. Auswirkungen dieser Aufstände                      sche Situation der Doppelherrschaft, in der sich     nungen der Weltbank als Folge der internationalen              finden. Zurzeit lässt sich mit Gewissheit nur eins
waren in vielen Ländern der Region zu spüren. So                   auf Dauer eine der beiden Seiten gegen die ande-     ökonomischen Krise sogar bis zu 20 Prozent zu-                 sagen: Der 2010/11 begonnene Prozess ist nicht zu
organisierte zum Beispiel in Marokko der Front so-                 re durchsetzen wird.                                 rückgehen.11 Wie wenig sich die grundlegenden                  Ende. Die sozialen Widersprüche, die im sogenann-
cial marocain (FSM), ein Zusammenschluss linker                    Auf der «Grassroots»-Ebene gibt es zudem unzäh-      sozio-ökonomischen Probleme der Region gelöst                  ten «arabischen Frühling» zum Ausdruck kamen,
Parteien und Gewerkschaften, im Februar 2020                       lige autonome «Widerstandskomitees», in denen        (und sich im Gegenteil durch die Pandemie noch                 bestehen fort und werden immer wieder zu Unru-
mehrere große Demonstrationen, auf denen die                       Tausende zumeist junge Menschen organisiert          verstärkt) haben, zeigt sich daran, dass 15 Prozent            hen, Aufständen und revolutionären Erhebungen in
Freilassung von politischen Gefangenen und sozi-                   sind.                                                der dort lebenden 18-24-Jährigen aktiv versuchen               der Region führen. Selbst wenn es gelingt, das eine
ale Verbesserungen gefordert wurden.8 Und auch                                                                          zu emigrieren, weitere 27 Prozent haben dies zu-               oder andere autokratische Regime abzusetzen, wird
in Ägypten kam es trotz massiver Repression im                                                                          mindest bereits einmal erwogen.12                              dies nicht genügen. Die politische Revolution bleibt
Herbst 2019 in verschiedenen Städten zu Protes-                    Arabische Revolutionen in Zeiten der                                                                                ohne eine soziale Revolution immer unvollständig.
ten mit mehreren Tausend Teilnehmer*innen.
Die zweite Welle unterscheidet sich jedoch von                     Pandemie                                                                                                            Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissen-
der ersten. Einer der auffälligsten Unterschiede ist,                                                                                                                                  schaftler und arbeitet als Übersetzer und Journa-
dass islamistische Bewegungen diesmal so gut                       Der Ausbruch der COVID-19-Pandemie Anfang                                                                           list. Er publiziert zu Themen des Nahen Ostens und
                                                                                                                        9  International Monetary Fund, World Economic Outlook Up-
wie keine Rolle in der Protestbewegung spielen.                    2020 führte zunächst zu einem Stillstand der            date, June 2020. A Crisis Like No Other, An Uncertain Re-
                                                                                                                                                                                       zur US-amerikanischen Außenpolitik.
Dies liegt schlicht daran, dass Islamisten überall                 neuen Massenmobilisierungen – Demonstra-                covery https://www.imf.org/en/Publications/WEO/Issu-        Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissen-
Teil der bekämpften Regime waren oder eng mit                      tionen und Versammlungen auf öffentlichen               es/2020/06/24/WEOUpdateJune2020; in der Studie sind         schaftler und arbeitet als Übersetzer und Journa-
ihnen kooperierten. So war das Regime von Omar                     Plätzen waren nicht mehr möglich. Die autokra-          die Zahlen für West-und Zentralasien zusammengefasst.       list. Er publiziert hauptsächlich zu Themen Wei
al-Baschir im Sudan eine Mischung aus Militärdik-                  tischen Regime nutzten dies oftmals zu einem         10 Joelle M. Abi-Rached/ Ishac Diwan, The Socioeconomic        und Nordafrikas und zur US-amerikanischen Au-
tatur und islamistischer Herrschaft. In Algerien                   Zurückdrängen der Bewegung und einer weiteren           Impact of COVID-19 on Lebanon: A Crisis Within Crises,      ßenpolitik.
                                                                                                                           Juni 2020 https://www.euromesco.net/publication/the-
hatte die Partei der Muslimbruderschaft, der Mou-                  Verschärfung der Repression und der autoritären         socioeconomic-impact-of-covid-19-on-lebanon-a-crisis-
vement de la société pour la paix, lange Zeit die Re-              Kontrolle. So erließ die algerische Regierung im        within-crises/; United Nations Development Programme
gierung von Abdelaziz Bouteflika in einem «präsi-                  April ein Gesetz, das die Verbreitung von «fake         (UNDP), Impact of Covid-19 on the Iraqi Economy, 6.
dentiellen Block» unterstützt. Und im Irak und im                  news» verbietet. Dies führte dazu, dass in den          Oktober 2020 https://www.iq.undp.org/content/iraq/en/
Libanon waren islamistische Kräfte – diesmal in                    letzten Monaten immer wieder Aktivist*innen der         home/library/Stabilization/impact-of-covid-19-on-the-
                                                                                                                           iraqi-economy.html.
der schiitischen Variante – wesentliche Bestand-                   Opposition aufgrund von Posts in den sozialen
                                                                                                                        11 COVID-19 Crisis Through a Migration Lens. Migration and
teile der jeweiligen Regierung.                                    Medien zu längeren Haftstrafen verurteilt wur-
                                                                                                                           Development Brief 32, April 2020 [http://documents1.
7    Tunisia: Youth unemployment rate from 1999 to 2019            den. In Ägypten war eine der ersten Reaktionen          worldbank.org/curated/en/989721587512418006/pdf/
     https://www.statista.com/statistics/813115/youth-un-          des Al-Sisi-Regimes die Novellierung des Not-           COVID-19-Crisis-Through-a-Migration-Lens.pdf].
     employment-rate-in-tunisia/.                                  standsgesetzes, das am 22. April in Kraft trat.      12 Young Arabs look to emigrate as pandemic wrecks econ-
8    Jules Crétois, Maroc: le « Front social », c’est quoi?, in:   Die Neufassung erweitert im Wesentlichen die            omies, in: Financial Times, 6. Oktober 2020
     Jeune Afrique, 26. Februar 2020 https://www.jeuneafrique.     ohnehin schon beträchtlichen Befugnisse des              https://www.ft.com/content/349a60db-6b12-4210-a2f1-
     com/901319/politique/maroc-le-front-social-cest-quoi/.                                                                019b3e38c280.
12                                                                                                                                                                                                                                      13
AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
14   15
AUFBRUCH UND SOZIALE PROTESTE IN WESTASIEN - "ICH BIN ANFÜHRER*IN DER REVOLUTION"
I. Verortung: Linke Perspektiven
     I.I Solidarität und politische Teilhabe
           Vom Libanon bis zum Irak, von Bagdad nach Beirut... es ist
           eine Revolution
           Ansar Jasim, Sami Adnan

     Seit Oktober 2019 ist es im Irak zu Massenpro-                  den 25. Oktober angekündigt. Während des Feier-
     testen gekommen, die auch viele gesellschaftli-                 tags fanden dann keine Demonstrationen statt.
     che Schichten zusammenbrachten. Ansar Jasim
     sprach mit dem Aktivisten Sami Adnan über die                   Die Leute sind sich bewusst, dass sie keine Ver-
     Hintergründe der Proteste.                                      bindung zwischen Religion und Politik wollen.
                                                                     Unsere Angelegenheit hat nichts mit Religion zu
     Ansar Jasim: Seit dem 1. Oktober kommt es in vie-               tun, und wir wollen auch keine religiöse Lösung.
     len Regionen des Irak zu Massenprotesten. Anders                Schon abends am 24. Oktober waren die Leute auf
     als in der Vergangenheit handelt es sich weder um               den Straßen, und es waren allein 5000 Leute nur in
     kleine Gruppen, noch verklang der Protest bisher.               Bagdad auf dem Tahrir-Platz.
     Warum halten die Proteste an?
                                                                     Was ist die Strategie bei den jetzigen Protesten im
     Sami Adnan: Am Anfang war das Motto der Pro-                    Vergleich zu Anfang Oktober?
     teste «I go out to take my right». Nachdem der
     Staat diese Proteste unterdrückt hat und es Tote                Wenn du von oben auf den Tahrir-Platz siehst, dann
     gab, haben die Leute beschlossen, am 25. Okto-                  siehst du, dass die Leute an und in den Gebäuden
     ber wieder auf die Straße zu gehen, um wieder ihre              des Tahrir-Platzes verteilt sind und natürlich auch
     Rechte einzufordern.                                            auf dem Tahrir-Platz selbst. Warum ist das so?
                                                                     Weil die Scharfschützen des Regimes , die auf die
     Was ist zwischen dem 1. Oktober und jetzt – An-                 Demonstrant*innen geschossen haben, vorher auf
     fang November 2019 – passiert?                                  den Gebäuden verteilt waren. Also haben die Pro-
                                                                     testierenden beschlossen, die Gebäude zu beset-
     Die Proteste hielten eine Zeit lang an und hörten               zen. Nach den Demonstrationen Anfang Oktober
     dann auf. Das Leben in Bagdad war wieder eini-                  und nachdem Bewaffnete in die Wohnviertel ein-
     germaßen normal geworden. In dieser Zeit gab es                 gedrungen waren und Menschen teilweise in ihren
     einen religiösen Feiertag, al-Arba‘in1 ‑ deswegen               Häusern ermordet wurden2, haben die Leute be-
     hörten die Proteste auf. Keiner hat diesen Feier-               schlossen, sich zu schützen. Die Menschen im Irak
     tag für seine politischen Zwecke genutzt. Es gab                haben viel Krieg erlebt. Jeder weiß, wie man eine
     die Angst, dass es sonst heißen könne, dass der                 Waffe benutzt, auch wenn die Leute Gewalt nicht
     Feiertag eine Rolle gespielt habe und Religion ein              mögen. Nicht jeder hat aber eine Waffe, und es
     Motivationsgrund sei. Der Feiertag war am 20. Ok-               bestand große Angst, dass es noch zu einer weite-
     tober und die große Demonstration war dann für                  ren Eskalation kommen würde. Also haben die De-

     1   Schiitischer Feiertag: der 40. Tag nach Aschura, dem Fei-   2   Adnan bezieht sich hier auf die Ermordung von Hussein
         ertag, an dem des Todes von Imam Hussein in Kerbela             Adel und Sara Madani, Associated Press, 3.10.2019 [Anm.
         (680) gedacht wird.                                             Red.].
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monstrant*innen begonnen, kleine Molotow-Cock-         Egal, was sie sagen, dass sie Häuser und Boden          natürlich Parolen, die Frauen betreffen, wie «Hört        er im Irak. Es sind vor allem die Bewohner*in-
tails zu bauen, um so zu verhindern, dass jemand       verteilen oder Arbeitslosengeld einführen und Ar-       auf, Frauen zu töten». Denn tatsächlich wurden in         nen der armen Viertel, wie etwa Madinat as-Sadr
in ihr Stadtviertel eindringt.                         beitsplätze schaffen wollen. Wovon denn?                den letzten Jahren gezielt weibliche Aktivist*in-         oder Ghazaliya, wo das Tuktuk als Transportmit-
                                                       Ende Oktober sind aber immerhin sieben Mitglie-         nen ermordet. Sie wurden als politisch Aktive er-         tel unverzichtbar ist. Dieses Prekariat hat eine
Gab es eine Organisation für die Demonstration         der des Parlaments zurückgetreten. Es bleibt für        mordet, nicht als Feminist*innen. Insbesondere            Tuktuk-Gewerkschaft gegründet, wenn auch nur
vom 25. Oktober? Oder besteht der Erfolg darin,        mich aber purer Opportunismus. Denn die Natur           in Bagdad war die Präsenz der Schülerinnen und            auf Facebook. Viele von ihnen können nicht mal
dass es eine Mobilisierung ohne Mobilisierung          des Staates war ja auch schon vorher klar. Dieser       älteren Frauen auf dem Tahrir-Platz stark. Außer-         schreiben.
gibt?                                                  Schritt kann aber dabei helfen, nach außen zu sig-      dem sind Letztere es, die mit ihrer Care-Arbeit
                                                       nalisieren, dass die Lage im Irak ernst ist und dass    ihre Söhne beim Protest unterstützen. Wir haben           Zunächst war die Idee, dass sie die Leute kosten-
Es ist wichtig zu verstehen, dass alle Mobilisie-      wir eine neue Regierungsform mit einem neuen            zwar Frauen-NGOs, aber keine feministische Be-            los zum Tahrir-Platz bringen. Dann kam es zu die-
rungen vom 1. bis zum 25. Oktober völlig spontan       ökonomischen System brauchen.                           wegung.                                                   ser intensiven Gewalt, und da wir nur so wenige
entstanden sind. Es gibt keine einzige Partei, die                                                                                                                       Krankenwagen in Bagdad haben, sind die Tuktuks
teilgenommen hat. Die Leute haben keine Alterna-       Offenbar gibt es viele Parallelen zum Sudan und         Sind die Demonstrationen nun also Ausdruck des            zu Krankenwagen geworden.
tive. Sie sind an einem Punkt angelangt, sich zu       Libanon. Es geht nicht einfach um eine korrupte         kompletten Scheiterns des ökonomischen Sys-
fragen, was sie noch tun können. Es gibt derzeit       Regierung oder eine dysfunktionale Ökonomie. Die        tems nach 2003?                                           Auf einmal liebten die Menschen sie. Vorher ha-
keine Organisation oder Partei, die für die Massen     Forderungen der Protestierenden gehen viel weiter.                                                                ben sie sie gehasst, weil das Tuktuk nervig ist: es
überzeugend wäre. Deswegen passiert es spon-           Es wird ein grundlegend neues System gefordert.         Es ist nicht gescheitert, denn es ist ja immer noch       kommt immer von allen Seiten, ist überhaupt nicht
tan. Man schreibt was auf Facebook mit einem                                                                   da. Die Lösung liegt weder bei der Regierung noch         zivilisiert, sieht hässlich aus. Die Fahrer sind nicht
Hashtag und wo man ist, und kann so Leute mo-          Bei den Protesten im Libanon wurde gerufen: «Vom        beim irakischen Volk. Selbst wenn wir eine politi-        sonderlich intellektuell und haben immer die Mu-
bilisieren.                                            Libanon bis zum Irak, von Bagdad nach Beirut –es        sche Alternative hätten, hätten wir keine ökonomi-        sik total laut aufgedreht. Die Situation jetzt hat die
                                                       ist eine Revolution und die stirbt nicht» (min Lubn-    sche: Wenn man die Grenzen des Iraks zur Türkei           Leute zusammengebracht. Ein Tuktuk ist jetzt et-
Wie hat sich der erfolgreiche Massenprotest vom        an lil-Irak, min Baghdad la Beirut, thawra wahida ma    und zum Iran für einen Tag schließt, dann stirbt          was Heiliges geworden. Die Tuktuk-Fahrer selber
25. Oktober auf die Gesellschaft ausgewirkt?           bitmut). Du kannst fünf gemeinsame Forderungen          der Irak. Wir sind komplett abhängig von ihnen.           sagen, dass sie auch nicht Tuktuk fahren wollen:
                                                       feststellen:                                            Wir sind also kein souveräner Staat. Eine Ände-           Gebt uns eine Arbeitsgelegenheit oder Arbeitslo-
Daraufhin haben sich weitere Schichten dem Pro-                                                                rung kann nur durch einen Schock hervorgebracht           senhilfe und ich zerstöre mein Tuktuk noch heute.
test angeschlossen: Das Besondere am Protest           1. Sturz des Systems                                    werden: Wenn die Leute auf der Straße bleiben             Oder aber: Erkennt das Tuktuk offiziell als öffent-
zwei Tage später, also am 27. Oktober, war die         2. Eindämmung der Korruption                            und die Öl-Firmen schädigen, so wie letztes Jahr          liches Transportmittel an und lasst mich richtig
Teilnahme der Mittelschicht. Zunächst hatte die        3. Ende des Milizenstaates                              in Basra, dann würde der internationale Markt             damit arbeiten.
Mittelschicht aus Angst, dass der Staat den An-        4. Echte Souveränität des Staates                       spüren, was im Irak passiert und etwas ändern
gestellten ihre Gehälter streicht, nicht teilgenom-    5. Soziale Gerechtigkeit                                müssen, sodass immerhin eine kleine Besserung             Was sind eure Ängste bezüglich der Weiterentwick-
men. Einen Tag später haben die Oberschüler*in-                                                                eintreten würde. Vielleicht könnten wir produzie-         lung der Bewegung und der Reaktion des Staates
nen ihre Teilnahme angekündigt. Wir können also        Wir haben im Libanon und im Irak das gleiche            rendes Gewerbe aufbauen etc. Wir haben Millio-            und internationaler Akteure?
nicht so tun, als wären die Schüler*innen von ei-      konfessionalistisch-klientelistische System. Wir        nen arbeitsbereite junge Menschen, und es wer-
nem anderen Stern, es ist ja gerade ihre Zukunft,      haben sogar die gleichen Milizen mit gleicher           den noch mehr. Aber es gibt keine Ökonomie, die           Es gibt viele Ängste: dass es eine direkte Einmi-
die hier entschieden wird. Das Besondere ist aber,     Symbolik und Finanzierung. Es geht nicht einfach        sie absorbieren könnte.                                   schung aus dem Ausland geben wird, dass der
dass die Schüler*innen wirklich in der Funktion        darum, dass die Leute Arbeitsplätze wollen, das                                                                   Staat aufgelöst wird, oder dass es vorgezogene
als Schüler*innen teilnehmen, sie tragen sogar         ist sicher die Hauptforderung. Aber die Leute wis-      Internationalist*innen müssen dafür sorgen, dass          Wahlen gibt. Das Problem ist, wenn etwas kommt,
ihre Schulkleidung. Ihr erster Protesttag war ein      sen genau, woher das Problem kommt. Es kann             ihre Regierungen uns in Ruhe lassen: Deutsch-             das nicht den Interessen des Iran dient, dann wer-
Schultag. Es war Sonntag, und da ist normalerwei-      nur eine grundlegende Lösung geben, nicht ein-          land, Iran, Großbritannien, die USA, demonstriert         den die Milizen des Iran eingreifen. Dann wird es
se Unterricht. Das gleiche ist der Fall mit den Stu-   fach eine oberflächliche Änderung. Die Regierung        gegen eure Regierungen, dass sie uns einfach in           einen Bürgerkrieg geben, dann wird es eine Katas-
dent*innen. Auch die Lehrenden sind dabei und          hat den Protestierenden 200.000 Dinar (ca. 150          Ruhe lassen. Wir wollen hier keine NGOs oder Ent-         trophe geben. Das haben wir ja schon mal erlebt.
haben die Student*innen ermutigt, an den Pro-          US-Dollar) angeboten, wenn man sich online als          wicklungshilfe. Wir wollen einfach alleine etwas in       Wir haben 35 irakische Milizen, die im Interesse
testen teilzunehmen. Das ist Solidarität über alle     arbeitslos registriert. Viele haben sich nicht regis-   diesem Land machen, ohne ständig in Abhängig-             des Iran arbeiten. Das sind also tausende Solda-
gesellschaftlichen Teile hinweg. Der ganze Irak        triert, weil sie das als Bestechung empfanden. Am       keit zu geraten.                                          ten.
braucht eine Lösung, nicht nur die arbeitende bzw.     25. Oktober war die Demonstration enorm groß,
arbeitslose Klasse.                                    d.h. die Leute haben ein klares Zeichen gesetzt,        Die prominentesten Symbole dieser Proteste sind           Ihr wärt ja nicht auf den Straßen, wenn ihr nicht
                                                       dass sie grundlegende Änderungen wollen und             jetzt schon die dreirädrigen Miniautos namens Tuk-        auch an Veränderungen glauben würdet, oder?
Was ist deine Einschätzung, was die Zugeständnis-      sich auch nicht einfach mit diesem Arbeitslosen-        tuk. Wie kommt das?                                       Was sind also die Hoffnungen?
se der Regierung angeht?                               geld zufriedengeben.
                                                                                                               Das Fahrzeug wurde seit Beginn 2017 in den Irak           Die Leute müssen auf den Straßen bleiben. Dann
Es gab bisher weder Zugeständnisse oder irgendei-      Am 25. Oktober gab es auch eine deutliche Prä-          importiert. Das gab es vorher nicht. Es ist viel billi-   gibt es noch die Hoffnung, dass die Milizen we-
ne Änderung der Politik, noch gibt es irgendwelche     senz von Frauen auf den Demonstrationen. Haben          ger als ein Auto. Wer sind die Tuktuk-Fahrer? Das         nigstens in Bagdad durch eine Gegenkraft im Staat
Hoffnung. Es ist ganz einfach zu erklären: Öl-Geld-    sie eigene Forderungen?                                 sind Arbeitslose, und das Tuktuk ist eine Arbeits-        wie dem Anti-Terrorismus-Regiment, welches nicht
Öl. Der Staatshaushalt des Irak basiert auf den Erd-                                                           möglichkeit. Es ist ein Transportmittel, das recht        unter iranischem Einfluss steht, sondern eher eine
öleinnahmen. Was sollen sie den Leuten anbieten,       Sie haben keine eigenen Forderungen. Sie sind           billig ist, so 2500 US-Dollar. Eine Strecke kostet        amerikanische Erfindung war, unter Kontrolle ge-
wenn das Jahresbudget schon ausgeschöpft ist?          Teil der Menge. Einige Feminist*innen haben aber        1-2 US-Dollar. Das Transportsystem ist sehr teu-          halten werden. Das wäre keine gute Lösung, aber

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besser als andere Szenarien. Hoffnungen brau-          selbst in die Hand zu nehmen und eine Alterna-
chen irgendwie einen Idealzustand. Bei der Revo-       tive zu bilden für die Zeit, wenn der Staat sich
lution von 1958, als die Monarchie gestürzt wurde,     aus den Gebieten zurückzieht. Gleichzeitig ist
gab es eine Partei, Massen auf den Straßen, und        die Idee verbreitet, dass eine Präsidialherrschaft
es gab Kraft. Wenn es eine Revolution gibt, dann       vielleicht eine Lösung wäre. Dann sehen sie aber
muss es eine politische Alternative geben, die die     Ägypten und Syrien und ziehen diese Idee wie-
Macht übernehmen kann. Idealerweise ist das eine       der zurück.
progressive Massenpartei. Dann ist es eine Revolu-
tion. Jetzt haben wir aber keine politische Alterna-   Weiterer Beitrag im Westasien-Dossier:
                                                                                                              «Many friends in the mountains»
tive, der die Menschen folgen könnten. Das ist total   Die Revolution kommt zurück – Versprochen! On-         Eine andere kurdische Geschichte
essentiell. Wenn nämlich, wie in Basra im letzten      line-Interview mit Sami Adnan vom Juni 2020             Schluwa Sama
Jahr, die Stadt außerhalb der staatlichen Kontrolle    https://www.rosalux.de/mediathek/media/ele-
gerät, dann muss eine Partei die Macht überneh-        ment/1281.
men und den Staat neu repräsentieren. Das haben
wir nicht im Irak.
                                                       Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik
Aber der politische Aktivismus bedeutet doch auch      und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas stu-
einen Lernprozess.                                     diert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftli-
                                                       cher Solidarität aus theoretischer und praktischer      «No friends but the mountains» [Keine Freunde         Widersprüchen oder eine kurdische Geschichte
Das ist unsere Hoffnung, dass diese Demonstra-         Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und         außer den Bergen, Anm. d. Red.] ist wohl das be-      von «unten», zum Beispiel von kurdischen Bäu-
tionen nun eine politische Alternative hervorbrin-     Irak.                                                   kannteste geflügelte Wort, um eine weitverbreite-     erinnen im Irak. Zunächst jedoch die Frage, wie
gen werden. Es gibt einige Politaktivist*innen                                                                 te Sicht auf die kurdische Geschichte zusammen-       Kurd*innen zur Minderheit wurden.
auf der Straße, die dabei helfen wollen, dass die      Sami Adnan ist politischer Aktivist aus Bagdad          zufassen: Diese sieht die kurdische Minderheit
Menschen lokale Volkskomitees in den Städten           und einer der Gründer von «Workers against Sec-         entweder als Opfer oder als Widerstandskämp-
und an ihren Arbeitsplätzen gründen. So wür-           tarianism» im Irak.                                     fer*innen, immer allein gelassen und von Feinden      Dekolonisierung kurdischer Geschichte:
den die Menschen lernen, ihre Angelegenheiten                                                                  umgeben. Häufig wird daraus der Schluss gezo-
                                                                                                               gen, es brauche einen kurdischen Staat.               als wir zur Minderheit erklärt wurden

                                                                                                               Ich liebe die Berge, aber sehe nicht ein, warum ich   Dass Kurd*innen zu einer Minderheit gemacht
                                                                                                               als Kurdin keine anderen Freunde außer den Ber-       werden und dass wir dies bis heute so weitertra-
                                                                                                               gen gehabt haben soll. Wie also sieht eine kom-       gen, ist unter anderem auf die koloniale Politik
                                                                                                               plexere kurdische Geschichtsschreibung aus, die       Frankreichs in Syrien und Großbritanniens im Irak
                                                                                                               auch die Lebensrealitäten der tatsächlichen Be-       zurückzuführen.
                                                                                                               völkerung Kurdistans widerspiegelt? Und wie wur-
                                                                                                               den Kurd*innen zur Minderheit?                        Dass koloniale Mächte Minderheiten benutzt ha-
                                                                                                                                                                     ben, um ihre eigene koloniale Macht zu stützen,
                                                                                                               Die Erzählung kurdischer Geschichte bricht per        ist für viele ehemals kolonialisierte Länder schon
                                                                                                               se nationalstaatliche Denkmuster von einheit-         lange klar. Für Kurdistan ist diese Tatsache weni-
                                                                                                               licher Geschichtsschreibung auf, vor allem in         ger gut erforscht. Ähnlichkeiten gibt es trotzdem,
                                                                                                               Ländern wie der Türkei, Syrien oder dem Irak. In      wie das Beispiel meiner Heimatstadt Amadiye, ge-
                                                                                                               der Folge ist es jedoch ebenfalls illusorisch, eine   legen im äußersten Norden Kurdistan-Iraks, zeigt.
                                                                                                               einzige, lineare kurdische Geschichte erzählen        Von 1930 bis 1950 hatten die Briten dort ein Mili-
                                                                                                               zu wollen, in denen Kurd*innen meist auf zwei         tärcamp als Erholungsort für ihre Soldaten aufge-
                                                                                                               Rollen reduziert werden: entweder sind sie Opfer      baut1. Die Region wurde aber schon 1918 von den
                                                                                                               oder sie leisten heroischen Widerstand. Zudem         Briten besetzt.2 Zur Unterstützung der britischen
                                                                                                               basiert diese Art der kurdischen Geschichts-          Truppen wurden die Iraq Levies aufgebaut, wobei
                                                                                                               schreibung auf den Erfahrungen des Kurdisch-          zunehmend und zum Ende hin nur noch christli-
                                                                                                               seins in der Türkei. Dass die Politik der Türkei
                                                                                                               zentral ist, um kurdische Geschichte zu verste-       1   Ammann, Birgit (2004a/2005, S.182-184): Kleine Ge-
                                                                                                               hen, ist ganz klar. Dabei werden jedoch andere            schichte der Stadt Amadiya: Von streitbaren Fürsten, kur-
                                                                                                                                                                         dischen Juden und grausamen Zeiten. In: Europäisches
                                                                                                               Erfahrungen von Kurd*innen in Ländern wie dem
                                                                                                                                                                         Zentrum für Kurdische Studien. Kurdische Studien. 4.+5.,
                                                                                                               Irak, Syrien und dem Iran unsichtbar gemacht. Zu          S. 175–226.
                                                                                                               oft werden nationalistische Mythen kurdischer         2   Ammann, Birgit (2004b/2005, S. 218): Ser Amadia: Ama-
                                                                                                               Eliten übernommen, die Kurd*innen als homo-               teuraufnahmen aus der Umgebung des Sommercamps
                                                                                                               genen, isolierten Block darstellen. Dabei bleibt          der Royal Air Force im irakischen Kurdistan. In: Europäi-
                                                                                                               wenig Raum für eine komplexe Geschichte mit               sches Zentrum für Kurdische Studien. Kurdische Studien.
                                                                                                                                                                         4.+5., S. 227–256.
20                                                                                                                                                                                                                             21
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