AUFSTAND IN DER FABRIK - Dietmar Lange Arbeitsverhältnisse und Arbeitskämpfe bei FIAT-Mirafi ori 1962 bis 1973

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Dietmar Lange

AUFSTAND
IN DER FABRIK
            Arbeitsverhältnisse und Arbeitskämpfe
            bei FIAT-Mirafiori 1962 bis 1973
Dietmar Lange: Aufstand in der Fabrik

         © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln
ISBN Print: 9783412520786 — ISBN E-Book: 9783412520793
Dietmar Lange: Aufstand in der Fabrik

Italien in der Moderne
herausgegeben von

Gabriele Clemens
Christof Dipper
Oliver Janz
Sven Reichardt
Wolfgang Schieder
Petra Terhoeven

Band 26

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                ISBN Print: 9783412520786 — ISBN E-Book: 9783412520793
Dietmar Lange: Aufstand in der Fabrik

Dietmar Lange

Aufstand in der Fabrik
Arbeitsverhältnisse und Arbeitskämpfe bei
FIAT-Mirafiori 1962 bis 1973

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

                    © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln
           ISBN Print: 9783412520786 — ISBN E-Book: 9783412520793
Dietmar Lange: Aufstand in der Fabrik

Die Promotion wurde gefördert mit Mitteln der Rosa Luxemburg Stiftung

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schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Abstimmung während einer Versammlung des Fabrikrats von FIAT-Mirafiori,
gemeinfrei, online unter:
http://www.mirafiori-accordielotte.org/wp-content/uploads/2012/10/1969-assemblea.jpg

Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien
Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-412-52079-3

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Dietmar Lange: Aufstand in der Fabrik

Inhalt

1 Einleitung...................................................................................................... 7
  1.1 Boom und Streikwelle im Betrieb: zur Fragestellung.................................. 9
  1.2 Methodisches Vorgehen und theoretische Grundlagen.............................. 15
  1.3 Forschungsstand und Quellengrundlage................................................... 26
  1.4 Gliederung und Orthografie..................................................................... 29

2 	 Das „goldene Zeitalter“ der Automobilindustrie..........................................                      31
    2.1 Italien im Wirtschaftswunder....................................................................          33
    2.2 Turin: Die Motor-City.............................................................................        50
    2.3 Zwischenfazit: Die Ära des Fließbandes....................................................                92

3 	 Der gebremste Aufschwung: die 1960er Jahre.............................................. 95
    3.1 Die Rückkehr des sozialen Konflikts......................................................... 95
    3.2 Piazza Statuto und die Folgen...................................................................100
    3.3 Im Schatten der Konjunktur..................................................................... 120
    3.4 Zwischenfazit: Das Ende des ersten Aktes................................................. 148

4 	 Der „proletarische Mai“ bei der FIAT........................................................... 155
    4.1 1968 in Italien........................................................................................... 155
    4.2 Der „schleichende Mai“ bei der FIAT...................................................... 168
    4.3 Der „heiße Herbst“ 1969..........................................................................202
    4.4 Zwischenfazit: Die FIAT im zweiten biennio rosso.................................... 238

5 Arbeiterkontrolle und Strukturbruch:
  die 1970er Jahre............................................................................................ 243
  5.1 Krise und Wandel in Italien Anfang der 1970er Jahre................................ 243
  5.2 Ein neues Betriebsmodell bei der FIAT?.................................................. 260
  5.3 Die Tarifauseinandersetzungen 1972/73.....................................................344
  5.4 Zwischenfazit: Vom heißen Herbst zum heißen Frühling......................... 372

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6Inhalt

6 Zusammenfassung........................................................................................377

Danksagung....................................................................................................... 391

Anhang.............................................................................................................. 392
  1.1 Die Werkstätten von Mirafiori 1969.......................................................... 393
  1.2 Abkürzungsverzeichnis/Glossar................................................................. 395
  1.3 Quellen- und Literaturverzeichnis.............................................................398
  1.4 Abbildungsverzeichnis.............................................................................. 421

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1 Einleitung

Den 29. Januar des Jahres 2014 erklärten viele Kommentatoren im In- und Ausland
 zum Datum eines Epochenwechsels in der Firmengeschichte der FIAT . An diesem
Tag verkündeten der Vorstandsvorsitzende, Sergio Marchionne, und der Präsident des
Unternehmens, John Elkann, Urenkel des berühmt-berüchtigten Firmengründers
 Giovanni Agnelli, die Absicht des größten italienischen Automobilkonzerns, sich mit
 dem US-amerikanischen Autobauer Chrysler zusammenzuschließen. Das Resultat war
 ein neuer multinationaler Konzern, FIAT Chrysler Automobiles, dessen Bindungen
 an Italien und den bisherigen Heimatsitz Turin weiter an Bedeutung verlieren wür-
 den. Was viele Kommentatoren besonders hervorhoben, war die Mitteilung, dass der
Firmensitz aus steuerlichen Gründen in die Niederlande und England verlegt werden
 sollte. Die Schlagzeilen verkündeten denn auch die „Flucht aus Italien“1 und den
„Abschied aus Turin“.2
     Die Nachricht reiht sich ein in eine längere Entwicklung, die nicht nur den Cha-
rakter des bis dato italienischen Vorzeigeunternehmens veränderte, sondern auch den
 der einstigen Motor-City Turin, deren Geschicke für Jahrzehnte eng mit denjenigen
 der FIAT verwoben waren. Lange schon sind die Zeiten vorbei, als die Stechuhr der
Fabrik den Rhythmus der Stadt bestimmte und die Blaumänner der Arbeiter morgens
 und abends das Bild in den Zügen, Straßenbahnen und Bussen prägten. Heute hat die
 einstige Industriemetropole mit einer sinkenden Einwohnerzahl zu kämpfen und ver-
 sucht den Rückgang der Industrieproduktion durch Kultur- und Wissenschaftsförderung
 sowie den Tourismus auszugleichen. Exemplarisch für die Veränderungen steht dabei
 das einst größte Automobilwerk Europas, FIAT-Mirafiori. Arbeiteten in den 1970er
Jahren über 50.000 FIAT-Beschäftigte hier, sind es heute noch etwas über 11.000, zu
 denen Beschäftigte von Unternehmen hinzukommen, die im Zuge der Umstruktu-
rierungen der letzten Jahre ausgegliedert worden waren. Ein großer Teil des Geländes,
 über 300.000 Quadratmeter, lag jedoch lange Zeit brach und wird seit 2005 von einer
 öffentlichen Gesellschaft der Region Piemont und der Gemeinde Turin verwaltet, die
versucht, es langsam wiederzubeleben. Heute finden sich hier Universitätseinrichtun-
 gen der polytechnischen Hochschule, während die Ansiedlung von Start-ups bisher
nur zögerlich verläuft. Studierende aus Asien und Afrika treffen sich dort, wo einst
 die Sitze für den FIAT 600 hergestellt wurden.3 Autos verlassen das Werk jedoch nur

1   „fuga dall’Italia“. „Il Giornale“, 29.1.2014, http://www.ilgiornale.it/news/interni/fiat-2014-fuga-
    dallitalia-nasce-nuovo-gruppo-fca-987215.html (letzter Zugriff 23.1.2017).
2   Manager Magazin, 12.10.2014, http://www.manager-magazin.de/unternehmen/autoindust-
    rie/a-996755.html (letzter Zugriff 23.1.2017).
3   Maurizio Maggi: Mirafiori 2015, così il quartiere operaio di Torino riprende vita, in:
    L’Espresso, 15.10.2015, http://espresso.repubblica.it/plus/articoli/2015/10/15/news/

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8                                                                                            Einleitung

noch wenige im Vergleich zu früheren Zeiten. Der größte Teil der Produktion wurde
ausgelagert, vor allem nach Osteuropa.
    Kaum etwas zeugt noch von den turbulenten Tagen, etwa im März 1973, als rote
Fahnen von den Dächern und Torpfosten von Mirafiori wehten und die darauf posie-
renden Arbeiter sich daran machten, „den Himmel zu stürmen“, wie eine populäre
zeitgenössische Interpretation der damaligen Kämpfe besagt.4 Die tatsächlich einge-
tretenen Veränderungen sind nicht weniger radikal, aber sicher nicht das, was sich die
Protagonisten von damals erhofft hatten. Ihr Anfang reicht in eine Zeit zurück, als
der „Massenarbeiter“ als revolutionärer Hoffnungsträger für viele politische Aktivistin-
nen und Aktivisten der außerparlamentarischen Linken auch international fungierte.
Vielleicht drückt nichts den Wandel besser aus als die Tatsache, dass es nicht mehr die
Arbeitskämpfe der Automobilarbeiter von Mirafiori sind, die die Aufmerksamkeit und
Solidarität der linken Subkultur der Stadt und von Theoriezeitschriften wie der deut-
schen „Prokla“ auf sich ziehen, sondern der Streik der Essensauslieferer von Foodora
in Turin im Herbst 2016.5
    Wird in Deutschland mittlerweile seit einigen Jahren in der Zeitgeschichte die These
eines „Strukturbruchs“ diskutiert, dessen Anfänge zu Beginn der 1970er Jahre angesie-
delt werden,6 ist dies in Italien, besonders in einer Stadt wie Turin, eine mit Händen
zu greifende Entwicklung. Die italienische Zeitgeschichte behandelt die 1970er Jahre
allerdings vor allem als Jahrzehnt politischer und kultureller Krisen und Transforma-
tionen. Der Wandel in den industriellen Beziehungen des Landes fand bisher weniger

    mirafiori-2015-cosi-il-quartiere-operaio-di-torino-riprende-vita-1.233728 (letzter Zugriff 23.1.2017).
    Eine etwas andere Vision entwirft der lokal sehr erfolgreiche Film „Mirafiori Lunapark“, in wel-
    chem drei ehemalige Arbeiter der FIAT Teile des Werkes besetzen und darin ein Karussell für
    ihre Enkelkinder errichten.
4   Karl Marx bezeichnete bereits 1871 in einem Brief an seinen Verleger Louis Kugelmann die
    Kommunarden von Paris als „Himmelsstürmer“. Dies wurde von der radikalen Linken beson-
    ders für die FIAT-Arbeiter nach den Streiks von 1969 übernommen. Der Spruch soll die Über-
    windung als objektiv gesetzter Grenzen ausdrücken, auf die die traditionellen Organisationen
    der Arbeiterbewegung stets bemüht waren zu verweisen. „Den Himmel stürmen“ ist auch der
    Titel eines Buches zur Geschichte des italienischen Operaismus, den eine intime Beziehung zu
    den FIAT-Kämpfen auszeichnete. Das Cover ziert ein Abbild euphorischer Arbeiter während
    der Besetzung der Tore von Mirafiori im März 1973. Steve Wright: Den Himmel stürmen. Eine
    Theoriegeschichte des Operaismus, Berlin/Hamburg 2005.
5   Siehe etwa den Beitrag von Stefania Animento/Giorgio Di Cesare/Cristian Sica: Total Eclipse
    of Work? Neue Protestformen in der gig economy am Beispiel des Foodora Streiks in Turin, in:
    Prokla, Nr. 187, 2017, S. 271–290.
6   Siehe dazu Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die
    Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Die Strukturbruchthese bildet ebenfalls den Ausgangs-
    punkt für die Analyse von Veränderungen in den Arbeitsbeziehungen. Siehe Knut Andresen/
    Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hrsg.): „Nach dem Strukturbruch“? Kontinuität und Wandel
    von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren, Bonn 2011.

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Boom und Streikwelle im Betrieb: zur Fragestellung                                                   9

Beachtung.7 Dabei lassen sich die diesbezüglichen Umbrüche während der stürmischen
Phase des fordistischen Booms in Italien in den 1950er und 1960er Jahren sowie im
Zuge der Krise ab den 1970er Jahren wie unter einem Brennglas untersuchen, während
sich die Entwicklung in anderen Ländern etwas weniger spektakulär vollzog. Dies gilt
noch einmal in besonderer Weise für Turin und Mirafiori, jener für Italien zugleich so
untypischen wie paradigmatischen Stadt und ihres Automobilwerkes. Untypisch, weil
Italien selbst in diesen Jahren zunehmender Unternehmenskonzentrationen in weiten
Teilen von einem regionalen Flickenteppich aus Klein- und Kleinstbetrieben geprägt
blieb. Paradigmatisch, da die Umbrüche in den industriellen Beziehungen in Turin
in besonders zugespitzter Weise hervortraten und in das gesamte Land ausstrahlten.
     Eine Untersuchung der Arbeitsverhältnisse und Arbeitskämpfe bei FIAT-Mirafiori
während der Hochphase des fordistischen Booms verspricht daher in besonderer Weise,
Einblicke in die auf Betriebsebene wirksamen Dynamiken und die dabei auftretenden
Konflikte und Widersprüche zu geben. Sie wurden schließlich auch eine wesentliche
Voraussetzung für den „Strukturbruch“ ab den 1970er Jahren, so die These dieser Arbeit.

1.1 Boom und Streikwelle im Betrieb: zur Fragestellung

In der zeithistorischen Debatte in Deutschland um den „Strukturbruch“ geht es vor
allem um eine Neubestimmung der jüngsten Vergangenheit als eigenständiger Epo-
che, mit spezifischen Charakteristiken gegenüber der gesellschaftlichen Realität frü-
herer Jahrzehnte. Stärker als in anderen geschichtswissenschaftlichen Debatten geht es
dabei auch um die Einordnung und Deutung der Gegenwart. Die Titel entsprechender
Sammelbände, wie „Vorgeschichte der Gegenwart“8 oder „Anfänge der Gegenwart“,9
machen daraus keinen Hehl. Nicht ganz zufällig nahm das Interesse gerade im Zuge

7   Siehe etwa das Vorwort von Marramao Giacome und Lussana Fiamma zu den Tagungsbänden
    eines Konferenzzyklus im Jahr 2001, L’Italia repubblicana nella crisi degli anni Settanta. Atti del
    ciclo di Convegni, Roma, novembre e dicembre 2001, Bd. 1, Catanzaro 2003, S. 11. Außerdem
    den Tagungsbericht über ein Kolloquium zur deutschen und italienischen Gewerkschaftsge-
    schichte vom 28.11. bis 1.12.2017 in der Villa Vigoni am Comer See, Rainer Fattmann: Deutsche
    und italienische Gewerkschaftsgeschichte: Transfer, Verflechtung und Aneignung – La storia del
    movimento sindacale in Germania e Italia: trasferimenti, intrecci, appropriazioni, https://www.
    hsozkult.de/searching/id/tagungsberichte-7556?title=deutsche-und-italienische-gewerkschafts-
    geschichte-transfer-verflechtung-und-aneignung-la-storia-del-movimento-sindacale-in-ger-
    mania-e-italia-trasferimenti-intrecci-appropriazioni&q=deutsche%20und%20italienische%20
    gewerkschaftsgeschichte&sort=newestPublished&fq=&total=6&recno=2&subType=fdkn (letzter
    Zugriff 26.1.2018)
8   Anselm-Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hrsg.): Vorgeschichte der
    Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016.
9   Morten Reitmayr: Die Anfänge der Gegenwart: Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom,
    München 2013.

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10                                                                                     Einleitung

 der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 stark zu. Das lange in der Zeitgeschichte
 dominierende Fortschrittsnarrativ wachsenden gesellschaftlichen Wohlstands und
 kultureller Liberalisierung im Zuge der Durchsetzung einer oft emphatisch postulier-
ten „Moderne“ schien Risse bekommen zu haben.10 Stattdessen treten sich wesentlich
 ambivalenter präsentierende sozioökonomische Veränderungen in den Fokus. In der
Debatte wird dabei ein Wandel von einer produktionszentrierten, um die Anforderun-
 gen der großen Industrie kreisenden Ökonomie hin zu einer finanzmarktdominierten
Kapitalakkumulation, mit entsprechenden Unternehmensmodellen des Shareholder
Value, und einem stark wachsenden Dienstleistungssektor ausgemacht. Dagegen hat
 die industrielle Produktion zumindest in ihren ehemaligen Kernzonen Europa, Nord-
 amerika und Japan aufgrund von Automatisierung und Auslagerungen an Bedeutung
verloren, sowohl für die Beschäftigung als auch das jeweilige Bruttosozialprodukt.11
Der Fokus liegt daher stärker auf transformativen Prozessen innerhalb entwickelter
 kapitalistischer Gesellschaften, die nicht mehr als Weg von der „Tradition“ in die
„Moderne“ beschrieben werden können. Zugleich erhalten die Veränderungen in der
Arbeitswelt größere Aufmerksamkeit und werden in einen gesamtgesellschaftlichen
Zusammenhang gestellt.12
     Die Anfänge der genannten Entwicklung werden meist in den frühen 1970er Jah-
ren verortet. Als Fixpunkt gilt das Jahr 1973, als der Ölpreisschock den unmittelba-
ren Auslöser für die erste weltweite Wirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg
 gab und damit eine lange Phase fast ungebrochener wirtschaftlicher Prosperität, den
 so bezeichneten „Boom“, beendete. Seit dieser Zeit wird eine wachsende Dynamik
 beständiger Reorganisation der Produktionsverhältnisse konstatiert, wobei eine gewisse
Unsicherheit herrscht, ob und welche Merkmale sich für eine Charakterisierung als
 eigenständige Epoche ausmachen lassen, oder ob es sich dabei immer noch um Über-
 gangsphänomene handelt. Dagegen wird die Zeit des „Booms“ als eine Phase relativ
 stabiler Produktionsbeziehungen mit entsprechenden institutionellen Einrichtungen

10   Mittlerweile wird versucht, das Konzept der Moderne unter Vermeidung seiner teleologischen
     und eurozentrischen Implikationen anzupassen. Die Stichworte sind hier „reflexive“ und „mul-
     tiple“ Moderne, die zugleich ambivalente und destruktive Potenziale enthält und nicht mehr
     nur einen westlichen Weg des Fortschritts kennt. Siehe dazu Paul Nolte: Modernization and
     Modernity in History, in: James D. Wright (Hrsg.): International Encyclopedia of the Social
     and Behavioral Sciences. Bd. 15, Amsterdam 2015, S. 700–706.
11   Siehe dazu Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Neue Einsichten und
     Erklärungsversuche, in: Dies., Vorgeschichte der Gegenwart, S. 9–36. Zumindest für Deutsch-
     land hat Stefan Krüger diesen Wandel auch für den Konjunkturverlauf nachgewiesen, der bis in
     die 1970er Jahre hinein durch einen relativ gleichmäßigen Industriezyklus geprägt gewesen ist,
     seitdem jedoch sehr viel ungleichmäßiger nach den Auf- und Abschwüngen auf den Finanzmärk-
     ten verläuft. Siehe dazu Ders.: Allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation. Konjunkturzyklus
     und langfristige Entwicklungstendenzen, Hamburg 2010.
12   Siehe dazu etwa Andresen u.a., Nach dem Strukturbruch.

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Boom und Streikwelle im Betrieb: zur Fragestellung                                               11

und kulturellen Orientierungsmustern beschrieben.13 Von der älteren Regulations-
theorie wurde dabei bereits in den 1970er Jahren der Begriff des „Fordismus“ geprägt.
Damit sollte eine bestimmte Phase kapitalistischer Entwicklung gekennzeichnet wer-
den, die vor allem durch industrielle Massenproduktion und Massenkonsum charak-
terisiert war. Dem hätten bestimmte Formen institutioneller Regulierung entsprochen,
industrielle Beziehungen unter Beteiligung der Gewerkschaften und sozialstaatliche
Absicherungen, die einen „Klassenkompromiss“ gebildet und dadurch stabile Pro-
duktionsverhältnisse garantiert hätten.14 Im Zentrum der fordistischen Ökonomie
stand die Produktion großer Serien, die sich durch die Verwendung des Fließbandes
und eine kleinteilige Zergliederung der Arbeitsabläufe auszeichnete. Als Leitindustrie,
sowohl aufgrund der ökonomischen Ausstrahlung als auch des Vorbildcharakters bei
der Produktionsorganisation und der Konsumorientierung, gilt die Automobilindus-
trie, daher die vom Namen des berühmten US-amerikanischen Autobauers entlehnte
Bezeichnung als „Fordismus“.
     Einige Prämissen der Regulationstheorie sind auf Kritik gestoßen, auch von Autoren,
die ebenfalls einem marxistisch inspirierten politökonomischen Ansatz folgen.15 Auf-
fallend ist, dass die rückblickende, aus dem Vergleich mit den Umbruchprozessen in
den 1970er Jahren vorgenommene, Charakterisierung als stabile gesellschaftliche Ord-
nung stark mit den zeitgenössischen Beobachtungen etwa in Italien kontrastiert. Pier
Paolo Pasolini beschied der sich rasant ausbreitenden Konsumgesellschaft in einem pole-
misch zugespitzten Kommentar, dass sie das Land tiefgreifender umwälze als es 20 Jahre
faschistische Diktatur vermocht hatten.16 Auch die These eines „Klassenkompromisses“,
nach der die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit am Verhandlungstisch
ausgetragen wurden, passt nicht so richtig zu den Bildern streikender Arbeiter vor den

13 Siehe dazu das Vorwort der Hrsg. in ebd., S. 12; außerdem Dieter Sauer: Permanente Reorgani-
   sation. Unsicherheit und Überforderung in der Arbeitswelt, in: Doering-Manteuffel u.a., Vor-
   geschichte der Gegenwart, S. 37–56.
14 Zur Regulationstheorie siehe Michelle Aglietta: Régulation et crises du capitalisme. L’expériences
   des Etats-Unis, Paris 1976; ders.: Ein neues Akkumulationsregime, Hamburg 2000; speziell mit
   Bezug zur Automobilindustrie Stephen Tolliday/Jonathan Zeitlin (Hrsg.): Between Fordism and
   Flexibility. The Automobile Industry and Its Workers, Oxford/New York 1992.
15 Robert Brenner und Mark Glick werfen der Regulationstheorie vor, mit dem Konzept institutio-
   neller Regulierung Wirkung mit Ursache zu verkehren. Am Ursprung des langen Booms sehen
   sie keine institutionellen Arrangements, sondern im Gegenteil, die Niederschlagung militanter
   Arbeitskämpfe nach dem Zweiten Weltkrieg. Die institutionellen Arrangements hätten sich erst
   im Verlauf des langen Aufschwunges entwickelt. Sie wurden durch ihn sowohl ermöglicht, als
   sie auch seine Verlängerung für eine bestimmte Zeit aufgrund der konjunkturunabhängigen
   Nachfrageeffekte wohlfahrtsstaatlicher Ausgaben erlaubt hätten. Robert Brenner/Mark Glick:
   The Regulation Approach: Theory and History, in: New Left Review, No. 188, 1991, S. 45–119.
16 Siehe etwa die ursprünglich 1973 im Corriere della Sera publizierte Kolumne „Alte und neue
   Kulturpolitik“, in: Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Ein-
   zelnen durch die Konsumgesellschaft, Göttingen 1988, S. 29–31.

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Dietmar Lange: Aufstand in der Fabrik

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Fabriktoren, die besonders mit der FIAT in den 1960er und 1970er Jahren verbunden
werden. Aber auch international war diese Zeit etwa im Vergleich zu der folgenden Phase
des „Strukturbruchs“ eine deutlich streikfreudigere Periode, mit erheblichen Zuspit-
zungen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre. Ernesto Screpanti ordnet sie
sogar in eine Reihe mit drei großen internationalen Streikwellen seit der weltweiten
Ausbreitung der kapitalistischen Produktionsweise Ende des 19. Jahrhunderts ein.17
    Der Zeitraum zwischen 1968 und 1974 steht so gleichberechtigt neben den sehr
turbulenten Phasen teilweise revolutionär verlaufender internationaler Klassenkämpfe
von 1869 bis 1875, mit dem Höhepunkt der Pariser Kommune und der großen Eisen-
bahnerstreiks in den USA, und 1910 bis 1920, mit dem Höhepunkt der Revolutionen
in Russland und Mitteleuropa. Die großen Streikbewegungen ab Ende der 1960er Jahre
werden wiederum mit der internationalen Protestbewegung rund um das Jahr 1968 in
Verbindung gebracht. In der historischen Forschung wurde diese Phase zunehmender
Streiks und Konflikte am Arbeitsplatz auch als „proletarischer Mai“ bezeichnet, in
Anlehnung an die Unruhen und den Generalstreik in Frankreich im Mai und Juni 1968.18
    Bereits die Zeitgenossen sahen einen Zusammenhang zwischen den Studenten-
und Jugendprotesten und den neuen Arbeitskonflikten sowie eine globale Dimension.
Auf einer internationalen Konferenz von Sozialwissenschaftlern, Gewerkschaftern und
Industrievertretern des Collège d’Europe in Brügge 1971 folgerte Jean Daniel Raynaud,
es handele sich um eine Krise der Institutionen und der Machtverteilung, die sich aus
den angestauten Widersprüchen des vorangegangenen sozioökonomischen Entwick-
lungsmodells ergeben hätte. In den Betrieben drücke sich dies in einer größeren Akti-
vität der Arbeiterbasis aus, die, über die klassischen Lohnforderungen hinaus, weitere
Ziele um die Arbeitsbedingungen artikuliere und die Kontrolle über den Produktions-
prozess in Frage zu stellen begonnen habe.19

17   Ernesto Screpanti: Long Cycles in Strike Activity: an Empirical Investigation, in: British Jour-
     nal of Industrial Relations, Vol. XXV, No. 1, 1987, S. 99–124. Screpanti sieht dabei eine Koin-
     zidenz mit den Scheitelpunkten sogenannter Kondratieffzyklen, lange Wellen wirtschaftlicher
     Auf- und Abschwungphasen von 40 bis 60 Jahren. Von der Regulationstheorie werden diese
     mit der Entwicklung und Ausbreitung unterschiedlicher Akkumulationsregimes mit jeweils spe-
     zifischen Leitindustrien und Energieträgern in Verbindung gebracht. Werden dabei bis Mitte
     des 19. Jahrhunderts Stahl- und Eisenbahnindustrie mit der Kohle als Hauptenergieträger und
     bis nach dem Ersten Weltkrieg die Chemie- und Elektroindustrie ausgemacht, ist es seit dem
     Zweiten Weltkrieg die Automobil- und Ölindustrie. Weitere statistische Untersuchungen haben
     jedoch eine starke Verzahnung von Kondratieffzyklen und Streikbewegungen wieder relativiert
     und in Frage gestellt. Siehe dazu Marcel van der Linden: Workers of the World. Essays toward
     a Global Labour History, Leiden/Boston 2008, S. 298 ff.
18   Bernd Gehrke/Gerd Rainer Horn (Hrsg.): 1968 und die Arbeiter. Studien zum „proletarischen
     Mai“ in Europa, 2. Aufl., Hamburg 2018.
19   Jean-Daniel Raynaud: Synthèse. Unité et diversité, in: Guy Spitaels (Hrsg.): Les conflits sociaux
     en europe. Grèves sauvages, contestation, rajeunissement des structures, Brügge/Verviers 1971,
     S. 189–209.

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Boom und Streikwelle im Betrieb: zur Fragestellung                                          13

    Die Herausgeber einer international vergleichenden sozialwissenschaftlichen Studie
über die europäische Streikwelle, mit dem Titel „The Resurgence of Class Conflicts in
Western Europe“, zogen 1975, auf dem Höhepunkt der seit dem Ölpreisschock 1973
ausgebrochenen weltweiten Wirtschaftskrise, ebenfalls ihr Resümee. Waren sie zunächst
von einer ähnlichen Feststellung wie Raynaud vier Jahre zuvor über eine gestiegene
Arbeitermilitanz an der Basis nach 1968 ausgegangen, so stellten sie nun fest, dass sich
in den folgenden Jahren eine Rückkehr der Institutionalisierung des Arbeitskonfliktes
gezeigt habe. Diese ginge mit einer Neuformulierung der industriellen Beziehungen
zwischen Staat, Kapital und Gewerkschaften einher und würde große soziale und
ökonomische Strukturveränderungen ausdrücken. Sie machten dabei eine gewach-
sene gesellschaftliche Bedeutung und Einflussmacht der Gewerkschaften aus, nach-
dem die teils spontan ausbrechenden Arbeitskonflikte zunächst deren institutionelle
Funktionsweise in Frage gestellt hatten. Zugleich verzeichneten sie zunehmende Aus-
einandersetzungen innerhalb und zwischen verschiedenen Gewerkschaften über ihre
neue gesellschaftliche Rolle.20
    Die Herausgeber konnten damals noch nicht wissen, dass sie sich bereits auf dem
Scheitelpunkt dieser Entwicklung befanden. Die ab Mitte der 1970er Jahre spürbar
werdende Wirtschaftskrise beschleunigte Umwälzungen in den Produktionsverhält-
nissen, welche die Dimension und den Charakter von Streiks und Arbeitskämpfen
in Europa nachhaltig veränderten. Die Streikaktivität sank bis in die 1990er Jahre auf
ein historisch niedriges Niveau. Die Streiks wandelten sich tendenziell von offensi-
ven Vorstößen der Lohnabhängigen zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen hin
zu defensiven Kämpfen gegen Entlassungen und Betriebsschließungen. Die von den
Herausgebern 1975 konstatierten Veränderungen in den industriellen Beziehungen
bildeten somit eine Momentaufnahme, deren festgehaltene Ausprägungen durch wei-
tergehende Umbrüche unterminiert werden sollten. Dies macht jedoch deutlich, dass
sich der „Strukturbruch“ ohne eine Berücksichtigung der in den vorangegangenen
Jahren des „Booms“ aufgetretenen Umbrüche und Konflikte in der Arbeitswelt nur
unzureichend verstehen lässt.
    In Europa war neben Frankreich Italien eines der Hauptzentren des „proletarischen
Mai“. Anders als im Nachbarland entlud sich dieser jedoch weniger in einer großen
Explosion, die dann schnell wieder abebbte. Vielmehr läuteten die Arbeitskämpfe,
die 1968/69 in den norditalienischen Großbetrieben ausbrachen, eine Phase beson-
ders intensiver industrieller Konflikte in den folgenden Jahren ein, die oft über den
Rahmen gewerkschaftlich organisierter Auseinandersetzungen hinausgingen und die

20   Alessandro Pizzorno: Preface, in: Colin Crouch/Alessandro Pizzorno (Hrsg.): The Resurgence
     of Class Conflict in Western Europe since 1968, Bd. 2, Comparative Analyses, London 1978,
     S. ix-xii.

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industriellen Beziehungen des Landes nachhaltig erschütterten.21 Sie koinzidierten mit
einer Phase besonders intensiver sozialer Spannungen und prägten diese. Im Rahmen
der internationalen Streikwelle nimmt Italien daher eine herausgehobene Position ein.
In Italien war es wiederum die größte Automobilfabrik, FIAT-Mirafiori in Turin, die
sich durch eine besondere Heftigkeit und Radikalität der Arbeitskonflikte, aber auch
eine besondere Experimentierfreude mit neuen Organisationsformen am Arbeitsplatz
auszeichnete.
    Der Ebene des Betriebes kam in dieser Zeit heftiger sozialer Konflikte länderüber-
greifend eine große Aufmerksamkeit zu. Die Gewerkschaften hatten bereits zu Beginn
der 1960er Jahre begonnen, mit betriebsnahen Formen der Tarifpolitik zu experimen-
tieren, um eine angemessene Antwort auf die Probleme und Unruhen am Arbeitsplatz
zu finden. Aber auch Teile der aus der Studentenbewegung hervorgegangenen außer-
parlamentarischen Linken begannen sich der Fabrik, als dem Ort, von dem aus die
gesamte Gesellschaft verändert werden könne, zuzuwenden.22 Besonders die Auseinan-
dersetzungen bei Mirafiori erzeugten dabei eine breite gesellschaftliche Resonanz. Sie
wurden zum Bezugspunkt sowohl für ein gewandeltes Selbstverständnis der un- und
angelernten Arbeiter an den Montagebändern und der mit ihnen verwobenen sozialen
Milieus als auch für Aushandlungs- und Veränderungsprozesse innerhalb der Gewerk-
schaften und der industriellen Beziehungen mit Staat und Unternehmern. Auch die
Gruppen der radikalen Linken und der Nachfolgeorganisationen aus der Studenten-
bewegung bezogen sich in besonderer Weise auf das FIAT-Werk, wurden die Ausei-
nandersetzungen hier doch als Musterbeispiel für die Rebellion des „Massenarbeiters“
angesehen. Die Vorgänge bei der FIAT wurden dabei auch außerhalb Italiens von vielen
verfolgt. So sahen Linke in Deutschland und Großbritannien in den FIAT-Streiks ein
Laboratorium des Klassenkampfs und ein Experimentierfeld sowohl für neue organisa-
torische Ansätze der Betriebsdemokratie als auch für Interventionsformen der radika-
len Linken, aus denen Lehren für die eigene Praxis gezogen wurden.23 Bis heute steht
FIAT-Mirafiori daher symbolisch für den „proletarischen Mai“ in Italien.
    Bereits Screpanti hatte am Ende seiner statistischen Untersuchung festgehalten, dass
eine Analyse und ein Vergleich quantitativer Daten keine ausreichende Erklärung für

21 Wobei das Überschreiten institutioneller Grenzen kein Alleinstellungsmerkmal Italiens in dieser
   Zeit ist. Selbst in der als besonders befriedet geltenden Bundesrepublik gab es mehrere Wellen
   wilder Streiks, die nicht von den Gewerkschaften organisiert wurden. Siehe dazu Peter Birke:
   Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen
   in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt/Main 2007.
22 Dies gilt für diese Zeit auch für Deutschland. Siehe dazu Timo Luks: Heimat – Umwelt –
   Gemeinschaft. Diskurse um den Industriebetrieb im 20. Jahrhundert, in: Knud Andresen u.a.
   (Hrsg.): Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den
   Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn 2015, S. 73–95.
23 Siehe zum Beispiel Wolfgang Rieland (Hrsg.): FIAT-Streiks. Massenkampf und Organisations-
   frage, München 1970.

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Methodisches Vorgehen und theoretische Grundlagen                                                      15

das Phänomen der Streikwellen liefern kann: „A more profound investigation might
show that the three big international strike waves occurring in 1869–75, 1910–20,
1968–74, are only a feeble shadow of historical events that constitute three milestones
in the evolution of the modern working class.“24
    Die vorliegende Arbeit hat es sich daher zum Ziel gesetzt, zu einer solchen histori-
schen Analyse der Streikwelle der 1960er und 1970er Jahre beizutragen. Als statistisches
Faktum war sie zwar international, die unmittelbaren Konflikte selbst fanden jedoch
lokal in spezifischen Kontexten statt, auch wenn sich teilweise aufeinander bezogen
wurde. Da der industrielle Großbetrieb, insbesondere in der Automobilindustrie, dabei
im Zentrum der Auseinandersetzungen und auch der Diskurse über gesellschaftliche
Veränderung stand, ist die Untersuchung als Betriebsstudie angelegt. Hierfür wurde
FIAT-Mirafiori gewählt, aufgrund seiner zentralen Rolle für bestimmte Ausdrucksfor-
men der Arbeitskämpfe und deren Rezeption, aber auch aufgrund der Quellendichte,
die eine Analyse en détail ansonsten eher verborgen bleibender Vorgänge in den Werk-
stätten und Abteilungen ermöglicht. Da die Streikbewegungen ab 1968/69 in Italien
eine längere Vorgeschichte hatten, wird die Untersuchung auf die frühen 1960er Jahre,
die bereits erste Unruhen am Arbeitsplatz und Experimente mit betriebsnaher Tarif-
politik kannten, ausgedehnt. Sie erstreckt sich daher auf die Jahre 1962 bis 1973, als
der fordistische Boom in Italien seinen Höhepunkt erreichte. Untersucht werden die
Wechselwirkung von Arbeitsverhältnissen, Arbeitskämpfen und den sozialen Bezie-
hungen im Betrieb. Geleitet wird die Untersuchung von der Frage nach der Rolle der
betrieblichen Vorgänge bei der Transformation der Produktionsverhältnisse im Zuge
von Boom und Strukturbruch. Eine damit zusammenhängende Frage ist die nach dem
Verhältnis dieser Vorgänge zu den Strategien und Diskursen innerhalb der Gewerk-
schaften und der außerparlamentarischen Linken. Die Arbeit ist daher auch der Ver-
such einer Vermittlung von Ideen- mit Sozialgeschichte.

1.2 Methodisches Vorgehen und theoretische Grundlagen

Die beschriebene Fragestellung erfordert einen multiperspektivischen betriebsbezogenen
Ansatz. Die Synthese verschiedener Perspektiven und methodischer Herangehensweisen
wird mittlerweile in der Geschichte der Arbeit sowohl in Italien als auch in Deutsch-
land gefordert.25 Dabei sollen die innovativen Potenziale älterer Ansätze aufgenommen
und zugleich in der Vergangenheit aufgetretene Vereinseitigungen vermieden werden.

24   Screpanti, Long Cycles, S. 111.
25   Die Bezeichnung als Geschichte der Arbeiterbewegung oder Arbeitergeschichte wird zunehmend
     durch die der angelsächsischen Labour History entlehnte Geschichte der Arbeit bzw. Storia del
     Lavoro ersetzt. Zu deren Historiographie in Italien siehe Stefano Musso: La storia del lavoro dalla
     crisi al rilancio, in: Ariella Verrocchio/Elizabetta Vezzosi: Il lavoro cambia, Triest 2013, S. 23–37;

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    Von besonderer Bedeutung ist die Labour Process Debate, die seit den 1970er Jahren
in der angelsächsischen Industriesoziologie einigen Einfluss erlangt hat, und die von
der Thematisierung der Arbeitsverhältnisse im kapitalistischen Produktionsprozess aus-
geht. Eine spezifisch kapitalistische Charakteristik bei der Aneignung fremder Arbeit
wird darin gesehen, dass dies über den Markt vermittelt geschieht.26 Der kapitalisti-
sche Unternehmer kauft dort jedoch nicht die Arbeit oder den Arbeiter selbst als Ware,
sondern die Arbeitskraft, eine Disposition zur Arbeit für eine festgelegte Zeitspanne.
Um produktiv im Sinne kapitalistischer Verwertung sein zu können, das heißt, um
einen Mehrwert über die verausgabten Investitionen für Produktionsmittel und Löhne
hinaus erzeugen zu können, muss diese Disposition in eine Arbeitsleistung verwandelt
werden, und zwar jeden Tag aufs Neue. Die Herausforderung und das größte Problem
für den Unternehmer bestehen darin, dass sein Interesse, das Arbeitsvermögen mög-
lichst umfassend anzuwenden und daraus den größten Nutzeffekt zu ziehen, mit dem
Umstand kontrastiert, dass die Arbeitskraft selbst nicht von der Person des Arbeiters
getrennt und wie eine Maschine oder ein Werkzeug gesteuert werden kann. Da das
Produkt seiner Arbeit dem Arbeiter nicht gehört, hat dieser kein Interesse an einer
größtmöglichen Arbeitsleistung. Er ist viel mehr daran interessiert, seine Arbeitsfähig-
keit zu erhalten und sich daher zu schonen. Hieraus ergibt sich ein Interessengegen-
satz zwischen Kapital und Arbeit im Produktionsprozess, der für die Theoretiker der
Labour Process Debate die Notwendigkeit für den Unternehmer begründet, auch die
Verantwortung für den Arbeitsprozess selbst zu übernehmen.27 Insbesondere Harry
Braverman, der die Labour Process Debate in den 1970er Jahren initiierte, sieht dabei
eine Tendenz zur Ausweitung von Überwachung und Kontrolle durch das Manage-
ment. Diese geht einher mit einer Aufteilung in Planung und Ausführung der Arbeit
und einer immer feingliedrigeren Zerteilung der einzelnen Arbeitsschritte, was zu einer
fortschreitenden Dequalifizierung der Arbeiter führt. Der Taylorismus, der dies gegen
Ende des 19. Jahrhunderts zum Programm einer „wissenschaftlichen Betriebsführung“
erhob, gilt ihm dabei als „die ausdrückliche Formulierung der kapitalistischen Pro-
duktionsweise selbst“.28

     für Deutschland siehe Winfried Süß/Dietmar Süß: Zeitgeschichte der Arbeit: Beobachtungen
     und Perspektiven, in: Andresen u.a., „Nach dem Strukturbruch?“, S. 345–365.
26   In neueren Forschungen aus dem Bereich der Global Labour History wird jedoch das Zusammen-
     wirken verschiedener Arbeitsformen, sowohl freier als auch unfreier Arbeit, auf dem Weltmarkt
     untersucht und die Zentralität der freien Lohnarbeit für den globalen Kapitalismus dabei zum
     Teil bestritten. Siehe dazu van der Linden, Workers of the World, S. 32 f.; Lutz Raphael: Arbeit
     im Kapitalismus, in: Arbeit-Bewegung-Geschichte, 1/2020, S. 7–25.
27   Siehe dazu Harry Braverman: Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß, Frankfurt/Main 1985,
     S. 45 ff.
28   Ebd., S. 74. Die späteren Ansätze einer Betriebspsychologie oder der Human Relations sieht Bra-
     verman im Gegensatz zu seinen Nachfolgern hingegen nur noch als Maßnahmen zur Anpassung

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Methodisches Vorgehen und theoretische Grundlagen                                                    17

    Spätere Theoretiker hoben jedoch stärker die Rolle von Methoden hervor, die darauf
abzielen, den Konsens der Arbeiter im Arbeitsprozess zu erzeugen. Außerdem wurde eine
einseitige Zunahme von Kontrolle zurückgewiesen und dagegen die Rolle von Arbei-
terwiderstand betont, an die sich die Unternehmer immer wieder anpassen müssten.
Andrew L. Friedman unterscheidet zwischen offenen Formen des Widerstandes, wie
dem Streik, und verdeckten, die von der Nichtbefolgung von Anordnungen und dem
Aufstellen eigener Regeln bis zu Sabotage, Absentismus und hoher Fluktuation reichen.29
    Diese Probleme des Umgangs mit der humanen Dimension der Ware Arbeitskraft
bilden den Ausgangspunkt der verschiedenen Managementschulen, von Taylors „wis-
senschaftlicher Betriebsführung“ bis zum Human Relations-Ansatz, der vorgibt, auch
die individuellen Motive der Arbeiter zu berücksichtigen. Sie spiegeln zwei mögliche
Reaktionen auf die Subjektivität der Arbeitskraft durch das Management wider. Die
erste versucht ihren Einfluss auf den Arbeitsprozess durch Kontrolle und Überwachung
einzuschränken, die zweite sie für den Verwertungszweck des Kapitals einzuspannen
und nutzbar zu machen. In welchem Maße beide Methoden letztlich angewandt wur-
den und mit welchen Effekten, muss jedoch in der konkreten Untersuchung geklärt
werden. Karsten Uhl bemerkt hierzu, dass trotz der zahlreichen Arbeiten zu Entstehung
und Entwicklung der Managementlehren konkrete Fallstudien zu ihrer Umsetzung im
Betrieb immer noch rar sind.30
    Ähnlich wie die Labour Process Debate hob auch der italienische Operaismus die
Rolle des Klassenkampfes und des Arbeiterwiderstands für Anpassungsbemühungen
und Umstrukturierungsprozesse des Kapitals hervor. Auch hier war der Ausgangspunkt
eine Untersuchung der Arbeitsverhältnisse in der Fabrik. Die Operaisten gingen jedoch
weiter. Sie kritisierten zugleich die Gleichsetzung von Arbeiterklasse und Organisation,
die zu einer Unterordnung des Klassenkampfes unter die politischen Vorgaben von
Partei und Gewerkschaft führe. Sie verfochten hingegen das Konzept der „Arbeiterauto-
nomie“, das als Autonomie der Arbeitskämpfe sowohl von den Vorgaben der politischen
Arbeiterbewegung als auch von der Rationalität des Kapitals verstanden wurde.31 Einen
Schlüsselbegriff der operaistischen Theorie bildet die „Klassen(neu)zusammensetzung“,
verstanden zunächst als „technische Zusammensetzung“, in welcher das Kapital die

     der Arbeiter an den nach tayloristischen Grundsätzen gestalteten Produktionsprozess. Ihre
     Praktiker gelten ihm als „Wartungsmannschaft für die menschliche Maschinerie“, ebd., S. 75.
29   Andrew L. Friedman: Industry and Labour. Class Struggle at Work and Monopoly Capitalism,
     London 1982, S. 45 ff.
30   Karsten Uhl: Der Faktor Mensch und das Management: Führungsstile und Machtbeziehungen im
     industriellen Betrieb des 20. Jahrhunderts, in: Neue Politische Literatur, Jg. 55, 2010, S. 233–254.
31   Einer ihrer Vordenker, Mario Tronti, forderte 1964 eine Umkehrung der Perspektive, von einer
     Untersuchung der Bewegungsgesetze des Kapitals, wie sie im „Kapital“ von Karl Marx dargelegt
     werden, zu einer Analyse der Bewegung der Arbeitskraft, auf die die Rationalisierungsschübe
     des Kapitals nur eine Antwort seien. Mario Tronti: Arbeiter und Kapital, Frankfurt/Main 1971,
     S. 89.

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Arbeiter im Produktionsprozess zusammenbringt, und der „politischen Zusammen-
setzung“. Letztere gründet auf der „technischen Zusammensetzung“ und entsteht im
Arbeitskampf. Sie beschreibt die Konstituierung der Arbeiter und Arbeiterinnen als
kämpfende Bewegung. Klassenbewusstsein war für die Operaisten daher vor allem
ein Ergebnis von Kämpfen und keine Sammlung politischer Weltanschauungen. Auf
dieser Grundlage wurden in der Analyse kollektive proletarische Figuren konstruiert,
mit spezifischen Verhaltensweisen, Bedürfnissen und Widerstandsformen. Besondere
Bedeutung gewann hierbei die Figur des „Massenarbeiters“, die un- und angelernten
Arbeiter und Arbeiterinnen an den Montagebändern der nach tayloristischen und for-
distischen Prinzipien organisierten Produktion großer Serien, die oftmals zudem einen
Migrationshintergrund besaßen. Sie wurden in Gegensatz zu den lokal verankerten,
von Berufsstolz geprägten Facharbeitern, den eigentlichen Stützen der historischen
Arbeiterorganisationen, gestellt.32 Eine empathische Bezugnahme auf die „Arbeiter-
autonomie“ und oftmals mechanistische Ableitungen des Arbeiterverhaltens aus der
Stellung im Produktionsprozess tendierten jedoch zur Hypostasierung solcher kollek-
tiver proletarischer Figuren sowie der in diese eingeschriebenen Bewusstseinsformen
und Widerstandspotenziale. Dem entspricht in einigen Darstellungen eine Reduktion
oft vielfach vermittelter gesellschaftlicher Beziehungen und Widersprüche auf einen
fast schon manichäisch anmutenden Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit.
    Dennoch haben sowohl Operaismus wie auch die Labour Process Debate einige wert-
volle Ansätze geliefert, um Stellung und Disposition der Arbeiter am Arbeitsplatz im
Betrieb zu untersuchen und damit die Ausgangsbedingungen für kollektive Aktionen
im Produktionsprozess. Ein zentrales Problem bleibt jedoch das der Konstituierung der
zunächst dem Unternehmer auf dem Markt individuell gegenübertretenden Arbeits-
kraftbesitzer zum kollektiv handelnden Akteur, zur Klasse. Es geht dabei um die Frage,
wie und warum kooperative Handlungen im Produktionsprozess, auf die dieser immer
angewiesen ist, in Widerstand und Arbeitsverweigerung umschlagen.
    Dabei ist es hilfreich, auf weitere Ansätze, die aus dem Umfeld einer „militanten“
Geschichtsschreibung in den 1970er Jahren entstanden sind, zurückzugreifen. Besonders
einflussreich war die Revision der marxistischen Klassentheorie durch E. P. Thompson

32 Zur Geschichtsschreibung des Operaismus siehe Steve Wright: Den Himmel stürmen. Eine
   Theoriegeschichte des Operaismus, Berlin/Hamburg 2005, S. 190 ff. Auch in der Bundesrepublik
   entwickelte sich daran angelehnt eine Geschichtsschreibung der „‚anderen‘ Arbeiterbewegung“,
   die als Quelle mal offener, mal untergründiger Rebellion sowohl gegen die kapitalistische Arbeits-
   organisation als auch die Vertretungsansprüche von Parteien und Gewerkschaften ausgemacht
   wurde. Siehe dazu Karl-Heinz Roth/Elisabeth Behrens: Die „andere“ Arbeiterbewegung und die
   Entwicklung der kapitalistischen Repression von 1880 bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zum Neu-
   verständnis der Klassengeschichte in Deutschland, München 1974. Zur Debatte um die These
   der „anderen“ Arbeiterbewegung siehe Willi Bergmann/Thomas Janssen/Jürgen Klein (Hrsg.):
   Autonomie im Arbeiterkampf. Beiträge zum Kampf gegen die Fabrikgesellschaft, Hamburg/
   München 1978.

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in England. Die Bildung von Klassen und eines entsprechenden Bewusstseins wurde als
Resultat einer relationalen, interaktiven, sozialen Praxis untersucht und eine unmittel-
bare Ableitung aus sozioökonomischen Lagen als Schematismus kritisiert. Im Vorder-
grund stand daher nicht mehr eine zum kollektiven Übersubjekt stilisierte homogene
Klasse, sondern konkrete historische Akteure, die gleichermaßen Subjekt und Objekt
ihrer Geschichte sind. „[C]lass happens“, wie Thompson schreibt, „when some men,
as a result of common experiences (inherited or shared), feel and articulate the iden-
tity of their interests as between themselves, and as against other men whose interests
are different from (and usually opposed to) theirs.“ Klasse wird somit als ein relatio-
nales Verhältnis verstanden, welches sich aus dem Interessengegensatz zu einer ande-
ren gesellschaftlichen Klasse ergibt. Zwar geschieht dies auch bei Thompson auf dem
Boden vorgefundener historischer Produktionsverhältnisse, die Bildung von Klassen-
bewusstsein vollzieht sich dennoch kulturell vermittelt und erfolgt nicht gesetzmäßig.

   The class experience is largely determined by the productive relations into which men are
   born—or enter involuntarily. Class-consciousness is the way in which these experiences are
   handled in cultural terms: embodied in traditions, value-systems, ideas, and institutional
   forms. If the experience appears as determined, class-consciousness does not. We can see a
   logic in the responses of similar occupational groups undergoing similar experiences, but
   we cannot predicate any law. Consciousness of class arises in the same way in different times
   and places, but never in just the same way.33

Neben der Stellung im Produktionsprozess sind dabei auch weitere soziale Beziehungen
und Konflikte von Bedeutung: Geschlechterrollen oder religiöse Zugehörigkeiten und
regionale Herkunft. Wie Étienne Balibar dies in Anlehnung an Thompson ausdrückt,
existieren solche gesellschaftlichen Verhältnisse nicht neben dem Klassenverhältnis,
sondern gehen durch dieses hindurch und sind eng mit ihm verflochten.34
    Oskar Negt und Alexander Kluge analysieren schließlich die Bedingungen für
die Entwicklung eines antagonistischen Klassenbewusstseins in den Industriegesell-
schaften der Nachkriegszeit in ihrem Buch „Öffentlichkeit und Erfahrung“ von 1972.
Sie definieren Öffentlichkeit als Organisationsform kollektiv-gesellschaftlicher Erfah-
rung, die damit auch sinn- und identitätsstiftend wirkt. Sie untersuchen sowohl die

33 Aus dem Vorwort von E. P. Thompson: The Making of the English Working Class, Middle-
   sex 1968, S. 10.
34 Siehe dazu Étienne Balibar: Vom Klassenkampf zum Kampf ohne Klassen?, in: Ders./Immanuel
   Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Berlin 1990, S. 190–224. Balibar, der
   einem strukturalistischen Marxismus althusserscher Prägung nahestand, geht in diesem Aufsatz
   sowohl im Titel als auch inhaltlich auf dessen einstigen scharfen Kritiker Edward P. Thompson
   ein. Den eigentlichen Gegensatz sieht er dabei nicht mehr in einem strukturalistischen Ansatz
   und dessen Gegnern, sondern in einer teleologischen Konzeption des Marxismus und der Klas-
   sentheorie sowie einer offenen.

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Produktionsbedingungen und -apparate „bürgerlicher“ Öffentlichkeit, wie vor allem
die modernen Massenmedien, als auch die Grundzüge „proletarischer“ Öffentlichkeit,
die sie als eine Art Gegenöffentlichkeit zur bürgerlichen ausmachen. Sie ist dabei nicht
identisch mit den Arbeiterorganisationen und entsteht meistens nur vorübergehend in
Momenten des Bruchs. Ist die klassische bürgerliche Öffentlichkeit dadurch charakte-
risiert, dass sie wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens als „private“ Bereiche
ausblendet, wie die Vorgänge im Betrieb oder der Familie, machen sie mit der Heraus-
bildung der großen Industrie die Entstehung neuer industrialisierter „Produktionsöf-
fentlichkeiten“ aus. Hierzu zählen sie die „Bewußtseins- und Programmindustrien“35,
die Werbung als auch die Öffentlichkeitsarbeit der Konzerne und Verwaltungsapparate.
Die Produktionsöffentlichkeit setzt direkt an den Interessen im Produktionsbereich
an und bezieht diesen daher mit ein. In Teilen findet dabei auch die Lebensrealität der
Arbeiter Eingang, allerdings nur insofern sie zur Legitimierung der dort dominieren-
den Unternehmensinteressen dient. Die Produktionsöffentlichkeit ist daher charak-
terisiert durch „ein Hin- und Herschwanken zwischen Ausgrenzung und verstärkter
Einbeziehung: nicht legitimierbare faktische Verhältnisse verfallen produzierter Nicht-
Öffentlichkeit; an sich nicht legitimierbare Machtverhältnisse im Produktionsprozeß
werden mit legitimierten Interessen der Allgemeinheit aufgeladen und erscheinen so
in einem Legitimationszusammenhang“.36
     Proletarische Öffentlichkeit wird dagegen bestimmt als eine Öffentlichkeit, die
den gesamten Lebenszusammenhang der Arbeiter und Arbeiterinnen einbezieht, der
sowohl in der klassischen bürgerlichen wie der neuen Produktionsöffentlichkeit blo-
ckiert wird und nur zerrissen in diese Eingang findet. Sie entsteht zumeist in gesell-
schaftlichen Krisenzeiten oder während großer Streikbewegungen, zu deren Voraus-
setzung sie zugleich wird.

     Da sie als herrschende Öffentlichkeit nicht existiert, muß man sie aus diesen Brüchen,
     Grenzfällen, punktuellen Ansätzen rekonstruieren. (…) Sie ist ein in (der empirischen)
     Arbeiteröffentlichkeit, die gleichzeitig bürgerliche Strukturen hat, wirksamer Prozeß. Prole-
     tarische Öffentlichkeit und der hier zugrunde liegende Begriff organisierter gesellschaftlicher
     Erfahrung sind auf weite Strecken mit dem identisch, was in der marxistischen Tradition
     Klassenbewußtsein und Klassenkampf heißt.37

Für die Untersuchung der Streikbewegungen bei der FIAT werden daher sowohl die
von dem Unternehmen hergestellte Produktionsöffentlichkeit als auch die Heraus-
bildung und die Formen einer proletarischen (Gegen-)Öffentlichkeit untersucht, die

35 Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanaylse von
   bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt/Main 1972, S. 12.
36 Ebd., S. 38.
37 Ebd., S. 8 und S. 66, FN 49.

                              © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln
                     ISBN Print: 9783412520786 — ISBN E-Book: 9783412520793
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