Augen auf bei kalten Händen - Ophthalmologie - Rosenfluh Publikationen AG

 
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SUMMER SCHOOL

Ophthalmologie

Augen auf bei kalten Händen

         Das Glaukom ist weltweit die häufigste irreversible Erblindungsursache. Gesichtsfeldausfälle werden
         aufgrund der Kompensation durch das andere Auge und weitere Adaptationsmechanismen häufig erst
         spät bemerkt. Bei Patienten mit Normaldruckglaukom ist das Flammer-Syndrom häufig, das unter
         anderem durch kalte Hände und Füsse bei sportlichen, schlanken Personen auffällt.

                                                                                         Issa Rasheed Fetian, Isabelle Fuss, Asan Kochkorov

         Die 61-jährige Patientin stellte sich für eine Routinekontrolle in   nung der Nervenfasernschichtdicke (retinal nerve fiber layer,
         unserer Praxis vor. Bei der Begrüssung mit Händedruck fielen         RNFL) links (Abbildung 1).
         kalte Hände auf. Auf Nachfrage sagte die Patientin, sie habe         Zur internistischen Ergänzung der Diagnostik erfolgte eine
         schon immer kalte Hände und Füsse gehabt, sogar im Sommer.           24-Stunden-Blutdruckmessung, welche tief normale Werte
         Der Blutdruck sei immer tief. Sie klagte über Migräne, es be-        in der Aktivphase zeigte (109/71 mmHg), in der Ruhephase
         stand eine behandelte Dyslipidämie, und die Familienana-             jedoch ein extremes nächtliches Dipping (Ruhephase:
         mnese bezüglich Glaukom war unauffällig. Die Patientin war           88/42 mmHg, Senkung in Ruhephase 19% systolisch und
         sportlich aktiv und erfolgreich in ihrem beruflichen Leben.          41% diastolisch) (Abbildung 2).
         Sehstörungen oder andere Augensymptome wurden verneint.              Aufgrund der augenärztlichen Befunde, der grenzwertigen
         Der somatische Status war unauffällig, der Blutdruck betrug          arteriellen Hypotonie mit extremem nächtlichen Dipping und
         115/70 mmHg, der Body-Mass-Index 21,6 kg/m2.                         eines klinisch sowie anamnestisch bestehenden Flammer-
         Aufgrund der anamnestischen und klinischen Hinweise auf              Syndroms konnte der verminderte okuläre Perfusionsdruck
         ein Flammer-Syndrom (s. unten) erfolgte eine augenärztliche          als Ursache des beginnenden Normaldruckglaukoms eruiert
         Untersuchung.                                                        werden.
         Diese ergab ein beginnendes Normaldruckglaukom beider                Daraufhin wurde vom Ophthalmologen zur Blutdrucksteige-
         Augen (Augendruck beidseits 11 mmHg). Es zeigten sich                rung eine systemische Mineralokortikoidtherapie mit Flu-
         beidseits diskrete Hinweise für Gesichtsfeldausfälle wie er-         drocortisonacetat 0,1 mg (Florinef®) 3-mal wöchentlich be-
         höhte MD (mittlere Defekttiefe) sowie Graustufendefekte im           gonnen, und 2-mal täglich Magnesium 10 mmol (Magnesio-
         Bjerrum-Bereich. Die optische Kohärenztomografiemessung              card®) wurde zur Verbesserung der Durchblutungsregulation
         (OCT) ergab einen grenzwertig schmalen Rand der Papillen             verordnet.
         (minimum rim width, MRW) beidseits sowie eine Verdün-                Drei Monate nach Therapiebeginn war der Blutdruck in der
                                                                              Aktivphase normal (128/81 mmHg). Es bestand weiterhin

      MERKSÄTZE                                                               ein extremes Dipping, mit jedoch insgesamt höheren nächt-
                                                                              lichen Werten (101/53 mmHg, Senkung in Ruhephase 21%
                                                                              systolisch und 35% diastolisch) (Abbildung 3).
 � Das Glaukom ist die häufigste Ursache der irreversiblen
   Blindheit weltweit und kann bei rechtzeitiger Entdeckung be-
   handelt werden. Patienten bemerken die sich langsam ent-                   Erblindungsursache Glaukom
                                                                              Unter dem Begriff Glaukom wird eine Gruppe von Augen-
   wickelnden Gesichtsfeldausfälle häufig erst sehr spät.
                                                                              erkrankungen zusammengefasst, welche zu einer progredien-
 � Neben dem erhöhten Augendruck (60%) spielt auch die                        ten und irreversiblen Schädigung des Nervus opticus führen
   Durchblutung des Sehnervs eine wichtige Rolle.                             (glaukomatöse Optikusneuropathie, GON). Die dadurch
 � Die Diagnose Flammer-Syndrom kann gestellt werden, wenn                    entstehenden Gesichtsfeldausfälle werden aufgrund der
   eine primäre vaskuläre Dysregulation sowie gelistete Fakto-                Kompensation durch das andere Auge und weitere Adapta-
   ren gemeinsam auftreten.                                                   tionsmechanismen durch Patienten häufig erst sehr spät be-
                                                                              merkt. In diesem fortgeschrittenen Stadium ist eine Behand-
 � Das Flammer-Syndrom hat häufig keinen Krankheitswert,                      lung kaum noch möglich. Das Glaukom ist weltweit die
   kann jedoch aufgrund lokaler Minderperfusion, die zeitweise                häufigste irreversible Erblindungsursache (1).
   auftritt, zu Organschäden führen.                                          Man unterscheidet zwischen Glaukom bei erhöhtem Augen-
                                                                              druck und Normaldruckglaukom sowie zwischen Offenwin-

450      ARS MEDICI 14–16 | 2020
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Abbildung 1: Optische Kohärenztomografiemessung (OCT); grenzwertig schmaler Rand der Papillen (minimum rim width, MRW)
beidseits sowie verdünnte Nervenfasernschichtdicke (retinal nerve fiber layer, RNFL) links (Aufnahmen: Augenzentrum Brugg)

                                                                                                                                         kel- und Engwinkelglaukom. Das seltenere Engwinkelglau-
                                                                                                                                         kom kann sich mit einem akuten schmerzhaften Glaukom-
                                                                                                                                         anfall bemerkbar machen, der einen ophthalmologischen
                                                                                                                                         Notfall darstellt.
                                                                                                                                         Als ein Entstehungsmechanismus des Glaukoms wird ein
                                                                                                                                         Missverhältnis von Augeninnendruck und Durchblutung des
                                                                                                                                         Sehnervs angesehen (2), weshalb die Verbesserung der
                                                                                                                                         Durchblutungsregulation insbesondere bei Normaldruck-
                                                                                                                                         glaukom eine wichtige Rolle spielt. Therapiestrategien sind
                      ABD-Report
       Altgasse 68 6341 Baar Switzerland
                                                                                                                                         die Regulation des Augendrucks mit medikamentösen und
Abbildung    2: Verlauf der Blutdruckwerte in der 24-Stunden-Messung
                                                                 Abb. 2                                                                  interventionellen Massnahmen sowie die Verbesserung der
vor der Behandlung; Ruhephase (grau) sys./dia. 88/42 mmHg
                                                                                                                                         Durchblutung (inkl. Blutdruckregulation).
(ABD-Report Schiller AG, Baar)
                                                                                                                                         Durch rechtzeitiges Veranlassen einer augenärztlichen Unter-
  Patientenname: Katharina Hartmann                                                     Aufnahme Datum : 03.04.2019
  Patienten-Nr.: 6096                                                                   Fall Nr:
                                                                                                                                         suchung bei Vorhandensein von Risikofaktoren kann einer
                                                                                                                                         Progression mit möglicher Erblindung vorgebeugt werden.
   [mmHg] 180
             160

                                                                                                                                         Flammer-Syndrom
             140
   SYS 120                                                                                                                         SYS
             100
   DIA
              80
                                                                                                                                   DIA   Das Flammer-Syndrom ist nach Prof. Josef Flammer be-
              60
              40
              20
                                                                                                                                         nannt, der bis 2013 Chefarzt der Augenklinik am Universi-
   [bpm] 110
              90
                                                                                                                                         tätsspital Basel war. Ihm fiel bereits als Assistenzarzt die er-
   HF                                                                                                                              HF
              70
              50
                                                                                                                                         höhte Inzidenz der vaskulären Dysregulation bei Glaukom-
     Zeit [h]:       15 16 17 18 19 20 21 22 23              0     1   2    3       4     5   6       7    8    9   10   11              patienten auf (3, 4).
  Zusammenfassung                                                                                                                        Das Flammer-Syndrom bezeichnet das gleichzeitige Auftre-
Abbildung         3:Standardwerten
  Basierend auf den   Verlauflegtder       Blutdruckwerte
                                      der ABD  nahe:              in der 24-Stunden-Messung
                                                                                        Abb. 3                                           ten einer primären vaskulären Dysregulation mit klinischen
  - 24 Std. SYS normal (119 mmHg) und DIA optimal (72 mmHg)
nach    der
  - AktivphaseBehandlung;            Ruhephase
               SYS und DIA normal (128/81 mmHg)
  - Ruhephase SYS und DIA optimal (101/53 mmHg)
                                                         (grau)  sys./dia. 101/53 mmHg                                                   Auswirkungen der Durchblutungsstörung sowie weiteren
(ABD-Report             Schiller AG, Baar)
  - Senkung in Ruhephase ist 21% SYS und 35% DIA, Extrem-Dipping
                                                                                                                                         typischen Faktoren. Bei der primären vaskulären Dysregula-
   Phase                   Zeit            Messungen    Mittel SYS     Mittel DIA         Mittel HF       BD-Last SYS BD-Last DIA
                                                         [mmHg]        [mmHg]              [bpm]              [%]         [%]
                                                         (+/- SD)      (+/- SD)           (+/- SD)
   Gesamt          14:31 - 11:30 (20:59)      26        119 (22.2)     72 (25.6)          75 (10.2)            26             15
   Aktivphase
   Ruhephase       ARS MEDICI 14–16
                       07:00-22:00
                       22:00-07:009 | 2020
                                 17    128 (21.5)
                                        101 (7.8)
                                                                       81 (26.2)
                                                                       53 (10.0)
                                                                                          79 (10.6)
                                                                                          68 (3.6)
                                                                                                               29
                                                                                                               0
                                                                                                                              18
                                                                                                                              0                                                                     451
   Senkung Ruhephase SYS 21 %              Smoothness-Index             0.80
   Senkung Ruhephase DIA 35 %              Morgendlicher Anstieg       33.00
Augen auf bei kalten Händen - Ophthalmologie - Rosenfluh Publikationen AG
SUMMER SCHOOL

      Abbildung 4: Zwei Gruppen vaskulärer Dysfunktionen tragen zum Glaukom bei. Links: erhöhtes Risiko für ein
      Normaldruckglaukom (NTG); rechts: erhöhtes Risiko für ein Hochdruckglaukom (HTG); Abdruck mit freundlicher
      Genehmigung von Frau Dr. med. Katarzyna Konieczka, Augenklinik Universitätsspital Basel, und des Biermann
      Verlags, Köln (6).

      tion findet sich im Gegensatz zur sekundären vaskulären            druckglaukom. Beim Hochdruckglaukom werden die Ge-
      Dysregulation keine ursächliche Erkrankung wie zum Bei-            fässe nach nasal verdrängt. Diese seitliche Verschiebung
      spiel Atherosklerose, Multiple Sklerose oder rheumatoide           der Gefässe ist beim Normaldruckglaukom schwächer
      Arthritis. Die Diagnose wird vorwiegend klinisch gestellt. Zu      oder fehlend (3).
      den Symptomen des Flammer-Syndroms gehören kalte                Weitere Informationen zum Flammer-Syndrom finden Sie
      Hände und Füsse, eine längere Einschlaflatenz, ein vermin-      unter: http://www.flammer-syndrome.ch                   s
      dertes Durstgefühl, die erhöhte Empfindlichkeit gegenüber
      Schmerzen, Medikamenten und Gerüchen, ein Hang zu Per-          Dipl. med. Issa Rasheed Fetian
      fektionismus, Tinnitus, Migräne und Muskelkrämpfe. Klini-       Hausarztpraxis MZ Brugg
      sche Zeichen sind ein tiefer BMI, ein tiefer Blutdruck mit      Fröhlichstrasse 5
      extremem Dipping, eine stumme Myokardischämie, eine ver-        5200 Brugg
      änderte Nagelfalzkapillarmikroskopie, eine erhöhte Varia-       E-Mail: issa.fetian@hausarztmzb.ch
      balität der Hauttemperatur bei Stress sowie reversible fleck-           issa.fetian@unibas.ch
      förmige weisse oder rote Verfärbungen der Haut.
      Das Flammer-Syndrom hat häufig keinen Krankheitswert,           Literatur:
      kann jedoch aufgrund lokaler Minderperfusion klinisch rele-     1. Quigley HA, Broman AT: The number of people with glaucoma world-
      vant werden (5). Bei Patienten mit Normaldruckglaukom              wide in 2010 and 2020. Br J Ophthalmol 2006; 90(3): 262–267.
                                                                      2. Gerste RD: Glaukom: eine vaskuläre Neuropathie. Deutsches Ärzteblatt
      (40% der Glaukompatienten) ist das Flammer-Syndrom häu-            2008; 105(11): A-562/B-500/C-489.
      fig. Es gibt zwei Gruppen unterschiedlicher vaskulärer Dys-     3. http://www.flammer-syndrome.ch/glaukom
      funktionen, die zum Glaukom beitragen:                          4. Gerste RD: Portrait von Josef Flammer. Wie ein kalter Händedruck Medi-
                                                                         zingeschichte schrieb. Schweiz Ärzteztg 2018; 99(04): 118–120.
      s Menschen mit erhöhtem Risiko für ein Flammer-Syn-
                                                                      5. Middeke M: Die U-förmige Beziehung zwischen nächtlichem Blutdruck
          drom und damit für eine gestörte Autoregulation der Au-        und Organschäden. Dtsch Med Wochenschr 2005; 130(46): 2640–2642.
          gendurchblutung. Dies wiederum erhöht das Risiko für        6. Konieczka K, Gugleta K: Endotheliale Dysfunktionen beim Glaukom.
          ein Normaldruckglaukom.                                        Ophthalmologische Nachrichten, Juli 2014.

      s Menschen mit Risikofaktoren für eine Atherosklerose           Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zu-
          und okulare Hypertonie und damit auch für ein Hoch-         sammenhang mit diesem Artikel bestehen.

452   ARS MEDICI 14–16 | 2020
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