Sprachentwicklung bei geistiger Retardierung: Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom
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Erschienen in: Grimm, Hannelore (Hrsg.) (2000) Enzyklopädie der Psychologie. Bd.CIII3 Sprachentwicklung. Göttingen: Hogrefe, 663-685. Sprachentwicklung bei geistiger Retardierung: Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom Chris Schaner-Wolles 1. Einleitung Geistige Retardierung bedingt nicht notwendigerweise eine Sprachentwicklungsverzögerung oder -störung. Das bestätigen jene Fälle, bei denen eine extreme Sprachbegabung oder eine Hyperverbalität einhergeht mit schwergradigen Defiziten in nicht-sprachlichen kognitiven Bereichen. Aus der Literatur bekannt sind u.a. Christopher (Smith & Tsimpli, 1995), Laura (Yamada, 1990), manche Kinder mit Spina bifida wie D.H. (Cromer, 1994) und Françoise (Rondal, 1994,1995, s. Abschnitt 3 unterhalb). Einen umfassenden Überblick über solche Fälle gibt Rondal (1995:19ff.; cf. auch Schaner-Wolles & Dressler, im Druck). Auch das Williams-Beuren-Syndrom wird häufig in diesem Zusammenhang erwähnt. Überdies sind bei geistiger Retardierung auftretende Sprachentwicklungsauffälligkeiten weder einheitlich noch lassen sie sich aus den nicht- sprachlichen kognitiven Defiziten erklären. Fast immer treten innerhalb der Sprache Dissoziationen zwischen einzelnen Bereichen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Lexikon, usw.) und/oder zwischen verschiedenen Modalitäten (Verständnis, Produktion, metalinguistische Fähigkeiten) auf. Deswegen kommt es meistens zu unterschiedlichen Formen von dysharmonischen, dyssynchronen oder selektiven Sprachentwicklungsverzögerungen, eventuell kombiniert mit qualitativ abweichenden Störungen in einzelnen Bereichen (cf. Schaner-Wolles, 1988 für eine Differenzierung von Verzögerung und Störung). Vor allem solche Fälle, bei denen grammatische Komponenten gar nicht oder weniger beeinträchtigt sind, haben im Lichte der Modularitätsdebatte großes Interesse erfahren (cf. z.B. Levy, 1994; Rondal, 1995:51ff; Stromswold, 1995), worauf in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden kann. Daß die undifferenziert gebrauchte Bezeichnung „geistige Retardierung“ keine Rückschlüsse über sprachliche Fähigkeiten zuläßt, wird im folgenden durch eine Gegenüberstellung von zwei Syndromen mit unterschiedlicher Chromosomenaberration veranschaulicht, die in nicht- sprachlichen kognitiven Bereichen ähnlich schwerwiegende Defizite aufweisen, in sprachlichen Bereichen allerdings stark divergieren. Vielleicht bringt es „die Suche nach sprachlichen Phänotypen“ für unterschiedliche Syndrome chromosomaler Abweichung (cf. Miller, 1996 in seinem Vergleich vom Down-Syndrom mit dem Fragilen-X-Syndrom) einen kleinen Schritt weiter. 2. Williams-Beuren-Syndrom Das Williams-Beuren-Syndrom (WBS) ist eine eher seltene, angeborene Entwicklungsstörung mit einer Häufigkeit zwischen 1 auf 20.000 bis 50.000 Neugeborenen (Greenberg, 1990). Es wurde als eigenständiges Krankheitsbild erst 1961 von Williams und seinen Kollegen in Neuseeland erkannt und beschrieben (Williams, Barratt-Boyes & Lowe, 1961). Wenig später und unabhängig davon publizierten Beuren und seine Mitarbeiter an der Universität Göttingen eine vollständigere Beschreibung des Syndroms (Beuren, Apitz & Harmjanz, 1962), weshalb es – zumindest in
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 2 Kontinentaleuropa – auch nach ihm benannt wird. Da beim WBS häufig – aber nicht notwendigerweise – typische Störungen im Calciumstoffwechsel auftreten, entspricht die früher gebräuchliche Diagnose „idiopathische infantile Hyperkalzämie“ oder Fanconi-Schlesinger- Syndrom (Fanconi, Girardet, Schlesinger, Butler & Black, 1952) dem heutigen WBS. Weitere klinische Symptome des Syndroms sind u.a. spezifische Gesichtszüge (sog. Elfen- oder Faunsgesicht), kardiovaskuläre Anomalien und eine vorwiegend mittelgradige mentale Retardierung mit einem durchschnittlichen Gesamt-IQ von 50-60 (s. Karmiloff-Smith, Klima, Bellugi, Grant & Baron-Cohen, 1995 für mehr Details). Seit 1993 wird dem WBS eine strukturelle Chromosomenaberration zugrundegelegt: In allen Körperzellen liegt eine Mikrodeletion von etwa 15 Genen am langen Arm einer der beiden Chromosomen 7 (7q11.23) vor (Ewart, Morris, Atkinson, Jin, Sternes, Spallone, Stock, Leppert & Keating, 1993; Monaco, 1996). Da bestimmte dieser Gene (z.B. LIM-Kinase1) im Gehirn aktiv sind, liegt die Vermutung nahe, daß ihr Fehlen sich auf Entwicklung und Funktion des Gehirns auswirken. Tatsächlich berichten neuere Untersuchungen von charakteristischen neuroanatomischen Abweichungen beim WBS: Mittels Magnet Resonanz Tomographie konnten Unterschiede im Volumen einzelner Gehirnregionen sowie in ihren Proportionen zueinander aufgezeigt werden (Jernigan & Bellugi, 1994; Jernigan, Bellugi, Sowell, Doherty & Hesselink, 1993; Wang, Hesselink, Jernigan, Doherty & Bellugi, 1992). Darüber hinaus wurden auch zerebrale zytoarchitektonische Anomalien nachgewiesen (Galaburda, Wang, Bellugi & Rossen, 1994). Andererseits deuten die Ergebnisse von neurophysiologischen Studien mittels evozierter Potentiale auf ungewöhnliche Muster in der Organisation und Aktivität des Gehirns beim WBS hin (Neville, Mills & Bellugi, 1994; cf. auch Bellugi, Wang & Jernigan, 1994:47ff.). Wegen seines unausgewogenen kognitiven-sprachlichen Leistungsprofils bringen die kognitiven Neurowissenschaften dem Syndrom vermehrt großes Interesse entgegen. Obwohl die mittlerweile umfangreiche Literatur weder einheitlich, noch in allen Details einstimmig oder eindeutig ist, wie sich im Laufe dieses Beitrags noch genauer herausstellen wird, besteht allgemein Konsens darüber, daß das WBS durch ungewöhnliche Leistungsdiskrepanzen gekennzeichnet ist. Dissoziationen zeigen sich einerseits sowohl innerhalb der nicht-sprachlichen kognitiven Fähigkeiten als auch innerhalb der sprachlichen, andererseits auch zwischen allgemein-kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten. Einer allgemeinen kognitiven Retardierung entsprechend treten beim WBS u.a. deutliche Beeinträchtigungen in der Problemlösung, der Planung und im Zahlenbegriff auf. In der sozialen Kognition sind die Leistungen vergleichsweise gut; Theory-of-Mind-Aufgaben werden auch von Jugendlichen mit WBS gemeistert (Karmiloff-Smith et al.,1995). Die räumliche Kognition ist durch ein ungewöhnliches Muster von besseren und schlechteren Leistungen gekennzeichnet, das bei mentalen Retardierungen anderer Ätiologien (z.B. beim Down-Syndrom) nicht bekannt ist: Trotz massiver Defizite bei fast allen räumlich-visuellen Aufgaben – mit speziellen Problemen in der Gestaltorganisation – sind beim Wiedererkennen und Unterscheiden von unbekannten Gesichtern aus unterschiedlichen Perspektiven (z.B. beim Benton-Test) die Leistungen von Personen mit WBS gleich gut wie die von gleichaltrigen – auch erwachsenen – Kontrollpersonen (Bellugi, Marks, Bihrle & Sabo, 1988; Bellugi et al.,1994; Karmiloff-Smith et al.,1995; Wang & Bellugi, 1993). Angesichts ihrer Beeinträchtigungen in nicht-sprachlichen kognitiven Bereichen fallen ältere Kinder und Erwachsene mit WBS durch ihre überlegenen sprachlichen Leistungen auf. Bereits in den frühesten Charakterisierungen des Syndroms werden die Gesprächsfreude und Umgänglichkeit, die gute Artikulation und Flüssigkeit, die grammatische Komplexität, der ungewöhnlich reiche Wortschatz, aber auch die Gesprächigkeit und die exzessive Verwendung von sozialen Floskeln und Redewendungen betont. Es wird sogar unterstrichen, daß diese sprachlichen Leistungen ein höheres intellektuelles und soziales Niveau vortäuschen (s. u.a. Udwin, Yule & Martin, 1987; Von Arnim & Engel, 1964; sowie für eine Übersicht über frühere Publikationen Arnold, Yule & Martin,
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 3 1985; Meyerson & Frank, 1987; Udwin, 1990). Trotzdem ist in der Literatur die Meinung einstimmig, daß die Sprache beim WBS nicht als unauffällig bezeichnet werden kann. Es wird allgemein berichtet, daß die Sprachentwicklung verspätet einsetzt. Konkret untersucht wurde die früheste sprachliche Entwicklung beim WBS bislang allerdings nur in vereinzelten Studien: Doherty und Bellugi (1992) stellen beim Vergleich von 30 Kindern mit WBS und 30 mit Down- Syndrom im Alter zwischen 12 und 55 Monaten für beide Gruppen ähnliche, eindeutige Verzögerungen fest. Darüber hinaus liegen einzelne Fallstudien von Kleinkindern mit WBS vor: Von zwei englischsprachigen Mädchen mit 5;06 (Becky) und 1;11 Jahren (Rachel) (Thal, Bates & Bellugi, 1989); von einem italienischsprachigem Mädchen (Elisa) im Alter zwischen 2;6 und 4;10 Jahren (Capirci, Sabbadini & Volterra, 1996). Auch im späteren Verlauf sind die sprachlichen Fähigkeiten generell nicht altersadäquat. Ob und inwiefern sie allerdings den allgemein-kognitiven Leistungen tatsächlich überlegen sind, dazu gibt es in der Literatur sich widersprechende Ergebnisse: Während manche Autoren beim WBS eine signifikante Überlegenheit von sprachlichen Fähigkeiten gegenüber nicht-sprachlichen feststellen konnten (u.a. Udwin, Yule & Martin, 1986; Wang & Bellugi, 1993), fanden andere keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Bereichen (u.a. Arnold et al.,1985; Crisco, Dobbs & Mulhern, 1988; Volterra, Capirci, Pezzini, Sabbadini & Vicari, 1996, siehe Jarrold, Baddeley & Hewes, 1998 für eine detaillierte Darstellung und Gegenüberstellung der Literatur). Als primär verantwortlich für diese Widersprüche in der Literatur sehen Bellugi und ihre Kollegen folgende Tatsachen (cf. u.a. Bellugi, Bihrle, Neville, Doherty & Jernigan, 1992:202ff.): Erstens werden die sprachlichen Leistungen von Personen mit WBS häufig nicht linguistisch fundiert, sondern mittels standardisierter verbaler IQ-Tests (z.B. WISC) beurteilt. Letztere jedoch sind ungeeignet, das ungewöhnliche sprachliche Profil differenziert zu erfassen, beziehen in einem erheblichen Maß nicht-sprachliche Fähigkeiten ein und liefern deshalb ungenaue Ergebnisse (cf. auch Gage, Huntley-Fenner & Hickok, 1998). Zweitens weisen Bellugi und ihre Kollegen darauf hin, daß in früheren Studien die Bedeutung, die dem chronologischen Alter der untersuchten Personen mit WBS zukommt, noch nicht berücksichtigt wurde: Da die Sprache - wie oben erwähnt - verspätet einsetzt, ergeben sich bei jüngeren Kindern noch keine Diskrepanzen zwischen sprachlichen und allgemein-kognitiven Fähigkeiten (cf. u.a. Capirci et al.,1996; Thal et al.,1989; Volterra et al.,1996:674). Erst im späteren Kindes- und im Erwachsenenalter läßt sich eine sprachliche Überlegenheit nachweisen. Den widersprüchlichen Ergebnissen aus der Literatur gehen Jarrold et al. (1998) in einem aufschlußreichen Beitrag noch eingehender auf den Grund. In einer Verlaufsstudie haben sie dazu sprachliche und nicht-sprachliche Fähigkeiten von 16 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit WBS zwischen 6;11 und 28;0 Jahren mittels einer umfangreichen Testbatterie zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten mit einem Intervall von sieben Monaten ermittelt und verglichen. Dabei erwies sich beim ersten Testdurchgang für die Gesamtgruppe der Testpersonen zwar eine signifikante Überlegenheit (p=.04) der sprachlichen Leistungen (Mittelwert: 88.91 Monate, SA: 46.61 Monate) gegenüber den nicht-sprachlichen (Mittelwert: 68.23 Monate, SA: 18.03 Monate), für die individuellen Testpersonen konnte eine solche Diskrepanz allerdings ausschließlich bei fortgeschritteneren Personen (ab einem verbalen Entwicklungsalter von 100 Monaten) festgestellt werden. Beim zweiten Testdurchgang nach 7 Monaten zeigte sich überdies, daß sprachliche Fähigkeiten sich durchschnittlich schneller entwickelt hatten als nicht-sprachliche. Die Autoren schließen daraus, daß „[...] the accepted view of Williams syndrome as being characterized by spared verbal and impaired nonverbal abilities is oversimplistic. [...] It is also a slight simplification to say that verbal abilities are relatively spared in comparison to nonverbal abilities, because the difference between these domains increases with development. Instead our data indicate that certain verbal abilities develop at a faster rate than nonverbal abilities in Williams syndrome.“ (521).
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 4 Daß die sprachlichen Fähigkeiten – auch im späteren Alter – beim WBS nicht einheitlich unauffällig sind, findet in allen neueren Untersuchungen Bestätigung. Über die genaue Art der sprachlichen Auffälligkeiten gibt es allerdings zur Zeit noch genügend Unklarheiten und unterschiedliche Auffassungen. Fest steht, daß Dissoziationen in und zwischen einzelnen sprachlichen Bereichen charakteristisch sind, und diese nur mittels gezielter und linguistisch fundierter Untersuchungen aufgedeckt und erklärt werden können. Es erscheint deshalb sinnvoll, einzelne sprachliche Bereiche im folgenden getrennt zu betrachten. Die Bereiche Phonetik und Phonologie werden dabei nicht gesondert angeführt, weil sie beim WBS keine besonderen Auffälligkeiten aufweisen (cf. allerdings 2.3. zur affektiven Prosodie in Erzählungen). Vielmehr wird beim WBS gerade das besonders gute Kurzzeitgedächtnis für Sprachlaute, das sog. phonologische Arbeitsgdächtnis, das offenbar erheblich zum Lernen und Verstehen von Sprache beiträgt, immer wieder hervorgehoben (cf. u.a. Grant, Karmiloff-Smith, Berthoud & Christophe, 1996; Karmiloff-Smith et al.,1995,1997; Mervis, Morris, Bertrand & Robinson, 1999; Pezzini, Volterra, Ossella & Sabbadini, 1994; Volterra et al.,1996; vgl. auch das Kapitel von Hasselhorn und Werner in diesem Band). 2.1. Lexikon und Semantik beim WBS In der gesamten Literatur wird immer wieder der ungewöhnlich große Wortschatz von Jugendlichen und Erwachsenen mit WBS betont, der manchmal eher ihrem chronologischen Alter als ihrem Entwicklungsalter entspricht und deutlich über den Leistungen von Personen mit Down- Syndrom (DS) liegt (cf. u.a. Bellugi et al.,1992; Stevens & Karmiloff-Smith, 1997). Der frühe Lexikonerwerb setzt im Kleinkindesalter allerdings verspätet ein und ist anfangs ähnlich verzögert wie beim DS (cf. Capirci et al.,1996; Doherty & Bellugi, 1992). Darüber hinaus gibt es Hinweise, daß die lexikalische Entwicklung beim WBS atypisch, d.h. anders als bei unauffälligen Kindern oder Personen mit DS, verläuft (s. Karmiloff-Smith, 1998; Tyler, Karmiloff-Smith, Voice, Stevens, Grant, Udwin, Davies, & Howlin, 1997 für eine zusammenfassende Darstellung der diesbezüglichen Literatur). Mervis et al. (1999) weisen in ihrer Studie darauf hin, daß unauffällige Kleinkinder und Kinder mit DS zuerst mit Gesten auf Objekte hinzeigen und sie erst später zu benennen beginnen. Im Gegensatz dazu tritt das Benennen beim WBS mehrere Monate vor dem Hinzeigen auf, was die Autoren vermuten läßt, daß die ersten Wörter beim WBS zuerst bloß auswendig gelernte lautliche Sequenzen sind ohne referentielle Bedeutung. Während bei unauffälligen Kindern und Kindern mit DS die Wortschatzentwicklung eng verbunden ist mit der konzeptuellen Entwicklung (z.B. fallen exhaustives Sortieren, fast mapping und die Wortschatzexplosion zusammen), dürfte dies bei WBS nicht der Fall sein. Bei ihnen geht die Wortschatzexplosion den ersten Anzeichen eines Sortierverhaltens eindeutig voraus. Auch ältere Kinder und Erwachsene mit WBS dürften neue Wörter anders lernen als unauffällige Kinder. In einer Studie von Stevens und Karmiloff-Smith (1997) zeigte sich beispielsweise, daß das Lernen von neuen Wörtern beim WBS nicht den gleichen semantischen Beschränkungen unterliegt wie im unauffälligen Erwerb. Während unauffällige Kinder mehrere Prinzipien verfolgen, um ihre Hypothesen über die Bedeutung von neuen Wörtern einzuschränken, zeigen Personen mit WBS bloß zwei davon, nämlich fast mapping (d.h. neue Wörter werden mit Objekten in Verbindung gebracht, für die man noch keinen Namen hat) und die Beschränkung des gegenseitigen Ausschlusses (d.h. ein Objekt kann nur einen einzigen Namen haben). Trotz ihres umfangreichen Wortschatzes werden die lexikalischen Fähigkeiten von Jugendlichen und Erwachsenen mit WBS generell als nicht völlig normal bis abweichend bezeichnet. In ihrem Verhalten fallen eine Reihe von Abweichungen auf: • Ihre Spontansprache ist durch eine häufige Verwendung von ungebräuchlichen, wenig frequenten und semantisch markierten Wörtern gekennzeichnet. Solche Wörter werden manchmal
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 5 auch in falschen Kontexten verwendet (z.B. „ich muß das Glas evakuieren“ in der Bedeutung „das Glas ausleeren“, cf. Bellugi et al.,1994; Rossen, Bihrle, Klima, Bellugi & Jones, 1998). • Beim Definieren von Wörtern (auch von solchen, die sie selber häufig verwenden) schneiden sie ähnlich schlecht ab wie vergleichbare Personen mit DS (Bellugi et al.,1988, 1992; Rossen et al.,1998). • Beim Abrufen von Unterbegriffen zu einem bestimmten Oberbegriff (d.h. bei semantischen Flüssigkeitstests) zeigen sich beim WBS – im Gegensatz zum DS – keine Schwierigkeiten: Quantitativ erbringen sie Leistungen über ihrem Entwicklungsalter – manchmal sogar ihrem chronologischen Alter entsprechend – und nennen beispielsweise in einer Minute signifikant mehr Items als vergleichbare Personen mit DS. Qualitativ fallen sie jedoch auf, indem sie auch hier nicht bloß typische Vertreter der betreffenden semantischen Kategorie nennen, sondern vermehrt auch untypische, unerwartete und wenig frequente (z.B. als Tiere: Kranich, Einhorn, Wiesel) (Bellugi et al.,1992, 1994). Solche qualitative Unterschiede dürften sich allerdings erst ab einem gewissen chronologischen Alter und einer gewissen Wortschatzgröße bemerkbar machen: Jüngere WBS- Kinder nannten in einer italienischen Studie beispielsweise weder sonderbare noch wenig frequente Tiere (Pezzini et al., 1994). • Daß Personen mit WBS weniger sensibel für die Frequenz von Wörtern sind, zeigt sich auch bei ihrem Umgang mit Homonymen (d.h. mit Wörtern mit mehreren Bedeutungen, z.B. Bank als Geldinstitut und als Sitzgelegenheit): Im Gegensatz zu DS-Personen mit gleichem IQ und 10- jährigen unauffälligen Kindern bevorzugen sie in den von Rossen et al. (1998) durchgeführten Assoziations- oder Definitionsaufgaben keineswegs die frequentere Bedeutung eines Homonyms. Für eine mögliche ungewöhnliche semantische Verarbeitung spricht auch die Arbeit von Neville und Kollegen (Neville et al. 1994): Sie fanden in den evozierten Potentialen bei der semantischen Verarbeitung von Sätzen mit einem semantisch vorhersagbaren bzw. unvorhersagbaren Schluß (z.B. ich nehme Kaffee mit Milch und Zucker vs. ich nehme Kaffee mit Milch und Radiator) andere temporale Muster in der Gehirntätigkeit von Personen mit WBS als von gesunden Kontrollpersonen. Eine plausible Erklärung für diese beim WBS beobachteten Abweichungen in der lexikalisch- semantischen Verarbeitung bietet die Literatur bis jetzt leider nicht (cf. Stevens & Karmiloff-Smith, 1997 und Tyler et al.,1997 für eine Diskussion dazu). Manche plädieren für eine zugrundeliegende abweichende Organisation des Lexikons (z.B. Bellugi et al.,1992, 1994; Rossen et al.,1998), andere für einen abweichenden lexikalischen Zugriff (Pinker, 1991). Gegen solche Annahmen sprechen allerdings die Ergebnisse der einzigen on-line Studie beim WBS von Tyler et al.(1997). In dieser Monitoring-Studie mit semantischem Priming zeigten sich bei Erwachsenen mit WBS nämlich die gleichen taxonomisch/kategorialen und thematisch/funktionalen Priming Effekte wie bei unauffälligen Erwachsenen, woraus die Autoren schließen, daß die Struktur des semantischen Gedächtnisses, die semantische Organisation des Lexikons und der automatische Zugriff zu der semantischen Information von Einzelwörtern bei WBS normal sind. 2.2. Morphologie, Morphosyntax und Syntax beim WBS Ursprünglich haben Bellugi und ihre Kollegen die morphologischen, morphosyntaktischen und syntaktischen Fähigkeiten von englischsprachigen älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit WBS als besonders gut und intakt bezeichnet (cf. u.a. Bellugi et al.,1988,1992,1994; Wang & Bellugi, 1993). Sie beschreiben ihre Spontansprache als grammatisch korrekt, strukturell reich und komplex, und morphologisch elaboriert. Es werden u.a. vollständige Passivsätze, Relativsätze, Konditionalsätze und mehrfach eingebettete Sätze verwendet. Morphologische Markierungen und Funktionswörter (z.B. Auxiliare, Artikel) werden fast immer korrekt gebraucht. Nur selten treten im Bereich der Morphologie unkorrekte Übergeneralisierungen auf, und im Gebrauch von
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 6 Pronomina gibt es einzelne Fehler. Auch bei Verständnistests erzielen Personen mit WBS sehr gute Leistungen, die weit über ihr kognitives Entwicklungsalter hinausgehen. Beim Verständnis von semantisch reversiblen Passivsätzen (z.B. „das Pferd wird vom Mädchen gejagt“), Negationen und Konditionalsätzen sind sie beispielsweise in etwa 90% erfolgreich. Personen mit DS erzielen hierbei vergleichsweise nur 40-50% korrekte Reaktionen und übertreffen das Zufallsniveau nicht. Darüber hinaus machen ihnen auch metalinguistische Aufgaben keine Schwierigkeiten: So können Sätze mit grammatischen Ungereimtheiten (u.a. in der Subkategorisierung, der Phrasenstruktur oder mit einer falschen Form des Reflexivpronomens) von Personen mit WBS nicht nur erkannt, sondern auch in etwa 80% der Fälle korrigiert werden. Konfrontiert beispielsweise mit dem ungrammatischen Satz „I hope you to eat all your supper“, reagieren Personen mit WBS typischerweise mit „I hope that you will eat all your supper“; vergleichbare Personen mit DS antworten demgegenüber typischerweise mit „chicken“ (Beispiel aus Bellugi et al.,1992:211). Was die angesprochenen Mängel im Bereich der Morphologie betreffen, so konnte inzwischen wiederholt nachgewiesen werden (Bromberg, Ullman, Marcus, Kelly & Coppola, 1994; Clahsen & Almazan, 1998; Huntley-Fenner, Duclos, Iliescu, Babb, Gage, Hickok & Perales, 1998), daß bei regelgeleiteten, regelmäßigen Bildungen keine Fehler auftreten (z.B. bei der englischen Pluralbildung oder bei Präteritumformen sog. schwacher Verben vom Typ Verbstamm + Flexionsendung, lern-te, spiel-te, lach-te). Nur bei unregelmäßigen Formen, die lexikalisch gelernt und gespeichert werden müssen (z.B. Präteritumformen sog. starker Verben, schwimm-schwamm, lauf-lief, geh-ging), kommt es eventuell zu Fehlern durch übergeneralisierungen der regelmäßigen Bildung (z.B. schwimm-te, lauf-te; oder das in Clahsen & Almazan, 1998:178 zitierte englische Beispiel he found-s statt found mit einer Übergeneralisierung der 3.P.Sg. Endung -s im Präteritum). In dieser Dissoziation zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Flexion beim WBS findet sich eine Bestätigung für die Annahme, daß regelgeleitete, d.h. grammatische, Bereiche der Sprache Personen mit WBS keine Probleme bereiten, wohl aber lexikalisch basierte Bereiche. Andererseits liegen inzwischen auch eine Reihe von Untersuchungen vor, die Zweifel an der Intaktheit der grammatischen Fähigkeiten beim WBS äußern (cf. u.a. Karmiloff-Smith, 1998; Karmiloff-Smith et al.,1997; Karmiloff-Smith, Tyler, Voice, Sims, Udwin, Howlin & Davies, 1998; Pezzini et al.,1994; Volterra et al.,1996). Dabei wird betont, daß die syntaktischen Leistungen von Personen mit WBS eindeutig über denen von Kontrollpersonen mit einem vergleichbaren Entwicklungsalter lägen, sie jedoch hinter ihrem chronologischen Alter zurückblieben. Darüber hinaus wird aus Sprachen mit einer komplexeren Morphologie und Morphosyntax als dem Englischen über spezielle Probleme in gerade diesen Bereichen berichtet. In dem von Karmiloff-Smith et al. (1997) durchgeführten Experiment mit französischen Jugendlichen und Erwachsenen mit WBS unterschieden sich diese beispielsweise von unauffälligen Kindern im Alter von 4;6 bis 6 Jahren bei der Aufgabe, Pseudowörtern, deren Auslaut als eine frequente feminine (z.B. -onne, -ette) oder frequente maskuline Form (z.B. -on, -eau) zu deuten gewesen wäre, Genus zuzuordnen: Sie ließen sich durch diesen Unterschied weniger leiten als die Kontrollgruppe. Die daraus abgeleiteten Folgerungen, Personen mit WBS hätten Probleme bei der Genuszuweisung, würden das Genus mit jedem einzelnen Nomen separat lernen, und sich damit von unauffälligen Kindern qualitativ unterscheiden, wird von den Autoren als Gegenevidenz für den obigen Befund reklamiert, wonach bei WBS die regelmäßigen Muster stets beherrscht und oft übergeneralisiert würden. Zur Reliabilität dieses Befundes ist allerdings anzumerken, daß Genus kein strikt grammatisch, also regelhaft, determiniertes Merkmal ist (z.B. gibt es im Französischen auch maskuline Wörter auf -onne, wie un téléphone, und umgekehrt feminine Wörter auf -on, wie une maison). Aufschlußreicher wäre der Befund, wenn das Stimulusmaterial Wortbildungssuffixe mit automatischer Genusimplikation beinhaltet hätte (z.B. vom Typ X + -keit/-heit ergibt Nfem im Deutschen, wie z.B. Heiterkeit, Dummheit). Vergleiche auch die detaillierteren Bemerkungen von Clahsen & Almazan dazu (1998:171f. & 191ff.).
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 7 Auch Daten von italienischen Kindern und Jugendlichen mit WBS werden als Evidenz dafür diskutiert, daß Personen mit WBS ihre Grammatik „[...] with a qualitatively different mix of processing mechanisms“ erwerben würden (Volterra et al.,1996:673; sowie u.a. Pezzini et al.,1994). Die von den Autoren hervorgehobenen qualitativen Unterschiede zu unauffälligen italienischen Kleinkindern betreffen vorwiegend Genuskongruenz und Verbkonjugation, sowie Substitutionen von Präpositionen. Wiederum ist bei der Einschätzung der Aussagekraft der hier vorgebrachten Evidenz und der daraus gezogenen Schlußfolgerungen einiges zu bedenken: Es handelt sich bei den Daten um eine unsystematische Sammlung von Belegen unterschiedlicher – noch relativ junger – Kinder. Die hier als abweichend bezeichneten Fehler sind häufig Übergeneralisierungen im Sinne von Überregularisierungen – vergleichbar mit den zuvor genannten Daten aus dem Englischen (z.B. *dipingiava, statt dipingeva, ‚er/sie malte‘, zum Verb dipingere ist nach der frequenten Verbklasse mit a-Stamm gebildet: Die Form wäre korrekt, wenn das Verb dipingiare lautete). Vergleichbare Überregularisierungen treten zumindest bei unregelmäßigen Verben in seltenen Fällen sehr wohl auch bei unauffälligen italienischen Kindern auf (cf. die folgenden Beispiele aus Pizzuto & Caselli, 1992:534 von zwei unterschiedlichen Kindern im Alter von 2;07 bzw. 1;10 Jahren: *vieno (=vengo), ‚ich komme‘; *dicio (=dico), ‚ich sage‘). Darüber hinaus sind Präpositionen problematische Indikatoren, denn erstens ist die Präpositionswahl kein morphologischer (wie z.B. von Volterra et al, 1996:671 postuliert), sondern ein lexikalischer Bereich der Grammatik, und zweitens ist bekannt, daß die für Präpositionen entscheidenden konzeptuellen Bereiche (Lokalitätsrelationen) bei WBS stark beeinträchtigt sind (cf. ihre Defizite in der räumlichen Kognition unter Abschnitt 2). Vergleichbare Fehler bei räumlichen Präpositionen sind übrigens auch bei englischsprachigen Personen mit WBS belegt (cf. Lichtenberger & Bellugi, 1998; Rubba & Klima, 1991) und wohl weniger ein sprachliches – schon gar kein grammatisches – Problem als eher eines mit der räumlichen Verarbeitung, das sich sprachlich niederschlägt. 2.3. Narrative, kommunikative und pragmatische Fähigkeiten beim WBS Eingehende Untersuchungen zu den narrativen, kommunikativen und pragmatischen Fähigkeiten von Personen mit WBS stehen noch aus. Einige Autoren streifen diese Bereiche zumindest am Rande, gehen dabei über impressionistische Schilderungen jedoch kaum hinaus. So halten Capirci et al. (1996) in ihrer Langzeitstudie des italienischen Kleinkindes Elisa fest, daß sich erste Anzeichen einer Erzählkompetenz ab 4;5 Jahren zu entwickeln beginnen. Auch am Ende des Beobachtungszeitraums mit 4;10 fallen die kommunikativen und narrativen Fähigkeiten des Mädchens allerdings noch sehr bescheiden aus. Schwierigkeiten beim spontanen Erzählen von Erlebnissen und bei Bilderbuchgeschichten wurden auch noch bei älteren italienischen WBS Kindern beobachtet (Pezzini et al.,1994): Im Vergleich zu unauffälligen Kindern zwischen 2;6 und 6 Jahren brauchten die 13 WBS Kinder aus dieser Studie mit einem chronologischen Alter von 7;10 bis 15;03 Jahren und einem nicht-verbalen Entwicklungsalter zwischen 3;08 und 7;06 Jahren (ermittelt mit der revidierten Leiter International Performance Scale - LIPS-R, Leiter, 1979) mehr Unterstützung vom Gesprächspartner, wobei auf Fragen des Gesprächspartners oft nicht genügend eingegangen wurde und manchmal unpassende Konfabulationen eingeschoben wurden. Meyerson und Frank (1987) berichten über eine Untersuchung von Frank zum kommunikativen und pragmatischen Verhalten von 8 Kindern und 2 Erwachsenen mit WBS: Als kennzeichnend für den Diskurs stellten sich dabei ein mangelnder Sprecherwechsel (turn-taking), unangebrachte Antworten und Themenwechsel, nachgeahmte Äußerungen und Hyperverbalisierungen heraus. Die meines Wissens einzige eingehende Studie zu den narrativen Fähigkeiten beim WBS ist jene von Reilly, Klima und Bellugi (1991), in der 6 Jugendliche mit WBS und 6 mit Down-Syndrom (DS) im Alter von 14-15 Jahren miteinander verglichen werden. Ihre Aufgabe bestand im Erfinden
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 8 einer Geschichte zu einer Bilderserie über einen Buben, einen Hund und deren Suche nach einem verlorenen Frosch. Die WBS-Erzählungen sind durchschnittlich doppelt so lang wie die der DS- Jugendlichen (62 vs. 32 Propositionen), strukturell komplexer, kohärenter und kohäsiver. Sie sind gut strukturiert mit klarer Orientierung, Problemformulierung und Lösung. Während die DS- Jugendlichen wie unauffällige Kinder im Alter von 3-4 Jahren erzählen, liegen die narrativen Fähigkeiten der WBS-Jugendlichen über denen von unauffälligen Kindern im Alter von 7-8 Jahren. Darüber hinaus fallen die WBS-Erzählungen durch einen besonders lebhaften und ausdrucksvollen Erzählstil auf: Die Jugendlichen variierten „häufig Tonlage, Lautstärke, Wortlänge und Rhythmus, um die emotionale Wirkung ihrer Erzählung zu verstärken. Außerdem fesselten sie ihr Publikum viel stärker mit dramatischen Höhepunkten („Und plötzlich - platsch!“; „Und Bumm!“; „Aaaach!“), als Personen mit Down-Syndrom es vermochten.“ (Lenhoff, Wang, Greenberg & Bellugi, 1998:66). Ihr prosodisch-affektiver Stil ist vergleichbar mit dem von unauffälligen Kindern im Alter von 10-11 Jahren, wenn sie sich mit Vorschulkindern unterhalten. Kurzum: Die WBS- Erzählungen zeugen, im Gegensatz zu denen der DS, von einem gut ausgebildeten Narrationsschema (story grammar) und von unterschiedlichen Erzählstrategien. Zusammendfassend lassen sich aus der Literatur zur Sprache beim WBS folgende Schlußfolgerungen ziehen: Jene Ansätze, welche den beobachteten und diskutierten selektiven Dissoziationen allgemeine Lern- und/oder Verarbeitungsmechanismen zugrundelegen, kommen zu dem Schluß, daß „[...] despite some behavioral equivalences, the learning mechanisms and processing of people with W[B]S [...] are often very different.“ (Karmiloff-Smith, 1998:9). Dementsprechend orientierte Studien bemühen sich primär darum, in der Sprache von Personen mit WBS sogenannte qualitative Abweichungen nachzuweisen und hervorzuheben. Diese werden dann als Evidenz dafür interpretiert, daß Personen mit WBS Sprache anders lernen, verarbeiten oder speichern als unauffällige Kinder. Für modular orientierte Ansätze hingegen können allgemeine Lern- oder Verarbeitungsstrategien hier keine befriedigende Erklärung bieten. Sie sehen in den selektiven Dissoziationsmustern, die das WBS charakterisieren, gerade Evidenz für eine Modularität. In diesem Rahmen lassen sich die Dissoziationen dann problemlos als modular bedingte aber in sich nicht andersgeartete Entwicklungsabläufe erklären (cf. u.a. Clahsen & Almazan, 1998:192). 3. Down-Syndrom John Langdon Down lieferte 1866 die erste umfassende Beschreibung des Syndroms, das er „Mongolismus“ nannte. Die zugrundeliegende chromosomale Aberation (47 Chromosomen in allen Körperzellen, Trisomie 21) wurde 1959 von Lejeune und seinen Kollegen in Frankreich (Lejeune, Turpin & Gautier, 1959) und von Jacobs und seinen Kollegen in Schottland entdeckt (Jacobs, Baikie, Court-Brown & Strong, 1959). Neben dieser Standardform der Trisomie 21, die in etwa 95% aller Fälle vorliegt, werden inzwischen weitere Subtypen unterschieden: Translokationen von einem extra Teilstück des Chromosoms 21 auf ein anderes Chromosom (in etwa 4% der Fälle); eine Mosaikform der Trisomie 21, bei der nur manche Körperzellen betroffen sind (in etwa 1% der Fälle); seltene andere Typen wie Ringchromosomen oder 48 Chromosomen. Zu 95% ist DS nicht angeboren, sondern tritt zufällig auf. Mit einem Vorkommen von durchschnittlich 1 auf 700-800 Neugeborenen ist das DS wesentlich häufiger als das WBS und macht etwa ein Drittel der Population mittelbis schwergradig mental Retardierter aus. Neuroanatomische Untersuchungen mittels Magnet Resonanz Tomographie haben beim DS ein proportional ähnlich vermindertes Großhirnvolumen wie beim WBS festgestellt: Während beim DS allerdings eine stark ausgeprägte Hypofrontalität vorliegt, sind beim WBS hingegen hintere Hirnregionen relativ schmal. Überdies ist beim DS auch das Volumen vom Kleinhirn reduziert, was beim WBS nicht der Fall ist (Jernigan
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 9 & Bellugi, 1994; Jernigan et al., 1993). In PET-Studien zeigte sich bei jungen Erwachsenen mit DS eine reduzierte funktionale Interaktion zwischen der Broca- und Wernicke-Region, was als Reflex der ausgeprägten sprachlichen Problemen gedeutet wird (Azari, Horwitz, Pettigrew, Grady, Haxby, Giacometti & Schapiro, 1994). Im allgemeinen sind die nicht-sprachlichen kognitiven Fähigkeiten beim DS ähnlich eingeschränkt wie beim WBS. In der Literatur allgemein hervorgehoben werden: Eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, langsame Reaktionszeiten, Defizite in der auditiven Verarbeitung, Einschränkungen im Kurzzeitgedächtnis, herabgesetzte perzeptuelle Diskriminier- und Generalisierungsfähigkeiten, erhebliche Probleme bei der Konzeptbildung und Problemlösung. Piaget Tests (Konservierung und Seriation) bestehen weder Personen mit DS noch mit WBS (Bellugi et al.,1992; Wang & Bellugi, 1993); bei Theory-of-Mind-Aufgaben sind beide Gruppen ähnlich gut (Karmiloff-Smith et al.,1995). Beide Syndrome unterscheiden sich jedoch deutlich in der räumlichen Kognition: Während beim WBS typische abweichende Besonderheiten auftreten (cf. Abschnitt 2), sind Personen mit DS vergleichbar mit jüngeren unauffälligen Kindern (cf. für einen diesbezüglichen Vergleich von DS und WBS u.a. Wang & Bellugi, 1993). Hier besonders hervorzuheben sind die Unterschiede zwischen den beiden Syndromen im sprachlichen Bereich. Beim DS ist die Sprache stark verzögert, teilweise sogar mehr verzögert, als es das allgemein-kognitive Niveau erwarten ließe. Im allgemeinen übersteigen auch im Erwachsenenalter die sprachlichen Fähigkeiten von Personen mit DS die eines unauffälligen Kindes im Alter von 6-7 Jahren nicht. Allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. Über zwei solche Fälle berichtet Rondal (1994, 1995), und zwar einerseits über die von ihm untersuchte 34-jährige Frau mit DS, Françoise, deren grammatische – inklusive flexionsmorphologische – Fähigkeiten als normal oder quasinormal bezeichnet werden trotz eines nicht-verbalen IQs von 60 und eines Entwicklungsalters von etwa 5-6 Jahren. Andererseits berichtet er über die außergewöhnliche schriftliche Sprachfähigkeiten bei einem Mann mit DS, Paul, dessen Reiseberichte, die er zwischen 11 und 43 Jahren verfaßte, in Seagoe (1965) festgehalten sind. Seine Textbeispiele klingen völlig normal. Sie sind gekennzeichnet durch einen reichen Wortschatz, eine korrekte Satz- und Textgrammatik und semantische Organisation, komplexe syntaktische Strukturen mit vielen zusammengesetzten Sätzen (koordinierte wie subordinierte). Für Pauls Texte im Alter von 21 Jahren berechnete Rondal (1994:159f) die durchschnittliche Anzahl an Morphemen pro Äußerung - M(ean) L(enght of) U(tterance) in Morphemen: Mit 16.75 liegt sein MLU-Wert auch für Schriftsprache bemerkenswert hoch. Einzelne syntaktische Fehler äußern sich im Auslassen von obligatorischen Satzteilen. Über Pauls gesprochene Sprache ist leider nichts überliefert. Ähnlich wie beim WBS ist die normalerweise stark ausgeprägte Sprachentwicklungsverzögerung beim DS durch typische Dissoziationen oder Asynchronien gekennzeichnet: Einzelne sprachliche Bereiche sind unterschiedlich betroffen und entwickeln sich unterschiedlich schnell. Anders als beim WBS (cf. im besonderen 2.1) gibt es beim DS allerdings in keinem Bereich Hinweise für andersgeartete Erwerbsstrategien oder Entwicklungsverläufe: Qualitativ unterscheiden sich Personen mit DS nicht von jüngeren, unauffälligen Kindern, insofern jeder sprachliche Bereich einzeln betrachtet wird. Welche Dissoziationen die Sprache beim DS charakterisieren, darüber herrscht in der gesamten Literatur Einstimmigkeit (cf. u.a. Chapman, 1995; Chapman, Schwartz & Kay-Raining Bird, 1991; Chapman, Ross & Seung, 1993; Fowler, 1990; Fowler, Gelman & Gleitman, 1994; Miller, 1988,1996; Rosenberg & Abbeduto, 1993; Schaner-Wolles, 1988,1992,1994). Im folgenden werden sie zusammenfassend dargestellt, bevor in den nächsten Abschnitten auf die einzelnen sprachlichen Bereiche genauer eingegangen wird:
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 10 • Dissoziation zwischen Sprachproduktion und Sprachverständnis: Während das Sprachverständnis Schritt hält mit anderen kognitiven Fähigkeiten, bleibt die Produktion mit zunehmendem Alter immer mehr zurück. • Formale Bereiche der Sprache sind mehr betroffen als andere: Die meisten der oben zitierten Autoren sprechen von einem primär syntaktischen Defizit; manche siedeln die Probleme allerdings vorwiegend bei den grammatischen Morphemen, der Morphosyntax und der Morphologie an, und weniger bei der reinen Syntax, wie z.B. beim Erwerb von Phrasen- und Satzstrukturen (cf. Rosenberg & Abbeduto, 1993:91f.; Schaner-Wolles, 1992,1994). • Mit zunehmendem Alter bleibt die Grammatik immer weiter zurück: Fortschritte - speziell in der Produktion - werden nur langsam gemacht. Für Fowler verläuft die Entwicklungskurve in diesem Bereich nicht einfach flacher, d.h. langsamer, sondern sie ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß sich Lernperioden mit Nicht-Lernperioden abwechseln. (cf. Fowler, 1990; Fowler et al., 1994 zu ihrer Langzeituntersuchung des Kleinkindes mit DS, Rebecca). • Umgekehrt entwickelt der Wortschatz sich mit zunehmendem Alter schneller, was dazu führt, daß der rezeptive Wortschatz später sogar das kognitive Entwicklungsniveau übertrifft. • Neben dem rezeptiven Wortschatz liegt die besondere Stärke beim DS im kommunikativen und pragmatischen Bereich. • Besondere Schwächen zeigen sich im phonologischen Bereich nach der Lallphase und – am stärksten ausgeprägt – im morphosyntaktischen Bereich (cf. Rosenberg & Abbeduto, 1993:105). Für einen detaillierten Überblick über die Literatur zum DS ist besonders das Buch von Rosenberg und Abbeduto (1993) zu empfehlen, sowie die kurzgefaßteren Übersichtsartikel von Chapman (1995), Fowler (1990) und Miller (1987, 1988). 3.1. Phonologie beim DS Das Lallen setzt beim DS etwa zum gleichen Zeitpunkt ein wie bei unauffälligen Kindern, entwickelt sich lautlich unauffällig, dauert allerdings länger – etwa bis zum Alter von 2-3 Jahren (Smith & Oller, 1981; Smith & Stoel-Gammon, 1996). Die phonologische Entwicklung läuft zwar verzögert ab, unterscheidet sich jedoch nicht von der jüngerer unauffälliger Kinder. Alle Studien bestätigen einstimmig, daß die phonologischen Muster und Prozesse beim DS die gleichen sind wie im unauffälligen Erwerb (cf. u.a. Bleile & Schwarz, 1984; Smith & Stoel-Gammon, 1983). Frühkindliche phonologische Prozesse (z.B. Tilgung auslautender Konsonanten, Reduktion von Konsonantenverbindungen, Substitutions- und Assimilationsprozesse, Tilgung unbetonter Silben) können sich allerdings hartnäckig bis in das Erwachsenenalter halten (Van Borsel, 1988). Dies führt in Verbindung mit den beim DS typischen strukturellen und funktionellen Anomalien im Artikulationsapparat (Rosin, Swift, Bless & Vetter, 1988; Sommers, Reinhart & Sistrunk, 1988) und mit Problemen bei der Kontrolle der Artikulationsmotorik dazu, daß die Sprache von Kindern und Jugendlichen mit DS häufig vermindert verständlich ist. Anders als beim WBS ist das phonologische Kurzzeitgedächtnis beim DS nicht nur beeinträchtigt, sondern bleibt sogar hinter dem Entwicklungsalter zurück (cf. Literaturüberblick dazu in Chapman, 1995:660ff., sowie Kay-Raining Bird & Chapman, 1994). 3.2. Lexikon und Semantik beim DS Das Einsetzen des ersten Wortverständnisses und der ersten Produktion von bedeutungsvollen Wörtern ist beim DS zeitlich leicht verzögert, tritt allerdings zum gleichen kognitiven Entwicklungsniveau ein wie bei unauffälligen Kindern (Cardoso-Martins, Mervis & Mervis,1985;
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 11 Mervis, 1988). Qualitativ unterscheidet sich der erste Wortschatz nicht vom normalen Erwerb. Im weiteren Verlauf bleibt die Größe des Wortschatzes bei Kindern mit DS dann allerdings vorerst hinter ihrem Entwicklungsalter zurück, weil die normale Wortschatzexplosion nicht stattfindet. Erst im Jugend- und Erwachsenenalter sind ihre produktiven Leistungen im Lexikonbereich ihrem Entwicklungsalter wieder angemessen; das Wortschatzverständnis übersteigt bei manchen Erwachsenen mit DS sogar ihr kognitives Entwicklungsniveau, was Chapman (1995:653) zu folgender Schlußfolgerung veranlaßt: „Thus, comprehension vocabulary is an area of potential strenght“. Beim WBS wurde das gute phonologische Gedächtnis als Erklärung für den extrem großen Wortschatz herangezogen (cf. 2.1), umgekehrt werden beim DS die auditiven Gedächtnisdefizite für ein erschwertes Lernen von neuen Wörtern im Kindesalter mitverantwortlich gemacht (Chapman, Miller, Sindberg & Seung, 1996). 3.3. Morphologie, Morphosyntax und Syntax beim DS Zwei- und Dreiwortsätze treten normalerweise erst mit 4-5 Jahren auf und unterscheiden sich nicht von denen unauffälliger Kinder. Obwohl die Satzlänge und Satzkomplexität – bis in das Erwachsenenalter (cf. u.a. Chapman, 1995; Schaner-Wolles, 1992) – langsam zunehmen, bleibt die grammatische Komplexität im allgemeinen reduziert. Massive Probleme mit der Flexionsmorphologie und der Morphosyntax werden schon früh offensichtlich und halten an, auch bei fortgeschritteneren Sprechern mit DS. In rein syntaktischen Bereichen sind Defizite minder auffallend: Einfache Satzstrukturen und Phrasenstrukturen werden erworben; obligatorische Satzglieder werden normalerweise nicht ausgelassen (mit Ausnahme von Null-Subjekt-Strukturen wie bei jüngeren unauffälligen Kindern, cf. Schaner-Wolles, 1996); abweichende Wortstellungen treten im Satz generell nicht auf (cf. auch Rosenberg & Abbeduto, 1993:91f.). Komplexere Strukturen – wie beispielsweise Passivsätze oder subordinierte Sätze – werden allerdings auch von Erwachsenen mit DS kaum benutzt und meistens nicht verstanden. Erste Flexionsmarkierungen treten stark verspätet auf. In Relation zur Satzlänge und Satzkomplexität ist die Flexionsmorphologie generell mehr verzögert. Sie bleibt auch bei sprachlich fortgeschritteneren Personen mit DS schwach und inkonsistent: Häufig fehlen Flexionsmarkierungen; manchmal treten Übergeneralisierungen – vorwiegend in Form von Überregularisierungen – auf; abweichende morphologische Bildungen ohne Parallelen im unauffälligen Erwerb kommen hingegen kaum vor. Wie beim WBS (cf. 2.2) zeigt sich auch beim DS eine Diskrepanz zwischen regelmäßiger und weniger bzw. unregelmäßiger Flexion: Erstere wird generell besser beherrscht (z.B. treten im Deutschen weniger Probleme bei der Komparativbildung von Adjektiven als bei der Pluralbildung von Nomina auf, cf. Schaner-Wolles, 1992; Schaner-Wolles & Dressler, 1985). In der Morphosyntax sind die Probleme eindeutig am größten, und sie erweisen sich auch bei fortgeschrittenerer Sprachbeherrschung zum Teil als ausgesprochen persistent. Folgende Auffälligkeiten sind hier charakteristisch: Das häufige und anhaltende Fehlen von grammatischen Funktionswörtern (z.B. Determinatoren, Auxiliare, Kopulaverben, Präpositionen); anhaltende Fehler in der Kasusmorphologie (im Deutschen: Nominativformen statt Akkusativ- und Dativformen; Akkusativformen statt Dativ-formen) und in der Subjekt-Verb-Kongruenz (im Deutschen: Infinitiv- oder Stammform anstelle von finit markierten Formen); Probleme mit den Regeln der pronominalen Koreferenz. Die beim DS generell auffallende Diskrepanz zwischen besseren syntaktischen und schwächeren flexionsmorphologischen / morphosyntaktischen Fähigkeiten läßt sich im Deutschen besonders gut
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 12 illustrieren: Beispielsweise wird die Stellungsregel für die Verben in der Satzstruktur (Verb-zweit- Regel) problemlos erworben und konsequent befolgt trotz Defizite in der Verbflexionsmorphologie. Dies bedeutet, daß Verb-zweit-Strukturen auftreten mit einer Infinitiv- oder Stammform des Verbs anstelle einer finit markierten Form (z.B. die Mutter schenken Tochter Puppe; Mama gehen nicht weg; Heute bleib der Bub zu Hause; cf. die Ergebnisse einer Studie mit 82 deutschsprachigen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit DS in Schaner-Wolles, 1992, 1994). 3.4. Narrative, kommunikative und pragmatische Fähigkeiten beim DS Pragmatische und kommunikative Fähigkeiten sind beim DS recht gut und im Vergleich zum Wortschatz und zu strukturellen Aspekten der Sprache mehr fortgeschritten (cf. u.a. Chapman, 1995:643ff.; Fowler et al.,1994; Rosenberg & Abbeduto, 1993:107-214; sowie die dort zitierte Literatur). Der kommunikative Wert ihrer Sprache ist vergleichsweise hoch; im Diskurs verhalten sie sich u.a. zuhörerorientiert, geben sozial angepaßte Antworten, und können sich an ein Thema halten. Beim Nacherzählen von Geschichten zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen inhaltlichen und textgrammatischen Aspekten (cf. Dressler, Schaner-Wolles & Hein, 1984; Kay- Raining Bird & Chapman, 1994; Schaner-Wolles, 1996): Obwohl Personen mit DS generell weniger nacherzählen als unauffällige Kinder mit gleichem Entwicklungsalter, können sie den relevanten Inhalt ähnlich gut erfassen und wiedergeben. Bei den textgrammatischen Mitteln der Kohäsion zeigen sich hingegen große Defizite. Häufig fehlen sie in DS-Nacherzählungen überhaupt (z.B. Wiederholung von Nomina bzw. Leerstellen statt anaphorischer Pronomina; mehr exophorische Pronomina; wenig satzverbindende Konjunktionen). Hinweise für spezifische Defizite bei der Verarbeitung von sequentiellen Informationsabfolgen zeigen sich beim Nacherzählen von Geschichten nicht, was für Kay-Raining Bird und Chapman (1994) gegen die von Rosin et al. (1988) vorgebrachte Hypothese spricht, welche die grammatischen Defizite beim DS auf ein „allgemeines Defizit in der sequentiellen Verarbeitung“ zurückführt und reduziert. Gegen diese Hypothese sprechen auch die unter 3.3 zusammengefaßten Charakteristika der satzgrammatischen Fähigkeiten beim DS: Ein zugrundeliegendes Problem mit sequentiellen Abläufen ließe Fehler in der Reihenfolge von Wörtern und Phrasen im Satz erwarten. Reihenfolgefehler im Satz treten jedoch im allgemeinen nicht auf, vielmehr erweisen sich gerade Stellungsregularitäten im Satz als völlig unproblematisch (cf. im speziellen die Verbstellungs- regularitäten bei deutschsprachigen DS unter 3.3; sowie die Bedenken von Rosenberg & Abbeduto, 1993:91 gegen die Hypothese von Rosin et al.,1988). 4. Schlußbemerkungen Die Gegenüberstellung vom Williams-Beuren-Syndrom und vom Down-Syndrom hat die Unterschiede zwischen beiden Syndromen hervorgehoben. In beiden Fällen gibt es eindeutige Dissoziationen. Allerdings treten sie in jedem der zwei Syndrome in einer eigenen Form und Ausprägung auf. Die von Karmiloff-Smith und Mitautoren (1998) aufgestellte Behauptung: „[...] W[B]S is unlike many other developmental disorders, such as Down's syndrome, in that it results in a very uneven linguistic-cognitive profile“ (343), sollte damit zumindest spezifiziert oder gar revidiert werden. Auch das Down-Syndrom ist durch ein ungleichgewichtetes Profil gekennzeichnet. Inwiefern es sich bei den aufgezeigten Profilen tatsächlich um syndromeigene Phänotypen handelt, wie es für das WBS bereits allgemein angenommen wird, soll hier dahingestellt bleiben. Auch für das Down-Syndrom mehren sich allerdings die Stimmen, die dafür plädieren, „that the diagnosis of Down syndrome is associated with a characteristic pattern of
Schaner-Wolles, Chris (2000) Sprachentwicklung bei geistger Retardierung:Williams-Beuren-Syndrom und Down-Syndrom / 13 language deficit“ (Chapman, 1995:642), und ein Profil „unique to that population of persons with mental retardation“ (Rosenberg & Abbeduto, 1993:91) vermuten. Acknowledgements Der vorliegende Beitrag entstand z.T. während meiner Forschungszeit an der Kommission für Linguistik und Kommunikationsforschung der österreichischen Akademie der Wissenschaften. Mein besonderer Dank gilt Livia Tonelli für ihre Hilfe bei meiner Lektüre der italienischen Literatur zum WBS, sowie Hannelore Grimm für ihre wertvollen Kommentare zu der ersten Fassung dieses Beitrages und für ihren Einsatz als Herausgeberin dieses Bandes. Literatur Arnold, R., Yule, W. & Martin, N. (1985). The psychological characteristics of infantile hypercalcaemia: A preliminary investigation. Developmental Medicine and Child Neurology, 27, 49-59. Azari, N.P., Horwitz, B., Pettigrew, K.D., Grady, C.L., Haxby, J.V., Giacometti, K.R. & Schapiro, M.B. (1994). Abnormal pattern of cerebral glucose metabolic rates involving language areas in young adults with Down syndrome. Brain and Language, 46, 1-20. Bellugi, U., Bihrle, A., Neville, H., Doherty, S. & Jernigan, T. (1992). Language, cognition, and brain organization in a neurodevelopmental disorder. In M.R. Gunnar & Ch. A. Nelson (Hrsg.), Developmental behavioral neuroscience. The Minnesota Symposia on Child Psychology, Vol. 24. Hillsdale, N.J.: Erlbaum. Bellugi, U., Marks, S., Bihrle, A. & Sabo, H. (1988). Dissociations between language and cognitive functions in Williams syndrome. In D. Bishop & K. Mogford (Hrsg.), Language development in exceptional circumstances. London: Churchill Livingstone. rpt. 1993 Hove: Erlbaum. Bellugi, U., Wang, P. & Jernigan, T.L. (1994). Williams syndrome: An unusual neuropsychological profile. In S.H. Broman & J. Grafman (Hrsg.), Atypical cognitive deficits in developmental disorders: Implications for brain function. Hillsdale, N.J.: Erlbaum. Beuren, A.J., Apitz, J. & Harmjanz, D. (1962). Supravalvular aortic stenosis in association with mental retardation and a certain facial appearance. Circulation, 26, 1235-1240. Bleile, K. & Schwarz, I. (1984). Three perspectives on the speech of children with Down's syndrome. Journal of Communication Disorders, 17, 87-94. Bromberg, H., Ullman, M., Marcus, G., Kelly, K. & Coppola, M. (1994). A dissociation of memory and grammar: evidence from Williams syndrome. Vortrag bei der 18. Annual Boston University Conference on Language Development. Capirci, O., Sabbadini, L. & Volterra, V. (1996). Language Development in Williams syndrome: A case study. Cognitive Neuropsychology, 7, 1017-1039. Cardoso-Martins, C., Mervis, C.B. & Mervis C.A. (1985). Early vocabulary acquisition by children with Down syndrome. American Journal of Mental Defiency, 90, 177-184. Chapman, R.S. (1995). Language development in children and adolescents with Down syndrome. In P. Fletcher & B. MacWhinney (Hrsg.), The handbook of child language. London: Blackwell. Chapman, R.S., Miller, S., Sindberg, H. & Seung, H.-K. (1996). Fast mapping of novel words by children and adolescents with Down syndrome: Relation to auditory memory. Poster 17th Annual Symposium for Research on Child Language Disorders, Madison, WI., Juni 1996. Chapman, R.S., Ross, D.R. & Seung, H.-K. (1993). Longitudinal change in language production of children and adolescents with Down syndrome. Vortrag beim Sixt International Congress of the Study of Child Language, Trieste, Juli 1993. Chapman, R.S., Schwartz, S.E. & Kay-Raining Bird, E. (1991). Language skills of children and adolescents with Down syndrome: I. Comprehension. Journal of Speech and Hearing Research, 34, 1106-1120. Clahsen, H. & Almazan, M. (1998). Syntax and Morphology in Williams syndrome. Cognition, 68, 167-198. Crisco, J.J., Dobbs, J.M. & Mulhern, R.K. (1988). Cognitive processing of children with Williams syndrome. Developmental Medicine and Child Neurology, 30, 650-656. Cromer, R.F. (1994). A case study of dissociations between language and cognition. In H. Tager-Flusberg (Hrsg.), Constraints on language acquisition: Studies of atypical children. Hillsdale, N.J.: Erlbaum. Doherty, S. & Bellugi, U. (1992). Trajectories of early language development in Williams and Down syndrome. Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology, 14, 103. Dressler, W.U., Schaner-Wolles, C. & Hein, N. (1984). Nacherzählungen mongoloider Kinder. In W.U. Dressler & R. Wodak (Hrsg.), Normale und abweichende Texte. Hamburg: Buske.
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