Ausdruck vor dem "Ausdruck". Notation, (e)motion und die mittelalterliche "Kultur der Geste"
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Ausdruck vor dem »Ausdruck«. Notation, (E)motion und die mittelalterliche »Kultur der Geste« Die beinahe komplementäre Beziehung der weder je vollständig bewiesenen, noch aber falsifizierten Deutung der Cheironomie durch Sachs und Hickmann bereitet zunächst aber einen historiographisch vielversprechenden Ansatz, die Rolle der multimodalen Funktion musikalischer Hand- und Körperbewegungen in der euro- päischen Musikgeschichte weiter zu verfolgen. Ausgegangen werden kann dabei sogar von der persönlichen Beziehung zwischen Sachs und Oskar Fleischer, einem seiner akademischen Lehrer und Amtsvorgänger als Leiter der Berliner Instrumen- tensammlung.34 Fleischer leitete schon in seinen Neumen-Studien von 1895, die eine langjährige Auseinandersetzung mit dem katholischen Gregorianik-Forscher Peter Wagner zur Folge hatten, aus ihrer Deutung als Akzentzeichen den cheirono- mischen Ursprung adiastematischer Neumensymbole ab. Demzufolge zeigte »der Chordirigent […] durch eine aufsteigende Handbewegung einen aufsteigenden Tonschritt an [und] durch eine absteigende Handgebärde bezeichnete er eine fal- lende Tonbewegung«, so dass »durch die Bewegungen der Hand […] eine einfache Melodie in die Luft geschrieben werden« konnte und die für die »einzelnen Gebär- den jener bewegten Schrift« gebräuchliche Bezeichnung Neuma auf die Notations- zeichen überging.35 In der eingangs erläuterten doppelten Optik der historischen Aneignung und psycho-physischen Aktualisierung älterer Musik erscheint es als aufschlussreich, dass auch Fleischer sich in den 1920er Jahren herausgefordert sieht, seine bereits in eine deiktisch-zeichenhafte Funktion der Handbewegung mündenden Überlegungen durch zeitgenössische Referenzen zu ergänzen: Neumen nannte und nennt man die stenographieartigen Zeichen, mit denen das Mittelalter seine Melodien niederschrieb, indem man, ähnlich wie der Stift des Pho- nographen auf der Wachsplatte, die Auf- und Abbewegungen des Kehlkopfes beim Singen schriftlich abmalte. Dieses Nachmalen nennt man Cheironomie.36 34 Vgl. zu Fleischers wissenschaftlichem Wirken auch Alfred Berner: »Die alte Musikinstru- menten-Sammlung in Berlin«, in: Wege zur Musik herausgegeben anlässlich der Eröffnung des neuen Hauses, hg. vom Staatlichen Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Berlin, Berlin (SIM) 1984, S. 11–123, darin S. 49–74. 35 Oskar Fleischer: Neumen-Studien. Abhandlungen über mittelalterliche Gesangstonschriften. Theil 1. Über Ursprung und Entzifferung der Neumen, Leipzig (Fleischer) 1895, S. 39 f. 36 Oskar Fleischer: Die Germanischen Neumen als Schlüssel zum altchristlichen Gregorianischen Gesang, Frankfurt (Frankfurter Verlags-Anstalt) 1923, S. 1. Bereits der Titel des inmitten der Inflationswirren erschienenen Buchs weist auf das Engagement ihres (zumal seit der Zusammenarbeit mit dem alldeutschen Prähistoriker Gustaf Kossina) nach rechts driften- Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
42 Alte Musik In der hier angedeuteten medientechnologischen Analogie zur im Geschäfts- und Verwaltungswesen verbreiteten Stenographenschrift, vor allem aber zu den Schall- schwingungen des Phonographen manifestieren sich Spuren von Fleischers zwanzig Jahre früherem, in einer heftigen Kontroverse mit Carl Stumpf resultierenden Enga- gement für ein obskures photo-phonographisches Aufnahmegerät. Nicht nur den »Aufnahmeapparat mit seiner Membrane und dem daransitzenden Spiegelchen« beschrieb der enthusiasmierte Musikhistoriker 1903 als Nachbildung des menschli- chen Gehörs (»wobei die Membrane das Trommelfell, das an einem Hebelstiel sit- zende Spiegelchen das Hammerknöchelchen und der Lichtstrahl sozusagen den Gehörnerv vertritt«), sondern auch die Schallwiedergabe wird als »Abbild der Sprachwerkzeuge des Menschen« erklärt: »Die geschlitzte Membrane stellt die Stimmbänder dar, der aufgesetzte Schalltrichter ist innen wie die Mundhöhle gebil- det und mit einer fleischartigen Masse zur Abdämpfung der Eigentöne des Tubus ausgekleidet«.37 So wenig Fleischers auf das cheironomische Modell gestützte und bereits von Hugo Riemann kritisierte38 diastematische Lesart adiastematischer Neu- men heute noch ernstlich verteidigt wird, so schärft die wissensgeschichtliche Kon- textualisierung solcher Holz- und Nebenwege jedoch das Bewusstsein für eine Di- mension der Neumenschrift, die auch zu Zeiten eines selbst die Musikologie usurpierenden »pictorial hype« nach wie vor mit körperlich-motionalen Prozessen zu rechnen hat. Zu den zahlreichen Volten der Forschungsgeschichte gehört näm- lich auch, dass ausgerechnet der deutschnationale Musikhistoriker Fleischer sich als einziger Neumeninterpret für die erst in jüngster Zeit wieder ausführlich untersuch- den Verfassers im Kreis um das völkische Magazin Die Sonne hin, wenngleich die eingangs entwickelte Analogie von Neumen- und Phonographenschrift gerade kein gestörtes Ver- hältnis zur technologischen Moderne zeigt. 37 Oskar Fleischer: »Photophonographie«, in: Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft 4 (1902/3), S. 301–308. Vgl. für Stumpfs Replik »Die Demonstration in der Aula der Berli- ner Universität am 6. Februar 1903«, in: Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft 5 (1903/03), S. 431–443 sowie ferner Fleischers wenig glückliche Reaktion Zur Photophono- graphie: Eine Abwehr, Berlin (Selbstverlag) 1904. Der von Fleischer propagandistisch unter- stützte Prager Techniker Emmanuel Cervenka gab vor, mittels der photoplastischen Vertie- fung von Klangkurven (im Cliché-Verfahren) die durch die Reflektion eines zunächst zu einer mit einem Spiegel verbundenen Membran gelenkten Lichtstrahls auf eine photosensi- tive Platte entstehen, eine gegenüber dem Grammophon verbesserte Wiedergabequalität zu erzielen. Stumpf witterte sowohl aufgrund erheblicher Unstimmigkeiten bei der auf die Verwendung konventioneller Grammophonplatten zurückgreifenden Präsentation des Ge- räts als auch der durch das Ätzverfahren prinzipiell unvermeidlichen klanglichen Unschär- fen einen handfesten Betrugsversuch. Ein ähnliches Gerät ist später, wenngleich eben gera- de nicht zum Zwecke der Klangwiedergabe, sondern dem Detailstudium photographisch fixierter Klangkurven, in dem von Carl Seashore geleiteten »Iowa laboratory for the psycho- logy of music and speech« verwendet worden. Vgl. Milton Methfessel: Phonophotography in Folk Music. American Negro Songs in New Notation, Chapel Hill (University of North Caro- lina Press) 1928. 38 Hugo Riemann: Handbuch der Musikgeschichte, Leipzig (Breitkopf & Härtel) 31923, Bd. 2, S. 83–86. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
Ausdruck vor dem »Ausdruck« 43 ten melodisch-räumlichen Handbewegungen der indischen Musiktraditionen inte- ressierte39 und posthum zudem zu einer wichtigen theoretischen Anregung für Ad- ornos Erwägungen zur »Sinnesgeschichte der musikalischen Schrift«40 avancierte. In der weiteren Forschung zur europäischen Neumennotation wurden und werden aufgrund der erheblichen Heterogenität der verschiedenen Typen mit un terschiedlicher Überzeugungskraft verschiedene Positionen41 zur Herkunft und Bedeutung ihrer Symbole vertreten: Adaptation alexandrinischer prosodischer Akzentzeichen (wie accutus, grave, circumflex), die Übernahme byzantinischer auf dem Akzent basierender Modelle, cheironomische Handgesten, Verwendung von im karolingischen Scriptorum zur Textbetonung gebrauchter Punktuationszeichen oder der Rückgriff auf für melodische Kurzformeln stehende ekphonische Symbo- le. Kenneth Levy verband dieses Deutungsproblem heuristisch mit der ebenso um- strittenen Frage nach dem geographischen Ursprung der Neumensymbole.42 So erklärte Froger43 die Entstehung geographischer Varianten zunächst aus einer ver- lorenen Urquelle, zwischen denen sich erst später wieder Beziehungen und Quer- verbindungen etablieren. Corbin und Cardine44 betonen hingegen die im 9. Jahr- hundert zwischen Rhein und Seine erfolgte Aufzeichnung von Lektionen, Tropen und Sequenzen,45 während Leo Treitler, Helmut Hucke und Theodore Karp auf die Bedeutung der parallel zur allmählichen Verschriftlichung über 900 hinaus wichti- gen oralen Transmission verwiesen.46 Levy selbst vertritt dabei die gegen die Exis- 39 Matt Rahaim: »Gesture and melody in Indian vocal music«, in: Gesture 8 (2008), S. 325– 347. 40 Adorno: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion (Anm. 4), S. 230–234. 41 Vgl. Nancy Phillips: »Notationen und Notationslehren von Boethius bis zum 12. Jahrhun- dert«, in: Thomas Ertelt/Frieder Zaminer (Hg.): Die Lehre vom einstimmigen liturgischen Gesang (= Geschichte der Musiktheorie, Band 4), Darmstadt (WBG) 2000, S. 293–623, dort zahlreiche weitere Literaturhinweise zu den verschiedenen Theorien. 42 Kenneth Levy: Gregorian chant and the Carolingians, Princeton (Princeton University Press) 1998, S. 109–139. 43 [Dom Jacques Froger]: Le graduel romain. Edition critique, Bd. 4/2 (Le texte neumatique: Les relations genéalogiques des manuscripts) Solesmes (Abbaye Saint-Pierre) 1962, S. 92. 44 Dom Eugène Cardines vor allem für die Choralpraxis folgenreiche Gregorianische Semiolo- gie, Solesmes (Les Éditions de Solesmes) 2003 (ital. Original 1968), besonders S. 3–4 ver- bindet für seine Erklärung der Genese der Neumennotation als eine Form verschriftlichter Gesten die Ableitung einzelner Symbole aus Akzentzeichen (virga, tractus) und der sprach- lichen Punktuation (oriscus, quilisma) mit dem systematischen Prinzip »eine Melodie durch einen Gestus zu übermitteln und den Gestus durch ein Schriftzeichen zu fixieren.« 45 Solange Corbin, »Les notations neumatique en France à l’epoque carolingienne«, in: Revue d’ Histoire de l’eglise en France 38 (1952), S. 22–42 und dies.: »Die Neumen«, in: Wulf Arlt (= Palaeographie der Musik, Bd. 1/3, Köln (Volk) 1977, S. 22–42. Phillips (Anm. 41) ver- wies in neuerer Zeit auf die Goten in Spanien und Südgallien als eine kulturvermittelnde und bisher »am meisten übersehene Karolingische ›Ressource‹« (S. 524). 46 Vgl. Helmut Hucke: »Towards a New Historical View of Gregorian Chant«, in: Journal of the American Musicological Society 33 (1980), S. 437–467 sowie Leo Treitler: »Reading and Sin- ging. On the Genesis of Occidental Music-Writing«, in: Early Music History 4 (1984), S. 135– 208 und Theodore Karp: Aspects of Orality and Formularity in Gregorian Chant, Evanston Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
44 Alte Musik tenz einer gemeinsamen Neumen-Urquelle gerichtete These der Entstehung von Schriftzeichen schon vor der späteren diviso imperii im Verlauf des 9. Jahrhun- derts.47 Aus der oralen Überlieferung entwickelt sich demnach zunächst die schreibökonomische paleo-frankische Notation, die nicht zwischen punctum und virga differenziert. Erst nach 800 folgen mit zusätzlichen Strichen bei Podatus und Torculus versehene »gesturale« Typen, die sich parallel zu den zunächst fortbeste- henden älteren Notationsformen herausbilden. Der frühere Typus wäre somit eine einfache, positionierte und damit zur schnellen graphischen Übertragung vokaler Gesten geeignete Form, während die neuere Notation den lebendigeren melodi- schen Fluss repräsentiert – was auch die von der semiologischen Choralexegese stets betonte Gesturalität dieser Zeichen plausibler erscheinen lässt. Die Herausbil- dung eines konjunkten, nuancenarmen und adiastematischen Neumentypus er- scheint in dieser Perspektive als eine Entwicklung, bei der leicht zu memorierende »concretised, reified entities« auf einen »gestural mindset« zurückgeführt werden. »Charts that were vivid as memory aids and easily animated as hand-and-arm mo- tions for guiding performance.« Die mmenotechnische Funktion führt schließlich zur allmählichen Verfestigung gestisch bestimmter Formen: I return here to the two fundamental neume-types – Type 1/graphic and Type 2/ gestural, which I have distinguished, not as styles or ductus but as processes or me- thods. Now the promulgators of the Type 2 noted archetype supplied a model that was gesturally conceived. My point is that the gestural method itself may have encou- raged a bypassing of the model’s specific neume-shapes in favour of neumations that were continuously fresh ›re-gesturings‹ of the well-remembered Gregorian melos. Each step in the writing process, each notational act, each ligature, each neume set down, would be the manifestation of a gestural impulse. […] The resulting neuma- tions would reflect personal and local choices as to what was notationally accurate and vivid.48 Doch wies andererseits Helmut Hucke schon in den 1970er Jahren sämtliche der ein Jahrhundert zuvor von Pater Ambrosius Kienle angeführten Belege49 für eine cheironomische Beteiligung der Hand an der Aufführung des cantus planus, die (Northwestern University Press) 1998, dort besonders zur Bedeutung spezifischer Formeln für die orale Überlieferung die Kapitel »Aspects of Early Gregorian Orality« (S. 1–58) und »Formulaic Usage in Melodic Chant: A Chronological Approach to Second-Mode Tracts«, S. 99–134. 47 Eine wichtige Rolle für die weitere Argumentation spielt hier die von Ewald Jammers und besonders Jacques Handschin in seinem Aufsatz »Eine alte Neumenschrift«, in: Acta Musi- cologia 22 (1950), S. 69–96 beschriebene punktartige paleofrankische St. Armand Traditi- on. 48 Levy: Gregorian chant (Anm. 42) S. 138 f. 49 Ambrosius Kienle: »Notizen über das Dirigieren mittelalterlicher Gesangschöre«, in: Vier- teljahrsschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 158–169. Weitere potentielle Belegstellen bei Michel Huglo: »La chironomie médiévale«, in: Revue de Musicologie 49 (1963), S. 153– 171. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
Ausdruck vor dem »Ausdruck« 45 durch Gebärden »das was laut wird auf hundertfältige Weise stützt«50, als aus dem Zusammenhang gerissene Missverständnisse zurück.51 Bereits in der frühchristli- chen Literatur sieht Hucke keinerlei ausreichenden Belege mehr für die von Moc- quereaus metrischer Choraldeutung und Fleischers Neumen-Studien,52 aber auch späteren Forschern wie Stäblein, Jammers oder Wellesz übernommene These der Entwicklung der Neumenschrift aus cheironomischen Handzeichen. Vollends die für das Hochmittelalter von Kienle angeführten (und nicht in engerem Sinne mu- siktheoretischen) Quellen erscheinen ihm unzureichend: Es handelt sich bei ihnen zum einen um den Casus Sancti Galli Ekkehards IV, in dem Bischöfe während des Osterfests nach Handzeichen singen (»ad modulos sequentiae pingendosrite levasset«53). Außerdem führt Kienle die von Hucke kaum kommentierte Ordo des Beroldo aus dem Mailand des 12. Jahrhunderts (»Mediante manu et voce sencen- sionem antiphonae, et ancensioionem«) und schließlich die Gemma animae de di- vinis officiis des Honorius Augustodinensis an. In letzterer erscheint ein »Praecentor qui cantantes manu et voce incitant« – übrigens mit einem von keinem der bishe- rigen Kommentatoren beachteten Bezug zum Knechtslohngleichnis des Lukas- Evangeliums (Kap. 17, 7–10) – der gleich einem »servus qui boves stimulo mimans dulci voce bobus jubilat« agiert.54 Die Unsicherheit besteht vor allem darin, ob das Verb »incitare« auf mehr als ein die im Vergleich zum »praecentor« unwissenden Sänger antreibendes Einsatzzeichen verweist. Berücksichtigt werden muss allerdings zunächst, dass Huckes Darstellung sich primär gegen das in der sich von musikwissenschaftlicher Forschung distanzieren- den Choralpraxis noch immer verbreitete Konstrukt einer aus der Antike schadlos übernommenen »gregorianischen Cheironomie« richtet. Dies schließt zwar eine unmittelbar gestisch-deiktische, keineswegs aber einen z. B. bei Symbolen wie dem Quilisma durchaus naheliegenden motorisch-gestischen Ursprung (im Sinne der Umsetzung psychischer Entladung in Schrift) aus. Ferner ist aus einer übergreifen- den kulturgeschichtlichen Perspektive zu bedenken, dass die körperbestimmte Zei- chengebung in der Tat als ein zentrales Instrument der Kommunikation theologi- 50 Walter Benjamin: »Der Erzähler«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Hermann Schwep- penhäuser und Rolf Tiedemann, Bd. 2/2, Frankfurt am M. (Suhrkamp) 1977, S. 438–465, hier S. 464. 51 Helmut Hucke: »Die Cheironomie und die Entstehung der Neumenschrift«, in: Die Mu- sikforschung 32 (1979), S. 1–16. 52 André Mocquereau: Paléographie musicale, Solesmes (Impr. Saint-Pierre) 1889; Oskar Flei- scher: Neumen-Studien (Anm. 35) 1895. 53 »Modulus« stände in Huckes Lesart für die Melodie, während das Verb »pingere« eher un- gebräuchlich erscheint. Es könnte figurativ im Sinne von »fingere« verstanden werden, aber wäre auch dann nicht auf Handzeichen, Winke und dgl. (»neumas«) bezogen, sondern auf »modulus«. 54 Honorius Augustodinensis: Gemma Animnae Sive De divinis officiis et antiquo ritu missarum Gemma Animae: Patrologia Latina in: Patrologia Latina, hg. v. Jacques-Paul Migne, Bd. 172, Paris (Migne) 1844 ff, Sp. 571–738, hier Sp. 549 C. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
46 Alte Musik scher, sozialer und politischer Verhältnisse im europäischen Mittelalter fungierte,55 das Jacques Le Goff selbst als »Kultur der Geste«56 beschrieb: Haltung und Bewe- gung von Kopf oder Händen verkörpern im Zusammenhang des Gottesdiensts, in Herrschaftsgesten wie dem Eidschwur, in Klosterregeln und bisweilen auch weltli- chen Tänzen die Ordnung von Körper und Seele und dienen der Kommunikation ebenso mit Gott wie mit der sozialen Umwelt. Die Gebärde mag dabei gelegentlich sogar als Beweis der Gottesergebenheit gelten – erinnert sei hier an die Einteilung der Eucharistie in verba bzw. facta oder opera, zu denen gestus, motus und actus gehören. Die Bewegung des Körpers nach außen (foris) wird dabei als Ausdruck der inneren Bewegung der Seele (intus) betrachtet, also als Resultat und Zeichen innerer Vorgänge, und kann ihrerseits durch stetige Disziplinierung jenes Äußeren positiv beeinflusst werden. Die Diskussionen der Körperbewegung kreisen über mehrere Jahrhunderte um die Frage ihrer Ausgrenzung, Unterwerfung oder Integration: Der ethische Begriff des »gestus« fungiert dabei sowohl als Synonym wie auch als Teilbereich des kon- zeptuell weiter reichenden Terminus »motus«: Damit partizipiert die Gestik einer- seits an der gerade für die spekulativ-mathematische Musiktheorie relevanten Ordo der Planetenbewegung und befindet sich zugleich in einem ambivalenten Verhält- nis zur Mobilität im Sinne ihrer Vergänglichkeit. Durch das Fortwirken der anti- ken Rhetorik steht der Terminus »gestus« schließlich auch in permanenter Span- nung zu den ausschweifenden Zuckungen der »gesticulatio« und den sich ebenso unwillkürlich-impulsiv wie magisch-wunderhaft der menschlichen Vernunft ent- ziehenden »gesta«. Eine weitere Ausdifferenzierung wird im Zuge der sich im 13. Jahrhundert ausbildenden Hof- und Laienkultur erreicht, die – ohne dass trotz der Konkurrenz zur Schrift von einer linearen Auflösung der gestischen Diszipli- nierung des Körpers die Rede sein kann – im Kontext des Aufschwungs religiöser Mystik zugleich mit einem partiellen Auftrieb für rasche Körperbewegungen ein- her geht. Substantiell ist von solchen Wandlungen zunächst der »chanson de geste« be- troffen, eine Gattungsbezeichnung, in der sich die im Altfranzösischen vom in dividuellen Gestus absehende genealogisch-historische Bedeutung der »geste« mit körperlicher Routine kreuzt. Ob diese Zweideutigkeit noch für Johannes de Gro- cheos den »antiquis et civibus laborantibus et mediocribus minstrari« darzubieten- den »cantus gestualis« in Anspruch zu nehmen ist, wie u. a. Schmitt behauptet,57 erscheint angesichts der funktionalen Erklärung der Gesänge als Erholung von 55 Vgl. Jean-Claude Schmitt: La raison des gestes dans l’Occident médiéval, übers. v. Rolf Schu- bert und Bodo Schulze als Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart (Klett- Cotta) 1992 sowie Edgar Bierende/Sven Bretfeld/Klaus Oschema (Hg.): Riten, Gesten, Ze- remonien. Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Trends in Medieval Philology, Band 14) Berlin (de Gruyter) 2008. 56 Jacques Le Goff: La Civilisation de l’Occident médiéval, Paris (Arthaud) 1964, S. 440. 57 Schmitt: Logik der Gesten (Anm. 55), S. 269. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
Ausdruck vor dem »Ausdruck« 47 gewohnter Arbeit (»dum requiescunt ab opere consueto«58) allerdings nicht hin reichend belegt. Gerald J. Brault spricht in seiner analytischen Edition des Rolands- lieds von einem impliziten »gestural script« (im Sinne eines Regiebuches), das der immer auch von Musik begleiteten Darbietung solcher Epen unterliegt: »With or without his viol, the jongleur surely mimicked certain scenes in Turoldu’s poem, grimacing and raising his voice in imitation of Ganelon’s anger at Roland’s sarcastic rejoinder, facing or even stepping from side to side to impersonate speakers in a dialogue.«59 Derartige körperliche und vokale Gebärden lassen sich jedoch nicht nur für den »chanson de geste« und ähnliche episch-dramatische Genres,60 sondern auch für den Vortrag des einstimmigen höfischen Liedes der okzitanischen Troubadour be- legen. So thematisiert z. B. ein Trauergesang (planh) des Aimeric de Belenoi explizit seine während der Darbietung von Schmerz verzerrte Stimme.61 Gemeinsam mit anderen trans- und paratextuellen Elementen, die erst mit der multiauktorialen Zuschreibung und Zusammenstellung der Gesänge zu Codices und Chansonni- ers62 in den Hintergrund treten, dürfen sie als nicht in der Überlieferung, wohl aber ihrer performativen Präsenz mit Musik und Sprache gleichrangige Charakte- ristika gelten: Many nonmusical, nonverbal components of performance that are now irrecoverable were as much part of the song as the melody and text, and were probably embedded in its early reception: the performers’ appearance and gestures, their relationship to the audience, their present or absent patrons.63 Gerade in Fällen, in denen musikalische und körperliche Vorgänge konzeptuell und kognitiv zusammenfallen, schlägt sich die verbale Erwähnung gestischer Akti- 58 Ernst Rohloff: Der Musiktraktat des Johannes De Grocheo, Leipzig (Reinecke) 1943, S. 50. Vgl. auch Doris Stockmann: »Musica vulgaris bei Johannes de Grocheio«, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 25 (1983), S. 3–56, dort S. 35–38. 59 Gerald J. Brault: The Song of Roland. An Analytical Edition, Bd. 1, University Park/London (Pennsylvania State University Press) 1978, S. 113. 60 So verweist Suzanne Fleischman: »The Non-Lyric Texts«, in: F. R. P. Akehurst/Judith M. Davis (Hg.): A Handbook of the Troubadours, Berkeley (University of California Press) 1995, S. 174 auf die in »chanson de geste« und Heiligenlegende gleichermaßen verbreiteten »asi- des, reptitions, extensive use of direct speech (dialogue), expressive sounds and sound ef- fects« sowie »[the] use of motion and gestures, and tense switching.« 61 Vgl. Poésies du troubadour Aimeric de Belenoi, hg. von Maria Dumitrescu, Paris (Societé des Anciens Textes Français) 1935, S. 114f. : »Chantar m’ave tot per aital natura/Cum lo signes, que chanta ab dolor/Quan mor: et ieu chan planhen mon senhor.« Zur Diskussion der Stelle für die Aufführungspraxis vgl. Ian Parker: »The performance of troubadour and trou- vere songs. Some Facts and Conjectures«, in: Early Music 5 (1977) 2, S. 184–208, hier S. 193. 62 Vgl. Marisa Galvez: Songbook. How Lyrics Became Poetry in Medieval Europe, Chicago (Uni- versity of Chicago Press) 2012. 63 Susan Boynton: »Troubadour Song as Performance: A Context for Guiraut Riquier’s ›Pus sabers no’m val ni sens‹«, in: Current Musicology 94 (2012), S. 7–36, hier S. 7. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
48 Alte Musik Abb. 6: Jaufre Rudel: vau de talant embroncs e clins (Ich gehe vom Verlangen getroffen und gebeugt) onen trotz der berechtigten Warnung vor einer semantischen Textdeutung im Sin- ne des romantischen Kunstlieds64 durchaus auch in in der musikalischen Gestal- tung der Gesänge nieder. Verwiesen mag – im Bewusstsein, dass es sich bei den scheinbar objektiv notierten Linien, Bögen, Steigungen und Stufenbewegungen um nicht mehr und nicht weniger als eine kognitiv-metaphorische Konzeptualisie- rung ton-räumlicher Relationen handelt65 – auf die ähnliche Stellung des am Ver- sende stehenden Wortes »clinar« (senken, beugen, niederdrücken usw.66) in Jaufré Rudels »Lanquan li jorn son lonc en mai«, »Qui la vi en ditz« von Aimeric de Pe- guilhan sowie einem anonym überlieferten Lai non par (»Finaments e jausents«).67 64 Hendrik van der Werf: »Music«, in: F. R. P. Akehurst (Hg.): A Handbook of the Troubadours, Berkeley 1995, S. 143–145 und Matthias Bielitz: Musik als Unterhaltung, Bd. 4,2, Neckar- gemünd (Männeles) 1998, S. 37–39. 65 Vgl. Marion Guck, »Analytical Fictions«, in: Music Theory Spectrum 16 (1994) 2, S. 217– 230 sowie Arnie Cox: »Hearing, Feeling, Grasping Gestures«, in: Anthony Gritten/Elaine King (Hg.): Music and Gesture, Aldershot (Ashgate) 2006, S. 54 f. und Lawrence M. Zbi- kowski: »Musical Gesture and Musical Grammar. A Cognitive Approach«, in: Anthony Gritten/Elaine King (Hg.): New Perpectives on Music and Gesture, Farnham (Ashgate) 2006, S. 83 f. 66 So schon nach François-Just-Marie: Lexique roman ou dictionnaire de la langue des trouba- dours, Paris (Silvester) 1838, S. 14: clinar – lat. Clinare = courber, baisser. Vgl. auch die entsprechenden Nachweise bei Emil Levy: Provenzialisches Supplement Wörterbuch, Bd. 2, Leipzig (Reisland) 1898, S. 439 und Joan de Cantalausa: Diccionari General Occitan, Lo monastèri de Rodés (Cultura d‘óc) 2003, S. 257. 67 Die Notenbeispiele sind hier nach der Edition in Ismael Fernandéz de la Cuesta/Robert Lafont (Hg.): Las cançons dels trobadors, Tolosa (Inst. d’Estudis Occitans) 1979, S. 53 f., 404–411 und 751–763 wiedergegeben. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
Ausdruck vor dem »Ausdruck« 49 Abb. 7: Aimeric de Peguilhan: car m’auci cli(n) (der ich mich vor ihr verneige) Abb. 8: Anonymus: marits testa enclina (der Gemahl mit gesenkten Kopf ) Die primär mündliche Konzeption und Präsentation der Musik68 ist gerade an- hand eines solchen, die Filter der verschiedenen Rezeptions- und Tradierungsstufen einmal recht unbeschadet passierenden Gestaltungsmerkmals schwerlich von der Hand zu weisen. Auch die berühmte Schilderung von Guillem de Peteus’ Erzäh- lung seiner Erlebnisse in sarazenischer Gefangenschaft, bei der er »coram regibus et 68 Vgl. zentral hier noch immer die Überlegungen von Jörn Gruber: »Singen und Schreiben, Hören und Lesen als Parameter der (Re-)Produktion und Rezeption des Occitanischen Minnesangs des 12. Jahrhunderts«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 35–51 zur auf Singen und Hören gerichteten (Re)-Produktion und Re- zeption des »art de trobar«, denen gegenüber erst nach ihrem Verfall die von der literatur- wissenschaftlichen Rezeption bis heute betonte Funktion von Notation und Lesen an Be- deutung gewinnt. Der vom Verfasser auf dem Wiener Symposium »Many Kinds of Music: A Cross-Cultural Enquiry« des Balzan Research Programms »Towards a global history of music« (Oktober 2014) skizzierte Vergleich institutionalisierter westafrikanischer Preissän- ger (Griots und Jali) mit der Stellung der Troubadour und/oder Joglar bietet eine heuris- tisch fruchtbare Möglichkeit, gerade im Modus der »Performance« die Grenzen und Poten- ziale einer historiographisch-interkulturellen Perspektivierung zu bestimmen: Beziehungen bestehen hierbei sowohl in der Herstellung auktorialer Autorität (Razos und Vidas als an fableau und Heiligenlegende orientierte Einleitungen, Diyamo als verbale Ankündigung ei- nes Liedes, seiner Ausführenden und des narrativen Kontexts) als auch der Einschaltung von Liedern an neuralgischen Punkten des intermedialen Vortrags epischer Texte. Eine fort- laufend aktualisierte Assoziation zwischen Musik und Text ergibt sich ferner durch inter- strophische Bezüge und Erwartungen zum Ablauf der Melodieteile bzw. beim Preisgesang im Zuge eines durch Sprichworte, Preisnamen, Lieder und instrumentale Begleitpattern etablierten intertextuellen Aktionsrahmens. Hier wie dort steht dabei die Erweiterung, Ver- änderung und Verzierung melodischer Grundmotive im Mittelpunkt der »Performance«. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
50 Alte Musik magnatis atque Christianis coetibus« durch »rhythmicis versibus cum facetis modulationibus«69 brillierte, suggeriert eine der Formgestaltung zugrundeliegende Erweiterung und Verzierung verbaler wie melodischer Motive.70 Assoziationen zwischen Musik und Text entstehen dabei sowohl durch vorgeprägte Erwartungen zur (strophischen) Abfolge der musikalischen Formteile71 als auch durch schritt- weise Bedeutung an zusätzlicher Bedeutung gewinnende melodische Motive (»marqueur sonore«72) in der Strophenmitte. Einen deutlichen Kontrast zu den »gesticulationes« der höfischen Epik, die mit dem liturgischen Gesang freilich ein transigentes Verhältnis von Musik und Spra- che teilt, bildet die für das Verhältnis von Affekt und Innerlichkeit bedeutende Beziehung von »cor und vox«, die Wolfgang Fuhrmanns Studie Herz und Stimme der in der musikalischen Mediävistik lange Zeit dominierenden mathematisch- theoretischen Defi nition der Musik entgegenstellt.73 Den historiographischen Flucht- und Referenzpunkt dieser in zahlreichen Quellen nachweisbaren Polarität bildet für ihn dabei vor allem die Empfindsamkeitsästhetik des 18. Jahrhunderts. Auch eine Konfrontation mit dem noch später liegenden Diskurs der »Expression of Emotions« etabliert allerdings eine heuristisch weiterführende Perspektive auf die aus früh- und hochmittelalterlichen Quellen zur Musikausübung sprechende Gebetsemotionalität, die sowohl als »lectio« wie auch als sensuelle »remoratio« nach der Wiederherstellung des Lebens Jesu strebt. Dies rückt den liturgischen Gesang zum einen in die Nähe der vielfältig überlieferten Gebetsposen,74 erklärt vor allem aber zum Zwecke der Bewegung der Seele oder spirituellen Erweichung des Herzens gebrauchte Termini, die als körperliche (»carnalis«) »Ausdrucksbewe- gungen« fungieren, deren emotionale Authentizität über das mit offenen Misstrau- en betrachtete mimisch-nachahmende Verhalten zugleich hinausweist. Wie eine von Fuhrmann kaum direkt zitierte, im Literaturverzeichnis jedoch aufgeführte Studie von Anders Ekenberg zeigen konnte, sehen schon karolingische Autoren wie Hrabanus Maurus oder Smaragdus in seiner Diadema Monachorum eine zentrale 69 Jean Boutière/Alexander Herman Schutz/Irénée-Marcel Cluzel: Biographies des troubadours. Textes provencaux des XIIIe et XIVe siècles, Paris (Nizet) 31973, S. 585. 70 Vgl. z. B. Parker: »Performance« (Anm. 61), S. 201–205; Elizabeth Aubrey: »Occitan Mo- nophony«, in: Ross W. Duffin (Hg.): A Performer’s Guide to Medieval Music, Bloomington (University of Indiana Press) 2000, S. 122–133, hier S. 124–126. 71 Boynton: »Troubadour Song as Performance« (Anm. 63) zu Guiraut Riquier sowie allge- mein Elizabeth Aubrey: The Music of the Troubadours, Bloomington (Indiana University Press) 1996, S. 237–273. 72 Christelle Chaillou: »Le ›marqueur sonore‹: un exemple de conjugaison subtile des mots et des sons dans l’art de trobar«, in: Tenso 25 (2010), S. 36–62. 73 Wolfgang Fuhrmann: Herz und Stimme, Kassel (Bärenreiter) 2004. 74 Vgl. umfassend Rudolf Süntrup: Die Bedeutung der Liturgischen Gebärden und Bewegungen in Lateinischen und Deutschen Auslegungen des 9. bis 13. Jahrhunderts (= Münstersche Mit- telalter-Schriften, Band 37), München (Fink) 1978. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
Ausdruck vor dem »Ausdruck« 51 Aufgabe des Gesangs in der Erzielung religiöser Erschütterung.75 Einerseits wird diese über einen den Bereich des verbal Darstellbaren76 transzendierenden Freu- denschrei (»Jubilus«) im Gotteslob erzielt. Schon bei Gregor dem Großen ist vom Lachen des Herzens (»risus cordi«) die Rede, welches körperliche Bewegung und Affektation in sprachlich transzendenten Lobgesang überführt. Jubilum vero dicimus, cum tantam laetitiam corde concipimus, quantam sermonis efficacia non explemus; et tamen mentis exsultatio hoc quod sermone non explicat voce sonat. Bene autem os risu impleri dicitur, labia jubilo, quia in illa aeterna patria, cum justorum mens in exsultationem rapitur, lingua in cantum laudis elevatur. Qui quoniam tantum vident, quantum dicere non valent, in risu jubilant, quia non exp- lendo resonant quod amant.77 Eine solche Bewegung der ekstatischen emotionalen Erregung vom Körper über das Liebe und Affektation empfindende Herz hin zur stimmlichen »Ausdrucksbe- wegung« ist noch mehrere Jahrhunderte später bei dem Augustinermönch Hugo von St. Viktor (ca. 1097–1141) zu verfolgen. Trotz der sehr umfänglichen Beschrei- bung und Klassifikationen körperlicher Gesten in seiner Institutio Novitorum wer- den diese mit dem in einem weiteren Traktat behandelten Gebet (De Modo Orandi) bezeichnenderweise nicht in direkte Verbindung gestellt. Vielmehr geht dieses bei Hugo im Anschluss an die seit der Zeit der Kirchenväter verbreitete tropologisch- bildhafte Interpretation von Psalmtexten mit der Vision des herannahenden Gottes in den emphatisch die Wortsprache übersteigenden Iubilus über: Affectus enim hoc proprium habet, quo quanto major et ferventior intus est, tanto minus foris per vocem explicari potest. Illud vero genus supplicationis, quod per sola verba exprimitur, minorem quidem isto devotionem indicat, majorem autem illo, quod nominibus simul et verbis, plena videlicet significatione pronuntiatur. Illud igi- tur, quod solis nominibus fit, ad puram orationem pertinere videtur, quod solis verbis ad exactionem; quod nominibus simul et verbis ad captationem. Ita ut pura oratio magis in jubilum convertatur, et appropinquet Deo, perveniat citius, et efficacius obtineat.78 Andererseits obliegt dem wissend dargebotenen (»sapienter psallente«) liturgischen Gesang auch die Erzeugung einer »affectum pietas« – der bereits ausnehmend bei Isidor von Sevilla thematisierten »Zerknirschung des Herzens« (»compunctio cor- 75 Anders Ekenberg: Cur Cantatur. Die Funktionen des liturgischen Gesangs nach den Autoren der Karolinger-Zeit (Almquist & Wiksell) Stockholm 1987 (= Bibliotheca Theologicae Practicae, Band 41), S. 122–141. 76 Zum Verhältnis verbaler und non-verbaler Elemente im Spannunsgfeld von »sensibilis« und »rationabilis« allgemein Emmanuela Kohlhaas: Musik und Sprache im Gregorianischen Ge- sang (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Band 49), Stuttgart (Steiner) 2001, besonders S. 114–122 und S. 139–142. 77 Gregorius Magnus: Moralia in Iob, in: Patrologia Latina, hg. v. Jacques-Paul Migne, Bd. 75, Paris (Migne) 1844 ff, Sp. 519–1162, hier Sp. 856 A-B. 78 Hugo St. Viktor: De Modo Orandi, in: Patrologia Latina, hg. v. Jacques-Paul Migne, Bd. 176, Paris (Migne) 1844 ff, Sp. 977–987, hier Sp. 980 C-D. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
52 Alte Musik dis«). Wenn der Fuldaer Abt Hrabanus Maurus in seiner Institutione Clericorum die Aufgabe des liturgischen Gesangs in der solcherart zu erreichenden Überführung der Seele in einen entsprechenden Zustand sieht (»cujus psalterium idcirco cum melodia cantilenarum suavium ab Ecclesia frequentatur, quo facilius animi ad compunctionem flectantur«79), ist für den Kontext dieser auch in späteren Ausein- andersetzungen herangezogenen Äußerung die seit der Zeit der Kirchenväter the- matisierte Verbindung der »compunctio« mit Tränen, Weinen und der Klage80 von Bedeutung: Compunctio cordis est humilitas mentis cum lacrymis et recordatione peccatorum, et timore judicii. Ex genuino fonte compunctionis solent profluere lacrymae, id est, dum mens operum suorum diligentius mala considerat, aut dum desiderio aeternae vitae suspirat.81 Die von den verschiedenen karolingischen Autoren herausgestellten »Ausdrucks bewegungen«, nämlich sowohl »Lachen« als auch »Weinen«, sind aber nun auch jene körperlichen Zustände, die nach Hellmuth Plessner – und nur ein sich selbst genügendes philologisches Gewissen erregt sich über das Zitat anthropologischer Ausdruckstheorie inmitten früh-mittelalterlicher Traktate – nicht nur das Tier vom Menschen scheiden, sondern diesen gerade auch in und mit der Erfahrung des »Verlust[s] der Herrschaft« über den Körper zur akustischen Kommunikation und Selbstfindung befähigen. Im Unterschied zu Erröten oder Erbleichen, die ihnen verwandter sind als den Gebär- den, drücken sie eine Antwort aus, was in ihrem Lautwerden manifest wird. Zeugt dies auf der einen Seite für den eruptiven Einsatz, die einschneidende Tiefe der Des- organisation und für die Ungehemmtheit des körperlichen Geschehens, so auf der anderen Seite für die nicht zu übersehende soziale Komponente, die mit der Funktion des Signals zwar nicht ganz falsch, aber doch sicher zu eng gefaßt ist. Man darf nicht vergessen, daß dem Laut die Kraft der Selbstbestätigung innewohnt: man hört sich selbst.82 79 Hrabanus Maurus: De institutione clericorum, hg. v. Alois Knöpfler, (= Veröffentlichungen aus dem kirchenhistorischen Seminar München, Band 5), München: Lentner 1900, S. 91. 80 Vgl. Johannes Quasten: Musik und Gesang in den Kulturen der heidnischen Antike und christ- lichen Frühzeit, Münster (Aschendorff ) 21973, S. 149 f. 81 Hrabanus Maurus: Ecclasiastica Disciplina Libri Tres, in: Patrologia Latina, hg. v. Jacques- Paul Migne, Bd. 112, Paris (Migne) 1844 ff, Sp. 1191–1262, hier Sp. 1257B. Weitere Be- legstellen bei Ekenberg, Cur Cantatur (Anm. 75), S. 129–131, der ausführlich auf Hraba- nus eingeht. In einem auf das Buch Sirach bezogenen Kommentar seines Commentariorum In Ecclesiasticum Libri Decem, in: Patrologia Latina, hg. v. Jacques-Paul Migne, Bd. 109, Paris (Migne) 1844 ff, Sp. 763–1126, hier Sp. 910D lehnt der Fuldaer Abt einen Gebrauch der Musik zu anderen Zwecken unmissverständlich ab. 82 Helmuth Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhal- tens (1941), in ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Günter Dux, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1980 ff, Bd. 7 (Ausdruck und menschliche Natur), S. 203–390, hier S. 276. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
Ausdruck vor dem »Ausdruck« 53 Dieses psycho-soziale Motiv führt unmittelbar zur Erklärung des liturgischen Ge- sangs (und dort besonders des Allelujas) als »quammodo angelis sociatur« (bei Sma- ragdus), die als anagogische Spiegelung und rituelle Präsenz der himmlischen Ord- nung83 bei Aurelianus Reomensis (»in hoc angelorum choros imitatur«84) ebenso wie noch bei Bernhard von Clairvaux die Integration der »musica caelestis«85 in das boethianische Musikmodell motiviert: »Nam quod psallentibus quoque dignanter admisceri sancti angeli soleant«.86 Amalar von Metz beschreibt die Wirkung der in verschiedenen Responsorien vergenommenen melismatischen Interpolationen – das sogenannte »neuma triplex«87 – als aus einer musikalischen Akzentuierung des verbal Unsagbaren resultierende Sistierung der syllabisch und wortbetont gepräg- ten Zeiterfahrung und eine entsprechende mit dem gemeinschaftlichen Choralge- sang einhergehende sensuelle Elevation wird noch in Abt Sugers berühmten Be- richt von der Weihe der Kathedrale zu Saint Denis im Jahre 1144 bekräftigt. Wiederholt werden durch den Gesang hervorgerufene und hier gewiss nicht nur metaphorisch zu verstehende Freudensekstasen beschrieben. Beim Einblick in die auf König Dagobert zurückgehenden Reliquienschreine werfen sich König und Bischöfe nieder und mit »gaudio inestimabile psallebant et flebant« (erneut also lachen, singen und weinen!) durchlaufen sie in der anschließenden Messfeier das ephiphanische Gemeinschaftserlebnis des wie von den himmlischen Heerscharen einstimmig intonierten Gotteslobs: Qui omnes tam festiui tam sollempniter, tam diuersi tam concorditer tam propinqui tam hilariter ipsam altarium consecrationem missarum sollempnem celebrationem superius inferiusque peragebant, ut ex ipsa sui consonantia ex coherentia armonie grata melodia potius angelicus quam humanus concentus estimaretur et ab omnibus et ore acclamaretur.88 83 Ekenberg: Cur Cantatur (Anm. 75), S. 171–176. 84 Aurelianus Reomensis: Musica disciplina (= Corpus scriptorum de musica, Band 21), hg. v. Lawrence Gushee, Dallas (American Institute of Musicology) 1975, S. 59. 85 Vgl. Reinhold Hammerstein: Die Musik der Engel, Bern (Francke) 21990, S. 125 f. und Christian Kaden: Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel und Stuttgart (Bärenreiter/Metzler) 2004, S. 134. 86 Bernhard von Clairvaux: Sermones in Cantica canticorum, in: Patrologia Latina, hg. v. Jac- ques-Paul Migne, Bd. 183, Paris (Migne) 1844 ff, Sp. 519–1162, hier Sp. 808 B. 87 Amalarii Episcopi opera liturgia omnia, hg. v. Jean Michael Hanssens, Vatikanstadt (Bibliote- ca Apostolica Vaticana) 1948 ff, Bd. 3, S. 54. Vgl. zur weiteren Überlieferung und Wir- kungsgeschichte des »neuma triplex« besonders Thomas Forest Kelly: »Neuma Triplex«, in: Acta Musicologica 60 (1988), S. 1–30. 88 Abt Suger von Saint-Denis: »De Consecratione», in: ders.: Ausgewählte Schriften, hg. von Andreas Speer und Günther Binding, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2000, S. 242 und 248, dort auch die folgende Übersetzung der Passage: »Sie alle vollzogen die Weihe der Altäre selbst sowie die feierliche Zelebration der Messen – oben wie unten – in so festlicher Freude, so feierlich, in ihrer Verschiedenheit so einmütig, in ihrer Verbun- denheit so heiter, daß aufgrund des Zusammenklangs und des Zusammenhalts ihrer Har- monie der wohllautende Gesang eher eine Musik für Engel als der Menschen hätte gehalten werden können und alle mit Herz und Mund ausriefen.« Vgl. zur theologisch-ideenge- Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
54 Alte Musik Wie aber verhalten sich zu diesen theologischen Motiven nun die bereits im Kon text mit Sachs angeführten neurokognitiven Überlegungen zu »co-speech gestures« und dem musikalischen Bewegungsverhalten? Auch wenn letzteres in der umfang- reichen Literatur zur Aufführungspraxis des cantus planus nur eine geringe Rolle spielt, scheint seine gleichsam statuarische Darbietung nur schwerlich vorstellbar. Immerhin enthält die um die Mitte des 9. Jahrhunderts entstandene Musica Disci- plina des Aurelianus Reomensis zumindest einen bislang als »cheironomisches Zei- chen« wohl missinterpretierten Hinweis auf die Verbindung einer Neumenfigur mit motorischen Impulsen. Die kognitive Linguistik erkannte in den 1990er Jah- ren, dass die den Sprechvorgang ohne eine unmittelbar ikonische, metaphorische oder deiktische Funktion gliedernden »gestural beats« (»small up and down or back and forth flicks of one or both hands«) nur mittelbar mit verbalen Betonun- gen verbunden sind, hingegen aber einer eigenen isochronen Segmentierung unter- liegen. Als gedanklich auf diese Weise vorakzentuierte und vorweggenommene Einsatzpunkte solcher regelmäßigen Pattern von Handbewegungen kommen be- sonders sogenannte »nuclei«, d. h. die durch die Tonierung hervorgehobenen Kern- elemente verbaler Phrasen in Frage.89 Für Aurelianus’ text- und sprachgebundene Beschreibung der Betonung einer dreiteiligen Hakenneume (tristropha) auf dem Reperkussionston des Gloria als Folge von Handschlägen erscheint eine solche Funktion des als körperliches »re-enactment« der Trinitas beschriebenen Vorgangs immerhin vorstellbar: »Sagax cantor, sagaciter intende, ut si laus nomino trino in- tegra canitur, duobus in locis scilicet in xvu syllaba, et post, in quarta decima, trina ad instar manus verberantis facias celerum ictum«.90 Dringend zu differenzieren sind andererseits die bis heute gern zitierten Überle- gungen Joseph Smith van Waesberghes zur Funktion der Hand. In seinem Band zur mittelalterlichen Lehre und Theorie der Musikerziehung für die Reihe der Mu- sikgeschichte in Bildern stellt er die manuelle Bewegung zunächst in den Zusam- menhang mit der Unterstreichung unserer »Gedanken und Gefühle« durch »Ge- bärden unserer Hände«.91 Die aus den Ordenregeln der Benediktiner von Cluny und Hirsau entnommene Gebärden- und Zeichensprache – sie dient primär der Einhaltung des strikten Schweigegelübdes – wird von dem verdienten Mediävisten schichtlichen Herleitung des »Una voce dicentes« auch Quasten: Musik und Gesang (Anm. 80), S. 95 f. und Süntrup: Liturgische Gebärden (Anm. 74), S. 455. 89 Evelyn McClave: »Gestural beats: The rhythm hypothesis«, in: Journal of Psycholinguistic Research 23 (1994), S. 45–66. 90 Aurelianus Reomensis: Musica disciplina (Anm. 84), S. 123. Aurelian of Reóme: The Disci- pline of Music, übers. von Joseph Ponte, Colorado Springs (Colorado Music Press) 1968, S. 49 enthält die folgende Übersetzung: »Wisely observe, O wise singer, that if the praise to the threefold name is sung in its entirety, in two places, that is, on the sixteenth syllable, you make a threefold swift beat like the beating hand.« Vgl. auch Phillips: »Notationen und Notationslehren« (Anm.41), S. 507. 91 Joseph Smith van Waesberghe: Musikerziehung: Lehre und Theorie der Musik im Mittelalter (= Musikgeschichte in Bildern: Musik des Mittelalters und der Renaissance, Lieferung 3, Band 3), Leipzig (VEB Deutscher Verlag für Musik) 1969, S. 23 f. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
Ausdruck vor dem »Ausdruck« 55 jedoch grob missverständlich gedeutet. Die irdische Vorwegnahme und Imitation der sich auf das Gotteslob beschränkenden Engelscharen umfasst nicht etwa konti- nuierliche Begleit- und Dirigierbewegungen, sondern ihr geht es um intuitiv mit visuellen Assoziationen verbundene Verkörperungen von alltäglichen und liturgi- schen Gegenständen, deren Beherrschung zugleich eine metasprachliche Identität zwischen den im höchst unterschiedlichen Grade des Lateinischen mächtigen Fra- tres stiftet.92 Der Hinweis auf das Armarium (also jenen Ort, wo auch Tonare und Antiphonare zu finden sind) umschreibt die Geste eines den Choralgesangs zusam- menhaltenden Einsatzzeichens der rechten Hand: »Pro signo Armarii, & Praecen- toris, interiorem superficiem manus leva, & et move, sicut qui innuit in choro, ut aequaliter ab omnibus cantetur«. Auch die Zeichen für das »Alleluja« (»Pro signo alleluia leva manum et summitates digitorum inflexas quasi ad volandum move- propter angelos, quia, ut creditur, ab angelis cantatur in celo.«93) müssen nicht, wie van Waesberghe behauptet, während des Gesangs zur Ausführung gelangen: Using hand signs, the precentor directed individual and communal participation in the divine office and the liturgy of the mass […]. The novices learned to recognize for common choir books, like antiphonaries, hymnals and psalters as well as those for texts read during the mass, like missals, the Gospels and the Epistles.94 Für von Waesberghes Deutung des Zeichens als »Anweisung für die Gestik beim Singen«95 gibt es daher keinen hinreichenden Beleg, eher liegt in seinem Charakter als Analogie zum Engelsflug eine symbolische, emotional-anagogische, vielleicht aber auch melodische Verkörperung vor. Das Alleluja entspricht wie oben darge- stellt dem durch eine »rite des passage« gleichzukommenden Gotteslob der Engel. Dies zeigt sich in ähnlicher Weise auch bei Zeichen für andere Teile der Liturgie, wie etwa der gleichfalls eine formale Charakteristik aufnehmenden Geste für den Tractus: »Pro signo Tractus, trahe manum per ventrem de deorsum, quod longum semper significat, et contra os applica manum quod cantum.«96 Ebenso unklar ist schließlich der bei von Waesberghe erwogene Bezug solcher Handzeichen zur »Ma- nus Musicalis«. Deren von Karol Berger theoretisch wie kulturgeschichtlich kon- textualisierte mmenotechnische Operationen97 stehen in keinem direkten Zusam- 92 Vgl. zuletzt und umfassend Scott G. Bruce: Silence and Sign Language in Medieval Monasti- cism. The Cluniac Tradition c. 900–1200, Cambridge (Cambridge University Press) 2007. 93 »Für das Zeichen des Allelúia hebe die Hand und mit allen gebeugten Fingern bewege sie gleichsam wie Flügel, ähnlich wie die Engel, weil man glaubt, daß die Engel im Himmel dies singen.« Vgl. Walter Jarecki: Signa Loquendi der cluniacensistischen Signalisten, Baden- Baden (Koerner) 1981, S. 132, 153, 198 und 262 und Bruce (Anm. 92): Silence and Sign Language, S. 65 94 Bruce: Silence and Sign Language (Anm. 92), S. 87. 95 van Waesberghe: Musikerziehung (Anm. 91), S. 25. 96 »Für das Zeichen des Tractus ziehe die Hand am Bauch nach unten, welches immer die Länge des Gesangs bedeutet und richte die Hand gegen den Mund.« 97 Karol Berger: »The Hand and the Art of Memory«, in: Musica Disciplina 35 (1981), S. 87– 120. Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
56 Alte Musik menhang zur klösterlichen Gebärdenkommunikation, wenngleich ihre didaktisch eindrucksvollen Darstellungen durch die offensichtliche Disproportionalität eine eigene expressive Suggestivkraft entfalten.98 Nun kennen wir anderseits jedoch aus der Zeit des Hochmittelalters sehr wohl Klagen über eine unziemliche und im Sinne des Wortes überhand nehmende Ges- tik beim Singen, die zu der immer wieder mit Augustinus begründeten Forderung einer zur Gemeinschaft mit den Engeln führenden Affekterregung im eklatanten Widerspruch stehen. Die Zisterzienser Bernhard von Clairvaux und Aelred von Rievaulx beklagen (aus der Perspektive ihrer abgelegenen Reformorden) nicht nur den mit dem Terminus »gesticulatio« belegten histrionischen Einsatz des Körpers beim Hin- und Herdrehen und das (an frühere Überlegungen zum habitualisierten Reflexverhalten anknüpfende) Krümmen der Finger zur Tonbewegung, sondern auch den Missbrauch der Stimme. Gerade hierbei fällt bei Aelred sogar eine Ten- denz zur expliziten »Entmusikalisierung«99 ins Auge, die jene inkriminierte Erwei- terung der vokalen Register parallel zu geschlechtlichen Bildern als regredierenden Rückfall in spasmodisches Schreien, Röcheln oder sogar dem Pferdegewieher ent- sprechende Tierlaute charakterisiert: Nunc vox stringitur, nunc frangitur, nunc impingitur, nunc diffusiori sonitu dilata- tur. Aliquando, quod pudet dicere, in equinos hinnitus cogitur, aliquando virili vigo- re deposito in feminae vocis gracilitates acuitur, nonnunquam artificuosa quadam circumvolutione torquetur et retorquetur. Videas aliquando hominem aperto ore quasi intercluso halitu exspirare, non cantare, ac ridiculosa quadam vocis interceptio- ne quasi minitari silentium; nunc agones morientium, vel exstasim patientium imita- ri. Interim histrionicis quibusdam gestibus totum corpus agitatur, torquentur labia, rotant, ludunt humeri; et ad singulas quasque notas digitorum flexus respondet. Et haec ridiculosa dissolutio vocatur religio; et ubi haec frequentius agitantur, ibi Deo honorabilius serviri clamatur. Stans interea vulgus sonitum follium, crepitum cymba- lorum, harmoniam fistularum tremens attonitusque miratur; sed lascivas cantantium gesticulationes, meretricias vocum alternationes et infractiones non sine cachinno ri- suque intuetur, ut eos non ad oratorium, sed ad theatrum, nec ad orandum, sed ad spectandum aestimes convenisse.100 98 In den zahlreichen überlieferten Abbildungen erscheint die Hand als statisches, von einer bewegten »Pathosformel« weit entferntes Memoriersystem (dem die Hexachordskalen im zweifachen Sinne gleichsam eingeschrieben sind.) Körperlich-motionale Impulse entstehen aus der durch den instruktiv-didaktischen Zweck freilich unmittelbar einsichtigen, über- proportionalen Größe. Vgl. auch Aaron J. Gurjewitsch: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München (Beck) 41989, S. 87–90. 99 Matthias Bielitz: Zur wertungsgeschichtlichen Bedeutung der liturgischen Epoche der Musik des Mittelalters und zur Frage ihres Endes (= Musik als Unterhaltung. Beiträge zum Verständnis der wertungsgeschichtlichen Veränderungen in der Musik im 12. und 13. Jhd., Band 2), Neckarge- münd (Männeles) 1998, S. 205–207. Vgl. ferner Fuhrmann: Herz und Stimme (Anm. 73), S. 232–236. 100 Aelred von Rielvaux: Speculum Charitatis, in: Patrologia Latina, hg. v. Jacques-Paul Migne, Bd. 195, Paris (Migne) 1844 ff, Sp. 505–620, hier Sp. 571 B-D. Vgl. zur spezifischen Zis- Tobias Robert Klein - 9783846759455 Downloaded from Brill.com10/22/2021 12:14:59AM via free access
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