Back.Business UNSICHTBARE TÖCHTER - AUFBRECHEN - generation töchter

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                                                              C 12331 D

NR. 7 - 6. JUNI 2015     DAS ENTSCHEIDER-MAGAZIN FÜR DIE BACKBRANCHE

UNSICHTBARE TÖCHTER

                       ALTES AUFBRECHEN
                        UND NEUES
                          FORMEN
Back.Business UNSICHTBARE TÖCHTER - AUFBRECHEN - generation töchter
Back.Business                             UNTER DIE LUPE GENOMMEN

Die Soziologin Dr. Daniela
Jäkel-Wurzer (34, links im Bild)
promovierte zum Thema Frauen
in Familienunternehmen. Nach
langjähriger Tätigkeit in der
Unternehmensberatung rief sie
mit Diplom-Kauffrau Kerstin
Ott (35, rechts im Bild) die Initi-
ative „generationen töchter” ins
Leben. Ihr gemeinsames Ziel:
Töchter für die Nachfolge stark
zu machen. Hierfür stehen sie
Unternehmerfamilien beratend
zur Seite.
© generationen töchter

                                  WEIBLICHE UNTERNEHMENSNACHFOLGE

Die unsichtbaren Töchter
                                                      K
Sie sind qualifiziert, interessiert und                       eine leichten Fragen, auch deswegen, weil
voller Elan: die Unternehmer-Töchter.                         die „weibliche Nachfolge“ noch weitestge-
                                                              hend unerforscht ist. Fakt ist aber, dass
Trotzdem überlassen gerade Väter ih-                  über die Hälfte der Eigentümer (54 Prozent) zu-
ren Töchtern nur ungern den Chefses-                  nächst versuchen, ihre Nachfolge familienintern
sel und geben ihren Söhnen den Vortritt.              zu regeln und hierfür ihre eigenen Kinder bezie-
Dieses althergebrachte Rollenverständ-                hungsweise andere Familienmitglieder bevorzu-
                                                      gen. Dies ergibt eine Analyse von vollzogenen
nis führt dazu, dass Frauen in der Un-                Nachfolgelösungen des Instituts für Mittelstands-
ternehmensnachfolge deutlich unter-                   forschung (IfM Bonn). An wen das Unternehmen
repräsentiert sind. Doch warum sind                   in der Familie übergeht, hänge wiederum maß-
Töchter in Führungspositionen so exo-                 geblich vom Geschlecht des Übergebers ab: „Gibt
                                                      es einen übernahmewilligen Sohn oder männli-
tisch und wieso favorisieren vor allem
                                                      chen Verwandten und ist der bisherige Eigentümer
Väter ihre Söhne und ignorieren ihre                  männlich, so wird in der Regel die Wahl auf ihn
Töchter?                                              fallen. Vorausgesetzt natürlich, der Angehörige

6 | 6. Juni 2015
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                                                  UNTER DIE LUPE GENOMMEN

                                                                     milienunternehmen gerufen werden. Vorher wür-
                                                                     den sie häufig gar nicht erst als potenzielle Nach-
                                                                     folgerinnen erkannt. Das haben auch die Gründe-
                                                                     rinnen der Initiative generationen töchter Kerstin
                                                                     Ott und Dr. Daniela Jäkel-Wurzer in ihrer Studie
                                                                     festgestellt, für die sie Interviews mit 50 Unter-
                                                                     nehmerinnen führten. „Frauen sind häufig Plan
                                                                     B. Erst, wenn beispielsweise der Vater stirbt oder
                                                                     sich der Sohn spontan gegen die Fortführung des
                                                                     Betriebes entscheidet, kommt die Tochter als Fir-
                                                                     menlenkerin ins Gespräch“, sagt Jäkel-Wurzer
                                                                     gegenüber Back.Business. Daher seien die Töchter
                                                                     oft Quereinsteiger. Sie verfolgen ihre eigenen Kar-
                                                                     rieren mit betriebsfremden Studiengängen oder
                                                                     einer Ausbildung und werden plötzlich zurückge-
                                                                     holt, statt wie die Söhne eine Ausbildung abge-
                                                                     schlossen zu haben, die von vornherein auf die
                                                                     Übernahme und Führungsverantwortung abzielt.
                                                                     „Die Söhne werden eher an der engen Leine ge-
                                                                     halten, während das Potenzial der Töchter oft erst
                                                                     spät erkannt wird. Statt also fair nach Eignung,
                                                                     Interessen und Qualifikationen zu entscheiden,
                                                                     fällt die Wahl durch über Generationen geprägte
                                                                     Muster auf die Söhne“, fasst Jäkel-Wurzer zusam-
                                                                     men.

                                                                         Insgesamt, so schätzen die Initiatorinnen von
Unter der Fragestellung „Nachfolgeentscheidungen in Familienun-      generationen töchter, machen die Nachfolgen
ternehmen“ führte Dr. Dominique Otten-Pappas für ihre Doktorar-
beit 16 qualitative Interviews mit weiblichen und männlichen Nach-
                                                                     durch Töchter je nach Bundesland nur etwa zehn
folgern. © WIFU - Wittener Institut für Familienunternehmen          bis 30 Prozent der Gesamtnachfolgen aus. Oft sei-
                                                                     en es aber nicht nur die Familien, die vergessen,
ist hinreichend qualifiziert“, sagt Pressespreche-                   ihre Töchter einzubeziehen. Es seien auch die
rin Dr. Jutta Gröschl des IfM Bonn gegenüber                         Töchter selbst, die sich gar nicht als Nachfolge-
Back.Business. Dagegen würden weibliche Ange-                        rinnen und Unternehmensleiterinnen in Betracht
hörige nur zu 27,2 Prozent von männlichen Über-                      ziehen.
gebern als Nachfolgerin in Betracht gezogen.
Anders das Bild bei Unternehmerinnen: Sie prä-                       Frauen oft Quereinsteiger
ferieren eher die Übergabe an weibliche Nach-
kommen (55,2 Prozent) als an einen männlichen             Die Gründe dafür, dass die Töchter bei der
(44,8 Prozent).                                       Nachfolge so selten erste Wahl seien und sich oft
                                                      auch gar nicht als solche betrachten, seien histo-
In der Not reicht                                                             risch bedingt. So hätten
                               Nach Schätzungen des IfM Bonn wird jähr-       die kleinen und mittleren
die Tochter                    lich für rund 27.000 Unternehmen bis 2018      Familienbetriebe des Mit-
    In manchen Situatio-       ein Nachfolger gesucht, da die Eigentümer      telstandes schon immer
nen richten aber plötzlich     aufgrund von Alter, Krankheit oder Tod aus     mit wenigen Personen, die
alle Familienmitglieder        der Geschäftsführung ausscheiden.              meist alle zur Familie ge-
ihre Augen auf die Tochter                                                    hörten, viel Arbeit leisten
und zwar immer dann, wenn es brenzlig wird. So        müssen. „Dabei haben Männer traditionell immer
fand das Institut für Familienunternehmen der         die Führungspositionen übernommen. Die Unter-
Universität Witten/Herdecke bei der Analyse der       nehmer-Frauen haben wiederum für die Familie
Werdegänge von Nachfolgerinnen heraus, dass           gesorgt und im Hintergrund unverzichtbare Arbeit
Frauen häufig erst in einer Notsituation in das Fa-   wie Buchhaltung erledigt oder interne Kommuni-

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kation sowie Friedensstiftung geführt - meist
ohne klar definierte, rechtliche Stellung“, sagt
Ott.

    Auf die heutige Nachfolge-Generation schau-
end, muss man sich zudem vor Augen führen,
dass die Emanzipation gar nicht so lange her ist:
„Meist sind die Nachfolgerinnen Mitte 30 und ihre
Eltern damit in den 1940er und -50er Jahren auf-
gewachsen. Für sie war es bis in die 1960er Jah-
re keine Selbstverständlichkeit, dass die Frau
arbeiten geht, sie musste bis dato sogar um Er-
laubnis bitten. Leben die Großeltern noch, kom-
men noch ältere Denkmuster zum Tragen. Der
kulturelle Wandel zugunsten der Frauen ist somit
noch im vollen Gange“, ergänzt Dr. Dominique
Otten-Pappas, Senior Research Fellow und Wis-
senschaftlerin am Lehrstuhl für Führung & Dy-
namik von Familienunternehmen der Universität
Witten/Herdecke. Sie schätzt daher, dass künftig
immer mehr Frauen zu Nachfolgerinnen in Fami-
lienunternehmen ernannt werden. Daran glauben
auch die Projektgründerinnen, weisen aber darauf
hin, dass es noch viel Luft nach oben gebe. So
hatten von den Nachfolgerinnen aus der Studie
nur etwa 30 Prozent Brüder. „Damit steigt die
Chance auf eine Nachfolge, wenn die Töchter kei-
ne Brüder haben. Das sollte nicht die Regel blei-
ben“, sagt Ott.

Familie ist kein Hindernis
    Die größten Skrupel, die Frauen vor einer
Nachfolge hätten, sei die Familienplanung. „Um
Familie und Beruf zu vereinbaren, können sie
nicht wie ihre Väter 60 Stunden in der Woche
arbeiten. Vielmehr müssen sie auf kooperative
Führungsstile und breite Management-Strukturen
setzen, bei denen sie Verantwortung an das Team
abgeben. Zum Beispiel im Tandem mit einem
Fremdgeschäftsführer oder dem Ehemann“, emp-
fiehlt Jäkel-Wurzer und verweist darauf, dass 70
Prozent der befragten Studienteilnehmerinnen
Kinder hätten und sogar 80 Prozent der Befragten
der Ansicht seien, dass die Führung eines Fami-
lienbetriebes ideal sei, um Privatleben und Beruf
zu vereinbaren, zum Beispiel durch die Unterstüt-
zung des Ehemannes, Betreuungseinrichtungen
oder die Mithilfe der Eltern.

   Schwierig werde es aber, wenn es im Unter-
nehmen „brennt“: „Dann findet plötzlich kein
Familienmitglied mehr Zeit, sich um den Nach-
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wuchs zu kümmern. Schließlich ist jeder von ihnen     Mentor zur Seite stehen, sagt Jäkel-Wurzer. „Zu-
mit unterschiedlichen Aufgaben in den Betrieb         dem fällt es Frauen grundsätzlich leichter, sich
eingespannt und muss diesen in solchen schwie-        dem Vater an die Seite zu stellen und gemeinsame
rigen Zeiten besonders intensiv nachkommen“,          Sache zu machen. Die Söhne stehen oft unter
weiß Otten-Pappas.                                    Druck, besser als der Vater sein zu müssen, so
                                                      dass es zu Konkurrenz- oder Verdrängungskämp-
Fuß fassen - aber wie?                                fen kommen kann“, weiß Otten-Pappas. Überdies
                                                      stünden Söhne unter einem größeren Erwartungs-
   Entscheidet sich eine Frau dafür, definitiv die    druck seitens der Eltern, die vor allem den erstge-
Nachfolge anzutreten, sei es am besten, über ein      borenen Sohn im Visier für eine Nachfolge haben.
Projekt einzusteigen, in dem sie sich fachlich be-    „Ihr Karriereweg ist oft vorgezeichnet, sie haben
weisen kann, empfiehlt Ott. Zudem sollten Frauen      weniger Freiheiten in ihren Entscheidungen, da
mutig genug sein, Vorschläge für Innovationen         das Vermächtnis der Übergabe auf ihnen lastet“,
wie neue Produkte einzubringen, um den Betrieb        sagt Otten-Pappas. Bei den Töchtern entspringe
zukunftsfähig zu machen. Das sei auch wichtig,        die Motivation, den Betrieb zu übernehmen, hin-
um sich vom Vater unterscheidbar zu machen und        gegen weniger einem Pflichtgefühl, sondern viel-
somit die Akzeptanz der Mitarbeiter zu gewinnen.      mehr dem Interesse für das, was das Unternehmen
                                                      tut sowie dem Interesse, die eigene Karriere zu
Papa, ich schaff das auch allein!                     fördern.

    „Die Zusammenarbeit mit dem Vater kann aber
auch zum Problem werden und zwar spätestens          Fazit
dann, wenn er sich vom Betrieb nicht lossagen
kann und der Tochter den Posten als Chefin durch         Die Nachfolgeprobleme, egal in welcher Bran-
inoffizielle Führung streitig macht“, sagt Jäkel-    che, wären somit mutmaßlich weniger drastisch,
Wurzer und warnt, dass zu lang anhaltende Vater-     wenn mehr Frauen die Leitungsfunktionen in Fa-
Tochter-Tandems, bei denen der Vater sich nicht      milienbetrieben übernehmen „dürften“ und die
von der Rolle des Firmenpatriarchen lösen kann,      weiblichen Ressourcen nicht so unterschätzt be-
nicht selten Innovationen                                                    ziehungsweise ignoriert
oder Investitionen verhin-     Zudem    fällt es Frauen  grundsätzlich       würden, wie es heute viel-
dern. „Oft halten solche leichter, sich dem Vater an die Seite fach der Fall ist. Allerdings
Zweierkonstellationen sogar zu stellen und gemeinsame Sache zu begünstigt der kulturelle
mehrere Jahren, teilweise machen. Die Söhne stehen oft unter Wandel und die Politik ein
sogar Jahrzehnte“, weiß
                                Druck, besser als der Vater sein zu Umdenken und die neuen
Otten-Pappas und emp-                                                        Generationen wachsen in
fiehlt, möglichst zu Beginn
                                                müssen.                      einer offeneren Gesell-
einen Fahrplan festzulegen,                                                  schaft auf, die stark für das
in dem die Aufgaben klar übergeben werden und        Thema Gleichberechtigung sensibilisiert ist. Zu-
für die Mitarbeit des Vaters ein klares Ende be-     dem muss das Ziel nicht 50 Prozent Frauen und
stimmt wird. Um sich besser gegen den Vater          50 Prozent Männer sein, schließlich sind nicht alle
durchzusetzen und einen eigenen Führungsstil zu      Söhne und Töchter gleich gut ausgebildet oder
entwickeln, sei es bei mittleren bis großen Betrie-  geeignet, haben Führungsqualitäten oder über-
ben zudem denkbar, sich eine eigene zweite           haupt Lust, den elterlichen Betrieb zu führen. „Die
Führungsriege aufzubauen. „Damit entgeht man         Tochter ist nicht zwingend die bessere Wahl. Es
der Gefahr, dass das Management, das sich um         geht nicht darum, eine Quote zu erreichen, son-
den Vater schart, einen nicht akzeptiert und Vor-    dern die Fähigsten und Willigsten an die Spitze
schläge abblockt“, sagt Otten-Pappas.                des Unternehmens zu setzen“, sagt Otten-Pappas,
                                                     die sich eine möglichst „faire und ausgewogene“
Harmonisches Duo - so geht´s auch                    Verteilung für die Zukunft wünscht.

    Es gibt aber auch positive Beispiele, in denen                                         Sarah Hölting
die Väter die Firma in einer Übergangszeit gerne
gemeinsam mit der Tochter führen und ihnen als

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BÄCKEREI BÖHMER

Chefin trotz
drei Brüdern
Diese Bäckereifamilie läuft gegen den
Strom. Karolina Ruhl wächst mit drei
Brüdern auf, die alle eine Ausbildung
zum Bäcker und Konditor oder sogar
zum Bäckermeister machen. Trotzdem
übernehmen nicht sie den Betrieb, son-
dern ihre taffe, energische Schwester,
die seit ihrer Jugend tatkräftig im Be-
trieb mithilft.

D
        avon, dass Karolina Ruhl den elterlichen
        Betrieb in Dortmund übernehmen soll, war
        nie die Rede. Sie wurde auch nie gefragt.
Zwei ihrer Brüder hatten Ausbildungen zum Bäcker
absolviert, der Jüngste zum Bäckermeister sowie
Betriebswirt des Handwerks und der Älteste zum
Konditor. Während es den Ältesten letztlich aber
in die IT-Branche verschlug, blieb der Jüngste der
Backbranche treu. „Ich dachte immer, dass er den
Betrieb übernehmen würde“, sagt Ruhl gegenüber
Back.Business. Doch es tat sich nichts. Ihr Bruder
hüllte sich lieber in Schweigen, als das Thema
Nachfolge anzusprechen.

Die Uhr tickt
     Doch langsam wurde es Zeit, eine Entschei-
dung zu treffen. Denn im Betrieb selbst herrschte
Stillstand. „Es ging nicht voran, Innovationen
mussten her, dringend“, erinnert sich die 46-Jäh-
rige. Für Investitionen und Veränderungen braucht
man jedoch Mut und einen kühlen Kopf. Schließlich
hängt damit ein Batzen Geld zusammen, der erst
einmal von der Bank geliehen werden muss. „Das
war meinem Bruder mit zu viel Risiko behaftet. Er
ist ein Kopfmensch, nicht wie ich ein Macher und
wollte lieber als Angestellter statt Unternehmer
tätig sein“, sagt Ruhl, die sich Ende 2010 letztlich
dazu entschloss, das Ruder einfach selbst in die
Hand zu nehmen. „Ich feilte an einer neuen Unter-
nehmensstrategie und unterzeichnete parallel den
Kaufvertrag für drei weitere Filialen, deren Inhaber
den Betrieb aus gesundheitlichen Gründen aufge-
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Back.Business
                                                 UNTER DIE LUPE GENOMMEN

geben hatten und deren Töchtern                                                  der Hausbank vor, um Gelder bei ent-
andere Ziele als die Betriebsüber-                                               sprechenden Banken wie KfW und
nahme vorschwebten“, erzählt Ruhl.                                               NRW Bank beantragen zu können.
Das sei ihr großes Glück gewesen,
denn die Standorte waren in sehr                                                 Den Betrieb umkrempeln
guter Lage und zu expandieren war
ohnehin notwendig, um die Backstu-                                            Als Erstes durchleuchtete die
be auszulasten.                                                           frischgebackene Geschäftsführerin
                                                                          die Bäckerei gemeinsam mit einem
Mit besten Qualifikationen                    Karolina Ruhl. © privat     Betriebsberater. „Daten und Fakten
                                                                          mussten auf den Tisch, um überhaupt
gewappnet
                                                           erst mal einen Anfang zu bekommen“, sagt Ruhl
    Die nötige Expertise zum Zeitpunkt der Über-           und investierte kräftig, unter anderem in einen
nahme hatte Ruhl sich unlängst angeeignet. „Al-            neuen Etagenofen, die Optimierung der Corporate
lerdings unbewusst. Ich habe nie darauf hingear-           Identity, Sitzecken in allen Filialen sowie ein neu-
beitet, später den Betrieb fortzuführen“. So schloss       es Außer-Haus-Konzept, das stark auf Snacks und
sie mit 18 Jahren eine Ausbildung zur Bürokauffrau         Coffee-to-go setzt. „Da alles unter Existenzgrün-
im familiären Unternehmen ab, arbeitete anschlie-          dung lief, war für mich die größte Herausforde-
ßend weiter bei ihren Eltern - in Büro, Verkauf so-        rung, die von der Bank gestatteten Beträge in ei-
wie der Filialbetreuung - und qualifizierte sich           nem vorgegebenen Zeitraum ausgeben zu müssen.
damit zur Verkaufsleiterin, als die sie 15 Jahre tätig     Ich hätte lieber etwas auf die hohe Kante gelegt“,
war. Für ihre beiden Söhne geht die damals allein-         sagt Ruhl. Die Position als Führungskraft fiel ihr
erziehende Mutter für viereinhalb Jahre in Eltern-         wiederum leicht, da sie seit ihrer Jugend an Ent-
zeit und bildet sich in der Grundschulzeit erneut          scheidungen im Betrieb beteiligt gewesen ist und
als Diplom-Betriebswirtin bei der Handwerkskam-            sich über die Betreuung der Filialen den Respekt
mer fort. Im Mai 2011 sitzt sie bereits im Chefses-        der Mitarbeiter erarbeitet hat.
sel. Doch weshalb bürdet sich eine alleinerziehen-
de Mutter so viel Arbeit, Verantwortung und Stress         Keine Pausen
auf? „Weil ich das Lebenswerk meines Großvaters
Ewald Böhmer aufrechterhalten wollte und mir                    Dass Führung aber auch Full-Time bedeutet,
unser Familienbetrieb sehr am Herzen liegt“, ant-          hat Ruhl schnell zu spüren bekommen. So arbeitet
wortet Ruhl entschlossen und legte ihr Konzept bei         sie manchmal zwölf bis 14 Stunden am Stück und
                                                             sieht ihren Lebensgefährten, der die Bäckerei als
                                                             Fahrer unterstützt, an solch langen Tagen nur
                                                             etwa eine knappe halbe Stunde. Auch ihre mitt-
                                                             lerweile 14- und 15-jährigen Söhne wuchsen da-
                                                             her sehr selbstständig auf. „Besonders kräfte-
                                                             zehrend waren der November und Dezember
                                                             letzten Jahres, in denen wir zwei weitere Filialen
                                                             übernommen haben.“ In dieser Zeit kam sie auf
                                                             knapp 700 Arbeitsstunden. Auch bei der über-
                                                             nommenen Bäckerei schieden die Eltern aus ge-
                                                             sundheitlichen Gründen aus und die Kinder woll-
                                                             ten die Bäckerei nicht weiterführen. Ein glückli-
                                                             cher Zufall aber war, dass der Sohn Bäckermeis-
                                                             ter, die Tochter Filialleiterin und deren Mann
                                                             Teigmacher sind. So gewann Ruhl gleich drei
                                                             neue Mitarbeiter.

                                                                     Mitarbeiter brauchen eine Spitze
                                                                         Ihren Führungsstil beschreibt Ruhl als team-
                v.l.n.r.: Karolina, Adelheid und Udo Ruhl © privat
                                                                     orientiert mit einer gewissen Strenge: „Wenn alle

12 | 6. Juni 2015
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Mitarbeiter von alleine an einem Strang ziehen
würden, wäre das zwar klasse. Allerdings ist das
eher Wunschdenken als Realität. Wenn ich bei-
spielsweise Anweisungen für die Umsetzung neu-
er Arbeitsabläufe herausgebe, klappt das in einigen
Filialen hervorragend, in anderen eben weniger
gut. Und bevor ich weiter ins Leere rede, kann es
auch schon mal vorkommen, dass ich die Anwei-
sungen schriftlich herausgebe, um den Druck zu
erhöhen.“ Weiterhin sei es wichtig, dass es nur
einen „Chef“ gebe. Daher gelten die Eltern auch
nicht als inoffizielle Chefs. „Im Hintergrund reden
wir selbstverständlich auf Augenhöhe und im Team
über Pläne und Ideen.“

Eltern helfen, wo sie können
    Trennen konnten und wollten sich die Eltern
Adelheid und Udo Ruhl vom Betrieb noch nicht.
„Wir hängen zu sehr an unserer Bäckerei. Außer-
dem entlasten wir Karolina durch unseren Einsatz,
wir werden immer gebraucht und das ist ein schö-
nes Gefühl“, sagt Adelheid Ruhl, die am ersten
April ihr 50-jähriges Jubiläum feierte. Während sie
früher bis zu zwölf Stunden arbeitete, sind es jetzt
immer noch sieben Stunden pro Tag, in denen sie
Aufgaben erledigt, für die sonst niemand Augen
und Zeit findet. So kümmert sie sich unter anderem
um die Frischdienstbestellungen und achtet darauf,
dass die Retouren möglichst gering bleiben.
    „Das Thema Retouren liegt mir sehr am Her-
zen. Durch das heutige Kauf- und Essverhalten hat
sich die Rücklaufquote von etwa fünf auf 15 Pro-
zent erhöht. Daher setze ich mich dafür ein, dass
die Backwaren an Institutionen wie Gasthäuser für
Wohnungslose, Suppenküchen oder Nachtreffs ge-
spendet werden.“ Meinungsverschiedenheiten mit
ihrer Tochter würden wie in jeder Großfamilie zum
Alltag gehören. Doch nach längeren Diskussionen
hätten die beiden letztlich immer einen Kompro-
miss gefunden. „Genau das macht es so erfüllend,
den Betrieb zu führen: Die Familie steht hinter
einem und ist immer da, es ist die perfekte Kom-
bination“, sagt Karolina Ruhl.
                                      Sarah Hölting

  In BB 12/14 nahmen wir bereits die Situation
  von Frauen im backenden Gewerbe ausführlich
  unter die Lupe und stellten Frauen aus unter-
  schiedlichen Bereichen vor, die alle im Back-
  gewerbe tätig und interessante Persönlichkei-
  ten sind.
Back.Business UNSICHTBARE TÖCHTER - AUFBRECHEN - generation töchter
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                                                        UNTER DIE LUPE GENOMMEN

ON TOUR

Chefinnen im Handwerk
Weibliche Top-Manager sind in Deutsch-                                        hat das Bundesministerium für Familie, Senio-
land eine Seltenheit. So haben laut dem                                       ren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) als Teil des
                                                                              nationalen Stufenplans „Mehr Frauen – mehr Viel-
Deutschen Institut für Wirtschaftsfor-                                        falt in Führungspositionen“ in Kooperation mit
schung (DIW Berlin) nur bei 5,4 Prozent                                       dem Zentralverband des Deutschen Handwerks
der Top 200 größten deutschen Firmen                                          und der bundesweiten Gründerinnenagentur
Frauen eine Vorstandsposition. Im Mit-                                        (bga) die Roadshow „Meine Zukunft: Chefin im
                                                                              Handwerk“ gestartet, die speziell auf das Hand-
telstand hingegen ist ein Umdenken                                            werk zugeschnitten ist. Mit sechs Porträts von
spürbar, das auch von der Politik an-                                         Handwerks-Chefinnen aus unterschiedlichen Ge-
gekurbelt wird.                                                               werken zieht die Roadshow durch Deutschland
                                                                              und stellt auf Veranstaltungen in Handwerkskam-

M
          it rund 150 unterschiedlichen Gewerken                              mern, Ausbildungseinrichtungen des Handwerks
          bietet das Handwerk zahlreiche Beschäf-                             und Handwerksbetrieben die selbstbestimmte
          tigungen, die zu den verschiedensten                                Arbeit der Unternehmerinnen vor.
Interessen, Neigungen und Talenten passen. Trotz-
dem scheuen viele Frauen eine berufliche Zukunft                              Martina Hübner
im Handwerk - oft, weil sie sich insbesondere Tä-
tigkeiten in den Bereichen Mathematik, Informa-                                   Unter den porträtier-
tik, Naturwissenschaften und Technik nicht zu-                                ten Chefinnen ist auch die
trauen. Derzeit sind laut Zentralverband des Deut-                            Geschäf tsführer in der
schen Handwerks e.V. (ZDH) nur etwa 30 Prozent                                Großbäckerei Annaberger
der im Handwerk beschäftigten Personen Frauen                                 Backwaren Martina Hüb-
(siehe Grafik). Chefinnen findet man vor allem in                             ner. Sie war eine der ers-
typisch weiblichen Berufen wie Friseurin, Kosme-                              ten Unternehmerinnen
tikerin, Fotografin oder Raumausstatterin. Auch                               nach der Wende, deren
bei den Auszubildenden standen den rund 110.495                               Großbäckerei ursprüng-
männlichen Auszubildenden im Jahr 2012 nur                                    lich ein volkseigener Be-
rund 36.831 weibliche Auszubildende gegenüber.                                trieb der DDR war. Nach-
                                                                              dem sie ihr Studium zur
Roadshow: Sechs Frauen als Vorbilder                                          Dipl.-Technologin beendet
                                                                                                                           M artina
                                                                              hatte, stieg sie mit 26 Jah-                 Hübner © bga
   Um die Männerdomänen aufzubrechen und                                      ren zur Produktionsleite-
Frauen für die Vielfalt der Gewerke zu begeistern,                            rin auf und wurde acht Jahre später mit den Auf-
                                                                               gaben einer stellvertretenden Betriebsleiterin
                                                                               betraut. Als die Mauer fiel, war Hübner Mitte 30,
                                                                               Mutter von zwei Kindern und musste mit ansehen,
                                                                               wie Westdeutsche sich den Betrieb zu eigen ma-
                                                                               chen wollten. Schließlich wagte sie den Schritt in
                                                                               die Selbstständigkeit, wandelte den Volkseigenen
                                                                               Backbetrieb (VEB) in eine GmbH um und kaufte
                                                                               diese selbst. Mittlerweile macht die 56-Jährige
                                                                               mit ihrer Großbäckerei einen Millionenumsatz und
                                                                               beschäftigt mehr als 200 Mitarbeiter. Die Back-
                                                                               waren werden in rund 40 Filialen verkauft und
© Vgl. Ebenda: Frauen im          © Vgl. Ebenda: Neu abgeschlos-
Handwerk.                         sene Ausbildungsverträge 2012 –             weltweit ausgeliefert. Ihre Tochter hat zwar Musik
(www.zdh.de > Wirtschaft und      Erhebung des Bundesinstituts für            studiert, möchte den Betrieb aber später überneh-
Umwelt > Statistik > Kennzahlen
                                  Berufsbildung. (www.zdh.de > Daten          men.                                Sarah Hölting
Handwerk)
                                  und Fakten > Ausbildung / Bildung > BIBB-
                                  Erhebung 30. September)

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JUNGUNTERNEHMER

Sohn mit Anfang 20 Chef
Im Familienbetrieb Kasprowicz gibt es
zwar keine Tochter, dafür aber einen
ambitionierten Sohn, der sich bereits
im Alter von 20 Jahren zur Fortführung
des Familienbetriebes entschlossen
hat. Genau wie Karolina Ruhl (siehe
Seite 11) musste er Existenzgründer
werden. Doch als Jungunternehmer
steht Julian Kasprowicz vor vielen He-
rausforderungen. In einem Interview
mit Back.Business erzählt er, was ihn
motiviert hat und vor welchen Heraus-
forderungen er steht.

Viele fragen sich: Wer will denn heute schon
Unternehmer in der Backbranche werden?
Schließlich leidet die Branche unter vielen wirt-
schaftliche Problemen, die Konkurrenz durch
die Backstationen der Discounter wird immer            Julian und Fritz Kasprowicz © COMTECH visuelle kommunikation
härter. Was hat Sie trotz widriger Umstände an-
getrieben, das Familienunternehmen weiterzu-
führen?

    Ehrlich gesagt, hatte ich in meiner Jugend kei-
nen glasklaren Berufswunsch, wusste aber, dass         Und dann haben Sie gleich den Meister ange-
es etwas Handwerkliches sein sollte. Da ich zu         schlossen?
meinem Vater ein sehr vertrauensvolles Verhältnis
habe und immer den Eindruck hatte, dass er für              Richtig, doch ich habe mit der Meisterschule
den Betrieb brennt, wollte ich es auch versuchen       nicht nur extrem früh begonnen, sondern sie auch
und habe mit 17 Jahren eine Ausbildung zum Bä-         sehr schnell durchgezogen. Denn während ich den
cker gemacht.                                          Meister gemacht habe, wurde die neue Produkti-
                                                       on von Inning am Ammersee nach Gut Kerschlach
Haben Sie während der Ausbildung daran ge-             verlegt, die wiederum auf meinen Namen laufen
dacht, einfach alles hinzuschmeißen und doch           sollte. Ich stand somit unter Druck, denn um
einen anderen Beruf zu lernen?                         selbstständig zu sein und günstig an Fördermittel
                                                       zu kommen, benötigt man zwingend den Meister-
    Nein, aufzugeben, kam mir nie in den Sinn.         titel. Schließlich habe ich im Alter von 21 Jahren
Dafür hatte ich ab dem ersten Lehrtag einfach zu       als Jahrgangsbester den Bäckermeistertitel in der
viel Spaß und Interesse an dem Beruf entwickelt.       Tasche gehabt. Seither läuft die konventionelle
Außerdem hat sich die Maxime meines Vaters -           Produktion auf meinen Namen und die ökologische
„Wer nichts leistet, erreicht auch nichts“ - so tief   auf den Namen meines Vaters Fritz Kasprowicz.
in mein Bewusstsein gegraben, dass ich die Aus-
bildung von vornherein mit einer ordentlichen
Portion Ehrgeiz begonnen habe.

                                                                                                  6. Juni 2015 | 15
Back.Business

                                                          nem guten Gefühl verlassen und nicht nur wegen
                                                          der Produkten wiederkommen, sondern auch, weil
                                                          ihnen die Atmosphäre in positiver Erinnerung
                                                          geblieben ist.

                                                          Auf welche Produkte setzen Sie dieses Jahr?
                                                          Womit wollen Sie sich abheben und Ihre Bäcke-
                                                          rei zu etwas Besonderem machen?

                                                           Eigentlich sind wir nicht auf ein bestimmtes Pro-
                                                           dukt-Segment spezialisiert, sondern haben ein
                                                           breit gefächertes Angebot. So werben wir das
                                                           ganze Jahr über mit Schweizer Mehlen, die in
                                                           unserer Region sehr selten verwendet werden. In
                                                           unserer Region profitieren wir zudem von der
                                                           Bereitschaft der Kunden, für gute Qualität auch
                                                           mehr Geld auszugeben.
                                                               Seit September letzten Jahres bieten wir al-
                                                           lerdings tatsächlich ein neues Produkt an, und
                                                           zwar Chia-Brot, das wir stets in einer Brotkörb-
                                                           chen verkaufen. Da das Chia-Brot sehr gut bei
                                                           unseren Kunden angekommen ist, bieten wir seit
                                                           gut einem Monat auch Bürli mit Chia an. Das Kli-
                       Chia-Brot in einer Holzbackform.    entel, das unsere Chia-Backwaren kauft, ist bunt
                    © COMTECH visuelle kommunikation       gemischt. Oft sind die Kunden aber extrem er-
                                                           nährungsbewusst oder haben vorher das Eiweiß-
Mit welchen Schwierigkeiten müssen Sie als                brot gekauft.
„Jung“-Unternehmer kämpfen?                                   Zur Zeit tüfteln wir in der Produktion an Mehr-
                                                          kornriegeln mit Chia und zu Weihnachten haben
Eigentlich mit keinen. Ich werde von meinen Bran-         wir uns an Chia-Lebkuchen versucht. Geworben
chenkollegen auch als Mitte 20-Jähriger ernst             haben wir für unsere Chia-Linie mit Plakaten, The-
genommen. Schließlich habe ich dasselbe gelernt           kenaufstellern, über unsere Website sowie über
und verfüge über fachliche Kompetenz.                     die Verkäuferinnen. Hier zahlt sich gutes Verkaufs-
                                                          personal wieder aus.
Was sind die größten Herausforderungen in der
Backbranche, die für Ihren Betrieb spürbar sind?             Vielen Dank für das Gespräch.
                                                             Mit Julian Kasprowicz sprach Sarah Hölting
    Als demotivierend und frustrierend empfinde
ich vor allem das Bäckereisterben. Wenn jedes                         BÄCKEREI KASPROWICZ
Jahr etwa 700 Bäckereien schließen, bekommt
man es selbstverständlich auch mit der Angst um              Vor 30 Jahren gründete Fritz Kasprowicz
die Zukunft zu tun. Eines der größten Probleme            damals in Inning am Ammersee die gleichnami-
speziell für uns als mittelständisches Unterneh-          ge Handwerksbäckerei Kasprowicz, die mittler-
men sehe ich zudem in der Rekrutierung von neu-           weile in der zweiten Generation geführt wird.
em Personal, insbesondere im Verkauf. Wenn gute           Zuvor hatte er das Bäckerhandwerk in seiner
Produkte schlecht verkauft werden, hat das                Heimat, der Steiermark, in einer kleinen Dorf-
schnell Umsatzeinbußen zur Folge. Schließlich             bäckerei erlernt. Bevor er im Jahre 1980 die Bä-
sind die Produkte in den Discountern und Back-            ckerei in Inning eröffnete, betrieb er ein kleines
                                                          Café am Pilsensee.
shops nicht schlecht. Wir Bäcker müssen dem-
                                                             Derzeit betreibt die Bäckerei 14 Filialen so-
nach einen Mehrwert erzeugen und das tun wir
                                                          wie ein Café und beschäftigt 100 Mitarbeiter. Im
eben über die persönlichen Verkaufsgespräche,
                                                          Oktober dieses Jahres soll eine weitere Filiale
die Brücke zwischen dem Produkt und den Kun-
                                                          hinzukommen.
den. Ziel ist es, dass uns unsere Kunden mit ei-

16 | 6. Juni 2015
Back.Business
                                     UNTER DIE LUPE GENOMMEN

WISSENSCHAFT

Neue Erkenntnisse über Chia-Gel
Als Back.Business-Leser ist Ihnen die                mus, wenn das Chia-Gel in Brot verbacken sei.
                                                     Schließlich finde der Stoffwechsel langsamer statt,
Ölsaat Chia seit Sommer letzten Jahres
                                                     als wenn der Körper die Chia-Samen pur verdau-
kein Fremdwort mehr*. Reich an Ome-                  en müsste. Die Universität Hohenheim (siehe
ga-3-Fettsäuren, Magnesium oder Ei-                  Seite 18) hatte bereits im September letzten Jahres
sen ist die Saat ein kleine Nährstoff-               eine wissenschaftliche Ausarbeitung zu den er-
bombe und verwandelt Brote in wahre                  nährungsphysiologischen und backtechnologi-
                                                     schen Effekten in Auftrag gegeben und ein Chia-
Topseller. Nach neuesten Erkenntnis-                 Gel auf Basis von Wasser und gemahlenen Chia-
sen kann die Saat in gemahlener Form                 Samen hergestellt. Das Ergebnis: Die Frischhal-
besser vom Körper verarbeitet werden                 tung des Brotes verlängert sich und die Knusprig-
als Chia-Samen und das, aufgepasst,                  keit sowie elastische Struktur sind deutlich ver-
                                                     bessert.
sogar noch besser, wenn das Gel über                 Diese Erkenntnis bestätigt auch eine Studie von
Brot und Backwaren aufgenommen                       Borneo**, bei der ein Gewichtsteil gemahlener
wird.                                                Chia-Samen mit neun Gewichtsteilen Wasser zu
                                                     einem Gel verarbeitet wurde. Mit diesem Gel konn-

W
          er hätte das gedacht: Wer Chia in ge-      te in Gebäcken 25 Prozent der Ei– oder Ölmenge
          mahlener Form über Brot und Backwa-        einer Kuchenrezeptur ersetzt werden. So ergibt
          ren zu sich nimmt, fördert seine Ge-       sich ohne sensorische Einbußen der Qualität ein
sundheit mehr, als wenn er die Chia-Saat in seiner   ernährungsphysiologisch wertvolles Produkt.
Rohform essen würde. Warum das so ist, fand der
Ernährungsexperte Dr. Günter Harnisch bei einer      Chia ist nicht gleich Chia
Versuchsreihe zu seinem aktuellen Buch „Chia“
heraus. So ergab die Studie von Harnisch, dass           Wer Chia verbacken will, sollte achtsam bei
der menschliche Körper die Inhaltsstoffe von Chia    der Wahl seines Lieferanten sein. Denn wie hoch
in gemahlener Form schneller und in größerem         der Nährwertgehalt von Chia-Samen ist, kann
Umfang aufnehmen und verwerten kann, als es          stark variieren. Wie bei jedem pflanzlichen Pro-
bei Chia-Samen der Fall ist. Demnach hängt die       dukt ist sie abhängig von Standort und Wachs-
sogenannte Bioverfügbarkeit von dem Grad der         tumsbedingungen sowie dem Genotyp, also dem
„Aufschließung“ ab, also ganz, gemahlen oder als     Erbgut des Saatgutes. Bei Chia-Lieferungen ist es
Öl. Der Grund für die höhere Verwertbarkeit der      daher empfehlenswert, einen Nachweis über die
Nährwerte ist die gesteigerte Biokonversion von      Nährwerte anzufordern. Nur bei einem möglichst
gemahlenem Chia, also die Umwandlung von or-         hohen Nährwertgehalt kann eine Bäckerei die
ganischen Verbindungen (Biomasse) in energe-         Vorteile von Chia-Gel in Brot und Backwaren be-
tisch und stofflich nutzbare Produkte.               denkenlos vermarkten.
                                                                                        Sarah Hölting
Nährstoffverwertung in Brot am besten                * BB 09/14, Seite 18 ff./ BB 15/14, Seite 6 ff.
                                                     **Borneo R, Aguirre A, León AE (2010) Chia (Salvia
    Am höchsten, so Harnisch, sei die Aufnahme       hispanica L) gel can be used as egg or oil replacer in
der Nährstoffe durch den menschlichen Organis-       cake formulations. J Am Diet Assoc 110: 946-949

                                                                                              6. Juni 2015 | 17
Back.Business

Studie testet Backeigenschaften von Chia
    In einer wissenschaftlichen Studie der Univer-      zwei Prozent Salz, vier Prozent Hefe, 0,13–0,27
sität Hohenheim, die 2013 startete, werden ge-          Prozent Propionsäure (Konservierungsmittel ge-
mahlene Chia-Samen in ihren backtechnologi-             gen Schimmel) und dem entsprechenden Chiazu-
schen Eigenschaften untersucht. Diplom-Lebens-          satz bezogen auf die Mehlmenge (100 Prozent).
mittelingenieurin Viktoria Zettel und Professor         Die Aufarbeitung erfolgte auf die für Kastenweiß-
Dr. Bernd Hitzmann vom Institut für Lebensmit-          brot übliche Art. Die Brote wurden bei 225 Grad
telwissenschaft und Biotechnologie gehen der            Celsius Ober-und Unterhitze für 40 Minuten ge-
Frage nach, wie man ohne Backmittel eine besse-         backen (Backofen war vorgeheizt auf 240 Grad
re Frischhaltung und Teigentwicklung mit einem          Celsius). Die theoretischen Teigausbeuten (zusätz-
natürlichen Rohstoff erreichen kann. Seit 2009          lich eingebrachtes Wasser durch die Chiagele be-
sind Chiasamen in der Europäischen Union zuge-          rücksichtigt) der Versuchsbrote betrugen 165, 170
lassen, seit 2013 ist bei Backwaren ein Zusatz von      und 175, wobei bei dem Brot mit drei Prozent
10 Prozent Chia erlaubt.                                Chiazusatz - verquollen mit der fünffachen Menge
                                                        Wasser - kein gutes Backergebnis erzielt werden
                                                        konnte. Das zusätzliche Wasser konnte hier nicht
                                                        im Teig gebunden werden.
                                                        Lagerfähigkeit der Brote: Die Brote wurden über
                                                        sieben Tage in ihrer Krumenfestigkeit untersucht.
                                                        Diese steigt mit der Lagerdauer an, zu Beginn sind
                                                        die Krumenfestigkeiten der Versuchsbrote, abge-
                                                        sehen von dem Brot mit drei Prozent Chiazusatz,
                                                        sehr ähnlich. Ab Tag 1 sieht man einen Unterschied
                                                        zwischen dem Standard und den Broten mit Chia-

                                                                                                                          © Uni Hohenheim
                                                        gelzusatz. Ab Tag 3 wird deutlich, dass sich die
Standardweizenbrot.         Ein Prozent Chia, 5fache
                            Wassermenge.                Versuchsbrote mit ein und zwei Prozent Chiazusatz
                                                        sehr ähnlich verhalten und auch eine weichere
                                                        Krume aufweisen, als der Standard. Die Feuchtig-
                                                        keiten der Versuchsbrote mit Chiagelzusatz waren
                                                        bis Tag 3 deutlich höher als die des Standards.
                                                        Krumenfarbe: Es wurden Bilder einzelner Brot-
                                                        scheiben aufgenommen, um den Einfluss des Chia-
                                                        gelzusatzes auf die Brotkrumenfarbe zu bestimmen.
                                                        Bei drei Prozent Chiazusatz ist die Krume deutlich
                                                        grauer. Bei ein und zwei Prozent Chiazusatz ist
                                                        die Krume ein wenig dunkler als beim Standard.
                                                        Zusammenfassung: Der Zusatz von Chiagel hat
Ein Prozent Chia, 10fache   Zwei Prozent Chia, 5fache
Wassermenge.                Wassermenge.                die Versuchsbrote bezüglich der Volumenausbeu-
                                                        te und Lagerfähigkeit positiv beeinflusst. Die Ver-
    Es wurden Backversuche zur Bestimmung des           suchsbrote mit ein und zwei Prozent Chiazusatz
Effekts des Chiazusatzes auf die Frischhaltung          erzielten großvolumige Brote mit langer Frisch-
und die Teigentwicklung von Weizenteigen durch-         haltung. Die Farbe der Krume wird etwas dunkler
geführt. Insgesamt wurden fünf Versuchsbrote            bei dem Zusatz von Chiagel.
verglichen: das Standardweizenbrot, Weizenbrot              Viktoria Zettel wird bald die Eigenschaft von
mit einem, zwei und drei Prozent Chiazusatz (ver-       Chia in Feinbackwaren untersuchen. Möglicher-
quollen mit der fünffachen Wassermenge des Ei-          weise können durch die Verwendung der Samen
gengewichtes von Chia) und Weizenbrot mit einem         Fette reduziert oder auch Eier ersetzt werden. Bis
Prozent Chiazusatz (verquollen mit der zehnfachen       2016 wird sie sich den Chiasamen in ihrer Promo-
Wassermenge des Eigengewichtes von Chia). Die           tionsarbeit widmen.                             DB
Teigbereitung erfolgte mit 1,1 Kilogramm Mehl           Quelle: www.uni-hohenheim.de/publikation/influence-of-gel-from-
(Type 550, korrigiert auf 14 Prozent Feuchte), der      ground-chia-salvia-hispanica-l-for-wheat-bread-production
entsprechenden korrigierten Wassermenge auf die
Farinograph-Wasseraufnahme von 59 Prozent,

18 | 6. Juni 2015
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