BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
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Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation Schwerpunkt Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen BAR | REHA-INFO 4/2021
Editorial Inhalt 3 Tipps & Tools 4 Schwerpunkt Politische Teilhabe 4 Starkes Interesse, Prof. Dr. Helga Seel bleibende Einschränkungen Geschäftsführerin der BAR 5 Ein großer Schritt ist getan 6 Partizipation ist der Gradmesser Liebe Leserin und lieber Leser, 7 Interview: Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen Die Wahlbeteiligung von Menschen mit Behinderungen steigt. Das 9 Demokratie braucht Perspektiven zeigt der aktuelle Teilhabebericht der Bundesregierung über die Le- benslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. „Es zeigt sich, 10 Teilhabebericht der Bundes- dass Menschen mit Beeinträchtigungen ihr passives Wahlrecht nur regierung zeigt: Es besteht geringfügig weniger nutzen als Menschen ohne Beeinträchtigungen weiterhin Handlungsbedarf und dass sie an politischer Kommunikation Anteil nehmen.“ Politische 11 Reha-Entwicklung und gesellschaftliche Teilhabe hat einen neuen Stellenwert erlangt. Fachveranstaltung der BAR: 20 Jahre SGB IX Menschen mit Behinderungen organisieren sich, die zahlreichen Neu- 12 Recht gründungen von Inklusions- und Behindertenbeiräten in Bund, Län- Persönliches Budget dern und Kommunen in den vergangenen Jahren sprechen für sich. Beim Bundesbehindertenbeauftragten mit direktem Draht zur Politik Impressum wurde ein Inklusionsbeirat etabliert. Die rechtlichen Grundlagen sind Reha-Info der BAR, Heft 4, August 2021 verlässlich und entwickeln sich. So hat beispielsweise das Behinder- Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft für tengleichstellungsgesetz die „Stärkung der Teilhabe von Menschen Rehabilitation (BAR) e. V., Solmsstr. 18, 60 486 Frankfurt am Main mit Behinderungen an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten“ Verantwortlich für den Inhalt: fixiert. Und am 16. Mai 2019 hat der Bundestag die Wahlausschlüsse Prof. Dr. Helga Seel Redaktion: Günter Thielgen (verantwortlich), Dr. Regina von Menschen mit Betreuung in allen Angelegenheiten aus dem Bun- Ernst, Franziska Fink, Bernd Giraud, Dr. Teresia Widera deswahlgesetz gestrichen. Seitdem dürfen alle Menschen wählen Rechtsbeitrag: Dr. Christiane Goldbach, Marcus Schian und es gilt Inklusives Wahlrecht für alle. Statistik: Dr. Teresia Widera, Christian Brand Telefon: 069/605018–0 Das sind erfreuliche Entwicklungen. Aber – und auch das konstatiert E-Mail: info@bar-frankfurt.de Internet: www.bar-frankfurt.de der Bericht der Bundesregierung: „Vom Ziel einer inklusiven Gesell- Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V. schaft sind wir leider noch weit entfernt.“ Die Teilhabe an politischen (BAR) ist der Zusammenschluss der Reha-Träger. Seit 1969 fördert sie im gegliederten Sozialleistungssystem Entscheidungsprozessen ist in vielfacher Weise eingeschränkt, beim die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen. Die BAR koordiniert und unterstützt das Zusammenwirken Informationszugang, durch mangelnde Barrierefreiheit oder beim Zu- der Reha-Träger, vermittelt Wissen und arbeitet mit an gang zu politischen Ämtern. „Nichts über uns ohne uns“ – die UN-BRK der Weiterentwicklung von Rehabilitation und Teilhabe. Ihre Mitglieder sind die Träger der Gesetzlichen Renten-, definiert das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Le- Kranken- und Unfallversicherung, die Bundesagentur ben für Menschen mit Behinderungen. Inklusion als demokratische für Arbeit, die Bundesländer, die Bundesarbeitsgemein- schaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen, Praxis, darin liegt großes Potential für den Prozess gesellschaftlicher die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe, die Kassen- Erneuerung. Die Selbstorganisation von Menschen mit Behinderun- ärztliche Bundesvereinigung sowie die Sozialpartner. gen ist seit langem etabliert, ihre Vertretung in den Parlamenten aber Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, sind nur mit Genehmigung der BAR gestattet. noch deutlich unterrepräsentiert. Druck: reha gmbh, Saarbrücken Druckauflage: 2700 Exemplare Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre, Schlussredaktion und Grafik: Perfect Page, Karlsruhe Jill Köppe-Ritzenthaler, Clarissa Rosemann Ihre Helga Seel Titelbild: Paulista, adobe stock Composing: Clarissa Rosemann Gedruckt auf Umweltpapier Circleoffset Premium White, FSC®-zertifiziert, Blauer Umweltengel und EU Ecolabel 2 Reha-Info der BAR | 4/2021
Tipps & Tools BAR-Seminar ● Das bio-psycho-soziale Modell und die ICF – Nutzung im Berufsalltag Das bio-psycho-soziale Modell ist die Grundlage der internatio- nalen Klassifikation, Behinderung und Gesundheit (ICF) und damit einer einheitlichen und standardisierten, internationalen Systematik zur Beschreibung von Gesundheit und Gesundheitszuständen. Sie ist Basis sozialmedizinischer Begutachtung und individueller Bedarfs- ermittlung. Das Seminar am 27. und 28. September in Münster ver- mittelt die Grundkonstruktion des bio-psycho-sozialen Modells und der ICF. Im Vordergrund stehen dabei die Nutzungsmöglichkeiten des Modells und der Transfer in den Berufsalltag anhand von Praxisbei- spielen für exemplarische Hilfekonzepte. www.bar-frankfurt.de > Service > Fort- und Weiterbildung Medizinische Reha Bundestagswahl 2021 ● Rahmenempfehlungen ● Wahlprüfsteine Allgemeiner Teil zur ambulanten 2021 ist ein wichtiges Wahljahr. Aus diesem Grund hat der Bundesverband für und stationären medizinischen körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V. (bvkm) Wahlprüfsteine entwickelt. Rehabilitation Der bvkm hat darin die wichtigsten Handlungsbedarfe und Forderungen zur Bundes- Neben der ambulanten medizini- tagswahl 2021 formuliert. Unter anderem fordert er die Parteien auf, sich für soziale schen Rehabilitation beschreiben die Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen einzusetzen und die damit Rahmenempfehlungen Allgemeiner Teil verbundenen Aufgaben in den parteipolitischen Fokus zu rücken. Die Wahlprüfsteine zum ersten Mal auch die stationäre gibt es auch in Leichter Sprache. medizinische Rehabilitation trägerüber- greifend. Die Empfehlungen beinhalten www.bvkm.de > unsere Themen > gesellschaftliche und politische Teilhabe neben Grundsätzen, Voraussetzungen und Zielen der medizinischen Reha, auch personelle, räumliche und appara- tive Anforderungen. Immer auf dem Laufenden Neu sind Kapitel zur Teilhabeorien- tierung der medizinischen Rehabilitati- ● Reha-Info und Newsletter abonnieren on, Zulassung zur Leistungserbringung, Sie erscheint sechsmal im Jahr, auch als Digital-Ausgabe: die neue Reha-Info. Abbruch oder Wechsel der Reha-Maß- Zusätzlich gibt es in unregelmäßigen Abständen den BAR aktuell-Newsletter zu Se- nahme, sowie zur Sozialen Teilhabe und minaren und Publikationen. Hier bekommen Sie aktuelle Informationen zu neuen Pu- dem Qualitätsmanagement. blikationen, interessanten Seminaren und praktischen Werkzeugen, die Ihnen Hilfe- stellungen und Unterstützung für Ihre Arbeit im Bereich Reha und Teilhabe geben. www.bar-frankfurt.de > www.bar-frankfurt.de > Service > Reha-Info und Newsletter > Service > Publikationen Reha-Info und Newsletter abonnieren Reha-Info der BAR | 4/2021 3
Politische Teilhabe Beteiligung von Menschen mit Behinderungen Starkes Interesse, bleibende Einschränkungen Parlament vertreten sein. Der Anteil der schwerbehinderten Menschen an der gesamten Bevölkerung in Deutschland betrug im Jahr 2020 9,5 Prozent, aber nur 3,3 Prozent sind im Bundestag ver- treten. Gleiches gilt für die Parlamente der Länder und der Kommunen. Warum sich Menschen mit Behinderungen ver- gleichsweise selten zivilgesellschaftlich oder parteipolitisch engagieren, ist nicht belegt. Fakt ist aber, dass ihre Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen durch Barrieren erschwert oder sogar vereitelt wird. Das schwächt die Partizi- pation der betroffenen Menschen, aber auch die Demokratie selbst. Teilhabebarrieren Barrieren politischer Teilhabe liegen vor Die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an Bundestagswahlen allem im fehlenden Zugang zu Infor steigt, zuletzt von 78,2 Prozent im Jahr 2013 auf 84,6 Prozent im Jahr 2017. mationen. Dies erläutert Dr. Katrin Grü Die Quote liegt nur noch geringfügig unter der von Menschen ohne Beein- ber in ihrem Artikel auf S. 10. Indivi- trächtigungen (2017: 87,1 Prozent). Außerdem gaben im Jahr 2018 44,6 duelle Kompetenzen und mangelnde Prozent der Menschen mit Behinderungen an, dass sie sich sehr für Politik Bildungsressourcen spielen sicher eben- interessieren. Das geht aus dem dritten Teilhabebericht der Bundesregie- falls eine Rolle. Oftmals sind es aber auch rung zu den Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen hervor. bevormundende Betreuungsverhältnis- se oder Vorbehalte gegenüber den Teil- D iese Entwicklungen sind zwar er- denkbar. Das Recht zu wählen ist Sinnbild habemöglichkeiten und -fähigkeiten, zum freulich, aber nach wie vor ist die gleichberechtigter Staatsbürgerschaft. Beispiel von Menschen mit kognitiven Teilhabe von Menschen mit Be- Mehr dazu können Sie im Artikel des Einschränkungen. Grundlegend für eine hinderungen an gesamtgesellschaftlichen Bundesbehindertenbeauftragen Jürgen Wahlentscheidung sind Informations- Entscheidungsprozessen in Deutschland Dusel auf S. 5 lesen. und Bildungsmöglichkeiten. Wo diese deutlich eingeschränkt. Artikel 29 der fehlen oder nicht zugänglich sind, kann UN-BRK garantiert Menschen mit Behin- Menschen mit Behinderungen kön- kein Interesse für politische Themen ent derungen, dass sie „gleichberechtigt mit nen auch gewählt werden. Sie sind al- stehen. Aber genau das ist die Grundvo- anderen wirksam und umfassend am lerdings in Parlamenten und anderen raussetzung, um die politische Teilhabe politischen und öffentlichen Leben teil- politischen Gremien deutlich seltener ver- von Menschen mit Behinderungen zu er- haben können“. Diese Möglichkeit ist ein treten. Eine Studie der Süddeutschen Zei- möglichen und zu fördern. entscheidendes Grundrecht und grund- tung zur letzten Bundestagswahl zeigt, legend für die politische Mitgestaltung. dass Menschen mit Behinderungen zu Denn Demokratie bedeutet die Möglich- den unterrepräsentierten Bevölkerungs- Zusätzliche Zahlen, Daten, Fak- Bild: MINIWIDE, adobe stock keit der gleichberechtigten Teilhabe an gruppen im aktuellen Bundestag gehö- ten sowie Infografiken zu diesem Arti- den politischen Willensbildungs- und ren. Demnach gibt es dort 23 Abgeordne- kel und dieser Schwerpunkt-Ausgabe Entscheidungsprozessen. Demokratie te mit Behinderung. Um Repräsentativität finden Sie auf www.bar-frankfurt.de > braucht Beteiligung, und Beteiligung oh herzustellen, müssten noch 43 weitere Themen > Zahlen, Daten, Fakten ne zivilgesellschaftliche Akteure ist kaum Abgeordnete mit einer Behinderung im 4 Reha-Info der BAR | 4/2021
Politische Teilhabe Ein großer Schritt ist getan Zum Abbau von Wahlhürden für Menschen mit Behinderungen Die Bundestagswahl am 26. September 2021 steht vor der Tür. Viele Bür- Bild: Henning Schacht gerinnen und Bürger mit Behinderungen interessieren sich für Politik und möchten gesellschaftliche Prozesse mitgestalten. Das Recht, politische Vertreterinnen und Vertreter zu wählen und selbst als gewählte Vertreterin oder Vertreter an der Gestaltung von Politik und Gesellschaft mitzuwirken, ist ein Grundrecht deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Es ist in Artikel 38 des Grundgesetzes (GG) für die Bundesebene und in Artikel 28 GG für die Ebene der Länder und Kommunen verankert. M it der Ratifizierung der UN-Be- froh, dass die völkerrechts- und verfas- hindertenrechtskonvention sungswidrigen Ausschlüsse nun der (UN-BRK) hat sich Deutsch- Vergangenheit angehören und wir in land zudem verpflichtet sicherzustel- Deutschland auf Bundes- und Landes- Jürgen Dusel, Beauftragter len, dass Menschen mit Behinderungen ebene inklusive Wahlgesetze haben. der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öf- Politische Information für alle fentlichen Leben teilhaben können, sei es Für eine gleichberechtigte Teilhabe von die Menschen mit Behinderungen in unmittelbar oder durch frei gewählte Ver- Menschen mit Behinderungen am poli- Deutschland gute Bedingungen vorfin- treterinnen oder Vertreter. Dies schließt tischen Leben ist ebenso wichtig, dass den, um ihr Wahlrecht auszuüben. Dies auch die Möglichkeit ein, zu wählen und auch die Rahmenbedingungen für die zeigen auch Erhebungen des SOEP aus gewählt zu werden (Art. 29 UN-BRK). Ausübung des Wahlrechts inklusiv ge- dem Jahr 2018: Danach war der Anteil Bis vor Kurzem waren in Deutschland staltet sind. In den wahlrechtlichen Vor- der Menschen mit Beeinträchtigungen, rund 85.000 Menschen mit Behinderun- schriften auf Bundesebene finden sich die sich an der Bundestagswahl 2017 gen vom Wahlrecht ausgeschlossen. entsprechende Regelungen: beteiligten, mit 84,6 Prozent nur etwas Das betraf Personen, die eine Betreuung So müssen die Kommunen den Wahl- geringer als bei den Menschen ohne Be- in allen Angelegenheiten hatten, und Per- berechtigten frühzeitig und in geeigneter einträchtigungen mit 87,1 Prozent. sonen, die im Maßregelvollzug in einem Weise mitteilen, welche Wahlräume bar- Voraussetzung für umfassende poli- psychiatrischen Krankenhaus unterge- rierefrei sind. Allen Wahlberechtigten tische Partizipation von Menschen mit bracht waren. Dieser Ausschluss wurde steht die Möglichkeit der Briefwahl zur Behinderungen ist schließlich eine inklu- Anfang 2019 vom Bundesverfassungs- Verfügung. Wählerinnen und Wähler, sive und barrierefreie Informationsver- gericht für verfassungswidrig erklärt. die wegen einer Behinderung gehindert mittlung in den Medien und eine fundierte Daraufhin änderten der Bund und viele sind, den Stimmzettel zu kennzeichnen, politische Bildung für alle Menschen. Länder ihre Wahlgesetze. Manche Bun- zu falten oder selbst in die Wahlurne zu desländer – wie beispielsweise Nord- werfen, können sich bei der Stimmab- Die Möglichkeit der politischen Teil- rhein-Westfalen und Schleswig-Holstein gabe der Hilfe einer von ihnen bestimm- habe für alle Menschen ist Grundvoraus – hatten die Wahlrechtsausschlüsse be- ten Hilfsperson bedienen. Menschen setzung einer funktionierenden Demo- reits seit 2016 abgeschafft; Baden-Würt- mit einer Sehbeeinträchtigung können kratie. Deshalb lautet das Motto meiner temberg korrigierte im Oktober 2020 als eine Stimmzettelschablone nutzen. Der Amtszeit auch „Demokratie braucht In- letztes Bundesland sein Wahlgesetz. Bundeswahlleiter stellt zum Ablauf der klusion“. Mit der Abschaffung der pau- Bundestags- oder Europawahl auf seiner schalen Wahlrechtsausschlüsse haben Bereits als Landesbehindertenbeauf- Internetseite Informationen in leichter wir viel erreicht. Einige Menschen mit Be- tragter in Brandenburg hatte ich die Ab- Sprache zur Verfügung. Und schließlich hinderungen werden im September zum schaffung der Wahlrechtsausschlüsse bietet auch die Bundeszentrale für poli- ersten Mal in ihrem Leben an einer Bun- vorangetrieben und mich dann auch in tische Bildung Informationen zur Bun- destagswahl teilnehmen können. Das ist meiner aktuellen Funktion auf Bundes- destagswahl in barrierefreien Formaten ein großer Schritt auf dem Weg zu einer ebene dafür stark gemacht. Ich bin sehr an. Alles in Allem kann man sagen, dass inklusiven Gesellschaft. Reha-Info der BAR | 4/2021 5
Politische Teilhabe Partizipation ist der Gradmesser Zwischen persönlichen Potenzialen und Anforderungen am Arbeitsplatz Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist eine Errungenschaft von eminenter Bedeutung für die Zeit und die Welt, in der wir leben. Welt- weit gibt sie die notwendige Orientierung: Gesellschaftliches Zusammen- leben und staatliche Rechtsprechungen richten sich global danach aus. Geschaffen worden ist sie mit umfassender Beteiligung und Expertise betroffener Menschen mit Behinderungen. Dies war und ist der Garant für Karl-Heinz Miederer, Geschäftsführer ihren Anspruch und ihre Allgemeingültigkeit. von Access Inklusion im Arbeitsleben F gemeinnützige GmbH in Nürnberg ür Deutschland ist die Umsetzung lingt der Schritt in ein neues Zeitalter. der UN-BRK Auftrag und Impuls. Unternehmen gelingt es dabei eher, sich eine Lobby, der politische Wille wird Das Bundesteilhabegesetz in all für Neues zu öffnen und mit der Zeit zu nicht mit Nachdruck umgesetzt. seinen Facetten ist Ausdruck dessen. gehen. Auch wenn es Aufwand erfor- Menschen mit Behinderungen erhalten dert, scheint es, dass die Mühe lohnen Oder ein anderes Beispiel: die Unter- die angemessene Aufmerksamkeit und könnte. Wandel gehört zum Unterneh- stützte Beschäftigung (UB). 2009 ist sie rechtlichen Ansprüche – und werden mertum. Die Praxis zeigt zunehmend ins SGB IX aufgenommen worden, mit endlich als gleichberechtigter Teil unse- Interesse, begünstigt auch von zentralen maßgeblicher Unterstützung von Betrof- rer Gesellschaft wahrgenommen. Regelungen und Verpflichtungen seitens fenen – Access Inklusion konnte hierzu der Europäischen Union. einen Beitrag leisten. Die gesetzliche Ver- Soweit der ideelle Anspruch. Der ankerung war gelungen. Beim Ausschrei- Gesetzgeber hat im letzten Jahrzehnt Es braucht politischen Willen bungsverfahren zur UB bestehen hinge- einiges unternommen, um dem hohen Behörden tun sich ungleich schwerer. gen weiterhin Zweifel. Im Gegensatz zur Anspruch nachzukommen. Nicht in dem Anstelle tatkräftiger Umsetzung und etablierten Förderung von Maßnahmen, Umfang und der Konsequenz, die zahl- Unterstützung für das Neue, ist das beispielsweise in Berufsbildungswerken reiche Betroffene fordern. Die institu- Festhalten an Gewohntem bis hin zur oder Werkstätten für behinderte Men- tionalisierten Formen der Unterstützung Verschleppung durch langatmige An- schen, wird die Maßnahme der UB aus- der Vergangenheit sind Ballast und vor- tragsbearbeitung sichtbar. Ein unrühm- geschrieben. Ein ganz anderer Maßstab handene Strukturen erweisen sich als liches Beispiel ist vielerorts das Budget wird angelegt. Konkurrenz dominiert die Barrieren für einen Umbau. Aber und vor für Arbeit, dem es am Willen zur Umset- Vergabe. Der Preis bestimmt, nicht die allem: Politik und Gesellschaft haben zung zu fehlen scheint, obwohl Betrof- Qualität – auch wenn Gegenteiliges be- sich auf den Weg gemacht. Auch wenn der Weg noch weit ist. Die Ausgangslage ist mittlerweile günstiger, als zur Zeit der Wo Staat und Politik sich proaktiv einbringen und Ratifizierung. Seit 2009 immerhin ist die Partizipation nutzen, gelingen Teilhabe und Inklusion. UN-BRK hier geltendes Recht. Auf das Arbeitsleben hat dies weit- fene und Arbeitgeberinnen und Arbeit- hauptet wird. Wird der Kennzahlkorridor reichende Auswirkungen. Potenziale geber in der Praxis dafür bereit sind. verfehlt, kommt die Qualität nicht mehr kommen in den Blick, aber auch Pflich- Die Praxis ist ablesbar an der Beanspru- zum Tragen. Die Vergabepraxis droht er- ten und gesellschaftliche Verantwor- chung in den einzelnen Bundesländern: worbene Qualität zu vernichten. Denn die tung von Unternehmen. Der Mensch von intensiver bis hin zur sporadischen Anforderungen an das Personal in der in der Arbeitswelt erhält mehr Bedeu- Nutzung mit kleinen Fallzahlen. Wo der UB sind enorm. Job Coaches vermitteln tung. Mit dem Begriff der Inklusion tut Wille da ist, wird es zu einem äußerst in einem komplexen Beziehungsgefüge: man sich freilich schwer – mit all sei- zielführenden Instrument. Problem für Von pädagogisch-didaktischer Qualifika- nen Konnotationen. Nur mühsam ge- die Zielgruppe: Betroffene haben kaum tion über Tätigkeitsanalysen bis zum Be- 6 Reha-Info der BAR | 4/2021
Politische Teilhabe ziehungsmanagement mit Kolleginnen 6 Fragen an Steven Wallner und Benny Tröllmich und Kollegen sowie Vorgesetzten im Be- trieb sind sie gefordert. Fachliche Exper- tise ist ein Schlüssel zum Erfolg. Zeitgemäße Konzepte setzen an der Individualität an und erreichen eine Pas- sung zwischen den persönlichen Poten- zialen einer Arbeitskraft mit Beeinträch- tigungen und den Anforderungen am Arbeitsplatz im Betrieb. Dienstleister für Steven Wallner Benny Tröllmich Inklusion, die am Arbeitsmarkt agieren, sind für nachhaltige Teilhabe unerläss- lich. Staatliche Förderung hat hier einen Auftrag, eine entsprechende Infrastruk- Politische Teilhabe von tur zu schaffen. Und es ist eine Heraus- forderung, der sich ein gegliedertes und Menschen mit Behinderungen tendenziell standardisiertes Reha-Sys- tem stellen muss. Das Beispiel UB zeigt aus der Binnenperspektive auch, dass die Mitgestaltung des politi- schen Diskurses möglich und notwendig Wir haben Menschen mit Beeinträchtigungen zu ihrer politischen Teilhabe ist. Die Praxis profitiert: Mehr als 60 Pro- befragt. Steven Wallner und Benny Tröllmich haben die Fragen aus ihrer zent der begleiteten Personen werden persönlichen Perspektive heraus beantwortet. Sie arbeiten in der EUTB- von Access seit Jahren nachhaltig in die Beratungsstelle des Vereins Leben mit Handicaps e. V. in Leipzig. Arbeitswelt integriert. Steven Wallner arbeitet auf einem Außenarbeitsplatz an zwei Tagen in der Woche als Experte für Leichte Sprache in der Beratungsstelle. Seine Auf- Offensichtlich müssen Fortschritte gaben sind die Prüfung von Informationen in Leichter Sprache, die Durch- in der Politik mit und für Menschen mit führung von Einführungsveranstaltungen und vor allem die Begleitung von Behinderungen erarbeitet und erkämpft Beratungen in Leichter Sprache. Die Beratungen in Leichter Sprache wer- werden, damit Entwicklungen einen ge- den als Tandemberatungen angeboten. Beschäftigt ist Steven Wallner in winnbringenden Verlauf nehmen. Wo der Werkstatt für behinderte Menschen der Diakonie am Thonberg Leip- Staat und Politik sich proaktiv einbringen zig. Er hat eine körperliche Einschränkung und eine Lernbehinderung. und Partizipation nutzen, gelingen Teil- Benny Tröllmich ist hauptamtlicher Berater der EUTB. Er ist im Behinder- habe und Inklusion. Betroffene und ihre tenrat der Stadt Leipzig engagiert sowie Mitglied des Stadtrates. Benny Organisationen wünschen viel mehr da- Tröllmich ist blind. Lesen Sie hier, was die beiden über ihre politische Teil- von. Partizipation bleibt der Gradmesser habe sagen. für die Ernsthaftigkeit, mit der Staat und Politik agieren. 1 Machen Sie bei der Politik in Ihrem Wohnort mit? war. Manchmal weiß ich nicht, was ich wählen soll. Ich nutze hin und wieder den Wahlomat. Die AfD würde ich nicht wäh- Benny Tröllmich: Ja, ich bin vor etwas len. Es gab mal in der Volkshochschule mehr als vier Jahren in die Partei Bünd- einen Kurs zum Wählen. Den habe ich Die Jobcoaches von Access nis 90/Die Grünen eingetreten und bin besucht. Dort konnten wir Fragen stellen, Inklusion im Arbeitsleben unter- seit Sommer 2018 Mitglied im Behinder- die uns beantwortet wurden. Der Kurs stützen Menschen mit Behinde- tenbeirat der Stadt Leipzig für die Grüne war speziell für Menschen mit Behin- rungen bei der beruflichen Inklu- Stadtratsfraktion und arbeite eng mit der derungen. Interessant war, die Politiker sion in den allgemeinen Arbeits- Stadträtin Nuria Silvestre, Sprecherin für kennenzulernen. Es gab auch Wahlpro- markt. Inklusion und Migration, zusammen. gramme in Leichter Sprache, aber nicht access-inklusion.de Steven Wallner: Ich gehe wählen. Ich von allen Parteien. Das war sehr schade. durfte schon immer wählen, seit ich 18 Es gibt ja viele Menschen, die Leichte Reha-Info der BAR | 4/2021 7
Politische Teilhabe Sprache brauchen. In unserer Werkstatt große Konzentration aufbringen muss, bar rierefreien Bereich und die Bahn gab es auch mal einen Kurs zum Thema um allein diese Herausforderung zu be- hält nicht noch einmal an den angeho- Wahlen. wältigen. Weitere Hindernisse wären zu- benen Stellen. Das führt dazu, dass ich dem auch Präsentationen, deren Inhalte nicht aussteigen kann. Ich muss bis zur 2 Warum wollen Sie politisch mitreden? nicht kommuniziert werden, oder ausge- druckte Handreichungen. nächsten Haltestelle fahren und dann mit einer entgegenkommenden Bahn zurück. Es gibt außerdem zu wenig Benny Tröllmich: Um einen Beitrag für ein besseres Miteinander, für mehr Ge- rechtigkeit und Chancengleichheit für 4 Wird Ihre Meinung auch gehört? behindertengerechte Wohnungen. Es werden viele Hotels gebaut, aber keine bezahlbaren Wohnungen für Rollstuhl- alle in unserer Gesellschaft zu leisten Benny Tröllmich: Ja, „meine“ Fraktion fahrer. und um an einer lebenswerten Zukunft hält Rücksprache mit mir bei Vorhaben mitgestalten zu können. Ich möchte hier an dieser Stelle gerade Menschen mit Behinderungen ermuntern, in den Partei- seitens der Stadt oder Anträgen, die Be- lange von Menschen mit Behinderungen berühren. Und ich arbeite auch an den 6 Was würden Sie ändern, wenn Sie Bundeskanzler wären? en aktiv zu werden, die sich für Inklusion Anträgen oder Änderungsanträgen mit, einsetzen, und so Politikerinnen und Po- die im Stadtrat eingebracht werden. Zu- Steven Wallner: Mindestlohn für Be- litikern in den Kommunen, auf Landes- dem stehe ich auch mit Landespolitike- schäftigte der Werkstätten für behin- oder Bundesebene mit Rat zur Seite zu rinnen und -politikern im Austausch. derte Menschen. Ich würde alte Stra- stehen bzw. sich in Arbeitsgruppen der Steven Wallner: Es kommt darauf an, ßenbahnen mit Stufen rausschmeißen. Parteien einzubringen oder selbst für welche Fragen ich gestellt habe oder S-Bahnen würde ich barrierefei machen, ein Amt oder Mandat zu kandidieren. Es was mich interessiert. so dass der Fahrer nicht extra ausstei- braucht vor allem auch Expertinnen und gen muss, um die Rampe anzulegen. Experten in eigener Sache, also Men- schen mit Behinderungen, wenn es um Entscheidungen in den Bereichen Inklu- 5 Was würden Sie gerne mitbestimmen in der Politik? Außerdem brauchen wir mehr Behin- dertentoiletten in der Öffentlichkeit, also außerhalb von Einkaufszentren und Pas- sion und Teilhabe für Menschen mit Be- sagen. Zudem brauchen wir mehr Ange- hinderungen geht. Natürlich ist es auch Benny Tröllmich: Vieles! Wenn ich alles bote für Rollstuhlfahrer für barrierefreies wichtig, bei allen anderen Themen mitre- an dieser Stelle aufzählen sollte, wür- Reisen. Da gibt es noch nicht viele An- den oder -entscheiden zu können, denn de dies den Rahmen dieses Interviews bieter. Menschen mit Behinderungen sind ja sprengen. Wie ich aber bei einer anderen Benny Tröllmich: Vermutlich würde ebenso vielfältig interessiert an allen an- Frage erwähnte, nehme ich bereits im ich das kürzlich beschlossene Barrie- deren Themen, die unsere Gesellschaft gewissen Maße Einfluss vor Ort, indem refreiheitsstärkungsgesetz, das in der bewegen. ich mich aktiv bei der Erarbeitung von vorliegenden Form äußerst unzurei- Steven Wallner: Wenn mich etwas inte- Anträgen oder Änderungsanträgen zu chend verfasst ist und von der derzei- ressiert oder ich etwas weiß, würde ich den Themen Inklusion und Teilhabe von tigen Regierungskoalition beschlossen mitreden. Menschen mit Behinderungen einbringe. wurde, zu einem im Sinne der UN-Be- Was ich mir aber sehr wünschen würde, hindertenrechtskonvention wirksamen 3 Gibt es für Sie Hinder nisse bei der Teilhabe am politischen Leben? wären Förderschulen für alle! Denn ohne eine inklusive Bildung von der Kita bis zum Abitur wird das Ziel einer Inklusi- Instrument machen, das die uneinge- schränkte Teilhabe für Menschen mit Behinderungen ermöglicht. ven Gesellschaft nicht zu erreichen sein, Zudem würde ich einen eindeutigen Steven Wallner: Manche Informationen und Menschen mit Behinderungen wer- Rechtsanspruch für Kinder mit Behin- sind schwer zu verstehen. den weiterhin von diskriminierendem derungen auf persönliche Assistenz Benny Tröllmich: Für mich als blinder Verhalten unserer Mitmenschen, von schaffen, denn auch Kinder mit Behin- Mensch stellen nicht-barrierefreie Do- Stigmatisierung und Ausgrenzung be- derungen müssen unabhängig von ihren kumente solch ein Hindernis dar, aber troffen sein. Eltern und ganz wie Kinder ohne Behin- auch Treffen an mir unbekannten Orten, Steven Wallner: Barrierefreiheit würde derung gleichen Alters selbstbestimmt wo mir jede Orientierung fehlt. Das sorgt ich mitbestimmen wollen. An Doppelhal ihre Freizeit gestalten und sich entwi- bei mir für erhöhten Stress, weil ich eine testellen hält die zweite Bahn im nicht ckeln können. 8 Reha-Info der BAR | 4/2021
Politische Teilhabe Gegen politischen Verdruss hilft Repräsentation Bild: Fräulein Fotograf Demokratie braucht Perspektiven Als Martin Zierold 2011 anfing, Politik für die Grünen im Bezirk Berlin-Mitte zu machen, war das öffentliche Interesse groß. Es erschienen Artikel über sein Wirken und Interviews, die seiner Motivation auf den Grund zu gehen suchten. Immerhin war er der erste gehörlose Mensch in einem deutschen Parlament. Er eröffnete damit vielen hörenden Menschen Einblicke in eine Kultur, von der sie bis dahin nicht den Hauch einer Ahnung hatten. Gehör- losigkeit plötzlich nicht mehr schlicht als Beeinträchtigung werten zu kön- nen, sondern mit einer Sprache zu verbinden, die komplex ist, ihren eigenen Corinna Rüffer, Sprecherin für Regeln und einer besonderen Ästhetik folgt, löste Erstaunen aus. Behindertenpolitik der Bundestags- D fraktion Bündnis 90/Die Grünen ass es für viele taube Menschen Gegenteil von inklusiv sind. Dolmetsche- eine Zumutung ist, auf Lautspra- rinnen und Dolmetscher wurden spärlich inklusiven Gesellschaft dient. Ein ziem- che getrimmt zu werden, weil es finanziert, bestenfalls für Gremiensitzun- lich leeres Versprechen, blickt man in die für sie immer eine Fremdsprache mit gen. Randgespräche oder Vororttermine Reihen des Bundestags (nicht nur) in die- komplizierter Grammatik bleiben wird, im Bezirk musste er dauerhaft mit Eh- ser Legislaturperiode. Im Europäischen konnte er so einem breiten Publikum renamtlichen aus seinem persönlichen Parlament sitzt mit Katrin Langensiepen vermitteln. Und darüber hinaus auch die Umfeld bestücken. Und das, obwohl alle zum ersten Mal eine Frau mit sichtbarer Tatsache aufzeigen, dass das Erreichen wissen, dass Politik zu mindestens 90 Beeinträchtigung. Das ist wunderbar und der Hochschulreife den allermeisten ge- Prozent aus informeller Kommunikation bezeichnend zugleich. hörlosen Menschen versperrt bleibt, weil besteht. So blieb Martin Zierolds Arbeit an vielen angeblich spezialisierten Schu- auf der politischen Bühne ein kurzes Der ehemalige Bundestagspräsident len für gehörlose Kinder und Jugend- Intermezzo. Die Aussicht, dass ein ge- Norbert Lammert sagte einmal: „Ein liche gar keine Lehrerinnen und Lehrer hörloser Mensch in absehbarer Zeit in Parlament ist keine Versammlung von unterrichten, die gebärdensprachkom- einem Landtag, im Bundestag oder Euro- Helden und Heiligen, sondern von Volks- petent sind und auf dieser Grundlage paparlament vertreten sein wird, ist aus vertretern – eine ziemlich repräsentative ihren Unterricht gestalten. heutiger Sicht gering. Mit Teilhabe und Mischung von Herkunft, Alter, Berufen, Als ich zum ersten Mal die Be- Chancengerechtigkeit hat das nichts zu Begabungen, Temperamenten, Erfahrun- schwerde einer gehörlosen Mutter auf tun. gen, Stärken und Schwächen.“ Wie er da- dem Schreibtisch hatte, der das Eltern- rauf kommt, bleibt sein Geheimnis. gespräch an der sogenannten Förder- Wo bleibt die Das Problem mit der Repräsentation schule ihrer Tochter nicht ermöglicht repräsentative Mischung? beginnt aber nicht erst in den Parlamen- wurde, weil sie nicht mit den Lehrerinnen „Nichts über uns ohne uns“ lautet die ten. Auch die Parteien behaupten zwar, und Lehrern der Schule kommunizieren Leitmaxime der UN-Behindertenrechts- dass sie für diverse Zielgruppen ein An- konnte, musste ich dreimal nachfragen, konvention, die uns seit 2009 als gesetz- gebot bereithalten. Allerdings werden weil ich es nicht für möglich hielt. Wenn liche Grundlage zur Realisierung einer diese Angebote oft von Akteurinnen und man Martin Zierold zuhört, versteht Akteuren vertreten, die selbst gar nicht man, warum taube Menschen fordern, betroffen sind und nicht über einen ent- ihre Kultur als die einer Minderheit an- sprechenden Erfahrungshintergrund ver- zuerkennen und als solche wertzu- fügen. Das führt dazu, dass Menschen schätzen. Niemals wird das ein Drit- mit Behinderungen, aber auch Nicht- ter in gleich authentischer Weise akademikerinnen und Nichtakademiker, glaubhaft machen können. Leider People of Colour, Frauen und Jugend- sah sich Martin Zierold irgend- liche sich von ihnen fernhalten. Unter wann gezwungen, sein Mandat diesem Mangel an Perspektiven leidet niederzulegen, weil er in der Po- unsere Demokratie. Sie braucht Inklusion litik auf Strukturen traf, die das – dringend! Bild: Viorel Sima, adobe stock Reha-Info der BAR | 4/2021 9
Politische Teilhabe Teilhabebericht der Bundesregierung Es besteht weiterhin Handlungsbedarf Politische Teilhabe reicht vom aktiven bis hin zum passiven Wahlrecht, be- deutet Mitwirkung in politischen Gremien auf der Bundes-, Landes- oder kommunalen Ebene, Partizipation bei Beteiligungsverfahren oder aktive Mitgliedschaft in Parteien oder Organisationen. Der Teilhabebericht der Bundesregierung zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Behinderung auf. Dr. Katrin Grüber, Leiterin des Institutes D Mensch, Ethik und Wissenschaft er Bericht macht deutlich, wie zeigen allerdings, dass im Alltag Barrie wichtig es war, im Jahr 2019 ren das Engagement von Menschen mit oder weil die Sitzungsformen nicht ihrem den Wahlrechtsausschluss für Behinderungen erschweren oder unmög- Bedarf entsprechen. diejenigen Menschen aufzuheben, bei lich machen. Immer wieder erleben Men- denen eine Betreuung für alle Angele- schen im Rollstuhl, dass sie an Sitzun- Vor diesem Hintergrund verwundert genheiten besteht, und solchen, die we- gen, Informationsveranstaltungen oder es nicht, wenn Menschen mit Behinde- gen Schuldunfähigkeit in einem psychia Workshops nicht teilnehmen können, rung vergleichsweise selten in Parlamen- trischen Krankenhaus untergebracht weil diese in für sie nicht zugänglichen ten auf Ebene der Kommunen, der Län- sind. Anlass für die Änderung war ein Räumen stattfinden. Menschen, die auf der und des Bundes vertreten sind (Düber Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, die Gebärdensprache angewiesen sind, et al. 2018). Der Anteil der Menschen mit das die bisherige Regelung für verfas- können nur in Ausnahmefällen an Sitzun- Beeinträchtigungen, die häufig oder zu- sungswidrig erklärt hatte. Seitdem kön- gen oder Veranstaltungen teilnehmen. mindest ab und zu politisch aktiv sind, nen sich diese Personengruppen, wie ist mit 7,4 Prozent etwas geringer als bei andere auch, an Wahlen auf den unter- Nur wenige kommunale Haushalte Menschen ohne Beeinträchtigungen (8,9 schiedlichen Ebenen beteiligen. haben ein Budget für die Übersetzung Prozent) (BMAS 2021, S. 717). Der Bun- Menschen mit Behinderungen gehen vorgesehen. Dokumente liegen nur in desteilhabebericht gibt wichtige Hinwei- inzwischen fast genauso oft wie Men- Ausnahmefällen in barrierefreier Fas- se auf die Möglichkeiten für die politische schen ohne Behinderung wählen, das sung vor, was das Engagement von Teilhabe von Menschen mit Behinderun- heißt, die Unterschiede haben sich im Menschen mit Sehbeeinträchtigung er- gen. Er zeigt Handlungsbedarf auf und Verlauf der Jahre angeglichen (BMAS schwert. Für Menschen mit Lernschwie- weist auf Lücken hin, die durch weitere 2021, S. 717). Welche Rolle die Barriere- rigkeiten gibt es wenige Möglichkeiten, Forschung geschlossen werden sollten freiheit spielt, ist nicht bekannt. Aber es sich zu engagieren, weil es nur wenige – selbstverständlich mit Beteiligung von kann an vielen Stellen beobachtet wer- Informationen in Leichter Sprache gibt Menschen mit Behinderungen. den, dass im Laufe der letzten Jahre das Bewusstsein der Verantwortlichen für die unterschiedlichen Barrieren gewachsen Literatur ist und die entsprechenden rechtlichen Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2021): Dritter Teilhabebericht Wahlvorschriften umgesetzt werden. der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beein- Wahllokale werden in der Regel so aus- trächtigungen – Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. gewählt, dass sie für Menschen mit Mo- www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/a125-21-teilhabebericht bilitätseinschränkung zugänglich sind, blinde Menschen können mit Hilfe von Düber, Miriam; Rohrmann, Albrecht; Windisch, Marcus (2018): Barrierefreie Schablonen den Wahlzettel nutzen und Partizipation. Herausforderung für die Soziale Arbeit. In: Stehr, Johannes; es gibt Informationen in Leichter Sprache Anhorn, Roland; Rathgeb, Kerstin (Hg.): Konflikt als Verhältnis – Konflikt als für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Verhalten – Konflikt als Widerstand. Widersprüche der Gestaltung Sozialer Eigene Erfahrungen bei Beteiligungs- Arbeit zwischen Alltag und Institution. Springer VS, Wiesbaden, S. 253–264. prozessen auf der kommunalen Ebene 10 Reha-Info der BAR | 4/2021
IX ist. Als Voraussetzungen hob sie die Aspekte Informiertheit, Verstehen, Ver- ständnis und Verständigung hervor. Da- Reha-Entwicklung für müsse sich die Sprache am Adressa- tenkreis ausrichten, nicht umgekehrt. Im Digitale Fachveranstaltung der BAR Bereich von Teilhabe und Rehabilitation 20 Jahre SGB IX zählen dazu nicht nur eine verständliche Sprache, sondern auch Barrierefreiheit. Ihr Fazit: „Funktionierende Kommunika- „20 Jahre SGB IX. Ein langer Weg versität Kassel, stellte die Erfolge, Proble- tion ist Voraussetzung für eine teilhabe- für die Teilhabe von Menschen mit me und Herausforderungen der Sozialen orientierte Rehabilitation“. Behinderungen“ – dieses Thema Selbstverwaltung dar. In der anschließen- beschäftigte am 15. Juni Expertin- den Diskussionsrunde (siehe Foto) mit Während der Fachveranstaltung ka nen und Experten aus den unter- Prof. Dr. Welti, Brigitte Gross (Direktorin men immer wieder Menschen mit Behin- schiedlichsten Bereichen zusam- der DRV Bund) und Dr. Susanne Wagen- derungen zu Wort. Britta Meinecke-Alle men mit rund 200 Teilnehmenden. mann (alternierende Vorstandsvorsitzen- kotte, eine OP-Schwester, die bei einem de der BAR und Abteilungsleiterin BDA) Arbeitsunfall einen Arm verlor und sich M arkus Hofmann, Vorstands- sowie in einem Videobeitrag von Jürgen wieder in ihren Beruf zurückkämpfte, vorsitzender der BAR und Hohnl (Geschäftsführer IKK e. V.) wurde brachte ihre Auffassung von Teilhabe auf Abteilungsleiter DGB beton- deutlich, dass die Selbstverwaltung auch den Punkt: „Das Leben wieder in Eigenre- te zu Beginn, wie wichtig Zahlen und in Zukunft eine wichtige Rolle spielen gie führen zu können“. Sarah Meß, Teil- Transparenz in Rehabilitation und Teil- muss und auch die Digitalisierung neue habeberaterin ZSL Nord, unterstrich, wie habe sind und dass dadurch mehr Zu- Chancen bieten kann. Prof. Dr. Edwin wichtig es ist, nicht über die Köpfe von sammenarbeit erreicht werden kann. Toepler, Professor für Management der Menschen mit Behinderungen hinweg Bundesminister Hubertus Heil hob in sei- Rehabilitation an der Hochschule Bonn- deren Anliegen zu besprechen. Michael ner Grußbotschaft hervor, dass einer der Rhein-Sieg, zeigte in seinem Beitrag Feller, Peer-Berater bei der EUTB, stellte Meilensteine des SGB IX darin bestand, „Qualitätsziel Teilhabe – Härtetest für klar: „Nur wenn wir gleichberechtigt mit- dass es mit der Leitlinie „Leistungen wie das SGB IX?“, wie wichtig es ist, individu- einander kommunizieren, kann Selbst- aus einer Hand“ die Verhältnisse neu de- elle Teilhabeziele zu setzen und vor allem bestimmung und Partizipation in allen finiert hat: zum einen zwischen den Ver- der Frage nachzugehen, ob diese erreicht Bereichen erreicht werden. Annetraud waltungen untereinander, zum anderen wurden. Grote, Inklusionsbeauftragte des Paul aber auch zwischen den Verwaltungen Aus dem Atelier der BAR stellte Bernd Ehrlich Instituts, hatte zwei wichtige Bot- und den Bürgerinnen und Bürgern. Giraud, Fachbereichsleiter Programme schaften: „Inklusion beginnt in den Köp- Prof. Dr. Marc von Miquel, Ge- und Produkte, Online-Tools für die Re- fen“ und „Inklusion braucht Kooperation“. schäftsführer der Dokumentations- und ha-Praxis und das Digital-Projekt „Ge- Jürgen Dusel, Bundesbeauftragter Forschungsstelle der Sozialversiche- meinsamer Grundantrag für Reha- und für die Belange von Menschen mit Behin- rungsträger, skizzierte die Historie des Teilhabeleistungen“ vor. Dr. Stefan Schü- derungen machte in seinem Schlusswort SGB IX und unterstrich dabei, dass So- ring, Fachbereichsleiter Teilhabeverfah vor allem auf die Beschäftigungssitua- zialpolitik ohne zivilgesellschaftliche Auf- rensbericht, Systembeobachtung und tion von Menschen mit Behinderungen brüche wie die Behindertenbewegung Forschung, stellte mit der BAR-Ausga- aufmerksam: Das Problem sei, „dass ein nicht denkbar ist. Anschließend ging benstatistik und mit dem Teilhabever- Viertel aller Unternehmen in Deutschland es um das SGB IX in der Rechtspre- fahrensbericht wichtige Steuerungsin keinen einzigen Menschen mit Behinde- chung: Prof. Dr. Steffen Luik, Richter strumente für Rehabilitation und Teilhabe rungen beschäftigen – das sind mehr als am BSG in Kassel, zeigte sich überzeugt, vor und warb für deren Nutzung. 40.000 Betriebe.“ dass das SGB IX die Umsetzung des Prof. Dr. Helga Seel, Geschäftsfüh- Benachteiligungsverbots leisten kann, rerin der BAR, zeigte auf, wie sich der sieht allerdings noch großen Spielraum angestrebte Bewusstseinswandel in der Eine Dokumentation der Tagung zum Beispiel bei der Teilhabeplanung. Sprache des SGB IX niederschlägt und wird demnächst veröffentlicht Prof. Dr. Felix Welti, Professor für wie zentral die Kommunikation, „das Mit- auf www.20-jahre-sgb-ix.de Sozial- und Gesundheitsrecht an der Uni- einander reden“, für die Ziele des SGB Reha-Info der BAR | 4/2021 11
Recht Zweck des Persönlichen Budgets ist, ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Persönliches Budget – Unzulässigkeit genereller Befristung und weitere Aspekte Bewilligungen waren aus prozessrecht- Leistungen für die Vergangenheit in Be- Orientierungssätze* lichen Gründen nicht mehr Gegenstand tracht, wenn das PB zuvor rechtswidrig 1. Die Befristung einer des Verfahrens. Die Klage hatte in den zu gering war. Leistungserbringung in Vorinstanzen keinen Erfolg. Auf Revision Die Voraussetzungen des § 32 SGB X Form eines Persönlichen des Klägers hat das BSG die Rechtswid- für die Befristung eines Verwaltungs- Budgets scheidet regel- rigkeit der PB-Befristung festgestellt und akts, auf den – wie hier – ein Anspruch mäßig aus. hinsichtlich der PB-Höhe vom 1.12.2012 besteht, liegen laut BSG nicht vor. Insbe- 2. Eine Zielvereinbarung zum bis 31.1.2014 die Sache an das LSG zu- sondere kann eine zeitliche Befristung Persönlichen Budget bindet rückverwiesen. vorliegend nicht dazu dienen, das Fehlen die Beteiligten in der Regel von Voraussetzungen für den Erlass des nicht materiell im Hinblick Das BSG unterstreicht zunächst er- Verwaltungsakts zu überbrücken. Eine auf den individuellen neut, dass ein Anspruch auf Leistungser- Befristung zur Sicherstellung des künf- Leistungsbedarf. bringung in der Form eines PB besteht, tigen Fortbestands der gesetzlichen Vo- BSG, Urteil v. 28.01.2021, wenn ein Anspruch auf raussetzungen eines Az.: B 8 SO 9/19 R eine budgetfähige Teil- Dauerverwaltungsakts * Leitsätze oder Entscheidungsgründe des Gerichts habeleistung vorliegt. scheidet grundsätz- bzw. Orientierungssätze nach JURIS, redaktionell ab- Hier kam ein Anspruch lich aus, wenn sie nicht gewandelt und gekürzt auf Eingliederungshilfe durch Rechtsvorschrift nach dem SGB XII a. F. ausdrücklich zugelas- i. V. m. SGB IX a. F. in sen ist. Der Notwen- Sachverhalt und Betracht. Die Voraus- digkeit einer regelmä- Entscheidungsgründe setzung einer wesent- ßigen Überprüfung des lichen Behinderung liegt nach den Fest- Bedarfs wird beim PB bereits dadurch D er Kläger leidet unter einer psy- stellungen des LSG vor. Betreffend die Rechnung getragen, dass das Bedarfs- chischen Symptomatik. Er er- Anspruchshöhe hatte das LSG allerdings feststellungsverfahren grundsätzlich hielt u. a. Eingliederungshilfe in keine Feststellungen zum individuellen alle zwei Jahren zu wiederholen ist (vgl. Form eines Persönlichen Budgets (PB) Leistungsbedarf getroffen. Dies ist laut auch § 29 Abs. 2 S. 4 SGB IX). Das BSG vom beklagten Sozialhilfeträger (Rechts- BSG nicht deshalb entbehrlich, weil die weist insoweit auch auf ggf. problema- lage vor BTHG). Die Höhe des PB betrug vorliegenden Zielvereinbarungen Aus- tische Anreize zur Verfahrensgestaltung vor dem streitigen Zeitraum 600 Euro führungen zum Leistungsbedarf enthal- bei anderer Auslegung hin. monatlich. Ende 2012 beantragte der ten. Denn die Zielvereinbarungen sind Kläger eine Verlängerung des PB. Nach- allenfalls formale Voraussetzung für die Mit der vorliegenden Entscheidung dem u.a. entsprechende Zielvereinbarun- PB-Bewilligung, binden die Beteiligten zur alten Rechtslage klärt das BSG ne- Bild: VZ_Art, adobe stock gen unterschrieben worden waren – mit aber im Ergebnis nicht materiell im Hin- ben den hier kursorisch aufgegriffenen Vorbehalt des Klägers hinsichtlich der blick auf den individuellen Leistungs- weitere grundsätzliche praxisrelevante Freiwilligkeit – wurde ein befristetes PB bedarf. Mit Blick auf den Zweck des PB, Verfahrensfragen beim PB mit Bedeu- bewilligt, i.H.v. bis zu 388 EUR. Der Kläger ein selbstbestimmtes Leben zu ermögli- tung auch für die aktuelle Rechtslage. begehrte zuletzt insbesondere ein un- chen, kommen nach dem BSG auch PB- befristetes PB i.H.v. 600 EUR monatlich sowie einen Ausgleich für zu geringe mo- natliche Auszahlungen vom 1.12.2012 Lesen Sie in der nächsten Ausgabe: bis 31.1.2014. Zeitlich nachfolgende PB- Leichte Sprache Erscheinungstermin: 15.10.2021
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