BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen

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BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Bundesarbeitsgemeinschaft
                     für Rehabilitation

Schwerpunkt
Politische Teilhabe von
Menschen mit Behinderungen

      BAR | REHA-INFO
      4/2021
BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Editorial

          Inhalt
       3 Tipps & Tools

      4   Schwerpunkt
     		   Politische Teilhabe
      4   Starkes Interesse,                                                                      Prof. Dr. Helga Seel
     		   bleibende Einschränkungen                                                               Geschäftsführerin der BAR

       5 Ein großer Schritt ist getan
       6 Partizipation ist der Gradmesser
                                                                       Liebe Leserin und lieber Leser,
      7 Interview: Politische Teilhabe
     		 von Menschen mit Behinderungen                                 Die Wahlbeteiligung von Menschen mit Behinderungen steigt. Das
       9 Demokratie braucht Perspektiven                               zeigt der aktuelle Teilhabebericht der Bundesregierung über die Le-
                                                                       benslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. „Es zeigt sich,
     10 Teilhabebericht der Bundes-
                                                                       dass Menschen mit Beeinträchtigungen ihr passives Wahlrecht nur
     		 regierung zeigt: Es besteht
                                                                       geringfügig weniger nutzen als Menschen ohne Beeinträchtigungen
     		 weiterhin Handlungsbedarf
                                                                       und dass sie an politischer Kommunikation Anteil nehmen.“ Politische
     11 Reha-Entwicklung                                               und gesellschaftliche Teilhabe hat einen neuen Stellenwert erlangt.
     		 Fachveranstaltung der BAR:
     		 20 Jahre SGB IX                                                Menschen mit Behinderungen organisieren sich, die zahlreichen Neu-

     12 Recht                                                          gründungen von Inklusions- und Behindertenbeiräten in Bund, Län-
     		 Persönliches Budget                                            dern und Kommunen in den vergangenen Jahren sprechen für sich.
                                                                       Beim Bundesbehindertenbeauftragten mit direktem Draht zur Politik
          Impressum                                                    wurde ein Inklusionsbeirat etabliert. Die rechtlichen Grundlagen sind
          Reha-Info der BAR, Heft 4, August 2021                       verlässlich und entwickeln sich. So hat beispielsweise das Behinder-
          Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft für
                                                                       tengleichstellungsgesetz die „Stärkung der Teilhabe von Menschen
          Rehabilitation (BAR) e. V., Solmsstr. 18,
          60 486 Frankfurt am Main                                     mit Behinderungen an der Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten“
          Verantwortlich für den Inhalt:                               fixiert. Und am 16. Mai 2019 hat der Bundestag die Wahlausschlüsse
          Prof. Dr. Helga Seel
          Redaktion: Günter Thielgen (verantwortlich), Dr. Regina      von Menschen mit Betreuung in allen Angelegenheiten aus dem Bun-
          Ernst, Franziska Fink, Bernd Giraud, Dr. Teresia Widera      deswahlgesetz gestrichen. Seitdem dürfen alle Menschen wählen
          Rechtsbeitrag: Dr. Christiane Goldbach,
          Marcus Schian                                                und es gilt Inklusives Wahlrecht für alle.
          Statistik: Dr. Teresia Widera, Christian Brand
          Telefon: 069/605018–0
                                                                       Das sind erfreuliche Entwicklungen. Aber – und auch das konstatiert
          E-Mail: info@bar-frankfurt.de
          Internet: www.bar-frankfurt.de                               der Bericht der Bundesregierung: „Vom Ziel einer inklusiven Gesell-
          Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e. V.       schaft sind wir leider noch weit entfernt.“ Die Teilhabe an politischen
          (BAR) ist der Zusammenschluss der Reha-Träger. Seit
          1969 fördert sie im gegliederten Sozialleistungssystem       Entscheidungsprozessen ist in vielfacher Weise eingeschränkt, beim
          die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen. Die
          BAR koordiniert und unterstützt das Zusammenwirken
                                                                       Informationszugang, durch mangelnde Barrierefreiheit oder beim Zu-
          der Reha-Träger, vermittelt Wissen und arbeitet mit an       gang zu politischen Ämtern. „Nichts über uns ohne uns“ – die UN-BRK
          der Weiterentwicklung von Rehabilitation und Teilhabe.
          Ihre Mitglieder sind die Träger der Gesetzlichen Renten-,    definiert das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Le-
          Kranken- und Unfallversicherung, die Bundesagentur
                                                                       ben für Menschen mit Behinderungen. Inklusion als demokratische
          für Arbeit, die Bundesländer, die Bundesarbeitsgemein-
          schaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen,       Praxis, darin liegt großes Potential für den Prozess gesellschaftlicher
          die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger
          der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe, die Kassen-     Erneuerung. Die Selbstorganisation von Menschen mit Behinderun-
          ärztliche Bundesvereinigung sowie die Sozialpartner.         gen ist seit langem etabliert, ihre Vertretung in den Parlamenten aber
          Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
          sind nur mit Genehmigung der BAR gestattet.                  noch deutlich unterrepräsentiert.
          Druck: reha gmbh, Saarbrücken
          Druckauflage: 2700 Exemplare                                 Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre,
          Schlussredaktion und Grafik: Perfect Page, Karlsruhe
          Jill Köppe-Ritzenthaler, Clarissa Rosemann                   Ihre Helga Seel
          Titelbild: Paulista, adobe stock
          Composing: Clarissa Rosemann
          Gedruckt auf Umweltpapier Circleoffset Premium White,
          FSC®-zertifiziert, Blauer Umweltengel und EU Ecolabel

2   Reha-Info der BAR | 4/2021
BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Tipps & Tools

          BAR-Seminar

● Das bio-psycho-soziale Modell und die ICF –
  Nutzung im Berufsalltag
   Das bio-psycho-soziale Modell ist die Grundlage der internatio-
nalen Klassifikation, Behinderung und Gesundheit (ICF) und damit
einer einheitlichen und standardisierten, internationalen Systematik
zur Beschreibung von Gesundheit und Gesundheitszuständen. Sie ist
Basis sozialmedizinischer Begutachtung und individueller Bedarfs-
ermittlung. Das Seminar am 27. und 28. September in Münster ver-
mittelt die Grundkonstruktion des bio-psycho-sozialen Modells und
der ICF. Im Vordergrund stehen dabei die Nutzungsmöglichkeiten des
Modells und der Transfer in den Berufsalltag anhand von Praxisbei-
spielen für exemplarische Hilfekonzepte.

      www.bar-frankfurt.de > Service > Fort- und Weiterbildung

          Medizinische Reha                           Bundestagswahl 2021

● Rahmenempfehlungen                       ● Wahlprüfsteine
  Allgemeiner Teil zur ambulanten              2021 ist ein wichtiges Wahljahr. Aus diesem Grund hat der Bundesverband für
  und stationären medizinischen            körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V. (bvkm) Wahlprüfsteine entwickelt.
  Rehabilitation                           Der bvkm hat darin die wichtigsten Handlungsbedarfe und Forderungen zur Bundes-
   Neben der ambulanten medizini-          tagswahl 2021 formuliert. Unter anderem fordert er die Parteien auf, sich für soziale
schen Rehabilitation beschreiben die       Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen einzusetzen und die damit
Rahmenempfehlungen Allgemeiner Teil        verbundenen Aufgaben in den parteipolitischen Fokus zu rücken. Die Wahlprüfsteine
zum ersten Mal auch die stationäre         gibt es auch in Leichter Sprache.
medizinische Rehabilitation trägerüber-
greifend. Die Empfehlungen beinhalten            www.bvkm.de > unsere Themen > gesellschaftliche und politische Teilhabe
neben Grundsätzen, Voraussetzungen
und Zielen der medizinischen Reha,
auch personelle, räumliche und appara-
tive Anforderungen.
                                                      Immer auf dem Laufenden
   Neu sind Kapitel zur Teilhabeorien-
tierung der medizinischen Rehabilitati-    ● Reha-Info und Newsletter abonnieren
on, Zulassung zur Leistungserbringung,         Sie erscheint sechsmal im Jahr, auch als Digital-Ausgabe: die neue Reha-Info.
Abbruch oder Wechsel der Reha-Maß-         Zusätzlich gibt es in unregelmäßigen Abständen den BAR aktuell-Newsletter zu Se-
nahme, sowie zur Sozialen Teilhabe und     minaren und Publikationen. Hier bekommen Sie aktuelle Informationen zu neuen Pu-
dem Qualitätsmanagement.                   blikationen, interessanten Seminaren und praktischen Werkzeugen, die Ihnen Hilfe-
                                           stellungen und Unterstützung für Ihre Arbeit im Bereich Reha und Teilhabe geben.

      www.bar-frankfurt.de >                     www.bar-frankfurt.de > Service > Reha-Info und Newsletter >
      Service > Publikationen                    Reha-Info und Newsletter abonnieren

                                                                                                     Reha-Info der BAR | 4/2021    3
BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Politische Teilhabe

     Beteiligung von Menschen mit Behinderungen
     Starkes Interesse, bleibende Einschränkungen
                                                                                                 Parlament vertreten sein. Der Anteil der
                                                                                                 schwerbehinderten Menschen an der
                                                                                                 gesamten Bevölkerung in Deutschland
                                                                                                 betrug im Jahr 2020 9,5 Prozent, aber
                                                                                                 nur 3,3 Prozent sind im Bundestag ver-
                                                                                                 treten. Gleiches gilt für die Parlamente
                                                                                                 der Länder und der Kommunen. Warum
                                                                                                 sich Menschen mit Behinderungen ver-
                                                                                                 gleichsweise selten zivilgesellschaftlich
                                                                                                 oder parteipolitisch engagieren, ist nicht
                                                                                                 belegt. Fakt ist aber, dass ihre Teilhabe
                                                                                                 an politischen Entscheidungsprozessen
                                                                                                 durch Barrieren erschwert oder sogar
                                                                                                 vereitelt wird. Das schwächt die Partizi-
                                                                                                 pation der betroffenen Menschen, aber
                                                                                                 auch die Demokratie selbst.

                                                                                                 Teilhabebarrieren
                                                                                                 Barrieren politischer Teilhabe liegen vor
     Die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an Bundestagswahlen                          allem im fehlenden Zugang zu In­for­
     steigt, zuletzt von 78,2 Prozent im Jahr 2013 auf 84,6 Prozent im Jahr 2017.                ma­tionen. Dies erläutert Dr. Katrin Grü­
     Die Quote liegt nur noch geringfügig unter der von Menschen ohne Beein-                     ber in ihrem Artikel auf S. 10. Indivi-
     trächtigungen (2017: 87,1 Prozent). Außerdem gaben im Jahr 2018 44,6                        duelle Kompetenzen und mangelnde
     Prozent der Menschen mit Behinderungen an, dass sie sich sehr für Politik                   Bil­dungsressourcen spielen sicher eben-
     interessieren. Das geht aus dem dritten Teilhabebericht der Bundesregie-                    falls eine Rolle. Oftmals sind es aber auch
     rung zu den Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen hervor.                         bevormundende Betreuungsver­hält­nis­-
                                                                                                 se oder Vorbehalte gegenüber den Teil-

    D
             iese Entwicklungen sind zwar er-      denkbar. Das Recht zu wählen ist Sinnbild     habemöglichkeiten und -fähigkei­ten, zum
             freulich, aber nach wie vor ist die   gleichberechtigter      Staatsbürgerschaft.   Beispiel von Menschen mit kognitiven
             Teilhabe von Menschen mit Be-         Mehr dazu können Sie im Artikel des           Einschränkungen. Grundlegend für eine
     hinderungen an gesamtgesellschaftlichen       Bundesbehindertenbeauftragen Jürgen           Wahlentscheidung sind Informations-
     Entscheidungsprozessen in Deutschland         Dusel auf S. 5 lesen.                         und Bildungsmöglichkeiten. Wo diese
     deutlich eingeschränkt. Artikel 29 der                                                      fehlen oder nicht zugänglich sind, kann
     UN-BRK garantiert Menschen mit Behin-            Menschen mit Behinderungen kön-            kein Interesse für politische Themen ent­
     derungen, dass sie „gleichberechtigt mit      nen auch gewählt werden. Sie sind al-         stehen. Aber genau das ist die Grundvo-
     anderen wirksam und umfassend am              lerdings in Parlamenten und anderen           raussetzung, um die politische Teilhabe
     politischen und öffentlichen Leben teil-      politischen Gremien deutlich seltener ver-    von Menschen mit Behinderungen zu er-
     haben können“. Diese Möglichkeit ist ein      treten. Eine Studie der Süddeutschen Zei-     möglichen und zu fördern.
     entscheidendes Grundrecht und grund-          tung zur letzten Bundestagswahl zeigt,
     legend für die politische Mitgestaltung.      dass Menschen mit Behinderungen zu
     Denn Demokratie bedeutet die Möglich-         den unterrepräsentierten Bevölkerungs-              Zusätzliche Zahlen, Daten, Fak-
                                                                                                                                               Bild: MINIWIDE, adobe stock

     keit der gleichberechtigten Teilhabe an       gruppen im aktuellen Bundestag gehö-          ten sowie Infografiken zu diesem Arti-
     den politischen Willensbildungs- und          ren. Demnach gibt es dort 23 Abgeordne-       kel und dieser Schwerpunkt-Ausgabe
     Ent­scheidungsprozessen.      Demokratie      te mit Behinderung. Um Repräsentativität      finden Sie auf www.bar-frankfurt.de >
     braucht Beteiligung, und Beteiligung oh­      herzustellen, müssten noch 43 weitere         Themen > Zahlen, Daten, Fakten
     ne zivilgesellschaftliche Akteure ist kaum    Abgeordnete mit einer Behinderung im

4   Reha-Info der BAR | 4/2021
BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Politische Teilhabe

Ein großer Schritt ist getan
Zum Abbau von Wahlhürden für Menschen mit Behinderungen
Die Bundestagswahl am 26. September 2021 steht vor der Tür. Viele Bür-

                                                                                                                                 Bild: Henning Schacht
gerinnen und Bürger mit Behinderungen interessieren sich für Politik und
möchten gesellschaftliche Prozesse mitgestalten. Das Recht, politische
Vertreterinnen und Vertreter zu wählen und selbst als gewählte Vertreterin
oder Vertreter an der Gestaltung von Politik und Gesellschaft mitzuwirken,
ist ein Grundrecht deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Es ist in
Artikel 38 des Grundgesetzes (GG) für die Bundesebene und in Artikel 28
GG für die Ebene der Länder und Kommunen verankert.

M
           it der Ratifizierung der UN-Be-   froh, dass die völkerrechts- und verfas-
           hindertenrechtskonvention         sungswidrigen Ausschlüsse nun der
           (UN-BRK) hat sich Deutsch-        Ver­gangenheit angehören und wir in
land zudem verpflichtet sicherzustel-        Deutschland auf Bundes- und Landes-                 Jürgen Dusel, Beauftragter
len, dass Menschen mit Behinderungen         ebene inklusive Wahlgesetze haben.             der Bundesregierung für die Belange
                                                                                             von Menschen mit Behinderungen
gleichberechtigt mit anderen wirksam
und umfassend am politischen und öf-         Politische Information für alle
fentlichen Leben teilhaben können, sei es    Für eine gleichberechtigte Teilhabe von     die Menschen mit Behinderungen in
unmittelbar oder durch frei gewählte Ver-    Menschen mit Behinderungen am poli-         Deutschland gute Bedingungen vorfin-
treterinnen oder Vertreter. Dies schließt    tischen Leben ist ebenso wichtig, dass      den, um ihr Wahlrecht auszuüben. Dies
auch die Möglichkeit ein, zu wählen und      auch die Rahmenbedingungen für die          zeigen auch Erhebungen des SOEP aus
gewählt zu werden (Art. 29 UN-BRK).          Ausübung des Wahlrechts inklusiv ge-        dem Jahr 2018: Danach war der Anteil
   Bis vor Kurzem waren in Deutschland       staltet sind. In den wahlrechtlichen Vor-   der Menschen mit Beeinträchtigungen,
rund 85.000 Menschen mit Behinderun-         schriften auf Bundesebene finden sich       die sich an der Bundestagswahl 2017
gen vom Wahlrecht ausgeschlossen.            entsprechende Regelungen:                   beteiligten, mit 84,6 Prozent nur etwas
Das betraf Personen, die eine Betreuung         So müssen die Kommunen den Wahl-         geringer als bei den Menschen ohne Be-
in allen Angelegenheiten hatten, und Per-    berechtigten frühzeitig und in geeigneter   einträchtigungen mit 87,1 Prozent.
sonen, die im Maßregelvollzug in einem       Weise mitteilen, welche Wahlräume bar-         Voraussetzung für umfassende poli-
psychiatrischen Krankenhaus unterge-         rierefrei sind. Allen Wahlberechtigten      tische Partizipation von Menschen mit
bracht waren. Dieser Ausschluss wurde        steht die Möglichkeit der Briefwahl zur     Behinderungen ist schließlich eine inklu-
Anfang 2019 vom Bundesverfassungs-           Verfügung. Wählerinnen und Wähler,          sive und barrierefreie Informationsver-
gericht für verfassungswidrig erklärt.       die wegen einer Behinderung gehindert       mittlung in den Medien und eine fundierte
Daraufhin änderten der Bund und viele        sind, den Stimmzettel zu kennzeichnen,      politische Bildung für alle Menschen.
Länder ihre Wahlgesetze. Manche Bun-         zu falten oder selbst in die Wahlurne zu
desländer – wie beispielsweise Nord-         werfen, können sich bei der Stimmab-           Die Möglichkeit der politischen Teil-
rhein-Westfalen und Schleswig-Holstein       gabe der Hilfe einer von ihnen bestimm-     habe für alle Menschen ist Grundvoraus­
– hatten die Wahlrechtsausschlüsse be-       ten Hilfsperson bedienen. Menschen          setzung einer funktionierenden Demo-
reits seit 2016 abgeschafft; Baden-Würt-     mit einer Sehbeeinträchtigung können        kratie. Deshalb lautet das Motto meiner
temberg korrigierte im Oktober 2020 als      eine Stimmzettelschablone nutzen. Der       Amtszeit auch „Demokratie braucht In-
letztes Bundesland sein Wahlgesetz.          Bundeswahlleiter stellt zum Ablauf der      klusion“. Mit der Abschaffung der pau-
                                             Bundestags- oder Europawahl auf seiner      schalen Wahlrechtsausschlüsse haben
   Bereits als Landesbehindertenbeauf-       Internetseite Informationen in leichter     wir viel erreicht. Einige Menschen mit Be-
tragter in Brandenburg hatte ich die Ab-     Sprache zur Verfügung. Und schließlich      hinderungen werden im September zum
schaffung der Wahlrechtsausschlüsse          bietet auch die Bundeszentrale für poli-    ersten Mal in ihrem Leben an einer Bun-
vorangetrieben und mich dann auch in         tische Bildung Informationen zur Bun-       destagswahl teil­nehmen können. Das ist
meiner aktuellen Funktion auf Bundes-        destagswahl in barrierefreien Formaten      ein großer Schritt auf dem Weg zu einer
ebene dafür stark gemacht. Ich bin sehr      an. Alles in Allem kann man sagen, dass     inklusiven Gesellschaft.

                                                                                                       Reha-Info der BAR | 4/2021                        5
BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Politische Teilhabe

     Partizipation ist der Gradmesser
     Zwischen persönlichen Potenzialen und
     Anforderungen am Arbeitsplatz
     Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist eine Errungenschaft
     von eminenter Bedeutung für die Zeit und die Welt, in der wir leben. Welt-
     weit gibt sie die notwendige Orientierung: Gesellschaftliches Zusammen-
     leben und staatliche Rechtsprechungen richten sich global danach aus.
     Geschaffen worden ist sie mit umfassender Beteiligung und Expertise
     betroffener Menschen mit Behinderungen. Dies war und ist der Garant für
                                                                                                   Karl-Heinz Miederer, Geschäftsführer
     ihren Anspruch und ihre Allgemeingültigkeit.
                                                                                                   von Access Inklusion im Arbeitsleben

    F
                                                                                                     gemeinnützige GmbH in Nürnberg
            ür Deutschland ist die Umsetzung        lingt der Schritt in ein neues Zeitalter.
            der UN-BRK Auftrag und Impuls.          Unternehmen gelingt es dabei eher, sich     eine Lobby, der politische Wille wird
            Das Bundesteilhabegesetz in all         für Neues zu öffnen und mit der Zeit zu     nicht mit Nachdruck umgesetzt.
     seinen Facetten ist Ausdruck dessen.           gehen. Auch wenn es Aufwand erfor-
     Menschen mit Behinderungen erhalten            dert, scheint es, dass die Mühe lohnen         Oder ein anderes Beispiel: die Unter-
     die angemessene Aufmerksamkeit und             könnte. Wandel gehört zum Unterneh-         stützte Beschäftigung (UB). 2009 ist sie
     rechtlichen Ansprüche – und werden             mertum. Die Praxis zeigt zunehmend          ins SGB IX aufgenommen worden, mit
     endlich als gleichberechtigter Teil unse-      Interesse, begünstigt auch von zentralen    maßgeblicher Unterstützung von Betrof-
     rer Gesellschaft wahrgenommen.                 Regelungen und Verpflichtungen seitens      fenen – Access Inklusion konnte hierzu
                                                    der Europäischen Union.                     einen Beitrag leisten. Die gesetzliche Ver-
        Soweit der ideelle Anspruch. Der                                                        ankerung war gelungen. Beim Ausschrei-
     Gesetzgeber hat im letzten Jahrzehnt           Es braucht politischen Willen               bungsverfahren zur UB bestehen hinge-
     einiges unternommen, um dem hohen              Behörden tun sich ungleich schwerer.        gen weiterhin Zweifel. Im Gegensatz zur
     Anspruch nachzukommen. Nicht in dem            Anstelle tatkräftiger Umsetzung und         etablierten Förderung von Maßnahmen,
     Umfang und der Konsequenz, die zahl-           Unterstützung für das Neue, ist das         beispielsweise in Berufsbildungswerken
     reiche Betroffene fordern. Die institu-        Festhalten an Gewohntem bis hin zur         oder Werkstätten für behinderte Men-
     tionalisierten Formen der Unterstützung        Verschleppung durch langatmige An-          schen, wird die Maßnahme der UB aus-
     der Vergangenheit sind Ballast und vor-        tragsbearbeitung sichtbar. Ein unrühm-      geschrieben. Ein ganz anderer Maßstab
     handene Strukturen erweisen sich als           liches Beispiel ist vielerorts das Budget   wird angelegt. Konkurrenz dominiert die
     Barrieren für einen Umbau. Aber und vor        für Arbeit, dem es am Willen zur Umset-     Vergabe. Der Preis bestimmt, nicht die
     allem: Politik und Gesellschaft haben          zung zu fehlen scheint, obwohl Betrof-      Qualität – auch wenn Gegenteiliges be-
     sich auf den Weg gemacht. Auch wenn
     der Weg noch weit ist. Die Ausgangslage
     ist mittlerweile günstiger, als zur Zeit der               Wo Staat und Politik sich proaktiv einbringen und
     Ratifizierung. Seit 2009 immerhin ist die
                                                                Partizipation nutzen, gelingen Teilhabe und Inklusion.
     UN-BRK hier geltendes Recht.

        Auf das Arbeitsleben hat dies weit-         fene und Arbeitgeberinnen und Arbeit-       hauptet wird. Wird der Kennzahlkorridor
     reichende    Auswirkungen.      Potenziale     geber in der Praxis dafür bereit sind.      verfehlt, kommt die Qualität nicht mehr
     kommen in den Blick, aber auch Pflich-         Die Praxis ist ablesbar an der Beanspru-    zum Tragen. Die Vergabepraxis droht er-
     ten und gesellschaftliche Verantwor-           chung in den einzelnen Bundesländern:       worbene Qualität zu vernichten. Denn die
     tung von Unternehmen. Der Mensch               von intensiver bis hin zur sporadischen     Anforderungen an das Personal in der
     in der Arbeitswelt erhält mehr Bedeu-          Nutzung mit kleinen Fallzahlen. Wo der      UB sind enorm. Job Coaches vermitteln
     tung. Mit dem Begriff der Inklusion tut        Wille da ist, wird es zu einem äußerst      in einem komplexen Beziehungsgefüge:
     man sich freilich schwer – mit all sei-        zielführenden Instrument. Problem für       Von pädagogisch-didaktischer Qualifika-
     nen Konnotationen. Nur mühsam ge-              die Zielgruppe: Betroffene haben kaum       tion über Tätigkeitsanalysen bis zum Be-

6   Reha-Info der BAR | 4/2021
BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Politische Teilhabe

ziehungsmanagement mit Kolleginnen                        6 Fragen an Steven Wallner und Benny Tröllmich
und Kollegen sowie Vorgesetzten im Be-
trieb sind sie gefordert. Fachliche Exper-
tise ist ein Schlüssel zum Erfolg.

    Zeitgemäße Konzepte setzen an der
Individualität an und erreichen eine Pas-
sung zwischen den persönlichen Poten-
zialen einer Arbeitskraft mit Beeinträch-
tigungen und den Anforderungen am
Arbeitsplatz im Betrieb. Dienstleister für
                                                            Steven Wallner                              Benny Tröllmich
Inklusion, die am Arbeitsmarkt agieren,
sind für nachhaltige Teilhabe unerläss-
lich. Staatliche Förderung hat hier einen
Auftrag, eine entsprechende Infrastruk-        Politische Teilhabe von
tur zu schaffen. Und es ist eine Heraus-
forderung, der sich ein gegliedertes und       Menschen mit Behinderungen
tendenziell standardisiertes Reha-Sys-
tem stellen muss. Das Beispiel UB zeigt        aus der Binnenperspektive
auch, dass die Mitgestaltung des politi-
schen Diskurses möglich und notwendig          Wir haben Menschen mit Beeinträchtigungen zu ihrer politischen Teilhabe
ist. Die Praxis profitiert: Mehr als 60 Pro-   befragt. Steven Wallner und Benny Tröllmich haben die Fragen aus ihrer
zent der begleiteten Personen werden           persönlichen Perspektive heraus beantwortet. Sie arbeiten in der EUTB-
von Access seit Jahren nachhaltig in die       Beratungsstelle des Vereins Leben mit Handicaps e. V. in Leipzig.
Arbeitswelt integriert.                        Steven Wallner arbeitet auf einem Außenarbeitsplatz an zwei Tagen in der
                                               Woche als Experte für Leichte Sprache in der Beratungsstelle. Seine Auf-
    Offensichtlich müssen Fortschritte         gaben sind die Prüfung von Informationen in Leichter Sprache, die Durch-
in der Politik mit und für Menschen mit        führung von Einführungsveranstaltungen und vor allem die Begleitung von
Behinderungen erarbeitet und erkämpft          Beratungen in Leichter Sprache. Die Beratungen in Leichter Sprache wer-
werden, damit Entwicklungen einen ge-          den als Tandemberatungen angeboten. Beschäftigt ist Steven Wallner in
winnbringenden Verlauf nehmen. Wo              der Werkstatt für behinderte Menschen der Diakonie am Thonberg Leip-
Staat und Politik sich proaktiv einbringen     zig. Er hat eine körperliche Einschränkung und eine Lernbehinderung.
und Partizipation nutzen, gelingen Teil-       Benny Tröllmich ist hauptamtlicher Berater der EUTB. Er ist im Behinder-
habe und Inklusion. Betroffene und ihre        tenrat der Stadt Leipzig engagiert sowie Mitglied des Stadtrates. Benny
Organisationen wünschen viel mehr da-          Tröllmich ist blind. Lesen Sie hier, was die beiden über ihre politische Teil-
von. Partizipation bleibt der Gradmesser       habe sagen.
für die Ernsthaftigkeit, mit der Staat und
Politik agieren.
                                               1   Machen Sie bei der Politik
                                                   in Ihrem Wohnort mit?
                                                                                            war. Manchmal weiß ich nicht, was ich
                                                                                            wählen soll. Ich nutze hin und wieder den
                                                                                            Wahlomat. Die AfD würde ich nicht wäh-
                                               Benny Tröllmich: Ja, ich bin vor etwas       len. Es gab mal in der Volkshochschule
                                               mehr als vier Jahren in die Partei Bünd-     einen Kurs zum Wählen. Den habe ich
      Die Jobcoaches von Access                nis 90/Die Grünen eingetreten und bin        besucht. Dort konnten wir Fragen stellen,
      Inklusion im Arbeitsleben unter-         seit Sommer 2018 Mitglied im Behinder-       die uns beantwortet wurden. Der Kurs
      stützen Menschen mit Behinde-            tenbeirat der Stadt Leipzig für die Grüne    war speziell für Menschen mit Behin-
      rungen bei der beruflichen Inklu-        Stadtratsfraktion und arbeite eng mit der    derungen. Interessant war, die Politiker
      sion in den allgemeinen Arbeits-         Stadträtin Nuria Silvestre, Sprecherin für   kennenzulernen. Es gab auch Wahlpro-
      markt.                                   Inklusion und Migration, zusammen.           gramme in Leichter Sprache, aber nicht
      access-inklusion.de                      Steven Wallner: Ich gehe wählen. Ich         von allen Parteien. Das war sehr schade.
                                               durf­te schon immer wählen, seit ich 18      Es gibt ja viele Menschen, die Leichte

                                                                                                         Reha-Info der BAR | 4/2021     7
BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Politische Teilhabe

     Sprache brauchen. In unserer Werkstatt        große Konzentration aufbringen muss,        bar­
                                                                                                  rierefreien Bereich und die Bahn
     gab es auch mal einen Kurs zum Thema          um allein diese Herausforderung zu be-      hält nicht noch einmal an den angeho-
     Wahlen.                                       wältigen. Weitere Hindernisse wären zu-     benen Stellen. Das führt dazu, dass ich
                                                   dem auch Präsentationen, deren Inhalte      nicht aussteigen kann. Ich muss bis zur

     2    Warum wollen Sie
          politisch mitreden?
                                                   nicht kommuniziert werden, oder ausge-
                                                   druckte Handreichungen.
                                                                                               nächsten Haltestelle fahren und dann
                                                                                               mit einer entgegenkommenden Bahn
                                                                                               zurück. Es gibt außerdem zu wenig
     Benny Tröllmich: Um einen Beitrag für
     ein besseres Miteinander, für mehr Ge-
     rechtigkeit und Chancengleichheit für
                                                   4    Wird Ihre Meinung
                                                        auch gehört?
                                                                                               behindertengerechte Wohnungen. Es
                                                                                               werden viele Hotels gebaut, aber keine
                                                                                               bezahlbaren Wohnungen für Rollstuhl-
     alle in unserer Gesellschaft zu leisten       Benny Tröllmich: Ja, „meine“ Fraktion       fahrer.
     und um an einer lebenswerten Zukunft          hält Rücksprache mit mir bei Vorhaben
     mitgestalten zu können. Ich möchte hier
     an dieser Stelle gerade Menschen mit
     Behinderungen ermuntern, in den Partei-
                                                   seitens der Stadt oder Anträgen, die Be-
                                                   lange von Menschen mit Behinderungen
                                                   berühren. Und ich arbeite auch an den
                                                                                               6  Was würden Sie ändern,
                                                                                                  wenn Sie Bundeskanzler
                                                                                               wären?
     en aktiv zu werden, die sich für Inklusion    Anträgen oder Änderungsanträgen mit,
     einsetzen, und so Politikerinnen und Po-      die im Stadtrat eingebracht werden. Zu-     Steven Wallner: Mindestlohn für Be-
     litikern in den Kommunen, auf Landes-         dem stehe ich auch mit Landespolitike-      schäftigte der Werkstätten für behin-
     oder Bundesebene mit Rat zur Seite zu         rinnen und -politikern im Austausch.        derte Menschen. Ich würde alte Stra-
     stehen bzw. sich in Arbeitsgruppen der        Steven Wallner: Es kommt darauf an,         ßenbahnen mit Stufen rausschmeißen.
     Parteien einzubringen oder selbst für         welche Fragen ich gestellt habe oder        S-Bahnen würde ich barrierefei machen,
     ein Amt oder Mandat zu kandidieren. Es        was mich interessiert.                      so dass der Fahrer nicht extra ausstei-
     braucht vor allem auch Expertinnen und                                                    gen muss, um die Rampe anzulegen.
     Experten in eigener Sache, also Men-
     schen mit Behinderungen, wenn es um
     Entscheidungen in den Bereichen Inklu-
                                                   5   Was würden Sie
                                                       gerne mitbestimmen
                                                   in der Politik?
                                                                                               Außerdem brauchen wir mehr Behin-
                                                                                               dertentoiletten in der Öffentlichkeit, also
                                                                                               außerhalb von Einkaufszentren und Pas-
     sion und Teilhabe für Menschen mit Be-                                                    sagen. Zudem brauchen wir mehr Ange-
     hinderungen geht. Natürlich ist es auch       Benny Tröllmich: Vieles! Wenn ich alles     bote für Rollstuhlfahrer für barrierefreies
     wichtig, bei allen anderen Themen mitre-      an dieser Stelle aufzählen sollte, wür-     Reisen. Da gibt es noch nicht viele An-
     den oder -entscheiden zu können, denn         de dies den Rahmen dieses Interviews        bieter.
     Menschen mit Behinderungen sind ja            sprengen. Wie ich aber bei einer anderen    Benny Tröllmich: Vermutlich würde
     ebenso vielfältig interessiert an allen an-   Frage erwähnte, nehme ich bereits im        ich das kürzlich beschlossene Barrie-
     deren Themen, die unsere Gesellschaft         gewissen Maße Einfluss vor Ort, indem       refreiheitsstärkungsgesetz, das in der
     bewegen.                                      ich mich aktiv bei der Erarbeitung von      vorliegenden Form äußerst unzurei-
     Steven Wallner: Wenn mich etwas inte-         Anträgen oder Änderungsanträgen zu          chend verfasst ist und von der derzei-
     ressiert oder ich etwas weiß, würde ich       den Themen Inklusion und Teilhabe von       tigen Regierungskoalition beschlossen
     mitreden.                                     Menschen mit Behinderungen einbringe.       wurde, zu einem im Sinne der UN-Be-
                                                   Was ich mir aber sehr wünschen würde,       hindertenrechtskonvention wirksamen

     3  Gibt es für Sie Hinder­
        nisse bei der Teilhabe
     am politischen Leben?
                                                   wären Förderschulen für alle! Denn ohne
                                                   eine inklusive Bildung von der Kita bis
                                                   zum Abitur wird das Ziel einer Inklusi-
                                                                                               Instrument machen, das die uneinge-
                                                                                               schränkte Teilhabe für Menschen mit
                                                                                               Behinderungen ermöglicht.
                                                   ven Gesellschaft nicht zu erreichen sein,   Zudem würde ich einen eindeutigen
     Steven Wallner: Manche Informationen          und Menschen mit Behinderungen wer-         Rechtsanspruch für Kinder mit Behin-
     sind schwer zu verstehen.                     den weiterhin von diskriminierendem         derungen auf persönliche Assistenz
     Benny Tröllmich: Für mich als blinder         Verhalten unserer Mitmenschen, von          schaffen, denn auch Kinder mit Behin-
     Mensch stellen nicht-barrierefreie Do-        Stigmatisierung und Ausgrenzung be-         derungen müssen unabhängig von ihren
     kumente solch ein Hindernis dar, aber         troffen sein.                               Eltern und ganz wie Kinder ohne Behin-
     auch Treffen an mir unbekannten Orten,        Steven Wallner: Barrierefreiheit würde      derung gleichen Alters selbstbestimmt
     wo mir jede Orientierung fehlt. Das sorgt     ich mitbestimmen wollen. An Doppelhal­      ihre Freizeit gestalten und sich entwi-
     bei mir für erhöhten Stress, weil ich eine    testellen hält die zweite Bahn im nicht     ckeln können.

8   Reha-Info der BAR | 4/2021
BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Politische Teilhabe

Gegen politischen Verdruss hilft Repräsentation

                                                                                                                                              Bild: Fräulein Fotograf
Demokratie braucht Perspektiven
Als Martin Zierold 2011 anfing, Politik für die Grünen im Bezirk Berlin-Mitte
zu machen, war das öffentliche Interesse groß. Es erschienen Artikel über
sein Wirken und Interviews, die seiner Motivation auf den Grund zu gehen
suchten. Immerhin war er der erste gehörlose Mensch in einem deutschen
Parlament. Er eröffnete damit vielen hörenden Menschen Einblicke in eine
Kultur, von der sie bis dahin nicht den Hauch einer Ahnung hatten. Gehör-
losigkeit plötzlich nicht mehr schlicht als Beeinträchtigung werten zu kön-
nen, sondern mit einer Sprache zu verbinden, die komplex ist, ihren eigenen
                                                                                                           Corinna Rüffer, Sprecherin für
Regeln und einer besonderen Ästhetik folgt, löste Erstaunen aus.
                                                                                                         Behindertenpolitik der Bundestags-

D
                                                                                                          fraktion Bündnis 90/Die Grünen
         ass es für viele taube Menschen                Gegenteil von inklusiv sind. Dolmetsche-
         eine Zumutung ist, auf Lautspra-               rinnen und Dolmetscher wurden spärlich       inklusiven Gesellschaft dient. Ein ziem-
         che getrimmt zu werden, weil es                finanziert, bestenfalls für Gremiensitzun-   lich leeres Versprechen, blickt man in die
für sie immer eine Fremdsprache mit                     gen. Randgespräche oder Vororttermine        Reihen des Bundestags (nicht nur) in die-
komplizierter Grammatik bleiben wird,                   im Bezirk musste er dauerhaft mit Eh-        ser Legislaturperiode. Im Europäischen
konnte er so einem breiten Publikum                     renamtlichen aus seinem persönlichen         Parlament sitzt mit Katrin Langensiepen
vermitteln. Und darüber hinaus auch die                 Umfeld bestücken. Und das, obwohl alle       zum ersten Mal eine Frau mit sichtbarer
Tatsache aufzeigen, dass das Erreichen                  wissen, dass Politik zu mindestens 90        Beeinträchtigung. Das ist wunderbar und
der Hochschulreife den allermeisten ge-                 Prozent aus informeller Kommunikation        bezeichnend zugleich.
hörlosen Menschen versperrt bleibt, weil                besteht. So blieb Martin Zierolds Arbeit
an vielen angeblich spezialisierten Schu-               auf der politischen Bühne ein kurzes            Der ehemalige Bundestagspräsident
len für gehörlose Kinder und Jugend-                    Intermezzo. Die Aussicht, dass ein ge-       Norbert Lammert sagte einmal: „Ein
liche gar keine Lehrerinnen und Lehrer                  hörloser Mensch in absehbarer Zeit in        Parlament ist keine Versammlung von
unterrichten, die gebärdensprachkom-                    einem Landtag, im Bundestag oder Euro-       Helden und Heiligen, sondern von Volks-
petent sind und auf dieser Grundlage                    paparlament vertreten sein wird, ist aus     vertretern – eine ziemlich repräsentative
ihren Unterricht gestalten.                             heutiger Sicht gering. Mit Teilhabe und      Mischung von Herkunft, Alter, Berufen,
    Als ich zum ersten Mal die Be-                      Chancengerechtigkeit hat das nichts zu       Begabungen, Temperamenten, Erfahrun-
schwerde einer gehörlosen Mutter auf                    tun.                                         gen, Stärken und Schwächen.“ Wie er da-
dem Schreibtisch hatte, der das Eltern-                                                              rauf kommt, bleibt sein Geheimnis.
gespräch an der sogenannten Förder-                     Wo bleibt die                                   Das Problem mit der Repräsentation
schule ihrer Tochter nicht ermöglicht                   repräsentative Mischung?                     beginnt aber nicht erst in den Parlamen-
wurde, weil sie nicht mit den Lehrerinnen               „Nichts über uns ohne uns“ lautet die        ten. Auch die Parteien behaupten zwar,
und Lehrern der Schule kommunizieren                    Leitmaxime der UN-Behindertenrechts-         dass sie für diverse Zielgruppen ein An-
konnte, musste ich dreimal nachfragen,                  konvention, die uns seit 2009 als gesetz-    gebot bereithalten. Allerdings werden
weil ich es nicht für möglich hielt. Wenn               liche Grundlage zur Realisierung einer       diese Angebote oft von Akteurinnen und
man Martin Zierold zuhört, versteht                                                                  Akteuren vertreten, die selbst gar nicht
man, warum taube Menschen fordern,                                                                   betroffen sind und nicht über einen ent-
ihre Kultur als die einer Minderheit an-                                                             sprechenden Erfahrungshintergrund ver-
zuerkennen und als solche wertzu-                                                                    fügen. Das führt dazu, dass Menschen
schätzen. Niemals wird das ein Drit-                                                                 mit Behinderungen, aber auch Nicht-
ter in gleich authentischer Weise                                                                    akademikerinnen und Nichtakademiker,
glaubhaft machen können. Leider                                                                      People of Colour, Frauen und Jugend-
sah sich Martin Zierold irgend-                                                                      liche sich von ihnen fernhalten. Unter
wann gezwungen, sein Mandat                                                                          diesem Mangel an Perspektiven leidet
niederzulegen, weil er in der Po-                                                                    unsere Demokratie. Sie braucht Inklusion
litik auf Strukturen traf, die das                                                                   – dringend!
                              Bild: Viorel Sima, adobe stock

                                                                                                                   Reha-Info der BAR | 4/2021                            9
BAR | REHA-INFO 4/2021 - Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen
Politische Teilhabe

      Teilhabebericht der Bundesregierung
      Es besteht weiterhin
      Handlungsbedarf
      Politische Teilhabe reicht vom aktiven bis hin zum passiven Wahlrecht, be-
      deutet Mitwirkung in politischen Gremien auf der Bundes-, Landes- oder
      kommunalen Ebene, Partizipation bei Beteiligungsverfahren oder aktive
      Mitgliedschaft in Parteien oder Organisationen. Der Teilhabebericht der
      Bundesregierung zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen
      Menschen mit und ohne Behinderung auf.
                                                                                                   Dr. Katrin Grüber, Leiterin des Institutes

     D
                                                                                                       Mensch, Ethik und Wissenschaft
                 er Bericht macht deutlich, wie     zeigen allerdings, dass im Alltag Barrie­
                 wichtig es war, im Jahr 2019       ren das Engagement von Menschen mit          oder weil die Sitzungsformen nicht ihrem
                 den Wahlrechtsausschluss für       Behinderungen erschweren oder unmög-         Bedarf entsprechen.
      diejenigen Menschen aufzuheben, bei           lich machen. Immer wieder erleben Men-
      denen eine Betreuung für alle Angele-         schen im Rollstuhl, dass sie an Sitzun-          Vor diesem Hintergrund verwundert
      genheiten besteht, und solchen, die we-       gen, Informationsveranstaltungen oder        es nicht, wenn Menschen mit Behinde-
      gen Schuldunfähigkeit in einem psychia­       Workshops nicht teilnehmen können,           rung vergleichsweise selten in Parlamen-
      trischen     Krankenhaus   untergebracht      weil diese in für sie nicht zugänglichen     ten auf Ebene der Kommunen, der Län-
      sind. Anlass für die Änderung war ein         Räumen stattfinden. Menschen, die auf        der und des Bundes vertreten sind (Düber
      Ur­teil des Bundesverfassungsgerichtes,       die Gebärdensprache angewiesen sind,         et al. 2018). Der Anteil der Menschen mit
      das die bisherige Regelung für verfas-        können nur in Ausnahmefällen an Sitzun-      Beeinträchtigungen, die häufig oder zu-
      sungswidrig erklärt hatte. Seitdem kön-       gen oder Veranstaltungen teilnehmen.         mindest ab und zu politisch aktiv sind,
      nen sich diese Personengruppen, wie                                                        ist mit 7,4 Prozent etwas geringer als bei
      andere auch, an Wahlen auf den unter-            Nur wenige kommunale Haushalte            Menschen ohne Beeinträchtigungen (8,9
      schiedlichen Ebenen beteiligen.               haben ein Budget für die Übersetzung         Prozent) (BMAS 2021, S. 717). Der Bun-
         Menschen mit Behinderungen gehen           vorgesehen. Dokumente liegen nur in          desteilhabebericht gibt wichtige Hinwei-
      inzwischen fast genauso oft wie Men-          Ausnahmefällen in barrierefreier Fas-        se auf die Möglichkeiten für die politische
      schen ohne Behinderung wählen, das            sung vor, was das Engagement von             Teilhabe von Menschen mit Behinderun-
      heißt, die Unterschiede haben sich im         Menschen mit Sehbeeinträchtigung er-         gen. Er zeigt Handlungsbedarf auf und
      Verlauf der Jahre angeglichen (BMAS           schwert. Für Menschen mit Lernschwie-        weist auf Lücken hin, die durch weitere
      2021, S. 717). Welche Rolle die Barriere-     rigkeiten gibt es wenige Möglichkeiten,      Forschung geschlossen werden sollten
      freiheit spielt, ist nicht bekannt. Aber es   sich zu engagieren, weil es nur wenige       – selbstverständlich mit Beteiligung von
      kann an vielen Stellen beobachtet wer-        Informationen in Leichter Sprache gibt       Menschen mit Behinderungen.
      den, dass im Laufe der letzten Jahre das
      Bewusstsein der Verantwortlichen für die
      unterschiedlichen Barrieren gewachsen               Literatur
      ist und die entsprechenden rechtlichen               Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2021): Dritter Teilhabebericht
      Wahlvorschriften     umgesetzt    werden.             der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beein-
      Wahllokale werden in der Regel so aus-                trächtigungen – Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung.
      gewählt, dass sie für Menschen mit Mo-                www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/a125-21-teilhabebericht
      bilitätseinschränkung zugänglich sind,
      blinde Menschen können mit Hilfe von                 Düber, Miriam; Rohrmann, Albrecht; Windisch, Marcus (2018): Barrierefreie
      Schablonen den Wahlzettel nutzen und                  Partizipation. Herausforderung für die Soziale Arbeit. In: Stehr, Johannes;
      es gibt Informationen in Leichter Sprache             Anhorn, Roland; Rathgeb, Kerstin (Hg.): Konflikt als Verhältnis – Konflikt als
      für Menschen mit Lernschwierigkeiten.                 Verhalten – Konflikt als Widerstand. Widersprüche der Gestaltung Sozialer
         Eigene Erfahrungen bei Beteiligungs-               Arbeit zwischen Alltag und Institution. Springer VS, Wiesbaden, S. 253–264.
      prozessen auf der kommunalen Ebene

10   Reha-Info der BAR | 4/2021
IX ist. Als Voraussetzungen hob sie die
                                                                                               Aspekte Informiertheit, Verstehen, Ver-
                                                                                               ständnis und Verständigung hervor. Da-
Reha-Entwicklung                                                                               für müsse sich die Sprache am Adressa-
                                                                                               tenkreis ausrichten, nicht umgekehrt. Im
Digitale Fachveranstaltung der BAR                                                             Bereich von Teilhabe und Rehabilitation

20 Jahre SGB IX
                                                                                               zählen dazu nicht nur eine verständliche
                                                                                               Sprache, sondern auch Barrierefreiheit.
                                                                                               Ihr Fazit: „Funktionierende Kommunika-
„20 Jahre SGB IX. Ein langer Weg               versität Kassel, stellte die Erfolge, Proble-   tion ist Voraussetzung für eine teilhabe-
für die Teilhabe von Menschen mit              me und Herausforderungen der Sozialen           orientierte Rehabilitation“.
Behinderungen“ – dieses Thema                  Selbstverwaltung dar. In der anschließen-
beschäftigte am 15. Juni Expertin-             den Diskussionsrunde (siehe Foto) mit               Während der Fachveranstaltung ka­
nen und Experten aus den unter-                Prof. Dr. Welti, Brigitte Gross (Direktorin     men immer wieder Menschen mit Behin-
schiedlichsten Bereichen zusam-                der DRV Bund) und Dr. Susanne Wagen-            derungen zu Wort. Britta Meinecke-Alle­
men mit rund 200 Teilnehmenden.                mann (alternierende Vorstandsvorsitzen-         kotte, eine OP-Schwester, die bei einem
                                               de der BAR und Abteilungsleiterin BDA)          Arbeitsunfall einen Arm verlor und sich

M
           arkus Hofmann, Vorstands-           sowie in einem Videobeitrag von Jürgen          wieder in ihren Beruf zurückkämpfte,
           vorsitzender der BAR und            Hohnl (Geschäftsführer IKK e. V.) wurde         brachte ihre Auffassung von Teilhabe auf
           Abteilungsleiter DGB beton-         deutlich, dass die Selbstverwaltung auch        den Punkt: „Das Leben wieder in Eigenre-
te zu Beginn, wie wichtig Zahlen und           in Zukunft eine wichtige Rolle spielen          gie führen zu können“. Sarah Meß, Teil-
Transparenz in Rehabilitation und Teil-        muss und auch die Digitalisierung neue          habeberaterin ZSL Nord, unterstrich, wie
habe sind und dass dadurch mehr Zu-            Chancen bieten kann. Prof. Dr. Edwin            wichtig es ist, nicht über die Köpfe von
sammenarbeit erreicht werden kann.             Toep­ler, Professor für Management der          Menschen mit Behinderungen hinweg
Bun­desminister Hubertus Heil hob in sei-      Rehabilitation an der Hochschule Bonn-          deren Anliegen zu besprechen. Michael
ner Grußbotschaft hervor, dass einer der       Rhein-Sieg, zeigte in seinem Beitrag            Feller, Peer-Berater bei der EUTB, stellte
Meilensteine des SGB IX darin bestand,         „Qualitätsziel Teilhabe – Härtetest für         klar: „Nur wenn wir gleichberechtigt mit-
dass es mit der Leitlinie „Leistungen wie      das SGB IX?“, wie wichtig es ist, individu-     einander kommunizieren, kann Selbst-
aus einer Hand“ die Verhältnisse neu de-       elle Teilhabeziele zu setzen und vor allem      bestimmung und Partizipation in allen
finiert hat: zum einen zwischen den Ver-       der Frage nachzugehen, ob diese erreicht        Bereichen erreicht werden. Annetraud
waltungen untereinander, zum anderen           wurden.                                         Grote, Inklusionsbeauftragte des Paul
aber auch zwischen den Verwaltungen                Aus dem Atelier der BAR stellte Bernd       Ehrlich Instituts, hatte zwei wichtige Bot-
und den Bürgerinnen und Bürgern.               Giraud, Fachbereichsleiter Pro­gram­me          schaften: „Inklusion beginnt in den Köp-
   Prof. Dr. Marc von Miquel, Ge-              und Produkte, Online-Tools für die Re-          fen“ und „Inklusion braucht Kooperation“.
schäftsführer der Dokumentations- und          ha-Praxis und das Digital-Projekt „Ge­-             Jürgen Dusel, Bundesbeauftragter
Forschungsstelle     der   Sozialversiche-     meinsamer Grundantrag für Reha- und             für die Belange von Menschen mit Behin-
rungsträger, skizzierte die Historie des       Teilhabeleistungen“ vor. Dr. Stefan Schü­-      derungen machte in seinem Schlusswort
SGB IX und unterstrich dabei, dass So-         ring, Fachbereichsleiter Teilhabe­ver­fah­      vor allem auf die Beschäftigungssitua-
zialpolitik ohne zivilgesellschaftliche Auf-   rensbericht, Systembeobachtung und              tion von Menschen mit Behinderungen
brüche wie die Behindertenbewegung             Forschung, stellte mit der BAR-Ausga-           aufmerksam: Das Problem sei, „dass ein
nicht denkbar ist. Anschließend ging           benstatistik und mit dem Teilhabever-           Viertel aller Unternehmen in Deutschland
es um das SGB IX in der Rechtspre-             fahrensbericht wichtige Steuerungsin­           keinen einzigen Menschen mit Behinde-
chung: Prof. Dr. Steffen Luik, Richter         strumente für Rehabilitation und Teilhabe       rungen beschäftigen – das sind mehr als
am BSG in Kassel, zeigte sich überzeugt,       vor und warb für deren Nutzung.                 40.000 Betriebe.“
dass das SGB IX die Umsetzung des                  Prof. Dr. Helga Seel, Geschäftsfüh-
Benachteiligungsverbots leisten kann,          rerin der BAR, zeigte auf, wie sich der
sieht allerdings noch großen Spielraum         angestrebte Bewusstseinswandel in der                 Eine Dokumentation der Tagung
zum Beispiel bei der Teilhabeplanung.          Sprache des SGB IX niederschlägt und                  wird demnächst veröffentlicht
   Prof. Dr. Felix Welti, Professor für        wie zentral die Kommunikation, „das Mit-              auf www.20-jahre-sgb-ix.de
Sozial- und Gesundheitsrecht an der Uni-       einander reden“, für die Ziele des SGB

                                                                                                             Reha-Info der BAR | 4/2021      11
Recht
                                                                Zweck des Persönlichen Budgets ist,
                                                                ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

              Persönliches Budget –
              Unzulässigkeit genereller Befristung und weitere Aspekte

                                                        Bewilligungen waren aus prozessrecht-        Leistungen für die Vergangenheit in Be-
        Orientierungssätze*                             lichen Gründen nicht mehr Gegenstand         tracht, wenn das PB zuvor rechtswidrig
        1. Die Befristung einer                         des Verfahrens. Die Klage hatte in den       zu gering war.
		            Leistungserbringung in                    Vorinstanzen keinen Erfolg. Auf Revision        Die Voraussetzungen des § 32 SGB X
		            Form eines Persönlichen                   des Klägers hat das BSG die Rechtswid-       für die Befristung eines Verwaltungs-
		            Budgets scheidet regel-                   rigkeit der PB-Befristung festgestellt und   akts, auf den – wie hier – ein Anspruch
		            mäßig aus.                                hinsichtlich der PB-Höhe vom 1.12.2012       besteht, liegen laut BSG nicht vor. Insbe-
        2. Eine Zielvereinbarung zum                    bis 31.1.2014 die Sache an das LSG zu-       sondere kann eine zeitliche Befristung
		            Persönlichen Budget bindet                rückverwiesen.                               vorliegend nicht dazu dienen, das Fehlen
		            die Beteiligten in der Regel                                                           von Voraussetzungen für den Erlass des
		            nicht materiell im Hinblick                  Das BSG unterstreicht zunächst er-        Verwaltungsakts zu überbrücken. Eine
		            auf den individuellen                     neut, dass ein Anspruch auf Leistungser-     Befristung zur Sicherstellung des künf-
		Leistungsbedarf.                                      bringung in der Form eines PB besteht,       tigen Fortbestands der gesetzlichen Vo-
        BSG, Urteil v. 28.01.2021,                      wenn ein Anspruch auf                                         raussetzungen      eines
        Az.: B 8 SO 9/19 R                              eine budgetfähige Teil-                                       Dauerverwaltungsakts
 * Leitsätze oder Entscheidungsgründe des Gerichts      habeleistung     vorliegt.                                    scheidet     grundsätz-
 bzw. Orientierungssätze nach JURIS, redaktionell ab-
                                                        Hier kam ein Anspruch                                         lich aus, wenn sie nicht
 gewandelt und gekürzt
                                                        auf Eingliederungshilfe                                       durch Rechtsvorschrift
                                                        nach dem SGB XII a. F.                                        ausdrücklich zugelas-
                                                        i. V. m. SGB IX a. F. in                                      sen ist. Der Notwen-
Sachverhalt und                                         Be­tracht. Die Voraus-                                        digkeit einer regelmä-
Entscheidungsgründe                                     setzung einer wesent-                                         ßigen Überprüfung des
                                                        lichen Behinderung liegt nach den Fest-      Bedarfs wird beim PB bereits dadurch

D
          er Kläger leidet unter einer psy-             stellungen des LSG vor. Betreffend die       Rechnung getragen, dass das Bedarfs-
          chischen Symptomatik. Er er-                  Anspruchshöhe hatte das LSG allerdings       feststellungsverfahren      grundsätzlich
          hielt u. a. Eingliederungshilfe in            keine Feststellungen zum individuellen       alle zwei Jahren zu wiederholen ist (vgl.
Form eines Persönlichen Budgets (PB)                    Leistungsbedarf getroffen. Dies ist laut     auch § 29 Abs. 2 S. 4 SGB IX). Das BSG
vom beklagten Sozialhilfeträger (Rechts-                BSG nicht deshalb entbehrlich, weil die      weist insoweit auch auf ggf. problema-
lage vor BTHG). Die Höhe des PB betrug                  vorliegenden Zielvereinbarungen Aus-         tische Anreize zur Verfahrensgestaltung
vor dem streitigen Zeitraum 600 Euro                    führungen zum Leistungsbedarf enthal-        bei anderer Auslegung hin.
monatlich. Ende 2012 beantragte der                     ten. Denn die Zielvereinbarungen sind
Kläger eine Verlängerung des PB. Nach-                  allenfalls formale Voraussetzung für die        Mit der vorliegenden Entscheidung
dem u.a. entsprechende Zielvereinbarun-                 PB-Bewilligung, binden die Beteiligten       zur alten Rechtslage klärt das BSG ne-
                                                                                                                                                  Bild: VZ_Art, adobe stock

gen unterschrieben worden waren – mit                   aber im Ergebnis nicht materiell im Hin-     ben den hier kursorisch aufgegriffenen
Vorbehalt des Klägers hinsichtlich der                  blick auf den individuellen Leistungs-       weitere grundsätzliche praxisrelevante
Freiwilligkeit – wurde ein befristetes PB               bedarf. Mit Blick auf den Zweck des PB,      Verfahrensfragen beim PB mit Bedeu-
bewilligt, i.H.v. bis zu 388 EUR. Der Kläger            ein selbstbestimmtes Leben zu ermögli-       tung auch für die aktuelle Rechtslage.
begehrte zuletzt insbesondere ein un-                   chen, kommen nach dem BSG auch PB-
befristetes PB i.H.v. 600 EUR monatlich
sowie einen Ausgleich für zu geringe mo-
natliche Auszahlungen vom 1.12.2012                                                   Lesen Sie in der nächsten Ausgabe:
bis 31.1.2014. Zeitlich nachfolgende PB-                                               Leichte Sprache
                                                                                        Erscheinungstermin: 15.10.2021
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