Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold

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Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold
DIENSTAG, 14. AUGUST 2018

Paralympics
Zeitung
In Kooperation mit der

HOCH HINAUS
Mathias Mester wirft
den Speer Richtung Gold
AUF DEM SPRUNG
Heinrich Popow verabschiedet
sich vom Profisport

SONDERAUSGABE ZUR LEICHTATHLETIK–EM IN BERLIN
Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold
2 | Tagesspiegel PARALYMPICS ZEITUNG

INHALT       4 | ROLLEN, WERFEN, FLIEGEN
             Auf diese Leichathleten sollten
             die Zuschauer bei der EM
             besonderes Augenmerk legen

             6 | SO WEIT, SO GOLD
             Weitspringer Heinrich Popow ist                                        Fliiiiieeeeeeeg. Gibt es für
             heute ein Weltstar – nach den                                          Weitspringer Heinrich Popow
                                                                                    noch eine letzte Medaille?
             Wettkämpfen aber ist Schluss

             7 | SPORT INKLUSIV
                                               8 | TOUCHÉ
             DBS-Präsident Friedhelm Julius
                                               Im inklusiven Fechtzentrum
             Beucher über schlecht
                                               Berlin trainieren alle im Sitzen –
             ausgebaute Turnhallen und
                                               auch die, die danach aufstehen
             fehlende Lehrkräfte

                                               9 | NOCH NICHT AM ZIEL
                                               Der Behindertenbeauftragte           Impressum
                                               Jürgen Dusel im Interview über       Herausgeber: Stephan-Andreas Casdorff,
                                               Ängste von Arbeitgebern und          Lorenz Maroldt
                                               Fußballhören im Radio                Chefredaktion: Ronja Ringelstein
                                                                                    Redaktion: Benjamin Apitius,
                                                                                    Ann-Kathrin Hipp
                                                                                    Reporter: Julian Hilgers,
                                               10 | DRAN GEBLIEBEN
                                                                                    David Hock, Miriam Karout,
                                               In Südafrika wurde ihre              Annette Kögel, Lisa Kuner
                                               Behinderung nicht anerkannt,         Fotoredaktion: Thilo Rückeis
                                               für Deutschland läuft Irmgard        Artdirektion: Julia Schneider,
                                                                                    Sabine Wilms
                                               Bensusan nun um Gold
                                                                                    Layout: Sabrina Janke,
                                                                                    Andrea Wehrstedt
                                                                                    Herstellung: Daniela Weber
                                               11 | SPASS FÜR ZWEI                  Anzeigen: Nadja Holzmaier
                                               Niko Kappel und Mathias Mester       Die Paralympics Zeitung ist ein
                                               sind kleinwüchsig und haben          Gemeinschaftsprojekt vom Tagesspiegel
                                               damit so gar kein Problem.           und der Deutschen Gesetzlichen
                                                                                    Unfallversicherung.
                                               Den Fans bei Instagram gefällt’s
                                                                                    Die Texte zu dieser Sonderausgabe zur
                                                                                    Para-Leichtathletik-EM wurden
                                                                                                                                Fotos: Thilo Rückeis, Axel Kohring/Imago

  Para Panda „Max“                                                                  überwiegend von ehemaligen
      bekam seinen                                                                  Nachwuchsreportern verfasst, die schon
      Vornamen von                                                                  2016 von den Paralympics
       der Klasse 5b
  der Evangelischen
                                                                                    in Rio de Janeiro berichtet haben.
 Schule Lichtenberg.                                                                Titel: Speerwerfer Mathias „Matze“ Mester
                                                                                    Foto: Al Tielemans/AFP

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          DANKE, GEMEINSAM ERMÖGLICHEN                                       BERLIN 2018 WOLRD PARA ATHLETICS
                     WIR UNGLAUBLICHES!                                      EUROPEAN CHAMPIONSHIPS
Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold
Tagesspiegel PARALYMPICS ZEITUNG | 3

                                        Foto: Karlheinz Schindler/dpa
                                                                                                                                        EDITORIAL

                                                                                                                                                                                                                                                                Foto: Mike Wolff
                                                                                                                                                                 Foto: promo
LEISTUNG MACHT MUT                                                                                              SPORT IST ALLES                                                                                                 WAHRE ATHLETEN
Dabeisein ist alles. So lautet eine Losung                                                                      Heinrich Popow, einer der erfolgreichsten deut-                                                                 Seit vielen Jahren begleitet der Tagesspiegel
der olympischen Bewegung. Sie gilt für alle                                                                     schen paralympischen Athleten hat einmal ge-                                                                    intensiv die Para-Wettkämpfe in aller Welt. Für
Menschen, ob mit oder ohne Behinderungen.                                                                       sagt: „Ich laufe nicht, obwohl mir ein Bein                                                                     uns ist es deshalb eine besondere Freude,
Gerade im Sport geht es darum, gemeinsam                                                                        fehlt. Ich laufe, weil mir ein Bein fehlt.“ Sport                                                               dass die Para-Leichtathletik-EM diesmal ein
mit anderen Erfolge zu feiern und zu zeigen,                                                                    ist seine persönliche Herausforderung, seine                                                                    Heimspiel ist: Mitten in der Stadt, im
was in einem steckt. Das können wir kom-                                                                        Leidenschaft, mit der er auch andere anste-                                                                     Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion, empfängt
mende Woche in Berlin bei der Para-Leichtath-                                                                   cken möchte. Denn Sport ist ein Weg, um die                                                                     Berlin die Sportlerinnen und Sportler, die sich
letik-Europameisterschaft live miterleben. Die                                                                  körperliche und seelische Gesundheit zu för-                                                                    für diesen Höhepunkt des sportlichen Som-
Wettkämpfe eröffnen und ermöglichen auch                                                                        dern. Und das gilt – inklusiv – für Menschen                                                                    mers qualifiziert haben. Und alle, die sich ir-
einen anderen Blick auf Menschen mit Beein-                                                                     mit und ohne Behinderung.                                                                                       gendwann einmal haben anstecken lassen von
trächtigungen. Sehr viele Menschen                                                                              Bewegung ist ein wichtiger Bestandteil jeder                                                                    der Begeisterung eines solchen Events, freuen
respektieren, ja bewundern die gezeigten                                                                        Rehabilitation nach Unfallverletzungen. Des-                                                                    sich auf noch mehr Spannung und Stimmung.
Leistungen. Das macht Mut. Denn es zeigt                                                                        halb unterstützt die gesetzliche Unfallversiche-                                                                Aber auch wer nicht selbst dabei ist in Berlin,
eine selbstverständliche und natürliche                                                                         rung den Behindertensport auf vielfache Weise.                                                                  kann teilnehmen: 27 Stunden Live-Übertra-
Verbundenheit zwischen Menschen mit und                                                                         Sie beteiligt sich an Sportfesten, schreibt mit                                                                 gung im Internet sind Ausdruck des starken in-
ohne Behinderungen. Aber nicht nur im Sport,                                                                    dem „German Paralympics Media Award“ re-                                                                        ternationalen Interesses.
sondern in allen Bereichen des menschlichen                                                                     gelmäßig einen Journalistenpreis für die bes-                                                                   Schade nur, dass die Para-EM und die Leicht-
Miteinanders wollen wir gelebte Inklusion.                                                                      ten Berichte über den Behindertensport aus                                                                      athletik-EM in Berlin nicht nur hintereinander
Auch im Arbeitsleben muss Teilhabe von                                                                          und gibt zusammen mit dem Tagesspiegel die                                                                      stattfinden, sondern auch völlig getrennt vonei-
Menschen mit Behinderungen selbstverständ-                                                                      Paralympics Zeitung (PZ) heraus. Die PZ zeigt                                                                   nander. Ich hätte mir hier mehr organisatori-
lich sein. Vieles ist bereits erreicht. Aber zur                                                                in ihren Artikeln, wie attraktiv der Behinderten-                                                               sche und kommunikative Inklusion gewünscht,
Wahrheit gehört auch, dass die Arbeitslosig-                                                                    sport ist. Sie berichtet über Hintergründe und                                                                  wie das ja auch bei den Olympischen Spielen
keit von schwerbehinderten Menschen nach                                                                        die vielen Sportlerinnen und Sportler in den                                                                    und den Paralympics seit langem üblich ist.
wie vor zu hoch ist. Gemeinsam mit den Sozial-                                                                  Vereinen. Im Vereinssport beginnen Aus-                                                                         Das wäre leicht möglich gewesen – viel leich-
partnern, der Bundesagentur für Arbeit und                                                                      nahme-Karrieren wie die von Heinrich Popow.                                                                     ter jedenfalls, als einen der Wettkämpfe zu ge-
weiteren Partnern möchte ich mit ver-                                                                           Er gibt bei der Europameisterschaft in Berlin                                                                   winnen. Denn in Punkto Leidenschaft und Leis-
einten Kräften noch mehr Arbeitgeber für                                                                        seinen Abschied vom aktiven Wettkampfsport.                                                                     tung trennen die beiden Europameisterschaf-
die Beschäftigung von schwerbehinderten                                                                         Ein Grund mehr, in Berlin dabei zu sein!                                                                        ten nichts: Das Motto der Leichtathletik-EM,
Menschen gewinnen. Die Para-Leichtathle-                                                                                                                                                                                        „Trueathletes“, trifft genauso auf die Para-EM
tik-EM zeigt erneut, wie leistungsfähig Men-                                                                    JOACHIM BREUER,                                                                                                 zu. Wir freuen uns auf ein großes Fest des
schen mit Behinderungen sind. Manchmal müs-                                                                     Hauptgeschäftsführer der Deutschen                                                                              Sports!
sen wir einfach noch genauer hinschauen.                                                                        Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV)
                                                                                                                                                                                                                                LORENZ MAROLDT,
HUBERTUS HEIL,                                                                                                                                                                                                                  Chefredakteur des Tagesspiegels
Bundesminister für Arbeit und Soziales

                                                                                                                                                                                                       Sports in the City
                                                                                                                                   Tram

  Gesundbrunnen                                                                                                          Schönhauser Allee

                                                                                                                                                                                                       In wenigen Tagen wird es wieder sportlich in Berlin. Im Pankower
                                                                                        Gleimstr.
                                                                                                                                                                                                       Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark treten vom 20. bis 26. August rund
                                                                                                                                   er Allee

                                                                                                                                                                                                       650 europäische Sportler mit Behinderung in insgesamt 191 Entschei-
                                                                                                                        Can

                                                                                          Max-Schmeling-Halle
                                                                                                                                                                                                       dungen an. Und vielleicht wiederholen die deutschen Athleten ja
                                                                                                                                Schönhaus
                                                                                                                        tians

                                                                                                                                                                                                       ihren Erfolg von 22 Medaillen bei der Para-Leichtathletik-WM letztes
             Br u

                                                                                                    Friedrich-Ludwig-
                                                                                                                          tr.
              nne

                                                                                                     Jahn-Sportpark                                                                                    Jahr? In dieser Sonderausgabe der „PZ“ lesen Sie alles Wichtige rund
                nst

                                                                                                                                                                                                       um das Event. Und wer die Wettkämpfe live verfolgen will, kann sich
                    r.

                         Voltastraße
                                                                                                                                                                                                       Eintrittskarten unter www.para-euro2018.eu sichern. Tagestickets sind
                                                                                                                                                                                                       ab 3 Euro erhältlich, 20 Euro kosten „Best Seats“-Tickets, direkt an der
                                                                                                            Tram
                                                                                                                                Eberswalder                                                            Laufbahn. Auch Gruppen- und Familientickets gibt es.
                                                                                                                          Tram Straße                                                                  Schöner als selbst kaufen ist natürlich gewinnen: Dafür einfach bis zum
                                                                                                                                              Danzig
                                                                                              r.                                                       er Str.                                         16. August eine Mail schreiben mit kurzer Begründung, warum Sie gern
                                                                                  ue   r St
                                                                        Be   r na                                                                                                                      dabei sein möchten oder jemandem eine Freude bereiten wollen, an
                                                                                                                                                                           Grafik: Fabian Bartel/Tsp

                                                                                                                                                                                                       panda@para-euro2018.eu senden. Viel Glück und eine fröhliche EM!
                                       Bernauer Straße

   Anreise    1, 2, 8, 25, 41, 42, 85                                   2, 8           Tram M1, M10, M12
Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold
4 | Tagesspiegel PARALYMPICS ZEITUNG

                                                    Rollen,
                                                    werfen, fliegen
                                                      Bei der Para-EM der Leichtathleten starten insgesamt
                                                      rund 650 Sportlerinnen und Sportler aus 45 Nationen.
                                                      In welchen Disziplinen deutsche Athleten Favorit sind
                                                      und worauf sonst so zu achten ist, finden Sie hier

                                              Laufen
                                              Medaillenhoffnung und Verletzungspech liegen in diesem Jahr dicht beieinander: Felix
                                              Streng und David Behre, beide beim TSV Bayer 04 Leverkusen beschäftigt, mussten nach
                                             jeweils drei Paralympics-Medaillen in Rio bei der Londoner WM verletzungsbedingt pas-
                                             sen. Doch während der 23 Jahre alte Streng seine Entzündung an der Achillessehne ausku-
                                            riert hat, laboriert David Behre nach einem Muskelfaserriss nun an Rückenproblemen,
                                            wird die Sprintwettkämpfe im Berliner Jahn-Sportpark von der Tribüne aus verfolgen müs-
                                           sen. Mit Irmgard Bensusan und Johannes Floors (Foto) schaut er dabei zwei weiteren Ver-
                                           einskollegen zu, die als amtierende Weltmeister ins Rennen gehen. Für Irmgard Bensusan
                                           geht es auch darum, zwei Weltrekorde zu verteidigen: Anfang Juni ist die 27-Jährige die 200
                                           Meter in 26,53 Sekunden gelaufen, eine Woche später definierte sie mit 1:00,07 Minuten auf
                                          400 Meter eine weitere Bestmarke. Beide Rekorde erreichte Bensusan bei deutschen Wett-
                                         kämpfen. Ein gutes Omen für das Heimspiel in der Bundeshauptstadt?

                                                                              Kugelstoßen
                                           Mit 13 Athleten ist das deutsche Team im Kugelstoßen breit aufgestellt. Gleich vier davon
                                          rechnen sich realistische Medaillenchancen aus: Birgit Kober, Daniel Scheil, Sebastian
                                         Dietz (Foto) und Niko Kappel. Vier amtierende Paralympics-Sieger aus unterschiedli-
                                       chen Startklassen. Der Jüngste im Champions-Quartett, Niko Kappel, ist mit 23 Jah-
                                           ren zugleich amtierender Weltmeister und Weltrekordhalter; 14,02 Meter sind
                                       bei den Athleten mit Kleinwuchs Bestmarke. Europameister aber ist Kappel
                                         bislang nicht. Vor zwei Jahren musste er sich gegen den Polen Bartosz
                                       Tyszkowski geschlagen geben, in Rio flog Kappels Kugel einen Zenti-
                                             meter weiter. Es dürfte ein spannender Wettkampf werden.
                                       Finale (F36) mit Sebastian Dietz: Do., 23.8., um 17:34 Uhr

                                            Rennrollstuhl
                                           Für Annika Zeyen wird es eine Premiere: Zwar hat die Spitzensportlerin in ihrer Karriere an
                                       insgesamt sieben Europameisterschaften teilgenommen, bei denen sie sechs Mal Gold und ein-
                                       mal Silber gewann. Doch holte die 33-Jährige diese Medaillen nicht auf der Tartanbahn, sondern
                                         auf dem Basketballparkett. Nach den Paralympics 2016 beendete sie ihre Karriere – um we-
                                                                     nige Wochen später im Rennrollstuhl neue Ambitionen zu entde-
                                                                       cken. Schon im folgenden Sommer reichten ihre Zeiten für die
                                                                         WM-Qualifikation und einen achten Platz in London. Was nach
                                                                         einer langwierigen Schulterverletzung in diesem Frühjahr nun
                                                                         bei der EM möglich sein wird, ist allerdings schwierig zu sagen.
                                                                                                                                                Texte: David Hock / Fotos: dpa, Imago (7)

                                                                         Von einer Medaille träumen darf in jedem Fall Zeyens Trainings-
                                                                        partner Alhassane Baldé, der in London zweimal zu Bronze fuhr.
                                                                       Finals (T54) mit Annika Zeyen: Mo. (5000m/19.10 Uhr), Di. (200/19.30),
                                                                     Mi. (1500/20.19), Do. (400/20.04), Sa. (100/15.46), So. (800/15.22)
Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold
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                                                                           Weitsprung
     Seit mehr als sieben Jahren führt Markus Rehm einen Wettkampf gegen sich selbst – und gewinnt ihn immer wie-
        der neu. Bei der WM in Christchurch (Neuseeland) im Sommer 2011 ist der deutsche Athlet mit rechtsseitiger
          Unterschenkelprothese zum ersten Mal Weltrekord gesprungen: Seinen Wert von 7,09 Metern konnte der
      29-Jährige immer wieder ausweiten; zuletzt in diesem Juli bei der Japan Para Championship auf 8,47 Meter.
        Mit diesem Wert wäre Rehm auch Olympiasieger. Doch sein Wunsch, als zweiter Para-Sportler bei Olympi-
       schen Spielen teilzunehmen, stieß beim Internationalen Leichtathletikverband auf Ablehnung. Die Frage,
      ob durch die „mechanische Hilfe“ seiner Prothese ein Vorteil bestehe, konnten wissenschaftliche Unter-
              suchungen bislang nicht klären. Definitiv aber ist Rehm weiter in Top-Form – und könnte bei der
                  Heim-EM, wenige Tage nach seinem 30. Geburtstag, sogar die Marke von 8,50 Meter überfliegen.
                                                               Finale (T64) mit Markus Rehm: Sa., 25.8., um 14:34 Uhr

                                                                                                            Diskus
                                                                                              Deutschland hatte mal einen Top-Mann
                                                                                               im Diskus: Sebastian Dietz, der mit der
                                                                                                 Wurfscheibe drei Medaillen gewonnen
                                                                                             und 2013 einen Weltrekord aufgestellt hat.
                                                                                            Doch dann strich das Paralympische Komitee
                                                                                             seine Startklasse, Dietz wechselte zum Kugel-
                                                                                            stoßen. Die Disziplin als solche hat weiterhin Be-
                                                                                            stand, mit sieben unterschiedlichen Klassifizierun-
                                                                                                gen bei Frauen und Männern. In der Klasse der

4 x 100-Meter-Staffel                                                                           kleinwüchsigen Frauen gehört Niamh McCarthy
                                                                                             (Foto) zu den Favoritinnen: Die Irin hat im Juni bei ei-
                                                                                             ner Weite von 32,67 Metern neuen Europarekord geworfen. Bei
Seit der WM 2015 in Katar sind die deutschen Männer die Könige der                              den zurückliegenden Paralympics und der Weltmeisterschaft
4x100-Meter-Staffel. Und die USA die alljährlichen Wegbereiter der                           konnte sich die Tunesierin Raoua Tlili vor McCarthy jeweils den
Erfolge: Nach einem knappen Vorsprung in Doha vor drei Jahren                                 ersten Platz sichern. Auf europäischer Bühne aber könnte nun
sprinteten die US-Amerikaner bei den Rio-Paralympics 2016 wie                                           der Weg frei sein zur Gold-Premiere der 24-Jährigen.
auch bei der Londoner WM 2017 jeweils als Erste ins Ziel. Durch zwei                               Finale (F40/41) mit Niamh McCarthy: So., 26.8., um 14:31 Uhr
nachträgliche Disqualifikationen allerdings landeten die Deutschen
am Ende aber auf Platz eins. In Berlin braucht man die Konkurrenten
aus Übersee nun nicht zu fürchten, hier ist Italien der größte Rivale.
Sorgen bereiten sich die Deutschen derweil selbst: Vom amtierenden
Champions-Quartett sind mit Markus Rehm, Johannes Floors und Fe-
lix Streng nur drei Athleten einsatzbereit. Als vierter Läufer kommen
die Routiniers Heinrich Popow (35) und Reinhold Bötzel (42) infrage –
den besten Zeitwert aber hat mit 11,57 Sekunden auf 100 Meter in die-
sem Jahr Phil Grolla erreicht. Der erst 17-Jährige ist der Jüngste im
                                                                                       Race Running
deutschen Team. In Berlin wird er das erste Mal bei einer EM ins Ren-               Eine internationale Premiere in Berlin: Mit dem Race-
nen gehen - und womöglich direkt auf dem Siegertreppchen stehen.                   runner, einem Dreirad ohne Pedalen, treten Sportler
                                                                                    mit Zerebralparese und anderen Bewegungs- oder
                                                                                   Gleichgewichtsstörungen gegeneinander an. Seit An-
                                                                                     fang dieses Jahres sind Rennen mit der 1991 von
                                                                                     einem Dänen entwickelten „Laufmaschine“ eine
                                                                                    offizielle Para-Sportart. Einen deutschen Starter
                                                                                           gibt es bei der Europameisterschaft nicht.

                                                     Speerwurf
                                                   Das Speer lässt Martina Willing einfach nicht los. Mit 33 Jahren hat sie zum ersten
                                        Mal an den Paralympics teilgenommen und auf Anhieb Gold gewonnen. Das war 1992 in Barce-
                                         lona. 26 Jahre und 30 Medaillen später ist bei der 58-Jährigen vom Karriereende nichts zu hö-
                                             ren. Im Gegenteil: Neben dem Speerwurf tritt Willing auch im Diskus und Kugelstoßen an,
                                             als Mitglied im „Top Team Tokio 2020“ gehört sie zu den Para-Athleten, die aufgrund ihrer
                                             hohen Medaillenchancen vom Verband finanziell gefördert werden. Auch bei der anste-
                                                henden EM ist die Brandenburgerin optimistisch, obwohl mit der Lettin Diana Dadzite
                                                   auch die Weltmeisterin an den Start geht. Ein weiterer deutscher Medaillenkandidat
                                                     ist Mathias Mester, der im vergangenen Jahr WM-Bronze geholt hat.
                                                         Finale (F56) mit Martina Willing: Donnerstag, 23. August, um 17:30 Uhr
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                                                                                                                                                                                                      Überflieger.
                                                                                                                                                                                                      Heinrich Popow, 35,
                                                                                                                                                                                                      ist einer der erfolgreichsten
                                                                                                                                                                                                      deutschen Athleten.

                                                                                                                                                                                                      ler all die Jahre auf der Strecke bleibt.
                                                                                                                                                                                                      Der Fokus liegt voll auf dem Sport. Vieles
                                                                                                                                                                                                      andere vernachlässigt er. „Mich kotzt
                                                                                                                                                                                                      diese Arroganz an, die man als Leichtath-
                                                                                                                                                                                                      let aufbringen muss“, sagt Popow. Ganz
                                                                                                                                                                                                      zufrieden wirkt er nicht. „Ich hätte noch
                                                                                                                                                                                                      mehr erreichen können. Ich habe nicht
                                                                                                                                                                                                      geschafft, alles aus meiner Behinderung
                                                                                                                                                                                                      zu machen.“
                                                                                                                                                                                                      Die wahre Erfüllung findet er neben dem
                                                                                                                                                                                                      aktiven Sport. Popow will „etwas bewe-
                                                                                                                                                                                                      gen“. Bereits während seiner Sportler-
                                                                                                                                                                                                      karriere hat er eine Ausbildung zum Or-

                                                                                                                                                            Foto: Kay Nietfeld/picture alliance/dpa
                                                                                                                                                                                                      thopädietechniker gemacht. Er betreut
                                                                                                                                                                                                      Nachwuchssportler als Mentor. Er be-
                                                                                                                                                                                                      sucht Krankenhäuser und motiviert Men-
                                                                                                                                                                                                      schen nach einer Amputation dazu, Sport

                                                                                                                                                                                                      Jetzt tanzt er: Bei der
                                                                                                                                                                                                      Liveshow „Souldance“

O                                              So weit,
         lympiastadion London, Start-
         bahn 4. Heinrich Popow lächelt.
                                                                                                                                                                                                      im Admiralspalast
         Lässig streckt er den Daumen
         in die Kamera. Stille. Dann der                                                                                                                                                              zu machen. „Inklusion durch Sport ist ein-

                                               so gold
Startschuss. 12,4 Sekunden später sprin-                                                                                                                                                              fach perfekt“, sagt Popow. Genau hier
tet Popow über die Ziellinie. Erster. Es ist                                                                                                                                                          will er nach der aktiven Karriere anset-
Popows erste Goldmedaille bei Paralym-                                                                                                                                                                zen. Er will helfen, am liebsten überall
pischen Spielen. Jahrelang hat er für die-                                                                                                                                                            auf der Welt. Bei den Paralympics 2020 in
sen Erfolg trainiert. „Rückblickend wa-                                                                                                                                                               Tokio wird er als Berater für das japani-
ren die unerwarteten Medaillen schöner                                                                                                                                                                sche Team arbeiten. Aber er will auch
als diese“, sagt Popow heute. Trotzdem                                                                                                                                                                weiter tanzen: Ab Herbst steht er bei der
bleiben die Sommerspiele 2012 einer der
                                               Europa-, Weltmeister, Paralympics-Sieger:                                                                                                              Liveshow „Souldance“ auf der Bühne im
Höhepunkte seiner Karriere. Eine Kar-          Heinrich Popow hat sportlich alles gewonnen –                                                                                                          Berliner Admiralspalast.
riere, die nun mit der Leichtathletik-EM                                                                                                                                                              Durch seine Karriere hat Heinrich Popow
in Berlin endet.                               in Berlin setzt er nun an zum letzten Sprung                                                                                                           den Behindertensport weiterentwickelt.
Mit sieben Jahren kommt Heinrich Po-                                                                                                                                                                  Die technischen Möglichkeiten für junge
pow mit seiner Familie aus Kasachstan                                                                                                                                                                 Athleten sind nun besser. „Meine ersten
nach Deutschland. Zwei Jahre später fin-                                                                                                                                                              sieben Jahre der Karriere wären heute in
den die Ärzte einen Tumor in seiner            athletik. Popow trainiert viel, hat einen                       Menschen folgen ihm bei Facebook. 2017                                                 zwei Monaten abgefertigt.“ Auch die Aner-
Wade. Sie müssen sein linkes Bein bis          sehr engen Draht zu seinen Trainern. „Zu-                       nimmt Popow bei der Tanzshow „Let´s                                                    kennung für den Sport sei in seiner Kar-
zum Oberschenkel amputieren. Für Po-           ckerbrot und Peitsche funktioniert bei                          Dance“ teil. Seitdem wird er noch häufi-                                               riere deutlich gestiegen, findet Popow.
pow und seine Eltern keine leichte Zeit:       mir am besten“, sagt er. Schon 2002                             ger erkannt. Im Nachhinein bedauert er,                                                Die Para-Europameisterschaft ist sein
„Mein Sportlehrer sagte: ’Hol dir ein At-      springt er in Lille zu seiner erste Bronze-                     dass er durch eine TV-Show mehr Auf-                                                   letzter Wettkampf. Nach 18 Jahren als
test. Dann bist du vom Sport befreit.’ Ich     medaille bei einer WM.                                          merksamkeit bekommt, als durch den                                                     Leistungssportler. Eine EM im eigenen
war immer nur der Behinderte.“ Popow           Nun reiht sich Erfolg an Erfolg. Paralym-                       Sport, er nennt das eine „bittere Pille“.                                              Land sei ein toller Schlusspunkt. Popow
ist ehrgeizig; will zeigen, dass er mehr       pics-Silber in China, WM-Gold in Neusee-                        Popow merkt, dass ihn Medaillen und Po-                                                freut sich auf die kommenden Aufgaben,
ist. „Das Bein ist ab, deshalb laufe ich.      land. 2016 gewinnt er Gold bei den Para-                        kale nicht ewig erfüllen können. Irgend-                                               aber er ist auch wehmütig. „Ich bin ein
Wenn ich einen Arm ab hätte, wäre ich Ku-      lympics in Rio de Janeiro. Diesmal im                           wann steht er im Startblock und denkt:                                                 emotional getriebener Typ“, sagt er. Und
gelstoßer geworden”, hat der heute             Weitsprung. Heinrich Popow wird zum                             „Das ist falsch, das ist nicht mehr meins.                                             deshalb will Heinrich Popow auch in Ber-
35-Jährige einmal gesagt. 2001 beginnt         wohl bekanntesten Sportler mit Behinde-                         Ich bin nicht mehr hungrig.“ Rückbli-                                                  lin nochmal alles geben. Sein Ziel ist
er bei Bayer Leverkusen mit der Leicht-        rung in Deutschland. Mehr als 25 000                            ckend merkt er, was als Leistungssport-                                                klar: ein letztes Mal Gold. Julian Hilgers

Ein Schnürsenkel, der verbindet
Als Tandem gemeinsam über Straßen              In Berlin gibt es immer mehr Möglichkei-                                                                                                               Vollbrecht, selbst ehemalige Leistungs-
und Felder. In Berlin gibt es immer mehr       ten für Sehbehinderte und Sehende mitei-                                                                                                               läuferin, hat sich ihre Begleiter mit Hilfe
Möglichkeiten für Sehbehinderte und Se-        nander sportlich aktiv zu sein. Das „Tan-                                                                                                              einer Anzeige in einem Berliner Stadtma-
hende gemeinsam Sport zu machen.               dem-Prinzip“ gibt es in unterschiedli-                                                                                                                 gazin gesucht. Aus Zweckbekanntschaf-
Wenn Regina Vollbrecht und Karl Ma-            chen Sportarten. Ein sogenannter                                                                                                                       ten, sagt sie, seien mittlerweile Freund-
scher über das Feld hinter ihrem Haus          „Guide“ kann grundsätzlich jeder wer-                                                                                                                  schaften geworden. „Du bist da eine
joggen, sind ihre Bewegungen gleichmä-         den, der eine bestimmte Sportart mag. Bei                                                                                                              Stunde zusammengebunden, teilweise
ßig. Als würde sie ein unsichtbares Band       Schulungsprojekten, wie dem von Kirsten                                                                                                                auch länger. Das machst du nicht nur,
verbinden. Erst bei genauerem Hin-             Ulrich bei den Karower Dachsen, können                                                                                                                 weil du zusammen laufen willst.“ Das
schauen erkennt man, dass da tatsäch-          Teilnehmer erste Erfahrungen darin ma-                                                                                                                 macht man eben auch, weil man sich nett
lich ein Band vorhanden ist: Das Lauf-         chen, Menschen mit Sehbehinderung zu                                                                                                                   findet und was zusammen machen will.
paar Vollbrecht und Mascher ist mit ei-        führen – und selbst geführt zu werden.                                                                                                                 Laufen verbindet. Auf der persönlichen
nem Schnürsenkel an den Handgelenken           Wichtig ist, dass das Leistungsniveau                                                                                                                  Ebene, genauso wie auf der gesellschaftli-
miteinander verbunden. Eine Bindung,           stimmt. Als Laufpartner etwa sollten die                                                                                                               chen. Für Vollbrecht ist es ein wichtiger
                                                                                             Foto: Thilo Rückeis

die für sie ganz normal ist. Die beiden        Guides eine gewisse läuferische Fähig-                                                                                                                 Schritt in Richtung Barrierefreiheit für
sind ein „Lauf-Tandem“. Vollbrecht ist         keit vorweisen. Immerhin: Sie müssen                                                                                                                   Sehbehinderte: „Die wollen Sport ma-
blind, ihren Hund hat sie auch dabei. Ma-      sich an das Tempo des Anderen anpas-                            Laufen verbindet.                                                                      chen, die können das auch und die Bar-
scher begleitet sie, gibt hin und wieder       sen und gleichzeitig Wege beschreiben,                          Regina Vollbrecht und Karl Mascher                                                     riere, die es halt gibt, ist: Sie können
Anweisungen.                                   ohne aus der Puste zu kommen.                                   sind beim Laufen unzertrennlich.                                                       nicht alleine laufen.“       Miriam Karout
Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold
Tagesspiegel PARALYMPICS ZEITUNG | 7

„Da gehen Talente verloren“
Inklusiver Sportunterricht findet selten statt. DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher
über die Auswirkung von schlecht ausgebauten Turnhallen und fehlenden Lehrkräften
Herr Beucher, Sie haben mal gesagt,          wegt, wird früher krank und alt. Das ist ja   Was muss passieren, damit sich die Si-
Inklusion sei im Sport schon Normalität.     bei Menschen mit Behinderungen nicht          tuation bessert?
Gilt das auch für den Schulsport?            anders. Außerdem wirkt sich Sport auf         Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif. Da
Nein. Inklusiver Sportunterricht ist Theo-   die Psyche aus. Wer fit ist und in Bewe-      muss eine Menge Geld investiert werden,
rie und selten Praxis. Entweder fehlen       gung gehalten wird, hat mehr Lebens-          um Schulen personell und materiell aus-
Lehrkräfte oder es gibt keine barriere-      freude.                                       zustatten. Bis dahin hängt viel auch am En-

                                                                                                                                         Foto: imago/ Sven Simon
freien Sporthallen. Gerade bei letzterem                                                   gagement einzelner Lehrer. Wer sich wei-
haben wir bundesweit einen riesigen                                                        terbilden will, kann das. Die Unfallkasse
Rückstau. In vielen Schulen ist inklusiver   DA ROLLT WAS AUF UNS ZU                       Berlin etwa hat mehrere Broschüren he-
Sportunterricht überhaupt nicht möglich.     Quietschende Reifen, krachende                rausgegeben, die zeigen, wie inklusiver
                                                                                           Sportunterricht gestaltet werden kann.                                  DBS-Präsident Friedhelm Julius Beucher, 72
                                             Rollstühle, zappelnde Netze:
Können Sie einschätzen, wie viele Schu-      Vom 16. bis 26. August findet in
len das betrifft?                            Hamburg die Rollstuhlbasketball-WM            Stichwort Umsetzung: Im Sportunter-                                 und sich weiterzuentwickeln. Ein Junge
Es gibt kein statistisches Material. Aber    statt. 16 Männer und 12 Frauenteams           richt geht es um Leistungen. Wer weiter                             weiß vielleicht, dass er mit seinem Roll-
wir werden seit Jahren mit Beschwerden       werden in 96 Partien um den                   springt oder schneller läuft, bekommt                               stuhl nicht so schnell fahren kann, wie
der Eltern und Lehrer konfrontiert. Viele    begehrtesten Titel außerhalb                  die bessere Note. Wie lässt sich das mit                            ein anderer rennen. Aber beim Kugelsto-
Schüler, die an Regelschulen unterrich-      der Paralympics spielen.                      dem inklusiven Gedanken vereinbaren?                                ßen hat er die Vergleichsmöglichkeit und
tet werden, hatten in ihrem Leben keine                                                    Da geht es ja nicht nur um Inklusion, son-                          wird sich wundern, was er alles schaffen
einzige Sportstunde. Die werden zum Rie-     VERBINDENDER LAUF                             dern um die grundsätzliche Frage, ob die                            kann, wenn er trainiert.
genführer ernannt und darauf reduziert.      Wenn am 07. Oktober der Startschuss           tatsächliche Leistung oder die individu-
Ein Zustand, der so nicht tragbar ist.       für den RheinEnergieMarathon fällt,           elle Entwicklung bewertet werden soll.                              Vielleicht bis hin zum Leistungssport...?
                                             werden in Köln mit dem Projekt                                                                                    Exakt. Wenn junge Menschen keine
Welche Auswirkungen hat das?                 „R(h)ein Inklusiv“ Menschen mit und           Und?                                                                Chance haben sich zu entwickeln, gehen
Abgesehen davon, dass Kindern die Teil-      ohne Behinderung dabei sein. Rund 20          Ich glaube: Je früher man an Leistungs-                             der Sportwelt und dem Land letztlich
habe verwehrt bleibt, hat es starke nega-    inklusive Teams treten an, darunter           vergleiche herangeführt wird, desto bes-                            auch potentielle Talente verloren.
tive Einflüsse auf ihre körperliche Ent-     Studierende der Sporthochschule Köln          ser. Das gilt für Kinder mit Behinderung
wicklung. Wir wissen: Wer sich nicht be-     und paralympischen Spitzensportler.           genauso. Sie lernen ihre Stärken kennen                                     Das Gespräch führte Ann-Kathrin Hipp.

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Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold
8 | Tagesspiegel PARALYMPICS ZEITUNG

Angriff auf Augenhöhe
Im inklusiven Verein
Fechtzentrum Berlin
duellieren sich
behinderte und
nicht-behinderte
Sportler. Ein Besuch

F
         ertig – los! Gerade noch ist der
         Anfeuerungsruf des Trainers zu
         hören, dann schlagen schon die
         Klingen aufeinander. Attacke, Pa-
rade und Riposte – die Szenen in guten
alten Fechtfilmen sind nichts gegen die
Duelle. Dann zieht Zoe Elsner ihre Fecht-
maske wieder ab und steht auf aus dem
fixierten Fechtrollstuhl. „Bringt echt was
für die Technik, sitzend zu trainieren“,
sagt die 16 Jahre alte Sportlerin.
Steffen Nordmann, 34, bleibt derweil ein-
                                                Foto: Thilo Rückeis

fach sitzen. Rollstühle gehören seit sei-
ner Geburt zu ihm, er kam mit Spitzfüßen
auf die Welt, hat früher in der Halle die
sitzenden Fechter trainieren gesehen                                  Attacke, Parade und Riposte. Steffen Nordmann (li.) und Zoe Elsner beim inklusiven Fechttraining in Berlin-Ahrensfelde.
und sich gedacht: Das will ich auch mal.
Acht Jahre ist das her. Mittlerweile ist er
vielfacher Deutscher Meister und interna-     der vor allem dank ehrenamtlichen Ein-                                                 sagt Geschäftsführer Klaas Brose. Es          dass Inklusion für Vereine oft mehr perso-
tionaler Turniersieger. Bei den kommen-       satzes und Spenden durch den Sportver-                                                 meldeten sich aber auch mehr Jüngere,         nellen und organisatorischen Aufwand be-
den Paralympics 2020 in Tokio hat er          ein Pfeffersport e.V. und die Kurt-Tuchol-                                             etwa, „weil sie paralympischen Sport im       deute. „Da gibt es noch viel zu tun.“
Chancen anzutreten.                           sky-Oberschule eröffnet werden konnte.                                                 Fernsehen      gesehen      haben“.      Er   Im Verein Fechtzentrum Berlin macht
Im Verein Fechtzentrum Berlin trainie-        Das Angebot ist besser als in anderen                                                  schwärmt von den Angeboten, die es gibt,      sich der Förderverein Profencing e.V. für
ren behinderte und nicht-behinderte           Städten, aber nicht ausreichend. Selbst                                                von Kadersportstätten Schwimmen,              die „inklusive Fechtsportfamilie in Ber-
Sportler zusammen. Derzeit in einer klei-     prominente Athleten des Behinderten-                                                   Tischtennis, Bogenschießen, Rollstuhl-        lin-Marzahn“ stark. Er lebt von ehrenamt-
nen Ersatzsporthalle in Marzahn-Hellers-                                                                                             basketball, von Tauch- und Klettersport-      lich engagierten Menschen wie Uwe Pro-
dorf. Die Heimhalle des Vereins wird ge-                                                                                             angeboten. Für neue inklusive Sportange-      ske, dem Trainer der Fußfechter. Seine
rade zur inklusiven Fechtsportstätte um-
                                              In Berlin sind rund                                                                    bote oder kleine Bauvorhaben zum Ab-          Schützlinge mit Beeinträchtigungen er-
gebaut, mit barrierefreien Toiletten und      50 Sportstätten                                                                        bau von Barrieren unterstützt der Ver-        rangen schon mehr als 25 deutsche Meis-
Rampen. Was Besonderes für Berlin.                                                                                                   band seine Vereine dabei, Fördermittel        tertitel und Medaillen bei Welt- und Euro-
Insgesamt gibt es in der Stadt nur etwas      teilweise barrierefrei                                                                 der „Aktion Mensch“ von jeweils bis zu        pameisterschaften. Dumke ist 80 Jahre,
mehr als 50 Sportstätten, die zumindest                                                                                              5000 Euro zu beantragen. In diesem Jahr       athletisch-kräftig, und hat schon viel er-
teilweise barrierefrei sind. Positivbei-      sports wie Marianne Buggenhagen hat-                                                   können so 30 Vereine gestärkt werden.         lebt. Die Olympischen Spiele 1980 in Mos-
spiele sind die Schwimmhalle an der           ten immer wieder Probleme, geeignete                                                   Laut Kirsten Ulrich, Vizepräsidentin des      kau etwa, als Nationaltrainer der
Landsberger Allee, der Friedrich-Lud-         Trainingsstätten zu finden.                                                            Landessportbundes für Frauen und              DDR-Fechter. Und wie er da so in der
wig-Jahn-Sportpark, der sich gut als in-      Im Behinderten-Sportverband Berlin                                                     Gleichstellung im Sport, scheiterten aller-   Halle von seinen sitzenden Schützlingen
ternationale Wettkampfstätte eignet und       sind derzeit rund 208 Vereine mit 28 000                                               dings viele Vereine bei der Beantragung       schwärmt, ist zu spüren, was das inklu-
der Peter-Panter-Park in Pankow, Ber-         Mitgliedern organisiert. Die Mehrzahl                                                  der Senatsfördergelder am bürokrati-          sive Training so alles bewegt, von Mensch
lins erster kleiner, inklusiver Sportpark,    seien ältere Menschen im Rehasport,                                                    schen Aufwand. Zudem sei zu bedenken,         zu Mensch.                    Annette Kögel

Das Beste, was Berlin zu bieten hat
Mitten in Berlin, zwischen Parks, Floh-       und das Beste daran ist, dass es barriere-                                             Zuschauer sind barrierefrei. Auch der Zu-     höchstwahrscheinlich „keine Rekorde rol-
märkten und Hipster-Bars, liegt der           freie Sportmöglichkeiten bietet“, sagt                                                 gang zum anliegenden Funktionsge-             len werden“.
Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark. Hier         Aleksander Dzembritzki, Berliner Staats-                                               bäude ist es nicht. Außerdem ist der          Darauf, dass sich Sportler häufig über
findet die Para-EM statt – trotz geplan-      sekretär für Sport. Viele Athleten hatten                                              Sportpark alt, und das merkt man. Etwa        starken Wind im Stadion beschweren,
ter Sanierungsarbeiten ab 2021.               schon im Rahmen des Grand Prix die Mög-                                                bei der Bahn für die Rennrollstuhlfahrer,     kontert er: „Die freuen sich, wenn der
Die ideale inklusive Stätte ist der Sport-    lichkeit, die Anlage kennenzulernen. Die                                               sagt Brose und vermutet, dass hier            Wind in den Rücken weht.“ Miriam Karout
park nicht. Die Entscheidung, die Spiele      achtzügige Laufbahn etwa ist groß ge-
hier dennoch stattfinden zu lassen, „war      nug, um für Läufer mit Sehbehinderung
ein Abwägen“ , sagt Klaas Brose, Organi-      und deren Guides genug Platz zu bieten.
sationsleiter und Geschäftsführer des Be-     Die notwendigen Sanierungsarbeiten
hinderten- und Rehabilitations-Sportver-      wurden bisher mit temporären Maßnah-
bands Berlin. Der Park sei vor allem we-      men für die Para-EM überbrückt. „Wir ha-
                                                                                                                                                                                                          Platz für alle.
gen seines barrierefreien Zugangs ausge-      ben in Vorbereitung die Laufbahn des
                                                                                                                                                                                                          Der Sportpark
wählt worden. Mit der zentralen Lage          Kleinen Stadions vollständig saniert",                                                                                                                      wurde für die
und einer Kapazität von zirka 20 000 Plät-    sagt Dzembritski. Außerdem wird es ei-                                                                                                                      Para-EM zumindest
zen hofft man zudem auf viele Zu-             nen Aufzug geben, der die rund 1000                                                                                                                         in Teilen inklusiv
schauer. Man wolle den Sport „ja auch in      Sportler und Trainer auf den Oberrang be-                                                                                                                   umgebaut.
die Gesellschaft bringen“.                    fördern kann. Barrierefreie Plätze und Sa-                                                                                                                  Barrierefreie
                                                                                                                                                                                                          Plätze und
„Der Sportpark verfügt über zwei Stadien      nitäranlagen wurden für Zuschauer und
                                                                                                                                                                                                          Sanitäranlagen
                                                                                                               Foto: Thilo Rückeis

mit Leichtathletikanlagen. Damit befin-       Berichterstatter ebenfalls gebaut.                                                                                                                          wurden für
den sich Trainings-, Aufwärm- und Wett-       Hindernisse, die es zu überwinden gilt,                                                                                                                     Zuschauer
kampfbereiche in unmittelbarer Nähe           gibt es dennoch. Nicht alle Plätze für die                                                                                                                  geschaffen.
Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold
Tagesspiegel PARALYMPICS ZEITUNG | 9

Herr Dusel, Sie sind beinahe zu 100 Prozent sehbehin-
dert. Wie verfolgen Sie eigentlich Sportevents?
Sie kennen das vielleicht, wenn Sie mal Fußball im Radio
gehört haben, man muss das gar nicht unbedingt sehen.
Ich brauche manchmal eine Erklärung oder besser noch
eine Audiodeskription. Bei der zurückliegenden WM
konnte ich aber auch so ganz gut mitleiden (lacht).

Interessieren Sie sich auch für Behindertensport?
Na klar, ich finde das großartig. Menschen mit Behinde-
rungen können da zeigen, was in ihnen steckt. Viele nicht
behinderte Menschen schauen ja oftmals darauf, was
Menschen mit Behinderungen nicht können. Und wenn
man sich dann mal anschaut, was die beim Sommersport
oder im Winter so leisten, ist das sehr beeindruckend.

Trägt ein Para-Sportevent denn zur Inklusion bei?
Erinnern Sie sich noch an die Paralympics und auch die
Para-Leichtathletik-WM in London? Was das für ein Hype
war um die Sportler! In Deutschland halte ich es aber im-
mer noch für notwendig, für das Thema Inklusion zu wer-
ben. Wir sind da noch lange nicht am Ziel.

Wo sehen Sie Probleme?
Wir haben uns beim Thema Inklusion bisher sehr stark fo-
kussiert auf Schule. Dabei ist Inklusion weit mehr als nur
das gemeinsame Lernen. Schaut man sich beispiels-
weise die Statistik an, fällt auf, dass nur drei Prozent der
Menschen mit Behinderungen bereits mit der Behinde-
rung geboren wurden. Die allermeisten erwerben ihre Be-
hinderung lange nachdem sie zur Schule gegangen sind.
Die interessiert dann eher: Wie komme ich zu meiner Ar-
beit, wie behalte ich meinen Job, ist meine Arztpraxis bar-
rierefrei zugänglich? Wir müssen das Thema Inklusion in
                                                                   Foto: Thilo Rückeis

Zukunft wesentlich breiter diskutieren.

Seit Mai dieses Jahres sind Sie der neue Beauftragte
der Bundesregierung für die Belange von Menschen                                         Jürgen Dusel, 53, spielt nach Feierabend leidenschaftlich gern Klavier. Für ihn war die Musik der Weg zur Inklusion.
mit Behinderungen. Wofür stehen Sie?

                                                                         „Wir sind noch
Eines meiner Grundprinzipien ist, dass Politik für Men-
schen mit Behinderung erst einmal Politik für Menschen
ist. Bisher war das Thema immer stark im sozialen Be-
reich verortet. Mein Ansatz ist, zu vermitteln, dass Politik
für Menschen mit Behinderung eine Querschnittaufgabe

                                                                         lange nicht am Ziel“
für die gesamte Regierung ist. Es muss Aufgabe eines je-
den Ressorts sein, die Belange von Menschen mit Behin-
derungen ausreichend zu berücksichtigen.

Können Sie da ein Beispiel nennen?
Wenn wir über Gewaltschutzprojekte für Frauen reden,
dann muss den politisch Verantwortlichen bewusst sein,
dass Frauen mit Behinderungen etwa dreimal so häufig
von sexualisierter Gewalt betroffen sind wie Frauen ohne
                                                               Jürgen Dusel ist der neue                                                           auch beim Studium habe ich erlebt, dass etwa die Univer-
                                                                                                                                                   sität Heidelberg nicht auf sehbehinderte Studierende vor-
Behinderungen. Es gibt noch viele andere wichtige Bei-         Behindertenbeauftragte                                                              bereitet war. Das sieht heute zwar häufig besser aus. Wir
spiele aus anderen Bereichen.                                                                                                                      müssen trotzdem die Rahmenbedingungen für behin-
                                                               der Bundesregierung.                                                                derte Auszubildende und Studierende weiter verbessern.
Was sind die ersten Ziele für Ihre Amtszeit?
Ich setze mich dafür ein, dass mehr Jugendliche mit Be-
                                                               Der Jurist über die Probleme                                                        Vielen Menschen mit Behinderung bietet sich nach der
hinderungen einen betrieblichen Ausbildungsplatz be-           bei der Inklusion,                                                                  Förderschule nur der Weg in die Werkstätten.
kommen. Arbeit zu haben, ist ein Schlüssel zur gesell-                                                                                             Ich glaube, wenn die Menschen erst in den Werkstätten
schaftlichen Teilhabe. Darüber hinaus wünsche ich mir,         die Ängste von Arbeitgebern,                                                        sind, ist es schwer, da wieder herauszukommen. Ange-
dass wir auch im sozialen Wohnungsbau grundsätzlich                                                                                                bote der Berufsberatung nach der Schule sollten deswe-
barrierefrei bauen. Das ist notwendig und sinnvoll. Auch
                                                               einen Behinderten einzustellen,                                                     gen auch auf die speziellen Bedarfe von Jugendlichen mit
der digitale Wandel muss barrierefrei gedacht werden.          und Fußballhören vorm Radio                                                         Behinderungen ausgelegt sein. Mein Ziel ist es, dass mög-
Meine aktuelle Herzensangelegenheit ist das inklusive                                                                                              lichst viele eine realistische Chance auf dem ersten Ar-
Wahlrecht. Derzeit sind rund 85000 Menschen mit Behin-                                                                                             beitsmarkt haben, wenn sie dies wollen.
derungen pauschal vom Wahlrecht ausgeschlossen sind.
                                                                                                                                                   Wird es Arbeitgebern schwergemacht, Menschen mit
Kritiker des inklusiven Wahlrechts warnen vor dem                                                                                                  Behinderung zu beschäftigen oder sind das Ausreden?
Missbrauch durch einen Betreuer und dass Menschen              fig marginalisiert werden. Menschen mit Behinderung ha-                             Es gibt den Spruch: Wer Inklusion will, findet Wege – wer
mit Behinderung die Folge ihrer Wahl nicht einschät-           ben aber nun mal eine Behinderung – und verlieren die                               keine will, findet Begründungen. Ich glaube, dass wir so
zen könnten. Was entgegnen Sie denen?                          auch nicht einfach so. So sehr ich mich deswegen auch                               große Schwierigkeiten haben, Arbeitgeber davon zu über-
Das sind zum Teil die gleichen falschen Argumente, die         für Inklusion einsetze, so sehr weiß ich auch, dass wir                             zeugen, schwerbehinderten Menschen einen Job zu ge-
man vor Einführung des Frauenwahlrechts gehört hat!            achtsam sein müssen mit den unterschiedlichen Bedürf-                               ben, weil die es sich gar nicht vorstellen können, wie je-
Sie folgen einem Menschenbild, das nicht der Realität ent-     nissen. Wenn man selbst mit einer Behinderung lebt,                                 mand – beispielsweise mit einer starken Sehbehinde-
spricht. Wir sollten aufgrund unserer Geschichte in            dann lernt man das ganz automatisch.                                                rung – arbeitet und lebt. Wir wissen noch zu wenig vonei-
Deutschland besonders darauf achten, dass bestimmten                                                                                               nander. Deshalb ist das gemeinsame Lernen gerade für
Bevölkerungsgruppen nicht pauschal ein fundamentales           Ihre Karriere scheint von Ihrer Behinderung kaum be-                                nicht behinderte Menschen so wichtig. Wenn Stadtplaner
demokratisches Grundrecht verwehrt wird.                       einflusst worden zu sein. Warum ist aber generell der                               einen Mitschüler im Rollstuhl in ihrer Klasse gehabt hät-
                                                               Einstieg in den Arbeitsmarkt für Menschen mit Behin-                                ten, wären mit Sicherheit weniger öffentliche Plätze mit
Haben Sie durch Ihre Behinderung Vorteile für Ihr Amt?         derung so schwierig?                                                                Kopfstein gepflastert.
Ich weiß aus meiner eigenen Situation, dass bei Debatten       Natürlich hat meine Behinderung meinen Berufsweg be-
um Inklusion behinderungsbedingte Problemlagen häu-            einflusst. Bestimmte Berufe standen mir nicht offen und                                        Interview: Benjamin Apitius und Ronja Ringelstein
Paralympics Zeitung - HOCH HINAUS Mathias Mester wirft den Speer Richtung Gold
10 | Tagesspiegel PARALYMPICS ZEITUNG

W                                                           Läuft
              enn Irmgard Bensusan los-                                                                                                                                        tät in Johannesburg wieder auf. Wenig
              rennt, sieht man kaum, dass                                                                                                                                      später versuchte sie sich in Kapstadt für
              sie im rechten Fuß kein Ge-                                                                                                                                      den Behindertensport zu klassifizieren,
              fühl mehr hat. Die Orthese,                                                                                                                                      mit einem ernüchternden Ergebnis: Man

                                                            bei ihr
eine Carbon-Schiene, die den rechten                                                                                                                                           sagte ihr, sie habe keine Behinderung.
Fuß der muskulösen, großen Frau fixiert,                                                                                                                                       Bensusan lies sich davon nicht entmuti-
fällt fast nicht auf. Krafttraining, Starts,                                                                                                                                   gen. Ihre Mutter ist Deutsche und stellte
Schnelligkeitsübungen – zehn Trainings-                                                                                                                                        den Kontakt zum Verein Bayer Leverku-
einheiten à zwei Stunden absolviert sie                                                                                                                                        sen her und Bensusan ging nach Deutsch-
jede Woche bei ihrem Verein Bayer Lever-                                                                                                                                       land. 2014 wurde sie in Berlin für die
kusen. Die 27 Jahre alte Sprinterin star-
tet über 100, 200 und 400 Meter.
                                                                                      Sie sagten ihr, sie habe keine Behinderung –                                             Startklasse T44 klassifiziert. In dieser
                                                                                                                                                                               Klasse starteten Athleten mit amputier-
Bei den Paralympics in Rio 2016 holte                                                 doch Irmgard Bensusan gab nicht auf.                                                     ten Unterschenkeln oder, wie Bensusan,
Irmgard Bensusan zweimal Silber, die-                                                                                                                                          mit einem „Drop foot“. „Dass ich in Süd-
ses Jahr will sie ihre Leistung noch stei-                                            Bei der Para-EM rennt die Athletin nun um Gold                                           afrika nicht klassifiziert wurde, ist das
gern. „Jetzt fehlt nur noch eine Me-                                                                                                                                           Beste, was mir passieren konnte“, sagt
daille“, sagt sie. Anfang Juli aber ver-                                                                                                                                       sie. In Deutschland seien die Möglichkei-
letzte sich die Sportlerin beim Training                                                                                                                                       ten und die Ausrüstung viel besser. Und
an den Außenbändern ihres rechten Fu-                                                                                                                                          sie wollte die Sprache lernen. In Johan-
ßes und musste beinahe zwei Wochen                                                                                                                                             nesburg schloss sie ihr Studium in Rech-
lang pausieren. An ihren Zielen für die                                                                                                                                        nungswesen ab, seit Anfang des Jahres
Para-EM änderte das nichts: Bei der läuft                                                                                                                                      arbeitet sie bei der Wirtschaftsprüfungs-
sie um Gold.                                                                                                                                                                   gesellschaft KPMG in Düsseldorf.
Schon seit ihrer Kindheit machte Bensu-
san Profisport, 2009 trat sie bei den süd-
afrikanischen Meisterschaften an. Bei ei-
                                                                                                                                                                               Dass sie in Südafrika
nem Sprung über eine Hürde stürzte sie                                                                                                                                         nicht klassifiziert
und durchtrennte so Nervenbahnen im
rechten Fuß. Sie dachte erst, es sei nicht                                                                                                                                     wurde, war ihr Glück
so schlimm. Lange Zeit lies man sie im
Ungewissen, wie lange die Heilung dau-                                                                                                                                         Bensusan erzählt, sie habe auch schon
ern würde, wann sie wieder Sport ma-                                                                                                                                           von anderen Fällen gehört, bei denen
chen könne: Nach einem halben Jahr war                                                                                                                                         Südafrikaner Probleme mit der Klassifi-
klar, dass sie nie mehr laufen können                                                                                                                                          zierung hatten. Allerdings gibt sie zu be-
würde wie davor. Sie kann den rechten                                                                                                                         Zielgerade.      denken, dass ihre Behinderung in ein
Fuß nicht mehr ansteuern.                                                                                                                                Die Behinderung       „graues Feld" falle. „Ich habe zwar ein
                                                                                                                                                             von Irmgard
Bensusan brauchte Zeit, um über den                                                                                                                                            Bein, aber das funktioniert nicht.“ Ihr ehe-
                                                                                                                                                                Bensusan
Schock hinwegzukommen. Aber auch,                                                                                                                          fällt äußerlich     maliger Trainer, Karl-Heinz Düe, sieht
um zu begreifen, dass sie das Laufen zu                                                                                                                         kaum auf.      noch andere Probleme: Sportler mit am-
sehr liebte, um einfach aufzuhören und                                                                                                                                         putierten Beinen starten mit einer tech-
so nahm sie das Training an der Universi-                                                                                                                                      nisch hochwertigen Feder. „Dagegen hat
                                                                                                                                                                               Irmgard keine Chance“, sagt er. Das Lus-
                                                                                                                                                                               tige sei aber, sagt Jörg Frischmann, Lei-
WETTKAMPFKLASSEN                                                                                                                                                               ter des Behindertensport-Stützpunktes
Es gibt beim paralympischen                                                                                                                                                    bei Bayer Leverkusen, dass Athleten mit
Klassifizierungssystem drei Arten                                                                                                                                              amputierten Unterschenkel Bensusans
von Behinderungen: körperliche,                                                                                                                                                Start in der Klasse als unfair wahrgenom-
geistige und Sehbehinderung.                                                                                                                                                   men hätten. Ihre Behinderung falle zwar
Da die benötigten Fähigkeiten je                                                                                                                                               optisch weniger auf, funktionell sei sie
nach Sportart variieren, hängt die                                                                                                                                             deutlich eingeschränkter.
Klassifizierung von der Sportart ab.                                                                                                                                           Seit diesem Jahr starten deshalb Athle-
In der Leichtathletik spielen Klas-                                                                                                                                            ten mit einem amputierten Unterschen-
sen mit T („Track“ – Disziplinen, in                                                                                                                                           kel separat in der Klasse T46. Klassen
denen Beinfunktion wichtig ist) und                                                                                                                                            werden immer wieder neu angepasst,
F („Field“ – Disziplinen, in denen                                                                                                                                             weil Behinderungen und die damit ver-
Armfunktion wichtig ist) eine Rolle.                                                                                                                                           bundene Leistungsfähigkeit oft falsch ein-
                                               Foto: dpa Picture-Alliance/Paul Hard

Generell gilt: Je höher die Zahl hin-                                                                                                                                          geschätzt werden. „Die Klassen sollen an-
ter dem „T“ oder „F“, desto gerin-                                                                                                                                             nähernde Gerechtigkeit schaffen, eine ab-
ger ist der Grad der Behinderung.                                                                                                                                              solute Gleichstellung wird es aber nie ge-
Mindestens alle zwei Jahre werden                                                                                                                                              ben“, sagt Frischmann. Denn jede Behin-
die Sportler neu bewertet.                                                                                                                                                     derung ist individuell.          Lisa Kuner

Auf die Länge kommt es an
Prothesen ermöglichen vielen Athleten                                                 kostet zwischen 10 000 und 12 000 Euro.     fach jemand anderem unterschrauben“,         wendet werden, die auf dem freien Markt
die Teilnahme am Leistungssport. Wich-                                                Sportler aus reichen Ländern oder mit       sagt Napp.                                   erhältlich sind. Vor jedem Wettkampf
tiger als die Technik aber ist das Zusam-                                             sportlicher Förderung sind im Vorteil.      Immer wieder gab es Vorwürfe, Athleten       werden sie kontrolliert.
menspiel mit dem Athleten.                                                            Sportprothesen funktionieren im Grund-      würden sich durch illegale Prothesen Vor-    Seit Januar gibt es eine neue Regel für
In vielen Sportarten sind technische Hilfs-                                           prinzip noch immer wie zu Beginn ihrer      teile verschaffen – durch „Techno-Do-        Athleten mit Doppelamputation: Ihre Pro-
mittel verboten. Im Behindertensport                                                  Entwicklung. „Johannes Floors läuft auf                                                  thesen dürfen eine bestimmte Länge
sind sie erwünscht. Ohne Prothesen                                                    einer Prothese aus den 90er Jahren“,                                                     nicht überschreiten. Alle bisherigen Welt-
könnten viele Athleten gar nicht antre-                                               sagt sein Teamkollege Heinrich Popow.
                                                                                                                                  Seit diesem Jahr gibt                        rekorde wurden annulliert. Zuvor waren
ten, gerade in der Leichtathletik. Genau                                              Bei den Alltagsprothesen sind die techni-   es neue Regularien                           die Athleten mit zwei längeren Prothesen
hier liegt ein Problem: Viele Athleten kön-                                           schen Fortschritte viel größer. „Das Ent-                                                klar im Vorteil. Mit der Regeländerung
nen sie sich nicht leisten. „Prothesen wer-                                           wicklungspotenzial liegt deshalb mehr in    für Bein-Prothesen                           will das Paralympische Kommitee Unge-
den von erwachsenen Sportlern privat ge-                                              der Optimierung des Zusammenspiels                                                       rechtigkeiten gegenüber jenen mit nur ei-
zahlt. Für Einsteiger ist das ein großes                                              mit der Prothese“, sagt Napp. Die Athle-    ping“. Doch es gibt klare Regeln: Prothe-    ner Prothese vermeiden. Heinrich Popow
Hindernis“, sagt Julian Napp, Cheftechni-                                             ten arbeiten eng mit ihren Technikern zu-   sen müssen rein mechanisch sein, ein         bringt das Problem auf den Punkt:
ker beim Prothesenhersteller Otto Bock.                                               sammen. „Man könnte die Prothese von        elektrisches Kniegelenk etwa ist nicht er-   „Wenn ich meine Prothese künstlich ver-
Eine komplette Prothese mit Kniegelenk                                                Heinrich Popow zum Beispiel nicht ein-      laubt. Und es dürfen nur Passteile ver-      längere, laufe ich im Kreis.“ Julian Hilgers
Tagesspiegel PARALYMPICS ZEITUNG | 11

                                                                                          Ein
                                                                                          großer
                                                                                          Spaß
                                                                                          Niko Kappel und Mathias Mester
                                                                                          sind kleinwüchsig und haben
                                                                                          damit so gar kein Problem.                                   Da steig ich lieber nicht ein... oder???
                                                                                          Den Fans bei Instagram gefällt’s                             Das kann nur ein Trick sein

                                                                                          Niko Kappel: Ich habe den Mathias das erste Mal – und
                                                                                          eigentlich auch rein zufällig – bei den Paralympischen
                                                                                          Spielen 2008 im Fernsehen gesehen. Mathias ist ja
Regeneration ist wichtig                                                                  neun Jahre älter als ich. Ich bin erst 23. Und er schon
so müsste es doppelt so schnell gehen                                                     über 30. Aber das nur so für’s Protokoll (lacht).
                                                                                          Mathias Mester (im Bild oben rechts): Danke.
                                                                                          NK: Bitte (lacht). Für mich war das damals auf jeden Fall
                                                                                          der Startschuss, dass auch zu probieren. Ich hatte bis da-
                                                                                          hin nur Fußball gespielt – und dann zu sehen, dass man
                                                                                          sich mit seinesgleichen auch auf internationaler Ebene
                                                                                          sportlich messen kann, hat mich als 13-, 14-Jähriger
                                                                                          schon sehr beeindruckt. Mathias hat damals die Silber-
                                                                                          medaille im Speerwurf gewonnen und war seitdem ein
                                                                                          Vorbild für mich. Das wollte ich auch schaffen, und ich
                                                                                          habe dann angefangen mit Kugelstoßen. Irgendwann
                                                                                          sind wir uns dann mal über den Weg gelaufen und haben
                                                                                          uns regelmäßig bei Wettkämpfen getroffen. Der Humor
                                                                                          war da gleich eine Brücke für uns.
                                                                                          MM: Wir können beide sehr gut übereinander lachen.           Wartebereich für die Halben in der Physio
                                                                                          Das ist mir persönlich auch sehr wichtig. Als irgend-
                                                                                          wann die Sozialen Medien aufkamen, war das für mich
                                                                                          dann auch der perfekte Weg, diesen positiven Umgang
                                                                                          mit mir selbst mit ganz vielen anderen Menschen zu
                                                                                          teilen. Mit den Bildern auf Instagram lebe ich Inklusion,
                                                                                          da fallen Barrieren.
                                                                                          NK: Jeder Mensch hat ja Vor- und Nachteile. Der eine
                                                                                          trägt eine Bille, der andere trägt keine Brille, der eine
                                                                                          ist ein bisschen kleiner, der andere größer, der eine di-
                                                                                          cker, der andere dünner, und so weiter. Jeder wird ja
                                                                                          mal mit so einer Situation konfrontiert, dass jemand
                                                                                          über einen lacht. So ist das bei uns eben mit der Körper-
Safety First                                                                              größe. Wir wollen mit unserer Haltung vermitteln und
                                                                                          die Menschen dazu bewegen, dass sie zu sich selbst
                                                                                                                                                       Auch ich verabschiede mich in den wohlver-
                                                                                          stehen. Wir wollen da Mut machen. Jeder sollte austei-
                                                                                          len dürfen. Und jeder muss auch einstecken können.           dienten Urlaub     ...die Flüge werden aber
                                                                                          MM: Wenn man mich beispielsweise zum ersten Mal
                                                                                                                                                       auch immer preiswerter
                                                                                          sieht, dann fällt sofort auf, dass ich eine Behinderung
                                                                                          habe, und die Leute fragen sich dann, wie sie mich wohl
                                                                                          behandeln sollen. Wenn ich dann gleich einen flotten
                                                                                          Spruch bringe, dann macht das die Sache für den Ge-
                                                                                          genüber schon wesentlich leichter. Ich finde es einfach
                                                                                          wichtig, mit Spaß durchs Leben zu gehen.
                                                                                          NK: Wir brauchen ja auch keine Sonderbehandlung, je-
                                                                                          der Mensch ist eben anders – und das ist auch okay so,
                                                                                          dass versuchen wir in die Köpfe zu kriegen. Vor allem
                                                                                          auch in die Köpfe derjenigen, die von der Inklusion be-
                                                                                          troffen sind. Auch die müssen einen Schritt machen.
                                                                                          Nur weil ich kleiner bin, kann ich ja nicht verlangen,
                                                                                          dass jetzt alles für mich gemacht wird, wenn ich bloß
                                                                                          schreie. Auch das wollen wir damit zeigen.
                                        Fotos: Instagram (@mathiasmester, @niko.kappel)

                                                                                          MM: Wir machen das zwar in erster Linie für uns. Aber
                                                                                          wenn man dann so ein Feedback bekommt wie „Ich bin
                                                                                          schwanger und bekomme ein kleinwüchsiges Kind, ich
                                                                                          wusste gar nicht wie es weitergehen soll, aber jetzt habe
                                                                                          ich deine Bilder gesehen und gemerkt: Du kannst ja alles
                                                                                          machen!", dann hat man sowieso alles richtig gemacht.
                                                                                          Wir können mit unseren Posts zeigen, was aus einem
                                                                                          werden kann. Dass man den Mut nie verlieren sollte und
Ich „steh“ einfach auf Nutella                                                            Spaß hat im Leben. Aufgezeichnet von Benjamin Apitius        Ich habe es kommen sehen
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