MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI DER UMSETZUNG DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN - Diskussionspapier
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MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI DER UMSETZUNG DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN Diskussionspapier Katrin Grüber GEFÖRDERT VON
PROJEKTBEIRAT Das Projekt wurde begleitet von Dr. Benjamin Bell (leben lernen gGmbH am EDKE1), Geschäftsführung Peggy Glaschke (Hollerhaus), Qualitätsmanagementbeauftragte, Ingolstadt Impressum Martin Hackl (ISL), Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) Inklusionsbotschafter, Bad Kissingen Selbstverlag IMEW, Warschauer Straße 58a, 10243 Berlin Autorin: Katrin Grüber Martin Hahn (Stiftung Haus Linden- Redaktion: Yvonne Dörschel und Stephanie Czedik Korrektorat: Katrin Schlechtriemen hof), Verbundleiter Wohnverbund Südwest, Schwäbisch-Gmünd Bildnachweise: Titelbild: leben lernen gGmbH am EDKE/Mara von Kummer Seite 8 links: privat; oben: Diakonie Berlin-Brandenburg/ Matthias Kempf (Universität Siegen), Nils Bornemann, unten: Udo Leist für die Evangelische wissenschaftlicher Mitarbeiter Stiftung Hephata Konrad Lampart (Software AG – Layout, barrierefreie Gestaltung, Umsetzung: Stiftung), Projektleiter Behinderten- verbum GmbH, Berlin hilfe und Altenhilfe, Darmstadt © 2021 Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft gGmbH Alle Rechte vorbehalten Ulrike Meier (benannt von der ISBN 978-3-9821922-3-9 Stiftung Lauenstein) Stand: 18. Mai 2021 Friedhelm Peiffer (Aktion Mensch Stiftung), Leiter, Bonn Barbara Vieweg, ISL 1 Evangelisches Diakoniewerk Königin Elisabeth.
Inhalt 5 Einleitung 6 Grundlagen des Projektes 7 Vorgehen 8 Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipation von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf 9 Unterstützte Kommunikation einsetzen 10 Selbstbestimmung und Empowerment fördern 11 Teilhabe realisieren 12 Normalisierung – Bürger_innen unter Mitbürger_innen und anerkannter Teil der Gesellschaft sein 13 Partizipation gewährleisten 15 Die Perspektive von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf bei der Interpretation des BTHG berücksichtigen 15 § 4 SGB IX – Leistungen zur Teilhabe 16 § 76 SGB IX – Leistungen zur Sozialen Teilhabe und § 78 SGB IX Assistenzleistungen 16 Verhältnis Eingliederungshilfe und Pflege – § 91 SGB IX Nachrang der Eingliederungshilfe und § 103 SGB IX Sonderregelung für pflegebedürftige Menschen mit Behinderung 17 § 117 SGB IX Gesamtplanverfahren 18 § 118 SGB IX – Instrumente der Bedarfsermittlung 18 § 123 SGB IX – Allgemeine Grundsätze 19 § 124 SGB IX – Geeignete Leistungserbringer 19 § 125 SGB IX – Inhalt der schriftlichen Vereinbarung 19 § 128 SGB IX – Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung 3
20 Die Perspektiven von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf bei der Anwendung des BTHG berücksichtigen 21 Gesamtplanverfahren 22 Bedarfsermittlungsinstrumente 22 Leistungsvereinbarungen 23 Weitere Empfehlungen 23 Verbreitung der Unterstützten Kommunikation 23 Weiterentwicklung der Tagesförderstätten zu Einrichtungen von Bildung und Arbeit 23 Innovative Angebote entwickeln 25 Zusammenfassung 4 INHALT
EINLEITUNG Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN- im Zuge der Umsetzung des BTHG stärker BRK) macht deutlich, dass alle Menschen als bisher die Perspektive von Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht auf mit hohem Unterstützungsbedarf berück- „volle, wirksame und gleichberechtigte Teil- sichtigt werden kann. Es richtet sich des- habe an der Gesellschaft“ haben. Sie gilt halb in erster Linie an Leistungsträger und also unabhängig vom Grad der Beeinträch- Landesministerien sowie an bundesweite tigung und damit auch für Menschen mit Organisationen von und für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Damit sind Behinderung bzw. ihre Landesverbände. Menschen gemeint, die erhebliche kogniti- Gleichzeitig ist diese Veröffentlichung aber ve und zusätzliche andere Einschränkungen auch für Menschen mit Behinderung, für haben, insbesondere in Bezug auf die Kom- Mitarbeitende von Organisationen, Ange- munikation, das emotionale Erleben und das hörige und Förderorganisationen relevant, Verhalten. Einige von ihnen haben außer- weil sie im Gespräch mit Leistungsträgern dem einen hohen pflegerischen Unterstüt- passende Argumente verwenden können. zungsbedarf. Es sei darauf hingewiesen, dass die Veröf- Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll fentlichung die rechtlichen Regelungen nur die Eingliederungshilfe zu einem modernen schlaglichtartig vorstellt und kein Rechts- Teilhaberecht weiterentwickelt werden. Es gutachten ist. Wer vertiefte Informationen soll „Menschen mit Behinderungen eine zur Situation in den Bundesländern sucht, möglichst volle und wirksame Teilhabe in sei auf das Projekt „Umsetzungsbegleitung allen Bereichen für eine selbstbestimm- BTHG“1 verwiesen. te Lebensführung […] ermöglichen“ (Um- setzungsbegleitung BTHG o. J.). Neben der Eine Verbindung zwischen dem BTHG und Ausrichtung an der UN-BRK war ein weite- der Perspektive von Menschen mit hohem res Ziel des BTHG, die „Ausgabendynamik“ Unterstützungsbedarf herzustellen, ist an- zu begrenzen (BT-Drs. 18/9522), so dass zwei spruchsvoll. Die Thematik ist aus verschie- gegensätzliche Ziele das Gesetzgebungsver- denen Gründen sehr komplex: fahren geprägt haben (Rosenow: in F/R/R vor § 90, Rn 5). • Die Umsetzung erfolgt nicht bundes- einheitlich, sondern obliegt den Das vorliegende Diskussionspapier ist ein Bundesländern. Diese haben beispiels- Ergebnis des Projektes „Selbstbestimmung, weise die Träger der Eingliederungs- Teilhabe und Partizipation im Alltag von hilfe (§ 94 Abs. 1 SGB IX) und Menschen mit hohem Unterstützungsbe- die Bedarfsermittlungsinstrumente darf“. Es will Anregungen dafür geben, wie (§ 118 Abs. 1 SGB IX) bestimmt. 1 https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/ EINLEITUNG 5
• Gleichwohl gibt es Bestrebungen Grundlagen des Projektes zur Vereinheitlichung, etwa durch Handreichungen durch die Diese Veröffentlichung geht von folgenden Bundesarbeitsgemeinschaft der Prämissen aus: überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGÜS). • Die in der UN-BRK niedergelegten • Es sind viele Akteur_innen auf Rechte auf gleichberechtigte Teilhabe unterschiedlichen Ebenen beteiligt. gelten für alle Menschen mit • Der Prozess ist dynamisch und Behinderung – unabhängig von ihrem verläuft an unterschiedlichen Orten Unterstützungsbedarf. in unterschiedlichem Tempo. So • Alle Menschen haben jenseits der unterscheiden sich beispielsweise Befriedigung von Grundbedürfnissen die Übergangsfristen in den Bundes- vergleichbare Bedarfe: nach ländern für die konsequente Selbstwirksamkeit, Anerkennung, Umsetzung der Personenzentrierung2 sozialen Kontakten, nach Anregungen (vgl. Steinmüller 2021). und Freude. • Die für die Umsetzung entwickelten • Alle Menschen haben ein Instrumente (beispielsweise zur Entwicklungspotenzial. Bedarfsermittlung) sowie das Gesamt- • Es ist für Menschen mit hohem planverfahren befinden sich derzeit Unterstützungsbedarf wesentlich in der Erprobung. schwieriger als für andere, • Manche Instrumente (beispielsweise selbstbestimmt zu handeln und zur Abgrenzung von Eingliederungs- ihr Recht auf volle wirksame und hilfe und Pflege) werden derzeit gleichberechtigte Teilhabe und entwickelt. Partizipation auszuüben. • Menschen mit hohem Unterstützungs- • Die Gruppe zeichnet sich durch eine bedarf haben derzeit kaum große Heterogenität aus. Es gibt Partizipationsmöglichkeiten und nicht den Menschen mit hohem sind nicht sichtbar. Unterstützungsbedarf. • Es gibt nicht den Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Es handelt sich Die Heterogenität bedeutet konkret: Wäh- um eine sehr heterogene Gruppe. rend die einen aktiv an gemeinsamen Auf- gaben in einer Gruppe mitwirken können, sind andere anwesend und nehmen wahr. Während die einen lautsprachlich kommu- nizieren oder sich mit der Unterstützten Kommunikation (UK) verständigen können, sind andere darauf angewiesen, dass ihre engsten Bezugspersonen ihre Reaktionen 2 Personenzentrierung bedeutet, „dem Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern.“ (Umsetzungsbegleitung BTHG) 6 EINLEITUNG
wahrnehmen, interpretieren und daraus Auslöser für das Projekt „Selbstbestim- Wünsche und Bedürfnisse ableiten. Wäh- mung, Teilhabe und Partizipation im Alltag rend die einen aktiv Kontakt zur Umwelt von Menschen mit hohem Unterstützungs- aufnehmen, sind andere darauf angewie- bedarf“ war die Sorge, dass Menschen mit sen, dass diese (immer wieder) den ersten hohem Unterstützungsbedarf bei der An- Schritt tut. wendung des BTHG benachteiligt würden. Befürchtet wurden eine negative direkte Für einen Teil der Menschen mit hohem Auswirkung einzelner Regelungen des Ge- Unterstützungsbedarf ist ihre körperliche setzes oder indirekte Auswirkungen, die sich Verfasstheit von elementarer Bedeutung. aus der Interpretation des BTHG und den Dies können Schmerzen, Epilepsien oder le- sich widerstreitenden Zielen ergeben. Das bensbedrohliche Erkrankungen sein. Nicht Projekt wurde von der Software-AG – Stif- wenige von ihnen haben einen hohen pfle- tung, der Stiftung Lauenstein, der Aktion gerischen Unterstützungsbedarf. Außerdem Mensch sowie der Kämpgen-Stiftung geför- ergibt sich bei einem Teil der Menschen der dert. Allen Förderern sei an dieser Stelle sehr hohe Unterstützungsbedarf aus ihrem Ver- herzlich gedankt. Den vielen Mitarbeitenden halten, das von der Umgebung als heraus- der Organisationen, die wir besucht und die fordernd definiert bzw. wahrgenommen uns Interviews gegeben haben, sei herzlich wird. für ihre Zeit und ihre Offenheit gedankt. Die Mitglieder des Projektbeirats haben das Pro- Menschen mit hohem Unterstützungsbe- jekt an den entscheidenden Stellen – zu Be- darf wohnen in gemeinschaftlichen Wohn- ginn und bei der Erstellung dieser Veröffent- formen, bei ihren Familien und in Ausnah- lichung – durch ihre Expertise und wichtige mefällen in ambulanten Settings. Hinweise bereichert. Außerdem sei Roland Rosenow für Klarstellungen gedankt. Es gibt zahlreiche Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. Es ist für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf wesentlich Vorgehen schwieriger als für andere, selbstbestimmt zu handeln und ihr Recht auf volle, wirksame Während der gesamten Laufzeit des Projek- und gleichberechtigte Teilhabe und Partizi- tes fand eine intensive Auseinandersetzung pation auszuüben. Unterschiedliche Barrie- mit relevanter wissenschaftlicher Literatur, ren schränken ihre Möglichkeiten ein. Be- Studien und anderen Projekten statt. In die sonders entscheidend: Entweder wird ihnen Projekt-Veröffentlichungen fließen außer- zu wenig zugetraut oder eine Fähigkeit wird dem die Ergebnisse von empirischen Unter- selbstverständlich vorausgesetzt. Dies zei- suchungen ein, die in der Handreichung gen wissenschaftliche Veröffentlichungen, „Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizi- aber auch die Erfahrungen, die das Institut pation im Alltag von Menschen mit hohem Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) in Unterstützungsbedarf“ veröffentlicht wur- den letzten Jahren bei der Begleitung von den (zum Vorgehen s. Grüber 2021). Mit Ro- Organisationen der Eingliederungshilfe und land Rosenow, einem der Kommentatoren in Projekten gemacht hat. des SGB IX, wurden ein Interview und meh- rere vertiefende Gespräche geführt. EINLEITUNG 7
SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF Im Folgenden wird unter Berücksichtigung Ergebnisse des gleichnamigen Projektes des der oben genannten Prämissen konkret IMEW vorstellt. Es werden folgende Kriterien dargestellt, was Selbstbestimmung, Teil- kurz erläutert. habe und Partizipation für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf bedeuten • Unterstützte Kommunikation können. Grundlage ist die Veröffentlichung einsetzen „Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipa- • Selbstbestimmung und tion von Menschen im Alltag von Menschen Empowerment fördern mit hohem Unterstützungsbedarf“, die die • Teilhabe realisieren 8 SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
• Normalisierung – Bürger_innen o. J. a). Kommunikation gilt als „Schlüssel zu unter Mitbürger_innen und einem selbstbestimmten Leben“ (vgl. Lang anerkannter Teil der Gesellschaft sein und Reich 2019, S. 75 sowie Müller und Thäle • Partizipation gewährleisten 2019). Fehlende Kommunikation bzw. nicht adäquate Kommunikationsmöglichkeiten Es folgt jeweils eine kurze Einschätzung erschweren oder verunmöglichen es Men- der Situation. Beispiele aus dem Alltag von schen mit hohem Unterstützungsbedarf, Menschen mit hohem Unterstützungsbe- ihre Wünsche und Bedarfe mitzuteilen, in darf sollen ihre Sichtbarkeit erhöhen. Den einen sozialen Austausch zu treten und Beispielen liegen konkrete Erfahrungen zu- wichtige Informationen zu erhalten. grunde, die wir aus eigenen Beobachtungen, aus Berichten oder aus der Auswertung von Unterstützte Kommunikation (UK) ist der Filmen gewonnen haben. Sie wurden teil- Oberbegriff für lautsprachergänzende oder weise verfremdet und pseudonymisiert, um ersetzende Kommunikationsformen von Rückschlüsse auf Personen und Organisatio- Menschen, die nicht, kaum oder nicht in nen zu verhindern. jeder Situation über Lautsprache verfügen. Außerdem umfasst der Begriff pädagogi- sche und therapeutische Maßnahmen, um Unterstützte Kommunikation die kommunikativen Möglichkeiten dieser einsetzen Menschen zu erweitern. (Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation o. J.) Menschen kommunizieren auf unterschied- liche Weise: mit den Augen, über die Mimik, Bisher wendet nur ein Teil der Menschen, mit dem Mund und mit den Händen (Ge- die UK benötigen, diese auch an (Wahl 2018, sellschaft für unterstützte Kommunikation S. 392). Anja Meier, 27 Jahre, besucht eine Tagesförderstätte. Mit ihrem kleinen Zeh wählt sie über einen Taster Lieder aus dem Sprachcomputer aus. Ein Lied scheint es ihr besonders angetan zu haben. Sie wählt es immer wieder aus und scheint genau dies ihrer Umgebung mitteilen zu wollen. Nach einiger Zeit erfahren die Mitarbeitenden der Tagesförderstätte, dass dieses Lied beim letzten Besuch von Anja Meiers Schwester gespielt wurde. Sie teilen ihr mit, dass sie verstanden haben, dass es ihr um den Besuch ging – und nachdem Anja Meier ihr Kommunikationsziel erreicht hat, wendet sie sich anderen Musikstücken zu. Christian Müller, 70 Jahre, lebt seit vielen Jahren in einer Wohngruppe. Er spricht viel, allerdings keine Sprache, die von seiner Umwelt verstanden wird. Irgendwann kommen neue Mitarbeitende in die Gruppe. Sie probieren eine Kommunikation über Gebärden. Innerhalb von zwei Wochen hat Christian Müller bereits zwölf Alltagsgebärden erlernt, mit denen er seine Grundbedürfnisse gut verständlich machen kann. SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF 9
Selbstbestimmung „WIR REDEN GANZ VIEL VON und Empowerment fördern SELBSTBESTIMMUNG, ABER ICH GLAUBE NICHT, DASS ES ÜBERALL SCHON GANZ Selbstbestimmung als Gegenbegriff zur WEIT IST.“ (Interview) Fremdbestimmung ist das Recht und die Möglichkeit, zwischen akzeptablen Alter- nativen selbst zu entscheiden. Dies kann Einer der Gründe: Ihnen wird (zu) wenig Grundsatzfragen betreffen, wie die, wo ich zugetraut. Es wird nicht selbstverständlich leben will oder „kleine Entscheidungen“ wie angenommen, sie hätten ein Entwicklungs- „Was tue ich heute Abend? […] Was esse ich potenzial, sie hätten Stärken und Ressour- zu Mittag?“ (vgl. Rosenow 2017). Für Men- cen (vgl. Theunissen 2019). Ihnen fehlt der schen mit hohem Unterstützungsbedarf soziale Austausch, der für die Entwicklung kann Selbstbestimmung auch bedeuten, und für Lernprozesse wichtig ist, und sie ha- selbst über den Zeitpunkt des Trinkens zu ben über den Tag verteilt unendlich lange entscheiden oder selbst zu steuern, ob sie Wartezeiten (Lamers und Molnàr 2018, S. 24). sitzen oder liegen möchten (Delgado 2018), Weil sie unterfordert sind und zu wenige oder Musik und Fernsehprogramme auszu- Möglichkeiten haben, Neues auszuprobie- wählen. ren, bleiben sie häufig hinter ihren Möglich- keiten zurück. Sie können als Persönlichkeit Die Möglichkeiten für Menschen mit hohem oder in ihren Fähigkeiten nicht wachsen. Unterstützungsbedarf, selbstbestimmt zu handeln, sind derzeit noch sehr einge- Empowerment bedeutet so viel wie Befä- schränkt. Stellvertretend für Beobachtungen higung oder Ermächtigung und ist als eine steht das folgende Zitat: Aktivierung innerer Ressourcen aufgrund unterstützender äußerer Bedingungen zu verstehen. Beno Schmidt, 42 Jahre, lebt in einer betreuten Wohngruppe. Er spricht nicht, sondern äußert sich non-verbal, oft basal. Er gestikuliert und lautiert – nicht immer ist für Kommunikations- partner_innen ein Zusammenhang verstehbar. In seinem Alltag äußert Beno Schmidt konkrete Wünsche, zum Beispiel, wenn es darum geht, was er essen möchte und was nicht. Der Assistent zeigt, welcher Aufschnitt im Kühlschrank ist. Beno Schmidt wählt aus, indem er die Packung greift, sie öffnet. Er mag Musik, eine CD besonders. Er ist nicht gern allein. Das wurde deutlich, als er über ein paar Wochen nicht in die Werkstatt konnte. Schokopudding liebt er. Und er liebt es, wenn sich Kreisel drehen. Davon hat er einige, mit denen er sich regelmäßig beschäftigt. 10 SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
Ursula Mönch, 35 Jahre, verbringt viel Zeit im Garten einer Einrichtung. Die anderen wissen: In geschlossenen Räumen fühlt sie sich nicht wohl. Am Anfang haben sie ihr ein Bett hingestellt. Das mochte sie nicht. Dann haben sie ihr einen Stuhl angeboten und räumen auf: Es liegen keine Zigarettenkippen mehr herum und keine Kanister. So ist es besser. Ulrike Bechtle, 27 Jahre, ist seit einigen Monaten in der Macherei, Evangelisches Johannesstift, Berlin beschäftigt. Am Anfang war sie überwältigt von den vielen Angeboten. Sie wurde nach ihren Vorlieben gefragt und entschied sich für alles. Für sie war es eine neue Erfahrung, dass ihre Wünsche ernst genommen wurden. Vorher hatte niemand gefragt. Dann merkte sie, dass ihre Umgebung komisch reagierte, wenn sie alles ankreuzte. Nach einem halben Jahr verstand sie: Alles kann sie nicht machen und es gefällt ihr auch nicht alles. Korbflechten zum Beispiel mag sie gar nicht. In den nächsten Monaten wird sie kochen, backen und weben. Und sie weiß, sie kann sich neu entscheiden. Teilhabe realisieren bedarf. Sie haben Kontakte zu Menschen, die nicht für sie arbeiten und die nicht aus Teilhabe bedeutet das Einbezogensein in ihrem persönlichen Umfeld kommen. Noch Situationen und das Dazugehören. Es be- ist aber die Teilhabe im Sozialraum nicht deutet, beispielsweise im Quartier unter- selbstverständlich. wegs zu sein, die Lebenswelt außerhalb von Einrichtungen kennenzulernen und dort an Eine der entscheidenden Barrieren ist die Aktivitäten im Sozialraum teilzunehmen. Es Lage der Wohn- bzw. Tagesförderstätte. gibt unterschiedliche Möglichkeiten, zum Je größer die Entfernung, desto höher der Beispiel Spaziergänge, schwimmen, ins Kino zeitliche und personelle Aufwand für Aktivi- gehen, einkaufen, im Sozialraum arbeiten, täten im Sozialraum. Dies gilt insbesondere dort wohnen, Aufträge für Firmen in der Ta- dann, wenn Menschen mit hohem Unter- gesstätte oder vor Ort erledigen, aktiv etwas stützungsbedarf den Rollstuhl nutzen und gestalten oder einfach nur dabei sein. Alle für die Überwindung der Distanz ein Fahr- diese Tätigkeiten bewirken die Sichtbarkeit zeug verwendet werden muss. Dann bleibt von Menschen mit hohem Unterstützungs- für den Kontakt im Sozialraum kaum Zeit. Hannes Dittrich, 35 Jahre, ist in einer Förderstätte von Leben mit Behinderung Hamburg be- schäftigt. Sein Lieblingstag in der Woche ist der Donnerstag. Dann sind er und Kolleg_innen im Hagenbecker Tierpark tätig. Sie reinigen Schilder und Bänke, schreddern Heu oder schneiden Möhren und Äpfel. SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF 11
Marina Marquardt, 35 Jahre, begleitet ihre Mutter bei Besuchen. Sie kann nicht sagen, „Ich möchte jetzt den und jenen sehen.“ Sie kann auch nicht eigenständig soziale Kontakte herstellen. Aber ihre Mutter kann feststellen: Wenn wir meine Freundin Anna besuchen, dann geht es Marina gut. Ulrike hat einen Hund und das gefällt Marina. Für Marinas Mutter ist das Teilhabe. Nicht alle sehen das so. Als bei einem Gerichtsverfahren eine Kraftfahrzeughilfe als Teilhabe- leistung verhandelt wurde, meinte ein Vertreter des Kostenträgers: „Also die Klägerin ist doch so behindert, die kann doch sowieso nicht teilhaben.“ Immerhin wurde er durch die Richterin für seine Diktion gerügt und die Kraftfahrzeughilfe wurde gewährt. Normalisierung – Bürger_ Diese Anerkennung wird ihnen an verschie- innen unter Mitbürger_innen denen Stellen bisher verwehrt. So knüpft das SGB IX die Beschäftigung in einer Werkstatt und anerkannter Teil der an die Voraussetzung eines „Mindestmaß[es] Gesellschaft sein an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleis- tung“ (§§ 57 Abs. 2 und 219 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX). Der Begriff Normalisierung hat verschiede- Wer diese Voraussetzung nicht erfüllt, dem ne Bedeutungen. Gemeint ist damit eine bleibt nur die Tätigkeit in einer Tagesförder- Aufhebung der Separation und die Möglich- stätte, dem FuB-Bereich oder einer vergleich- keit, „ein so normales Leben wie möglich“ baren Einrichtung, die unabhängig von den (Erhardt und Grüber 2011, S. 37) zu führen. Werkstätten für Menschen mit Behinderung Es meint nicht, dass Menschen mit hohem ist. In Berlin gibt es außerdem die Bezeich- Unterstützungsbedarf so sein müssen wie nung Beschäftigungs- und Förderbereich Menschen ohne diesen Unterstützungsbe- (BFB). Die Bezeichnung Tagesförderstätte darf. Menschen mit hohem Unterstützungs- macht den Zweck deutlich. Klient_innen sol- bedarf haben Bedürfnisse nach Kommuni- len dort nicht arbeiten oder einer Beschäfti- kation, sozialer Interaktion, Abwechslung, gung nachgehen, sondern gefördert werden. Freude oder gemeinsamen Angeboten so wie andere auch (vgl. Bienstein und Sarimski Auch nach Inkrafttreten des BTHG wurde 2017). Sie sollen die Möglichkeit haben, das eine Debatte um die Regelung der „wirt- zu tun, was andere auch tun: sich im Sozial- schaftlichen Verwertbarkeit“ fortgeführt. Sie raum aufhalten, dort aktiv sein, Kontakte war Schwerpunkt der Stellungnahmen von haben, sichtbar sein, Dienstleistungen im Verbänden, die das Bundesministerium für Sozialraum erbringen und Produkte für den Arbeit und Soziales (BMAS) im April 2018 zu Sozialraum herstellen. Sie sind Bürger_innen einem Fachgespräch eingeladen hatte. Am unter Mitbürger_innen, sollen so wahrge- Ende der Veranstaltung machte der BMAS- nommen werden und anerkannter Teil der Unterabteilungsleiter Marc Nellen allerdings Gesellschaft sein. deutlich, das BMAS sehe „aktuell keinen ge- 12 SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
setzlichen Handlungsbedarf“. Er stellte nur Dessen ungeachtet entscheiden sich Mit- in Aussicht zu prüfen, inwieweit unterge- arbeitende von Organisationen der Einglie- setzliche Aktivitäten sinnvoll und notwendig derungshilfe, auch in Tagesförderstätten seien. Damit meinte er insbesondere neue den Begriff Arbeit zu verwenden. Sie sehen Forschungsaufträge. Er schloss mit dem Hin- es als handlungsleitend an, Arbeit auch weis, „[z]unächst sei es jedoch wichtig, die im Menschen mit hohem Unterstützungsbe- Rahmen des BTHG erfolgten Verbesserungen darf zu ermöglichen, selbst wenn sie „aus in die Praxis umzusetzen und deren Wirkung rechtlicher Sicht nicht arbeiten können“ abzuwarten“ (BMAS 2018). (Bell 2019 b, S. 188). Mehmet Balci, 22 Jahre, ist stolz. Von Montag bis Freitag geht er in die Tagesförderstätte arbeiten. Das machen seine Eltern und seine Geschwister woanders auch. Er geht gerne zur Arbeit. Aber er freut sich auch auf das Wochenende. Dann hat er Zeit, mit seinen Geschwistern zu spielen. Natalie Fest, 32 Jahre, ist Mitglied eines Beirats einer Förderstätte. In dieser Funktion hat sie in einer benachbarten Stadt einen Vortrag über Talker mit Augensteuerung gehalten und wurde dabei von ihrer Mutter begleitet. Diese meinte anschließend: „Es ist das erste Mal, dass ich wo bin, wo meine Tochter eine tragende Rolle spielt und ich nur dabei bin“. Edward Miller, 28 Jahre, mag Züge. Wie seine Bezugsperson das rausgefunden hat, ist nicht mehr bekannt. Wichtig ist: Edward Miller verbringt regelmäßig Zeit auf dem Bahnsteig. Dies trägt sicht- bar nicht nur zu seiner Freude bei: Auch das Bahnpersonal ist froh ist, dass sich jemand „einfach“ freut und keine Kritik wegen der Zugverspätungen übt. Partizipation gewährleisten dungsteilhabe oder auch Entscheidungs- macht. Die Mitwirkungs- und Mitbestim- Partizipation bedeutet, aktiv in Gestaltungs- mungsmöglichkeiten von Menschen, die in und Entscheidungsprozesse einbezogen zu Einrichtungen leben, sind in Gesetzen und sein. Es geht darum, sowohl dazuzugehören Verordnungen der einzelnen Bundesländer als auch Einfluss zu nehmen. Einflussnahme geregelt. Anders als in den Werkstätten gibt kann sehr Unterschiedliches bedeuten: mit- es für Tagesförderstätten keine rechtliche machen, mitwirken oder mitentscheiden. Grundlage für Mitwirkungsmöglichkeiten Partizipation ist in diesem Sinne Entschei- der dort Beschäftigten. SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF 13
Sevinc Kurban, 32 Jahre, wurde im Jahr 2019 in den Beirat einer Tagesförderstätte gewählt. Es ist das erste Mal, dass es einen solchen Beirat gibt. Der Beirat trifft sich, um gemeinsam zu über- legen, wie die Arbeit anders und besser werden kann. Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des Beirats hat Sevinc Kurban Forderungen an die Geschäftsführung kommuniziert. Dies betrifft auch die Gestaltung des Außenbereichs. Die Beschäftigten in der Tagesförderstätte wünschen sich dort mehr Möglichkeiten für den Aufenthalt in den Pausen. Für Sevinc Kurban ist Partizipation wichtig. Dazu müssen aber auch die Bedingungen stimmen. Ihre Möglichkeiten zur Partizipation sind bei starken Schmerzen erschwert bzw. unmöglich. Dies wiederum ist abhängig vom Rollstuhl. Wenn dieser nicht an ihren Bedarf angepasst ist, nehmen ihre Schmerzen zu. Außerdem ist sie darauf angewiesen, dass ihr Mitarbeitende den Talker (das Sprachausgabegerät) zur Verfügung stellen und dass er funktioniert. Sie erwartet, wie eine Er- wachsene und nicht wie ein Baby behandelt zu werden. 14 SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI DER INTERPRETATION DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN Im vorigen Kapitel wurde ausgeführt, was § 4 SGB IX Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipa- Leistungen zur Teilhabe tion für Menschen mit hohem Unterstüt- zungsbedarf bedeuten kann und soll. Um § 4 SGB XI normiert die Sozialleistungen ihre Situation zu verbessern, gibt es ver- zur Teilhabe (Fuchs: in F/R/R SGB IX § 4, Rn schiedene Ansatzmöglichkeiten, wobei der 3). Leistungen werden an das Erreichen von UK eine besondere Bedeutung zukommt. Teilhabezielen geknüpft (Fuchs: in F/R/R SGB IX § 4, Rn 1). Die Zielbestimmung ist Folgenden werden schlaglichtartig rechtli- als „Übertragung der Zieldefinition der ICF3 che Regelungen im SGB IX beschrieben. Im in das deutsche Sozialrecht“ zu verstehen. Anschluss an eine knappe Darstellung der (Fuchs: in F/R/R SGB IX § 4, Rn 4). wesentlichen Inhalte einzelner Paragrafen des SGB IX folgen ausgewählte Interpreta- Aus der Perspektive von Menschen mit ho- tionen, die eine Verbindung zwischen dem hem Unterstützungsbedarf beschreibt § 4 Gesetzestext und der Perspektive von Men- Abs. 1 Nr. 4 SGB IX ein wichtiges Ziel: schen mit hohem Unterstützungsbedarf herstellen. Es werden mögliche Probleme identifiziert sowie Hinweise gegeben, wie „DIE PERSÖNLICHE ENTWICKLUNG die rechtlichen Regelungen im Sinne von GANZHEITLICH ZU FÖRDERN UND DIE Menschen mit hohem Unterstützungsbe- TEILHABE AM LEBEN IN DER GESELL- darf interpretiert werden können. SCHAFT SOWIE EINE MÖGLICHST SELBSTÄNDIGE UND SELBSTBESTIMMTE LEBENSFÜHRUNG ZU ERMÖGLICHEN ODER ZU ERLEICHTERN.“ 3 Die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) wurde 2001 von der Welt- gesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Sie stellt eine Klassifikation des funktionalen Gesundheitszustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen dar. DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF | INTERPRETATION DES BTHG 15
§ 76 SGB IX Unterstützungsbedarf, auch wenn sie wie alle Leistungen zur Sozialen Teilhabe Menschen ein Entwicklungspotenzial haben. und § 78 SGB IX Für sie ist es wichtig, dass ihnen Selbstbe- Assistenzleistungen stimmung und Teilhabe „in kleinsten Berei- chen“ (Delgado 2018, S. 50), bei Pflegehand- § 76 SGB XI normiert den Anspruch auf Leis- lungen oder beim Essen ermöglicht wird. Es tungen zur Sozialen Teilhabe auf der Basis ist für sie wichtig, dass alltägliche Handha- der Bedarfsermittlung. Es werden Leistungs- bungen und Routinen wie Zähneputzen oder ziele genannt sowie die Leistungen, die zur Broteschmieren nicht nur für sie ausgeführt Sozialen Teilhabe beansprucht werden kön- werden, sondern dass sie die Möglichkeit ha- nen (Fuchs: in F/R/R SGB IX § 76, Rn 1). ben, zu entscheiden und mitzumachen (vgl. Bell 2019 a, S. 111). Eine entscheidende Bedin- § 78 Abs. 1 SGB XI enthält einen Katalog mit gung dafür ist die Qualifikation des Personals Leistungen zur Sozialen Teilhabe. Aus der (vgl. Bell 2019 a, Richter und Thäle 2019, Grü- Sicht von Menschen mit hohem Unterstüt- ber 2021). Die gesetzliche Grundlage dafür zungsbedarf ist die explizite Erwähnung ist vorhanden, weil erstens die Möglichkeit von Leistungen zur „Verständigung mit der zwar nicht erwähnt, aber auch nicht explizit Umwelt“ hervorzuheben (§ 78 Abs. 1 Satz 3 ausgeschlossen ist, weil zweitens aus § 76 SGB IX). Allerdings wird die Unterscheidung SGB IX ein umfassender Anspruch abzulei- in § 78 Abs. 2 SGB IX zwischen ten ist und weil drittens nach §124 Abs. 2. die leistungsberechtigte Person Anspruch hat auf • Assistenzleistungen zur „voll- die Qualifikation, die für die jeweilige Unter- ständige[n] und teilweise[n] Über- stützungsleistung fachlich erforderlich ist. nahme von Handlungen zur Alltags- (Interview Rosenow). bewältigung sowie [der] Begleitung der Leistungsberechtigten“ Verhältnis Eingliederungshilfe (§ 78 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) und und Pflege – § 91 SGB IX • Leistungen, die den Leistungs- Nachrang der Eingliederungs- berechtigten „zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung“ befähigen hilfe und § 103 SGB IX (§ 78 Abs. 2 Satz 1 SGB IX), Sonderregelung für pflegebedürftige Menschen von verschiedenen Stellen problematisiert mit Behinderung (Bell 2019 a, Klauß 2018, Delgado 2018). Grundlage der Kritik ist die explizite Erwäh- Das Verhältnis von Leistungen der Einglie- nung von Fachkräften ausschließlich für derungshilfe einerseits zur Pflegeversiche- Leistungen nach § 78 Abs. 2 SGB IX. Denn das rung und andererseits zur Hilfe zur Pflege Ziel der eigenständigen Alltagsbewältigung wird seit vielen Jahren diskutiert. 4 So be- erreichen nur wenige Menschen mit hohem fürchten Behindertenverbände – durchaus 4 s. insbesondere die Stellungnahmen der Fachverbände für Menschen mit Behinderung Stellungnahmen/ Positionspapiere | Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung (diefachverbaende.de). 16 INTERPRETATION DES BTHG | DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
gestützt auf Erfahrungen –, dass Menschen erfolgt, dass die Betroffenen ihre Wünsche mit Behinderung mit gleichzeitigem hohem und Bedarfe ausdrücken können. Pflegebedarf aus dem System der Eingliede- rungshilfe herausgedrängt werden und dass sie nicht die Leistung erhalten, die ihrem Be- § 117 SGB IX darf entspricht (Landschaftsverband Rhein- Gesamtplanverfahren land 2020). Das Gesamtplanverfahren ist eines der Nach langen Diskussionen im Gesetzge- zentralen Instrumente zur Verbesserung bungsverfahren wurde über § 91 Abs. 3 von Selbstbestimmung und Teilhabe für SGB IX die Gleichrangigkeit der Leistungen Menschen mit Behinderung. Darin werden aus der Eingliederungshilfe und aus der Pfle- „die Bedarfe der leistungsberechtigten Men- geversicherung normiert. Von verschiede- schen […] erfasst und von den Kostenträgern nen Seiten wird angemerkt, dass die Schnitt- beschieden“ (Der Paritätische Baden-Würt- stellenproblematik weder im Verhältnis der temberg o. J. b). Dies bedeutet eine Umorien- Eingliederungshilfe zur Pflegeversicherung tierung weg von „scheinbar homogenen noch im Verhältnis der Eingliederungshilfe Hilfebedarfsgruppen hin zur Personenzen- zur Hilfe zur Pflege beseitigt wurde (Tscheu- trierung“ (vgl. Beck und Franz 2019). lin 2019). Es verbleibe „eine Schnittmenge […], bei der im Einzelfall der individuelle Menschen mit Behinderung sollen aktiv an Bedarf festzustellen ist“ (BAGÜS 2021 a, diesem Prozess teilnehmen und ihn gestal- S. 13). Allerdings gestaltet sich die Entwick- ten. Sie sollen selbstbestimmt und selbst- lung von Instrumenten zur Abgrenzung als bewusst ihre Bedarfe, Wünsche und Ziele schwierig, weil „eine Zuordnung anhand der formulieren und mit dem Kostenträger eine konkreten Maßnahme kaum möglich sein Vereinbarung abschließen. Zumindest impli- wird, da sich die Leistungen sehr ähnlich zit setzt dies „die Fähigkeiten aktiver Kun- sehen. Viele Unterstützungsleistungen kön- densouveränität voraus“ (Boecker und We- nen nach äußerer Betrachtung sowohl Pfle- ber 2018) bzw. eine „Regiekompetenz“ (vgl. geleistung als auch Teilhabeleistung sein“ Landschaftsverband Rheinland 2020, S. 18). (Landschaftsverband Rheinland 2020, S. 9). Es ist fraglich, inwieweit die genannten Vo- Aus der Perspektive von Menschen mit ho- raussetzungen auf alle Menschen mit Be- hem Unterstützungsbedarf ist es umso not- hinderung zutreffen. Menschen mit hohem wendiger, nicht nur aufzuzeigen, was teilha- Unterstützungsbedarf jedenfalls erfüllen beorientierte Heilerziehungspflege, sondern diese Anforderungen entweder zu einem auch was teilhabeorientierte Pflege bedeu- bestimmten Zeitpunkt oder dauerhaft nicht. tet und wie dies in der Praxis umgesetzt Dies liegt daran, dass ihnen die Möglichkei- werden kann. Wie bereits zu § 78 SGB IX ten zur Kommunikation fehlen (s. Unter- ausgeführt, erfahren Menschen mit hohem stützte Kommunikation, S. 9) oder weil sie Unterstützungsbedarf Selbstbestimmung wenig Erfahrungen mit selbstbestimmten und Teilhabe auch bei der Körperpflege, aber Entscheidungen haben (s. Selbstbestim- nur, wenn diese fachlich qualifiziert ausge- mung und Empowerment, S. 10). Sie können führt wird und wenn die Kommunikation so kaum Vorstellungen zu Teilhabemöglich- DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF | INTERPRETATION DES BTHG 17
keiten entwickeln, weil sie die Angebote des Eine nicht nur, aber auch für Menschen mit Sozialraums nicht kennen (s. Teilhabe S. 11). hohem Unterstützungsbedarf entschei- dende Frage ist, welche Ziele wie formuliert All dies sind wichtige Ansatzpunkte für die werden. Die BAGÜS empfiehlt, Teilhabeziele Ausgestaltung der Gesamtplanverfahren nach dem SMART- Prinzip5 zu formulieren (s. S. 21). (BAGÜS 2021 b, S. 8). Da mit dem BTHG auch die Ausgabendy- § 118 SGB IX namik gesenkt werden soll (vgl. Bell 2019 a, Instrumente der S. 110), wird befürchtet, dass Teilhabeziele so Bedarfsermittlung formuliert werden, dass Menschen mit ho- hem Unterstützungsbedarf diese nicht errei- Nach § 118 SGB IX müssen sich die Instrumen- chen können und deshalb Leistungen nicht te zur Feststellung des individuellen Bedarfs erhalten. Dies gilt insbesondere für das Ziel an der Internationalen Klassifikation der der eigenständigen Alltagsgestaltung. Hin- Funktionsfähigkeit, Behinderung und Ge- gegen richten sich menschenrechtskonfor- sundheit (ICF) orientieren. Die ICF betrachtet me Teilhabeziele an den Möglichkeiten und „nicht nur die körperlichen, individuellen und Bedarfen der Betreffenden aus (vgl. Bell 2019 gesellschaftlichen Komponenten von Behin- a), was auch bedeutet, dass mehr Teilhabe für derung, sondern auch das private Umfeld und die betreffende Person erreicht wird. die persönlichen Lebenserfahrungen sowie die für einen Menschen spezifischen Barrie- Nicht nur die Ziele, auch die Indikatoren, ren und Unterstützungsfaktoren“ (Hirsch- mit denen Entwicklungsfortschritte dar- berg 2009). Damit wird der Blick auch auf das gestellt werden sollen, stellen unter Um- Umfeld gelenkt. Teilhabe wird eben nicht nur ständen ein Problem dar. Befürchtet wird, dadurch erreicht, dass Menschen mit Behin- dass sich keine messbaren Indikatoren für derung sich als Folge einer Förderung entwi- Entwicklungsfortschritte darstellen lassen ckeln, sondern dass sich die Umwelt ändert. und dass Menschen mit hohem Unterstüt- Die Ethischen Leitlinien zur Verwendung der zungsbedarf auf der Grundlage eines „sehr ICF empfehlen übrigens, „unter Mitwirken reduzierten Teilhabeverständnisses“ (Klauß der betroffenen Person ihre Wahl- und Steue- 2018) Teilhaberechte vorenthalten werden. rungsmöglichkeiten bezüglich ihres Lebens“ Hier wäre zumindest eine Öffnungsklausel zu erhöhen (DIMDI 2015). hilfreich (s. Empfehlungen S. 20ff). Die Bundesländer haben unterschiedliche Instrumente entwickelt, die derzeit erprobt § 123 SGB IX werden (s. beispielweise BedarfsErmittlung Allgemeine Grundsätze Niedersachsen (kurz: B.E.Ni) (vgl. Niedersäch- sisches Landesamt für Soziales, Jugend und In den allgemeinen Grundsätzen zum Ver- Familie 2018). tragsrecht werden unter anderem Anfor- 5 Das SMART-Prinzip stellt die Frage: Sind die Ziele spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und terminiert? 18 INTERPRETATION DES BTHG | DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
derungen an die Leistungen der Leistungs- mäßige Fortbildungstage sind danach Ele- träger normiert. Diese werden gemäß dem mente der Strukturqualität einer Leistung Grundsatz der Wirtschaftlichkeit einerseits (Interview Roland Rosenow). durch eine Untergrenze, das heißt den „ak- tuellen state of the art der jeweiligen Dis- Die landesrechtlichen Regelungen nach ziplin“, und andererseits durch eine Ober- § 125 SGB IX sind die Grundlage für Lan- grenze bestimmt (Rosenow: in F/R/R § 123, desrahmenvereinbarungen der Träger der Rn 56). Es kann davon ausgegangen werden, Eingliederungshilfe und der Organisatio- dass sich der State of the Art von Heilpäd- nen der Leistungserbringer. Dies ist die agogik, Heilerziehungspflege oder auch der Basis für die Leistungsbeschreibungen so- Pflegewissenschaft durch die Förderung der wie Vergütungsverhandlungen zwischen Selbstbestimmung und Teilhabe und die An- den Leistungsträgern und den einzelnen wendung der UK auszeichnet. Leistungserbringern (Der Paritätische Ba- den-Württemberg o. J. a) Diese Regelungen können im Sinne von Menschen mit hohem § 124 SGB IX Unterstützungsbedarf genutzt werden, um Geeignete Leistungserbringer die Qualität der Leistungen zu verbessern, nicht nur, aber auch durch Fortbildungen § 124 SGB IX normiert die Anforderungen an (vgl. Theunissen 2019). die Qualität des Personals, das die Leistungen erbringen soll. Unter anderem wird in § 124 Abs. 2 Satz 2 SGB IX gefordert, dass Mitarbei- § 128 SGB IX tende „über die Fähigkeit zur Kommunikation Wirtschaftlichkeits- und mit den Leistungsberechtigten in einer für Qualitätsprüfung den Leistungsberechtigten wahrnehmbaren Form verfügen.“ Bezogen auf Menschen mit Vor dem Hintergrund, dass es bisher „keine hohem Unterstützungsbedarf bedeutet dies wirksamen Systeme der Qualitätssicherung“ eine ausreichende Qualifikation in UK. gibt, wurden in § 128 SGB IX die Leistungs- erbringer dem Prüfrecht des Trägers der Ein- gliederungshilfe unterworfen (Rosenow: in § 125 SGB IX F/R/R, § 128, Rn 2). Damit wird der Tatsache Inhalt der schriftlichen Rechnung getragen, dass Menschen mit Be- Vereinbarung hinderung, also die Leistungsberechtigten, erstens wegen ihrer Behinderung die Leis- § 125 SGB IX normiert die Inhalte der Leis- tungserfüllung nur eingeschränkt prüfen tungsvereinbarung (§ 125 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX) können und zweitens vom Leistungsträger und die Vergütungsvereinbarung (§ 125 abhängig sind (vgl. Rosenow: in F/R/R, § 128, Abs. 1 Nr. 2 SGB IX) zwischen den Trägern Rn 2). Unter der Voraussetzung, dass der Trä- der Eingliederungshilfe und den Leistungs- ger der Eingliederungshilfe Prüfungen auf erbringern. Dazu gehören sowohl die perso- der Grundlage der oben genannten Ziele nelle Ausstattung als auch die Qualifikation durchführt, sind die Prüfungen für Men- des Personals (§ 125 Abs. 2 SGB IX). Fortbil- schen mit hohem Unterstützungsbedarf dungen, aber auch Supervision und regel- also ausgesprochen sinnvoll. DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF | INTERPRETATION DES BTHG 19
DIE PERSPEKTIVEN VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI DER ANWENDUNG DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN Wie können nun die Perspektiven der sehr „JA, ES GIBT MENSCHEN, DIE MEHR heterogenen Gruppe der Menschen mit ho- ASSISTENZ UND UNTERSTÜTZUNG hem Unterstützungsbedarf bei der Umset- BRAUCHEN ALS ALLGEMEIN zung des BTHG berücksichtigt werden? Die ANGENOMMEN. JA, SIE GEHÖREN Antwort kann in folgenden Kernsätzen zu- DAZU, SIE HABEN TEIL. JA, SIE WOLLEN sammengefasst werden: Es ist notwendig, UND KÖNNEN ENTSCHEIDUNGEN TREFFEN, WOLLEN MITWIRKEN UND • dass die Beteiligten ein Verständnis MITGESTALTEN. DAFÜR BENÖTIGEN für die Perspektiven von Menschen SIE INTENSIVE UNTERSTÜTZUNG – EIN mit hohem Unterstützungsbedarf LEBEN LANG.“ (Bell 2019 a, S. 113) entwickeln, • dass die Prozesse konsequent nach ihren Bedarfen ausgerichtet sind und Die Anwendung des BTHG bietet den Ak- • dass Teilhabeziele menschenrechtlich teur_innen an vielen Stellen Ansatzpunkte. formuliert werden. Folgende drei Instrumente, die der gesetz- liche Rahmen bietet, sind für die Berücksich- Letztlich bedeutet dies nichts anderes als tigung der Perspektiven besonders relevant: eine konsequente Umsetzung der Per- sonenzentrierung. Verwirklichung dieser • Gesamtplanverfahren Kernpunkte ist für alle Menschen mit Be- • Bedarfsermittlungsinstrumente hinderung entscheidend. Für Menschen • Leistungsvereinbarungen mit hohem Unterstützungsbedarf ist sie eine zwingende Voraussetzung für ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Ihre grundlegenden Bedarfe und Rechte unterscheiden sich nicht von denen anderer, sehr wohl aber die konkre- ten Bedarfe und die Bedingungen für ihre Verwirklichung. 20 ANWENDUNG DES BTHG | DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
Gesamtplanverfahren eindeutig kommunizieren bzw. ihre Wünsche nicht äußern können. Der Entscheidender Ort für die Berücksichtigung Unterstützungsbedarf wird ohne ist das Gesamtplanverfahren. Es wird emp- Beteiligung der Leistungserbringer fohlen, eine kurze Handreichung für Leis- erhoben, bei der Planung konkreter tungsträger, Leistungserbringer, Menschen Ziele und Maßnahmen werden mit hohem Unterstützungsbedarf, Angehö- sie dann aber einbezogen (festgelegt rige und gesetzliche Betreuer zu entwickeln. im neuen Berliner Rahmenvertrag, Sie sollte folgende Eckpunkte in Bezug auf s. Bell 2019 a, S. 109). die Haltung, Hinweise zur Beteiligung am 6. Es wird deshalb empfohlen, für Verfahren und zu Inhalten von Teilhabezie- Personen, für die eine „individuelle len enthalten: selbstbestimmte und autonome Lebensgestaltung kaum möglich ist, 1. Eine kurze Darlegung, dass die Teilhabeziele zu formulieren, mit denen Zielgruppe die gleichen Rechte und Potentiale, Stärken oder Ressourcen Bedarfe hat wie andere Menschen erfasst werden können“ mit Behinderung, dass sich aber (vgl. Theunissen 2019). individuelle Bedarfe unterscheiden. 7. Es werden Hinweise gegeben, wie Dies wird durch konkrete Beispiele eine menschenrechtliche Formulierung deutlich gemacht. Außerdem wird von Teilhabezielen erfolgen kann. auf die große Heterogenität der Es geht dabei insbesondere um mehr Zielgruppe hingewiesen, um sowohl Selbstbestimmung und Teilhabe. eine Unterforderung als auch eine Überforderung zu vermeiden. 2. Die Beteiligten erhalten Hinweise BEISPIELE FÜR darauf, dass vielen Menschen mit MENSCHENRECHTSKONFORME Behinderung die Formulierung von TEILHABEZIELE: Wünschen und Bedarfen bisher erschwert bzw. prinzipiell schwierig ist. „Der Leistungsempfänger kann 3. Ihre Beteiligung an den Verfahren selbstbestimmt trinken. wird zum Standard und Ausnahmen begründungspflichtig (vgl. Senats- Die Leistungsempfängerin kann verwaltung für Integration, Arbeit und selbst steuern, ob sie sitzen oder Soziales 2020). liegen möchte.“ (Delgado 2018, S. 50) 4. Es sind Ausführungen zu Bedingungen für eine aktive Teilnahme notwendig, beispielsweise der Einsatz der UK 8. Es wird empfohlen, Maßnahmen oder die Begleitung durch Vertrauens- zur Nutzung der UK und des personen (vgl. Senatsverwaltung für Empowerments als Teilhabeziele zu Integration, Arbeit und Soziales 2020). formulieren. 5. Gegebenenfalls sind Zwischenschritte 9. Es wird empfohlen, Angebote im Gesamtplanverfahren außerhalb der bestehenden Strukturen einzubeziehen, wenn Menschen nicht zu unterstützen. DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF | ANWENDUNG DES BTHG 21
Bedarfsermittlungsinstrumente stützungsbedarf berücksichtigt werden müssen, bei denen sich schwer Es wird empfohlen, die Bedarfsermittlungs- bzw. keine messbaren Indikatoren für instrumente der Bundesländer so weiter zu Entwicklungsfortschritte darstellen entwickeln, dass sie auch die Perspektiven von lassen. Dies bedeutet unter Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf Umständen die Festlegung weicherer berücksichtigen. Dies bedeutet insbesondere: Ziele nach dem SMART-Prinzip. • Die Beteiligten erhalten Hinweise darauf, dass vielen Menschen Leistungsvereinbarungen mit hohem Unterstützungsbedarf die Formulierung von Wünschen Es wird empfohlen, in die Leistungsverein- und Bedarfen bisher erschwert bzw. barungen zwischen Leistungsträgern und prinzipiell schwierig ist. Leistungserbringern folgende Punkte als • Es werden Hinweise darauf gegeben, Standard aufzunehmen: wie nach Teilhabezielen gefragt werden kann, die die Bedingungen • die Anwendung der UK als Standard von Menschen mit hohem Unter- für Tages- und Förderstätten sowie stützungsbedarf berücksichtigen, für gemeinschaftliche Wohnformen sowie die eine individuelle selbstbestimmte • die Implementierung von Beteiligungs- und autonome Lebensgestaltung gremien in Tages- und Förderstätten kaum möglich bzw. erschwert ist. als Standard. • Es werden in Ergänzung dazu Hinweise gegeben, wie die Potenziale, Stärken Es werden Maßnahmen vereinbart, mit oder Ressourcen von Menschen mit denen die Leistungserbringer Potenziale, hohem Unterstützungsbedarf besser Stärken oder Ressourcen für Personen er- erfasst werden können. fassen, für die eine „individuelle selbstbe- • Es wird gezielt abgefragt, ob bzw. stimmte und autonome Lebensgestaltung inwieweit die Leistungen außerhalb kaum möglich ist“ (vgl. Theunissen 2019). von bestehenden Einrichtungen erbracht werden können/sollen. Es werden Fortbildungsmaßnahmen für das • Es wird darauf hingewiesen, dass bei Personal vereinbart, mit der gezielt die Qua- der Zielformulierung die Perspektiven lität der Leistung verbessert wird (beispiels- von Menschen mit hohem Unter- weise durch das Erlernen der UK). 22 ANWENDUNG DES BTHG | DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
WEITERE EMPFEHLUNGEN Über die Berücksichtigung der Perspektiven Weiterentwicklung der von Menschen mit hohem Unterstützungs- Tagesförderstätten bedarf bei den oben genannten Instrumen- zu Einrichtungen von Bildung ten gibt es ergänzend dazu folgende Not- und Arbeit wendigkeiten: Um erwachsenen Menschen mit hohem • Verbreitung der Unterstützten Unterstützungsbedarf die gleichberechtigte Kommunikation Teilhabe in diesem Bereich zu ermöglichen, • Weiterentwicklung der Tagesförder- wird Folgendes empfohlen: stätten zu Einrichtungen von Bildung und Arbeit • Die Bezeichnung „Tagesförderstätte“ • Innovative Angebote entwickeln oder Ähnliches wird ersetzt durch Bezeichnungen wie „Orte der Bildung und Arbeit“. Verbreitung der • Es werden bundesweit einheitliche Unterstützten Kommunikation Standards für die „Orte der Bildung und Arbeit“ in einer Bundes- Das BTHG enthält die Möglichkeit, die UK als rahmenkonzeption festgelegt. Standard festzulegen und dafür Leistungen Bestandteile sind die Anwendung bereitzustellen. Damit diese Möglichkeiten der UK und die Einrichtung mehr genutzt werden, erscheint es sinnvoll, von Vertretungsorganen (Beiräten) die Verbreitung der UK über verschiedene (vgl. LAG WfbM Bayern, 2019). Kanäle zu befördern. Hier sind private För- derorganisationen wie Stiftungen sowie Fachverbände gefragt. Sie können die An- Innovative Angebote entwickeln wendung der UK befördern, beispielsweise im Rahmen einer Kampagne, die gemein- Das derzeitige Angebot an Plätzen ins- sam mit der Gesellschaft für Unterstützte besondere in Tagesförderstätten und an Kommunikation geplant wird. Menschen Wohnmöglichkeiten für Menschen mit ho- mit hohem Unterstützungsbedarf, die die hem Unterstützungsbedarf, insbesondere UK nutzen, dienen als Botschafter_innen. bei denen mit einem herausfordernden Ver- Ziel der Kampagne ist es aufzuzeigen, dass halten, ist nicht ausreichend. Dies zeigen die UK so notwendig ist wie die Leichte die Fachliteratur, Wartelisten für Tagesför- Sprache. Außerdem werden Praxisbeispiele derstätten und Berichte von Angehörigen. transportiert. Um einen möglichst detaillierten und um- WEITERE EMPFEHLUNGEN 23
fassenden Überblick über den Bedarf zu be- schaftliche Wohnformen oder Arbeitsmög- kommen, sind Untersuchungen notwendig. lichkeiten) sind mitten im Quartier. Dies verbessert die Teilhabemöglichkeiten von Um den fehlenden Bedarf zu decken, gibt es Menschen mit hohem Unterstützungsbe- zwei Möglichkeiten: (1) Bestehende Angebo- darf und ermöglicht es ihnen, Bürger_innen te werden erweitert. (2) Fachkräfte und/oder unter Bürger_innen zu sein. Das Setting ist Angehörige entwickeln innovative Angebote möglichst inklusiv, die Wohneinheiten sind mit einem fachlich hohen Standard entspre- klein (vgl. Theunissen 2019, S. 72). Kurz ge- chend dem State of the Art der jeweiligen sagt: In diesen Angeboten prägen Selbstbe- Fachdisziplin. Das bedeutet: Prozesse und stimmung, Teilhabe und Partizipation von Strukturen sind an der UN-BRK und der ICF Menschen mit hohem Unterstützungsbe- ausgerichtet. Die neuen Angebote (Gemein- darf von Anfang an den Alltag. 24 WEITERE EMPFEHLUNGEN
ZUSAMMENFASSUNG Das vorliegende Diskussionspapier ist das sern, um die Verpflichtungen der UN-BRK Ergebnis des Projektes „Selbstbestimmung, umzusetzen. Es will Anregungen dafür ge- Teilhabe und Partizipation im Alltag von ben, wie im Zuge der Umsetzung des BTHG Menschen mit hohem Unterstützungs- stärker als bisher die Perspektive dieser he- bedarf“, das das IMEW durchgeführt hat. terogenen Gruppe berücksichtigt werden „Menschen mit hohem Unterstützungsbe- kann. Kurz gefasst meint dies: Es ist not- darf“ meint Personen, die erhebliche kogni- wendig, dass die Beteiligten ein Verständ- tive und zusätzliche andere Einschränkun- nis für die Perspektiven von Menschen mit gen haben, insbesondere in Bezug auf die hohem Unterstützungsbedarf entwickeln, Kommunikation, das emotionale Erleben dass Prozesse konsequent an ihren Bedar- und das Verhalten. Einige von ihnen ha- fen ausgerichtet sind und dass Teilhabeziele ben außerdem einen hohen pflegerischen menschenrechtlich formuliert werden. Unterstützungsbedarf. In dieser Veröffent- lichung wird ausgeführt, was konkret Selbst- Letztlich bedeutet dies nichts anderes als bestimmung, Teilhabe und Partizipation für eine konsequente Umsetzung der Personen- Menschen mit hohem Unterstützungsbe- zentrierung. Ihre Verwirklichung ist für alle darf bedeuten kann und soll. Menschen mit Behinderung entscheidend. Für Menschen mit hohem Unterstützungs- Die Veröffentlichung geht von folgenden bedarf ist sie eine zwingende Voraussetzung Prämissen aus: für ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Ihre grundlegenden Be- • Die in der UN-BRK niedergelegten darfe und Rechte unterscheiden sich nicht Rechte auf gleichberechtigte Teilhabe von denen anderer. Sie benötigen aber unter gelten für alle Menschen mit Umständen andere Bedingungen und mehr Behinderung – unabhängig von ihrem Unterstützung als andere. Unterstützungsbedarf. • Alle Menschen haben jenseits der Befriedigung von Grundbedürfnissen „JA, ES GIBT MENSCHEN, DIE MEHR vergleichbare Bedarfe: nach Selbst- ASSISTENZ UND UNTERSTÜTZUNG wirksamkeit, Anerkennung, sozialen BRAUCHEN ALS ALLGEMEIN Kontakten, nach Anregungen und ANGENOMMEN. JA, SIE GEHÖREN Freude. DAZU, SIE HABEN TEIL. JA, SIE WOLLEN • Alle Menschen haben ein UND KÖNNEN ENTSCHEIDUNGEN Entwicklungspotenzial. TREFFEN, WOLLEN MITWIRKEN UND MITGESTALTEN. Dieses Diskussionspapier zeigt, dass es not- DAFÜR BENÖTIGEN SIE INTENSIVE wendig ist, die Situation von Menschen mit UNTERSTÜTZUNG – EIN LEBEN LANG.“ hohem Unterstützungsbedarf zu verbes- (Bell 2019 a, S. 113) ZUSAMMENFASSUNG 25
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