MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI DER UMSETZUNG DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN - Diskussionspapier

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MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI DER UMSETZUNG DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN - Diskussionspapier
MENSCHEN MIT HOHEM
UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
BEI DER UMSETZUNG
DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN
Diskussionspapier

Katrin Grüber

GEFÖRDERT VON
MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI DER UMSETZUNG DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN - Diskussionspapier
PROJEKTBEIRAT

   Das Projekt wurde begleitet von

   Dr. Benjamin Bell (leben
   lernen gGmbH am EDKE1),
   Geschäftsführung

   Peggy Glaschke (Hollerhaus),
   Qualitätsmanagementbeauftragte,
   Ingolstadt                                     Impressum

   Martin Hackl (ISL),                            Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW)

   Inklusionsbotschafter, Bad Kissingen           Selbstverlag IMEW, Warschauer Straße 58a, 10243 Berlin

                                                  Autorin: Katrin Grüber

   Martin Hahn (Stiftung Haus Linden-             Redaktion: Yvonne Dörschel und Stephanie Czedik
                                                  Korrektorat: Katrin Schlechtriemen
   hof), Verbundleiter Wohnverbund
   Südwest, Schwäbisch-Gmünd                      Bildnachweise:
                                                  Titelbild: leben lernen gGmbH am EDKE/Mara von Kummer
                                                  Seite 8 links: privat; oben: Diakonie Berlin-Brandenburg/
   Matthias Kempf (Universität Siegen),
                                                  Nils Bornemann, unten: Udo Leist für die Evangelische
   wissenschaftlicher Mitarbeiter                 Stiftung Hephata

   Konrad Lampart (Software AG –                  Layout, barrierefreie Gestaltung, Umsetzung:

   Stiftung), Projektleiter Behinderten-          verbum GmbH, Berlin

   hilfe und Altenhilfe, Darmstadt                © 2021 Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft gGmbH
                                                  Alle Rechte vorbehalten

   Ulrike Meier (benannt von der                  ISBN 978-3-9821922-3-9

   Stiftung Lauenstein)                           Stand: 18. Mai 2021

   Friedhelm Peiffer (Aktion Mensch
   Stiftung), Leiter, Bonn

   Barbara Vieweg, ISL

1 Evangelisches Diakoniewerk Königin Elisabeth.
MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI DER UMSETZUNG DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN - Diskussionspapier
Inhalt

5   Einleitung
6   Grundlagen des Projektes
7   Vorgehen

 8	Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipation
    von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf
 9 Unterstützte Kommunikation einsetzen
10 Selbstbestimmung und Empowerment fördern
 11 Teilhabe realisieren
12	Normalisierung – Bürger_innen unter Mitbürger_innen
    und anerkannter Teil der Gesellschaft sein
13 Partizipation gewährleisten

15	Die Perspektive von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf
    bei der Interpretation des BTHG berücksichtigen
15 § 4 SGB IX – Leistungen zur Teilhabe
16 § 76 SGB IX – Leistungen zur Sozialen Teilhabe und
		 § 78 SGB IX Assistenzleistungen
16	Verhältnis Eingliederungshilfe und Pflege –
    § 91 SGB IX Nachrang der Eingliederungshilfe und
    § 103 SGB IX Sonderregelung für pflegebedürftige Menschen
    mit Behinderung
17 § 117 SGB IX Gesamtplanverfahren
18 § 118 SGB IX – Instrumente der Bedarfsermittlung
18 § 123 SGB IX – Allgemeine Grundsätze
19 § 124 SGB IX – Geeignete Leistungserbringer
19 § 125 SGB IX – Inhalt der schriftlichen Vereinbarung
19 § 128 SGB IX – Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfung

                                                                  3
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20	Die Perspektiven von Menschen mit hohem
        Unterstützungsbedarf bei der Anwendung des BTHG
        berücksichtigen
    21 Gesamtplanverfahren
    22 Bedarfsermittlungsinstrumente
    22 Leistungsvereinbarungen

    23 Weitere Empfehlungen
    23 Verbreitung der Unterstützten Kommunikation
    23	Weiterentwicklung der Tagesförderstätten zu Einrichtungen
        von Bildung und Arbeit
    23 Innovative Angebote entwickeln

    25   Zusammenfassung

4                                                                   INHALT
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EINLEITUNG

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-        im Zuge der Umsetzung des BTHG stärker
BRK) macht deutlich, dass alle Menschen        als bisher die Perspektive von Menschen
mit Behinderungen das gleiche Recht auf        mit hohem Unterstützungsbedarf berück-
„volle, wirksame und gleichberechtigte Teil-   sichtigt werden kann. Es richtet sich des-
habe an der Gesellschaft“ haben. Sie gilt      halb in erster Linie an Leistungsträger und
also unabhängig vom Grad der Beeinträch-       Landesministerien sowie an bundesweite
tigung und damit auch für Menschen mit         Organisationen von und für Menschen mit
hohem Unterstützungsbedarf. Damit sind         Behinderung bzw. ihre Landesverbände.
Menschen gemeint, die erhebliche kogniti-      Gleichzeitig ist diese Veröffentlichung aber
ve und zusätzliche andere Einschränkungen      auch für Menschen mit Behinderung, für
haben, insbesondere in Bezug auf die Kom-      Mitarbeitende von Organisationen, Ange-
munikation, das emotionale Erleben und das     hörige und Förderorganisationen relevant,
Verhalten. Einige von ihnen haben außer-       weil sie im Gespräch mit Leistungsträgern
dem einen hohen pflegerischen Unterstüt-       passende Argumente verwenden können.
zungsbedarf.
                                               Es sei darauf hingewiesen, dass die Veröf-
Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) soll       fentlichung die rechtlichen Regelungen nur
die Eingliederungshilfe zu einem modernen      schlaglichtartig vorstellt und kein Rechts-
Teilhaberecht weiterentwickelt werden. Es      gutachten ist. Wer vertiefte Informationen
soll „Menschen mit Behinderungen eine          zur Situation in den Bundesländern sucht,
möglichst volle und wirksame Teilhabe in       sei auf das Projekt „Umsetzungsbegleitung
allen Bereichen für eine selbstbestimm-        BTHG“1 verwiesen.
te Lebensführung […] ermöglichen“ (Um-
setzungsbegleitung BTHG o. J.). Neben der      Eine Verbindung zwischen dem BTHG und
Ausrichtung an der UN-BRK war ein weite-       der Perspektive von Menschen mit hohem
res Ziel des BTHG, die „Ausgabendynamik“       Unterstützungsbedarf herzustellen, ist an-
zu begrenzen (BT-Drs. 18/9522), so dass zwei   spruchsvoll. Die Thematik ist aus verschie-
gegensätzliche Ziele das Gesetzgebungsver-     denen Gründen sehr komplex:
fahren geprägt haben (Rosenow: in F/R/R vor
§ 90, Rn 5).                                   •   Die Umsetzung erfolgt nicht bundes-
                                                   einheitlich, sondern obliegt den
Das vorliegende Diskussionspapier ist ein          Bundesländern. Diese haben beispiels-
Ergebnis des Projektes „Selbstbestimmung,          weise die Träger der Eingliederungs-
Teilhabe und Partizipation im Alltag von           hilfe (§ 94 Abs. 1 SGB IX) und
Menschen mit hohem Unterstützungsbe-               die Bedarfsermittlungsinstrumente
darf“. Es will Anregungen dafür geben, wie         (§ 118 Abs. 1 SGB IX) bestimmt.

1 https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/

EINLEITUNG                                                                                    5
MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI DER UMSETZUNG DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN - Diskussionspapier
•   Gleichwohl gibt es Bestrebungen                           Grundlagen des Projektes
        zur Vereinheitlichung, etwa
        durch Handreichungen durch die                            Diese Veröffentlichung geht von folgenden
        Bundesarbeitsgemeinschaft der                             Prämissen aus:
        überörtlichen Träger der Sozialhilfe und
        der Eingliederungshilfe (BAGÜS).                          •    Die in der UN-BRK niedergelegten
    •   Es sind viele Akteur_innen auf                                 Rechte auf gleichberechtigte Teilhabe
        unterschiedlichen Ebenen beteiligt.                            gelten für alle Menschen mit
    •   Der Prozess ist dynamisch und                                  Behinderung – unabhängig von ihrem
        verläuft an unterschiedlichen Orten                            Unterstützungsbedarf.
        in unterschiedlichem Tempo. So                            •    Alle Menschen haben jenseits der
        unterscheiden sich beispielsweise                              Befriedigung von Grundbedürfnissen
        die Übergangsfristen in den Bundes-                            vergleichbare Bedarfe: nach
        ländern für die konsequente                                    Selbstwirksamkeit, Anerkennung,
        Umsetzung der Personenzentrierung2                             sozialen Kontakten, nach Anregungen
        (vgl. Steinmüller 2021).                                       und Freude.
    •   Die für die Umsetzung entwickelten                        •    Alle Menschen haben ein
        Instrumente (beispielsweise zur                                Entwicklungspotenzial.
        Bedarfsermittlung) sowie das Gesamt-                      •    Es ist für Menschen mit hohem
        planverfahren befinden sich derzeit                            Unterstützungsbedarf wesentlich
        in der Erprobung.                                              schwieriger als für andere,
    •   Manche Instrumente (beispielsweise                             selbstbestimmt zu handeln und
        zur Abgrenzung von Eingliederungs-                             ihr Recht auf volle wirksame und
        hilfe und Pflege) werden derzeit                               gleichberechtigte Teilhabe und
        entwickelt.                                                    Partizipation auszuüben.
    •   Menschen mit hohem Unterstützungs-                        •    Die Gruppe zeichnet sich durch eine
        bedarf haben derzeit kaum                                      große Heterogenität aus. Es gibt
        Partizipationsmöglichkeiten und                                nicht den Menschen mit hohem
        sind nicht sichtbar.                                           Unterstützungsbedarf.
    •   Es gibt nicht den Menschen mit hohem
        Unterstützungsbedarf. Es handelt sich                     Die Heterogenität bedeutet konkret: Wäh-
        um eine sehr heterogene Gruppe.                           rend die einen aktiv an gemeinsamen Auf-
                                                                  gaben in einer Gruppe mitwirken können,
                                                                  sind andere anwesend und nehmen wahr.
                                                                  Während die einen lautsprachlich kommu-
                                                                  nizieren oder sich mit der Unterstützten
                                                                  Kommunikation (UK) verständigen können,
                                                                  sind andere darauf angewiesen, dass ihre
                                                                  engsten Bezugspersonen ihre Reaktionen

    2 Personenzentrierung bedeutet, „dem Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der
       Würde des Menschen entspricht, und die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu
       fördern.“ (Umsetzungsbegleitung BTHG)

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wahrnehmen, interpretieren und daraus          Auslöser für das Projekt „Selbstbestim-
Wünsche und Bedürfnisse ableiten. Wäh-         mung, Teilhabe und Partizipation im Alltag
rend die einen aktiv Kontakt zur Umwelt        von Menschen mit hohem Unterstützungs-
aufnehmen, sind andere darauf angewie-         bedarf“ war die Sorge, dass Menschen mit
sen, dass diese (immer wieder) den ersten      hohem Unterstützungsbedarf bei der An-
Schritt tut.                                   wendung des BTHG benachteiligt würden.
                                               Befürchtet wurden eine negative direkte
Für einen Teil der Menschen mit hohem          Auswirkung einzelner Regelungen des Ge-
Unterstützungsbedarf ist ihre körperliche      setzes oder indirekte Auswirkungen, die sich
Verfasstheit von elementarer Bedeutung.        aus der Interpretation des BTHG und den
Dies können Schmerzen, Epilepsien oder le-     sich widerstreitenden Zielen ergeben. Das
bensbedrohliche Erkrankungen sein. Nicht       Projekt wurde von der Software-AG – Stif-
wenige von ihnen haben einen hohen pfle-       tung, der Stiftung Lauenstein, der Aktion
gerischen Unterstützungsbedarf. Außerdem       Mensch sowie der Kämpgen-Stiftung geför-
ergibt sich bei einem Teil der Menschen der    dert. Allen Förderern sei an dieser Stelle sehr
hohe Unterstützungsbedarf aus ihrem Ver-       herzlich gedankt. Den vielen Mitarbeitenden
halten, das von der Umgebung als heraus-       der Organisationen, die wir besucht und die
fordernd definiert bzw. wahrgenommen           uns Interviews gegeben haben, sei herzlich
wird.                                          für ihre Zeit und ihre Offenheit gedankt. Die
                                               Mitglieder des Projektbeirats haben das Pro-
Menschen mit hohem Unterstützungsbe-           jekt an den entscheidenden Stellen – zu Be-
darf wohnen in gemeinschaftlichen Wohn-        ginn und bei der Erstellung dieser Veröffent-
formen, bei ihren Familien und in Ausnah-      lichung – durch ihre Expertise und wichtige
mefällen in ambulanten Settings.               Hinweise bereichert. Außerdem sei Roland
                                               Rosenow für Klarstellungen gedankt.
Es gibt zahlreiche Unterschiede, aber auch
Gemeinsamkeiten. Es ist für Menschen mit
hohem Unterstützungsbedarf wesentlich          Vorgehen
schwieriger als für andere, selbstbestimmt
zu handeln und ihr Recht auf volle, wirksame   Während der gesamten Laufzeit des Projek-
und gleichberechtigte Teilhabe und Partizi-    tes fand eine intensive Auseinandersetzung
pation auszuüben. Unterschiedliche Barrie-     mit relevanter wissenschaftlicher Literatur,
ren schränken ihre Möglichkeiten ein. Be-      Studien und anderen Projekten statt. In die
sonders entscheidend: Entweder wird ihnen      Projekt-Veröffentlichungen fließen außer-
zu wenig zugetraut oder eine Fähigkeit wird    dem die Ergebnisse von empirischen Unter-
selbstverständlich vorausgesetzt. Dies zei-    suchungen ein, die in der Handreichung
gen wissenschaftliche Veröffentlichungen,      „Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizi-
aber auch die Erfahrungen, die das Institut    pation im Alltag von Menschen mit hohem
Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) in       Unterstützungsbedarf“ veröffentlicht wur-
den letzten Jahren bei der Begleitung von      den (zum Vorgehen s. Grüber 2021). Mit Ro-
Organisationen der Eingliederungshilfe und     land Rosenow, einem der Kommentatoren
in Projekten gemacht hat.                      des SGB IX, wurden ein Interview und meh-
                                               rere vertiefende Gespräche geführt.

EINLEITUNG                                                                                       7
SELBSTBESTIMMUNG,
    TEILHABE UND PARTIZIPATION
    VON MENSCHEN MIT HOHEM
    UNTERSTÜTZUNGSBEDARF

    Im Folgenden wird unter Berücksichtigung     Ergebnisse des gleichnamigen Projektes des
    der oben genannten Prämissen konkret         IMEW vorstellt. Es werden folgende Kriterien
    dargestellt, was Selbstbestimmung, Teil-     kurz erläutert.
    habe und Partizipation für Menschen mit
    hohem Unterstützungsbedarf bedeuten          •   Unterstützte Kommunikation
    können. Grundlage ist die Veröffentlichung       einsetzen
    „Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipa-   •   Selbstbestimmung und
    tion von Menschen im Alltag von Menschen         Empowerment fördern
    mit hohem Unterstützungsbedarf“, die die     •   Teilhabe realisieren

8   SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
•   Normalisierung – Bürger_innen                o. J. a). Kommunikation gilt als „Schlüssel zu
    unter Mitbürger_innen und                    einem selbstbestimmten Leben“ (vgl. Lang
    anerkannter Teil der Gesellschaft sein       und Reich 2019, S. 75 sowie Müller und Thäle
•   Partizipation gewährleisten                  2019). Fehlende Kommunikation bzw. nicht
                                                 adäquate Kommunikationsmöglichkeiten
Es folgt jeweils eine kurze Einschätzung         erschweren oder verunmöglichen es Men-
der Situation. Beispiele aus dem Alltag von      schen mit hohem Unterstützungsbedarf,
Menschen mit hohem Unterstützungsbe-             ihre Wünsche und Bedarfe mitzuteilen, in
darf sollen ihre Sichtbarkeit erhöhen. Den       einen sozialen Austausch zu treten und
Beispielen liegen konkrete Erfahrungen zu-       wichtige Informationen zu erhalten.
grunde, die wir aus eigenen Beobachtungen,
aus Berichten oder aus der Auswertung von        Unterstützte Kommunikation (UK) ist der
Filmen gewonnen haben. Sie wurden teil-          Oberbegriff für lautsprachergänzende oder
weise verfremdet und pseudonymisiert, um         ersetzende Kommunikationsformen von
Rückschlüsse auf Personen und Organisatio-       Menschen, die nicht, kaum oder nicht in
nen zu verhindern.                               jeder Situation über Lautsprache verfügen.
                                                 Außerdem umfasst der Begriff pädagogi-
                                                 sche und therapeutische Maßnahmen, um
Unterstützte Kommunikation                       die kommunikativen Möglichkeiten dieser
einsetzen                                        Menschen zu erweitern. (Gesellschaft für
                                                 Unterstützte Kommunikation o. J.)
Menschen kommunizieren auf unterschied-
liche Weise: mit den Augen, über die Mimik,      Bisher wendet nur ein Teil der Menschen,
mit dem Mund und mit den Händen (Ge-             die UK benötigen, diese auch an (Wahl 2018,
sellschaft für unterstützte Kommunikation        S. 392).

    Anja Meier, 27 Jahre, besucht eine Tagesförderstätte. Mit ihrem kleinen Zeh wählt sie über einen
    Taster Lieder aus dem Sprachcomputer aus. Ein Lied scheint es ihr besonders angetan zu haben.
    Sie wählt es immer wieder aus und scheint genau dies ihrer Umgebung mitteilen zu wollen. Nach
    einiger Zeit erfahren die Mitarbeitenden der Tagesförderstätte, dass dieses Lied beim letzten
    Besuch von Anja Meiers Schwester gespielt wurde. Sie teilen ihr mit, dass sie verstanden haben,
    dass es ihr um den Besuch ging – und nachdem Anja Meier ihr Kommunikationsziel erreicht hat,
    wendet sie sich anderen Musikstücken zu.

    Christian Müller, 70 Jahre, lebt seit vielen Jahren in einer Wohngruppe. Er spricht viel, allerdings
    keine Sprache, die von seiner Umwelt verstanden wird. Irgendwann kommen neue Mitarbeitende
    in die Gruppe. Sie probieren eine Kommunikation über Gebärden. Innerhalb von zwei Wochen
    hat Christian Müller bereits zwölf Alltagsgebärden erlernt, mit denen er seine Grundbedürfnisse
    gut verständlich machen kann.

SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF                   9
Selbstbestimmung                                 „WIR REDEN GANZ VIEL VON
             und Empowerment fördern                          SELBSTBESTIMMUNG,
                                                              ABER ICH GLAUBE NICHT,
                                                              DASS ES ÜBERALL SCHON GANZ
             Selbstbestimmung als Gegenbegriff zur            WEIT IST.“                (Interview)
             Fremdbestimmung ist das Recht und die
             Möglichkeit, zwischen akzeptablen Alter-
             nativen selbst zu entscheiden. Dies kann         Einer der Gründe: Ihnen wird (zu) wenig
             Grundsatzfragen betreffen, wie die, wo ich       zugetraut. Es wird nicht selbstverständlich
             leben will oder „kleine Entscheidungen“ wie      angenommen, sie hätten ein Entwicklungs-
             „Was tue ich heute Abend? […] Was esse ich       potenzial, sie hätten Stärken und Ressour-
             zu Mittag?“ (vgl. Rosenow 2017). Für Men-        cen (vgl. Theunissen 2019). Ihnen fehlt der
             schen mit hohem Unterstützungsbedarf             soziale Austausch, der für die Entwicklung
             kann Selbstbestimmung auch bedeuten,             und für Lernprozesse wichtig ist, und sie ha-
             selbst über den Zeitpunkt des Trinkens zu        ben über den Tag verteilt unendlich lange
             entscheiden oder selbst zu steuern, ob sie       Wartezeiten (Lamers und Molnàr 2018, S. 24).
             sitzen oder liegen möchten (Delgado 2018),       Weil sie unterfordert sind und zu wenige
             oder Musik und Fernsehprogramme auszu-           Möglichkeiten haben, Neues auszuprobie-
             wählen.                                          ren, bleiben sie häufig hinter ihren Möglich-
                                                              keiten zurück. Sie können als Persönlichkeit
             Die Möglichkeiten für Menschen mit hohem         oder in ihren Fähigkeiten nicht wachsen.
             Unterstützungsbedarf, selbstbestimmt zu
             handeln, sind derzeit noch sehr einge-           Empowerment bedeutet so viel wie Befä-
             schränkt. Stellvertretend für Beobachtungen      higung oder Ermächtigung und ist als eine
             steht das folgende Zitat:                        Aktivierung innerer Ressourcen aufgrund
                                                              unterstützender äußerer Bedingungen zu
                                                              verstehen.

     Beno Schmidt, 42 Jahre, lebt in einer betreuten Wohngruppe. Er spricht nicht, sondern äußert
     sich non-verbal, oft basal. Er gestikuliert und lautiert – nicht immer ist für Kommunikations-
     partner_innen ein Zusammenhang verstehbar. In seinem Alltag äußert Beno Schmidt konkrete
     Wünsche, zum Beispiel, wenn es darum geht, was er essen möchte und was nicht. Der Assistent
     zeigt, welcher Aufschnitt im Kühlschrank ist. Beno Schmidt wählt aus, indem er die Packung
     greift, sie öffnet.

     Er mag Musik, eine CD besonders. Er ist nicht gern allein. Das wurde deutlich, als er über ein paar
     Wochen nicht in die Werkstatt konnte. Schokopudding liebt er. Und er liebt es, wenn sich Kreisel
     drehen. Davon hat er einige, mit denen er sich regelmäßig beschäftigt.

10            SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
Ursula Mönch, 35 Jahre, verbringt viel Zeit im Garten einer Einrichtung. Die anderen wissen: In
   geschlossenen Räumen fühlt sie sich nicht wohl. Am Anfang haben sie ihr ein Bett hingestellt.
   Das mochte sie nicht. Dann haben sie ihr einen Stuhl angeboten und räumen auf: Es liegen keine
   Zigarettenkippen mehr herum und keine Kanister. So ist es besser.

   Ulrike Bechtle, 27 Jahre, ist seit einigen Monaten in der Macherei, Evangelisches Johannesstift,
   Berlin beschäftigt. Am Anfang war sie überwältigt von den vielen Angeboten. Sie wurde nach
   ihren Vorlieben gefragt und entschied sich für alles. Für sie war es eine neue Erfahrung, dass ihre
   Wünsche ernst genommen wurden. Vorher hatte niemand gefragt. Dann merkte sie, dass ihre
   Umgebung komisch reagierte, wenn sie alles ankreuzte. Nach einem halben Jahr verstand sie:
   Alles kann sie nicht machen und es gefällt ihr auch nicht alles. Korbflechten zum Beispiel mag
   sie gar nicht. In den nächsten Monaten wird sie kochen, backen und weben. Und sie weiß, sie
   kann sich neu entscheiden.

Teilhabe realisieren                            bedarf. Sie haben Kontakte zu Menschen,
                                                die nicht für sie arbeiten und die nicht aus
Teilhabe bedeutet das Einbezogensein in         ihrem persönlichen Umfeld kommen. Noch
Situationen und das Dazugehören. Es be-         ist aber die Teilhabe im Sozialraum nicht
deutet, beispielsweise im Quartier unter-       selbstverständlich.
wegs zu sein, die Lebenswelt außerhalb von
Einrichtungen kennenzulernen und dort an        Eine der entscheidenden Barrieren ist die
Aktivitäten im Sozialraum teilzunehmen. Es      Lage der Wohn- bzw. Tagesförderstätte.
gibt unterschiedliche Möglichkeiten, zum        Je größer die Entfernung, desto höher der
Beispiel Spaziergänge, schwimmen, ins Kino      zeitliche und personelle Aufwand für Aktivi-
gehen, einkaufen, im Sozialraum arbeiten,       täten im Sozialraum. Dies gilt insbesondere
dort wohnen, Aufträge für Firmen in der Ta-     dann, wenn Menschen mit hohem Unter-
gesstätte oder vor Ort erledigen, aktiv etwas   stützungsbedarf den Rollstuhl nutzen und
gestalten oder einfach nur dabei sein. Alle     für die Überwindung der Distanz ein Fahr-
diese Tätigkeiten bewirken die Sichtbarkeit     zeug verwendet werden muss. Dann bleibt
von Menschen mit hohem Unterstützungs-          für den Kontakt im Sozialraum kaum Zeit.

   Hannes Dittrich, 35 Jahre, ist in einer Förderstätte von Leben mit Behinderung Hamburg be-
   schäftigt. Sein Lieblingstag in der Woche ist der Donnerstag. Dann sind er und Kolleg_innen im
   Hagenbecker Tierpark tätig. Sie reinigen Schilder und Bänke, schreddern Heu oder schneiden
   Möhren und Äpfel.

SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF                 11
Marina Marquardt, 35 Jahre, begleitet ihre Mutter bei Besuchen. Sie kann nicht sagen, „Ich möchte
     jetzt den und jenen sehen.“ Sie kann auch nicht eigenständig soziale Kontakte herstellen. Aber
     ihre Mutter kann feststellen: Wenn wir meine Freundin Anna besuchen, dann geht es Marina gut.
     Ulrike hat einen Hund und das gefällt Marina. Für Marinas Mutter ist das Teilhabe.

     Nicht alle sehen das so. Als bei einem Gerichtsverfahren eine Kraftfahrzeughilfe als Teilhabe-
     leistung verhandelt wurde, meinte ein Vertreter des Kostenträgers: „Also die Klägerin ist doch
     so behindert, die kann doch sowieso nicht teilhaben.“ Immerhin wurde er durch die Richterin für
     seine Diktion gerügt und die Kraftfahrzeughilfe wurde gewährt.

             Normalisierung – Bürger_                        Diese Anerkennung wird ihnen an verschie-
             innen unter Mitbürger_innen                     denen Stellen bisher verwehrt. So knüpft das
                                                             SGB IX die Beschäftigung in einer Werkstatt
             und anerkannter Teil der
                                                             an die Voraussetzung eines „Mindestmaß[es]
             Gesellschaft sein
                                                             an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleis-
                                                             tung“ (§§ 57 Abs. 2 und 219 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX).
             Der Begriff Normalisierung hat verschiede-      Wer diese Voraussetzung nicht erfüllt, dem
             ne Bedeutungen. Gemeint ist damit eine          bleibt nur die Tätigkeit in einer Tagesförder-
             Aufhebung der Separation und die Möglich-       stätte, dem FuB-Bereich oder einer vergleich-
             keit, „ein so normales Leben wie möglich“       baren Einrichtung, die unabhängig von den
             (Erhardt und Grüber 2011, S. 37) zu führen.     Werkstätten für Menschen mit Behinderung
             Es meint nicht, dass Menschen mit hohem         ist. In Berlin gibt es außerdem die Bezeich-
             Unterstützungsbedarf so sein müssen wie         nung Beschäftigungs- und Förderbereich
             Menschen ohne diesen Unterstützungsbe-          (BFB). Die Bezeichnung Tagesförderstätte
             darf. Menschen mit hohem Unterstützungs-        macht den Zweck deutlich. Klient_innen sol-
             bedarf haben Bedürfnisse nach Kommuni-          len dort nicht arbeiten oder einer Beschäfti-
             kation, sozialer Interaktion, Abwechslung,      gung nachgehen, sondern gefördert werden.
             Freude oder gemeinsamen Angeboten so
             wie andere auch (vgl. Bienstein und Sarimski    Auch nach Inkrafttreten des BTHG wurde
             2017). Sie sollen die Möglichkeit haben, das    eine Debatte um die Regelung der „wirt-
             zu tun, was andere auch tun: sich im Sozial-    schaftlichen Verwertbarkeit“ fortgeführt. Sie
             raum aufhalten, dort aktiv sein, Kontakte       war Schwerpunkt der Stellungnahmen von
             haben, sichtbar sein, Dienstleistungen im       Verbänden, die das Bundesministerium für
             Sozialraum erbringen und Produkte für den       Arbeit und Soziales (BMAS) im April 2018 zu
             Sozialraum herstellen. Sie sind Bürger_innen    einem Fachgespräch eingeladen hatte. Am
             unter Mitbürger_innen, sollen so wahrge-        Ende der Veranstaltung machte der BMAS-
             nommen werden und anerkannter Teil der          Unterabteilungsleiter Marc Nellen allerdings
             Gesellschaft sein.                              deutlich, das BMAS sehe „aktuell keinen ge-

12            SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
setzlichen Handlungsbedarf“. Er stellte nur       Dessen ungeachtet entscheiden sich Mit-
in Aussicht zu prüfen, inwieweit unterge-         arbeitende von Organisationen der Einglie-
setzliche Aktivitäten sinnvoll und notwendig      derungshilfe, auch in Tagesförderstätten
seien. Damit meinte er insbesondere neue          den Begriff Arbeit zu verwenden. Sie sehen
Forschungsaufträge. Er schloss mit dem Hin-       es als handlungsleitend an, Arbeit auch
weis, „[z]unächst sei es jedoch wichtig, die im   Menschen mit hohem Unterstützungsbe-
Rahmen des BTHG erfolgten Verbesserungen          darf zu ermöglichen, selbst wenn sie „aus
in die Praxis umzusetzen und deren Wirkung        rechtlicher Sicht nicht arbeiten können“
abzuwarten“ (BMAS 2018).                          (Bell 2019 b, S. 188).

   Mehmet Balci, 22 Jahre, ist stolz. Von Montag bis Freitag geht er in die Tagesförderstätte arbeiten.
   Das machen seine Eltern und seine Geschwister woanders auch. Er geht gerne zur Arbeit. Aber
   er freut sich auch auf das Wochenende. Dann hat er Zeit, mit seinen Geschwistern zu spielen.

   Natalie Fest, 32 Jahre, ist Mitglied eines Beirats einer Förderstätte. In dieser Funktion hat sie in
   einer benachbarten Stadt einen Vortrag über Talker mit Augensteuerung gehalten und wurde
   dabei von ihrer Mutter begleitet. Diese meinte anschließend: „Es ist das erste Mal, dass ich wo
   bin, wo meine Tochter eine tragende Rolle spielt und ich nur dabei bin“.

   Edward Miller, 28 Jahre, mag Züge. Wie seine Bezugsperson das rausgefunden hat, ist nicht mehr
   bekannt. Wichtig ist: Edward Miller verbringt regelmäßig Zeit auf dem Bahnsteig. Dies trägt sicht-
   bar nicht nur zu seiner Freude bei: Auch das Bahnpersonal ist froh ist, dass sich jemand „einfach“
   freut und keine Kritik wegen der Zugverspätungen übt.

Partizipation gewährleisten                       dungsteilhabe oder auch Entscheidungs-
                                                  macht. Die Mitwirkungs- und Mitbestim-
Partizipation bedeutet, aktiv in Gestaltungs-     mungsmöglichkeiten von Menschen, die in
und Entscheidungsprozesse einbezogen zu           Einrichtungen leben, sind in Gesetzen und
sein. Es geht darum, sowohl dazuzugehören         Verordnungen der einzelnen Bundesländer
als auch Einfluss zu nehmen. Einflussnahme        geregelt. Anders als in den Werkstätten gibt
kann sehr Unterschiedliches bedeuten: mit-        es für Tagesförderstätten keine rechtliche
machen, mitwirken oder mitentscheiden.            Grundlage für Mitwirkungsmöglichkeiten
Partizipation ist in diesem Sinne Entschei-       der dort Beschäftigten.

SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF                  13
Sevinc Kurban, 32 Jahre, wurde im Jahr 2019 in den Beirat einer Tagesförderstätte gewählt. Es ist
     das erste Mal, dass es einen solchen Beirat gibt. Der Beirat trifft sich, um gemeinsam zu über-
     legen, wie die Arbeit anders und besser werden kann. Gemeinsam mit den anderen Mitgliedern
     des Beirats hat Sevinc Kurban Forderungen an die Geschäftsführung kommuniziert. Dies betrifft
     auch die Gestaltung des Außenbereichs. Die Beschäftigten in der Tagesförderstätte wünschen
     sich dort mehr Möglichkeiten für den Aufenthalt in den Pausen.

     Für Sevinc Kurban ist Partizipation wichtig. Dazu müssen aber auch die Bedingungen stimmen.
     Ihre Möglichkeiten zur Partizipation sind bei starken Schmerzen erschwert bzw. unmöglich. Dies
     wiederum ist abhängig vom Rollstuhl. Wenn dieser nicht an ihren Bedarf angepasst ist, nehmen
     ihre Schmerzen zu. Außerdem ist sie darauf angewiesen, dass ihr Mitarbeitende den Talker (das
     Sprachausgabegerät) zur Verfügung stellen und dass er funktioniert. Sie erwartet, wie eine Er-
     wachsene und nicht wie ein Baby behandelt zu werden.

14            SELBSTBESTIMMUNG, TEILHABE UND PARTIZIPATION VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
DIE PERSPEKTIVE VON
MENSCHEN MIT HOHEM
UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI
DER INTERPRETATION
DES BTHG BERÜCKSICHTIGEN

Im vorigen Kapitel wurde ausgeführt, was                       § 4 SGB IX
Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipa-                      Leistungen zur Teilhabe
tion für Menschen mit hohem Unterstüt-
zungsbedarf bedeuten kann und soll. Um                         § 4 SGB XI normiert die Sozialleistungen
ihre Situation zu verbessern, gibt es ver-                     zur Teilhabe (Fuchs: in F/R/R SGB IX § 4, Rn
schiedene Ansatzmöglichkeiten, wobei der                       3). Leistungen werden an das Erreichen von
UK eine besondere Bedeutung zukommt.                           Teilhabezielen geknüpft (Fuchs: in F/R/R
                                                               SGB IX § 4, Rn 1). Die Zielbestimmung ist
Folgenden werden schlaglichtartig rechtli-                     als „Übertragung der Zieldefinition der ICF3
che Regelungen im SGB IX beschrieben. Im                       in das deutsche Sozialrecht“ zu verstehen.
Anschluss an eine knappe Darstellung der                       (Fuchs: in F/R/R SGB IX § 4, Rn 4).
wesentlichen Inhalte einzelner Paragrafen
des SGB IX folgen ausgewählte Interpreta-                      Aus der Perspektive von Menschen mit ho-
tionen, die eine Verbindung zwischen dem                       hem Unterstützungsbedarf beschreibt § 4
Gesetzestext und der Perspektive von Men-                      Abs. 1 Nr. 4 SGB IX ein wichtiges Ziel:
schen mit hohem Unterstützungsbedarf
herstellen. Es werden mögliche Probleme
identifiziert sowie Hinweise gegeben, wie                      „DIE PERSÖNLICHE ENTWICKLUNG
die rechtlichen Regelungen im Sinne von                        GANZHEITLICH ZU FÖRDERN UND DIE
Menschen mit hohem Unterstützungsbe-                           TEILHABE AM LEBEN IN DER GESELL-
darf interpretiert werden können.                              SCHAFT SOWIE EINE MÖGLICHST
                                                               SELBSTÄNDIGE UND SELBSTBESTIMMTE
                                                               LEBENSFÜHRUNG ZU ERMÖGLICHEN
                                                               ODER ZU ERLEICHTERN.“

3 Die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) wurde 2001 von der Welt-
   gesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. Sie stellt eine Klassifikation des funktionalen Gesundheitszustandes,
   der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten Umgebungsfaktoren eines Menschen dar.

DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF                         |   INTERPRETATION DES BTHG          15
§ 76 SGB IX                                                Unterstützungsbedarf, auch wenn sie wie alle
     Leistungen zur Sozialen Teilhabe                           Menschen ein Entwicklungspotenzial haben.
     und § 78 SGB IX
                                                                Für sie ist es wichtig, dass ihnen Selbstbe-
     Assistenzleistungen
                                                                stimmung und Teilhabe „in kleinsten Berei-
                                                                chen“ (Delgado 2018, S. 50), bei Pflegehand-
     § 76 SGB XI normiert den Anspruch auf Leis-                lungen oder beim Essen ermöglicht wird. Es
     tungen zur Sozialen Teilhabe auf der Basis                 ist für sie wichtig, dass alltägliche Handha-
     der Bedarfsermittlung. Es werden Leistungs-                bungen und Routinen wie Zähneputzen oder
     ziele genannt sowie die Leistungen, die zur                Broteschmieren nicht nur für sie ausgeführt
     Sozialen Teilhabe beansprucht werden kön-                  werden, sondern dass sie die Möglichkeit ha-
     nen (Fuchs: in F/R/R SGB IX § 76, Rn 1).                   ben, zu entscheiden und mitzumachen (vgl.
                                                                Bell 2019 a, S. 111). Eine entscheidende Bedin-
     § 78 Abs. 1 SGB XI enthält einen Katalog mit               gung dafür ist die Qualifikation des Personals
     Leistungen zur Sozialen Teilhabe. Aus der                  (vgl. Bell 2019 a, Richter und Thäle 2019, Grü-
     Sicht von Menschen mit hohem Unterstüt-                    ber 2021). Die gesetzliche Grundlage dafür
     zungsbedarf ist die explizite Erwähnung                    ist vorhanden, weil erstens die Möglichkeit
     von Leistungen zur „Verständigung mit der                  zwar nicht erwähnt, aber auch nicht explizit
     Umwelt“ hervorzuheben (§ 78 Abs. 1 Satz 3                  ausgeschlossen ist, weil zweitens aus § 76
     SGB IX). Allerdings wird die Unterscheidung                SGB IX ein umfassender Anspruch abzulei-
     in § 78 Abs. 2 SGB IX zwischen                             ten ist und weil drittens nach §124 Abs. 2. die
                                                                leistungsberechtigte Person Anspruch hat auf
     •   Assistenzleistungen zur „voll-                         die Qualifikation, die für die jeweilige Unter-
         ständige[n] und teilweise[n] Über-                     stützungsleistung fachlich erforderlich ist.
         nahme von Handlungen zur Alltags-                      (Interview Rosenow).
         bewältigung sowie [der] Begleitung
         der Leistungsberechtigten“                             Verhältnis Eingliederungshilfe
         (§ 78 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) und
                                                                und Pflege – § 91 SGB IX
     •   Leistungen, die den Leistungs-
                                                                Nachrang der Eingliederungs-
         berechtigten „zu einer eigenständigen
         Alltagsbewältigung“ befähigen
                                                                hilfe und § 103 SGB IX
         (§ 78 Abs. 2 Satz 1 SGB IX),                           Sonderregelung für
                                                                pflegebedürftige Menschen
     von verschiedenen Stellen problematisiert                  mit Behinderung
     (Bell 2019 a, Klauß 2018, Delgado 2018).
     Grundlage der Kritik ist die explizite Erwäh-              Das Verhältnis von Leistungen der Einglie-
     nung von Fachkräften ausschließlich für                    derungshilfe einerseits zur Pflegeversiche-
     Leistungen nach § 78 Abs. 2 SGB IX. Denn das               rung und andererseits zur Hilfe zur Pflege
     Ziel der eigenständigen Alltagsbewältigung                 wird seit vielen Jahren diskutiert. 4 So be-
     erreichen nur wenige Menschen mit hohem                    fürchten Behindertenverbände – durchaus

     4 s. insbesondere die Stellungnahmen der Fachverbände für Menschen mit Behinderung Stellungnahmen/
        Positionspapiere | Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung (diefachverbaende.de).

16       INTERPRETATION DES BTHG       |   DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
gestützt auf Erfahrungen –, dass Menschen        erfolgt, dass die Betroffenen ihre Wünsche
mit Behinderung mit gleichzeitigem hohem         und Bedarfe ausdrücken können.
Pflegebedarf aus dem System der Eingliede-
rungshilfe herausgedrängt werden und dass
sie nicht die Leistung erhalten, die ihrem Be-   § 117 SGB IX
darf entspricht (Landschaftsverband Rhein-       Gesamtplanverfahren
land 2020).
                                                 Das Gesamtplanverfahren ist eines der
Nach langen Diskussionen im Gesetzge-            zentralen Instrumente zur Verbesserung
bungsverfahren wurde über § 91 Abs. 3            von Selbstbestimmung und Teilhabe für
SGB IX die Gleichrangigkeit der Leistungen       Menschen mit Behinderung. Darin werden
aus der Eingliederungshilfe und aus der Pfle-    „die Bedarfe der leistungsberechtigten Men-
geversicherung normiert. Von verschiede-         schen […] erfasst und von den Kostenträgern
nen Seiten wird angemerkt, dass die Schnitt-     beschieden“ (Der Paritätische Baden-Würt-
stellenproblematik weder im Verhältnis der       temberg o. J. b). Dies bedeutet eine Umorien-
Eingliederungshilfe zur Pflegeversicherung       tierung weg von „scheinbar homogenen
noch im Verhältnis der Eingliederungshilfe       Hilfebedarfsgruppen hin zur Personenzen-
zur Hilfe zur Pflege beseitigt wurde (Tscheu-    trierung“ (vgl. Beck und Franz 2019).
lin 2019). Es verbleibe „eine Schnittmenge
[…], bei der im Einzelfall der individuelle      Menschen mit Behinderung sollen aktiv an
Bedarf festzustellen ist“ (BAGÜS 2021 a,         diesem Prozess teilnehmen und ihn gestal-
S. 13). Allerdings gestaltet sich die Entwick-   ten. Sie sollen selbstbestimmt und selbst-
lung von Instrumenten zur Abgrenzung als         bewusst ihre Bedarfe, Wünsche und Ziele
schwierig, weil „eine Zuordnung anhand der       formulieren und mit dem Kostenträger eine
konkreten Maßnahme kaum möglich sein             Vereinbarung abschließen. Zumindest impli-
wird, da sich die Leistungen sehr ähnlich        zit setzt dies „die Fähigkeiten aktiver Kun-
sehen. Viele Unterstützungsleistungen kön-       densouveränität voraus“ (Boecker und We-
nen nach äußerer Betrachtung sowohl Pfle-        ber 2018) bzw. eine „Regiekompetenz“ (vgl.
geleistung als auch Teilhabeleistung sein“       Landschaftsverband Rheinland 2020, S. 18).
(Landschaftsverband Rheinland 2020, S. 9).
                                                 Es ist fraglich, inwieweit die genannten Vo-
Aus der Perspektive von Menschen mit ho-         raussetzungen auf alle Menschen mit Be-
hem Unterstützungsbedarf ist es umso not-        hinderung zutreffen. Menschen mit hohem
wendiger, nicht nur aufzuzeigen, was teilha-     Unterstützungsbedarf jedenfalls erfüllen
beorientierte Heilerziehungspflege, sondern      diese Anforderungen entweder zu einem
auch was teilhabeorientierte Pflege bedeu-       bestimmten Zeitpunkt oder dauerhaft nicht.
tet und wie dies in der Praxis umgesetzt         Dies liegt daran, dass ihnen die Möglichkei-
werden kann. Wie bereits zu § 78 SGB IX          ten zur Kommunikation fehlen (s. Unter-
ausgeführt, erfahren Menschen mit hohem          stützte Kommunikation, S. 9) oder weil sie
Unterstützungsbedarf Selbstbestimmung            wenig Erfahrungen mit selbstbestimmten
und Teilhabe auch bei der Körperpflege, aber     Entscheidungen haben (s. Selbstbestim-
nur, wenn diese fachlich qualifiziert ausge-     mung und Empowerment, S. 10). Sie können
führt wird und wenn die Kommunikation so         kaum Vorstellungen zu Teilhabemöglich-

DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF      |   INTERPRETATION DES BTHG     17
keiten entwickeln, weil sie die Angebote des                      Eine nicht nur, aber auch für Menschen mit
     Sozialraums nicht kennen (s. Teilhabe S. 11).                     hohem Unterstützungsbedarf entschei-
                                                                       dende Frage ist, welche Ziele wie formuliert
     All dies sind wichtige Ansatzpunkte für die                       werden. Die BAGÜS empfiehlt, Teilhabeziele
     Ausgestaltung der Gesamtplanverfahren                             nach dem SMART- Prinzip5 zu formulieren
     (s. S. 21).                                                       (BAGÜS 2021 b, S. 8).

                                                                       Da mit dem BTHG auch die Ausgabendy-
     § 118 SGB IX                                                      namik gesenkt werden soll (vgl. Bell 2019 a,
     Instrumente der                                                   S. 110), wird befürchtet, dass Teilhabeziele so
     Bedarfsermittlung                                                 formuliert werden, dass Menschen mit ho-
                                                                       hem Unterstützungsbedarf diese nicht errei-
     Nach § 118 SGB IX müssen sich die Instrumen-                      chen können und deshalb Leistungen nicht
     te zur Feststellung des individuellen Bedarfs                     erhalten. Dies gilt insbesondere für das Ziel
     an der Internationalen Klassifikation der                         der eigenständigen Alltagsgestaltung. Hin-
     Funktionsfähigkeit, Behinderung und Ge-                           gegen richten sich menschenrechtskonfor-
     sundheit (ICF) orientieren. Die ICF betrachtet                    me Teilhabeziele an den Möglichkeiten und
     „nicht nur die körperlichen, individuellen und                    Bedarfen der Betreffenden aus (vgl. Bell 2019
     gesellschaftlichen Komponenten von Behin-                         a), was auch bedeutet, dass mehr Teilhabe für
     derung, sondern auch das private Umfeld und                       die betreffende Person erreicht wird.
     die persönlichen Lebenserfahrungen sowie
     die für einen Menschen spezifischen Barrie-                       Nicht nur die Ziele, auch die Indikatoren,
     ren und Unterstützungsfaktoren“ (Hirsch-                          mit denen Entwicklungsfortschritte dar-
     berg 2009). Damit wird der Blick auch auf das                     gestellt werden sollen, stellen unter Um-
     Umfeld gelenkt. Teilhabe wird eben nicht nur                      ständen ein Problem dar. Befürchtet wird,
     dadurch erreicht, dass Menschen mit Behin-                        dass sich keine messbaren Indikatoren für
     derung sich als Folge einer Förderung entwi-                      Entwicklungsfortschritte darstellen lassen
     ckeln, sondern dass sich die Umwelt ändert.                       und dass Menschen mit hohem Unterstüt-
     Die Ethischen Leitlinien zur Verwendung der                       zungsbedarf auf der Grundlage eines „sehr
     ICF empfehlen übrigens, „unter Mitwirken                          reduzierten Teilhabeverständnisses“ (Klauß
     der betroffenen Person ihre Wahl- und Steue-                      2018) Teilhaberechte vorenthalten werden.
     rungsmöglichkeiten bezüglich ihres Lebens“                        Hier wäre zumindest eine Öffnungsklausel
     zu erhöhen (DIMDI 2015).                                          hilfreich (s. Empfehlungen S. 20ff).

     Die Bundesländer haben unterschiedliche
     Instrumente entwickelt, die derzeit erprobt                       § 123 SGB IX
     werden (s. beispielweise BedarfsErmittlung                        Allgemeine Grundsätze
     Niedersachsen (kurz: B.E.Ni) (vgl. Niedersäch-
     sisches Landesamt für Soziales, Jugend und                        In den allgemeinen Grundsätzen zum Ver-
     Familie 2018).                                                    tragsrecht werden unter anderem Anfor-

     5 Das SMART-Prinzip stellt die Frage: Sind die Ziele spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch und terminiert?

18      INTERPRETATION DES BTHG            |   DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
derungen an die Leistungen der Leistungs-        mäßige Fortbildungstage sind danach Ele-
träger normiert. Diese werden gemäß dem          mente der Strukturqualität einer Leistung
Grundsatz der Wirtschaftlichkeit einerseits      (Interview Roland Rosenow).
durch eine Untergrenze, das heißt den „ak-
tuellen state of the art der jeweiligen Dis-     Die landesrechtlichen Regelungen nach
ziplin“, und andererseits durch eine Ober-       § 125 SGB IX sind die Grundlage für Lan-
grenze bestimmt (Rosenow: in F/R/R § 123,        desrahmenvereinbarungen der Träger der
Rn 56). Es kann davon ausgegangen werden,        Eingliederungshilfe und der Organisatio-
dass sich der State of the Art von Heilpäd-      nen der Leistungserbringer. Dies ist die
agogik, Heilerziehungspflege oder auch der       Basis für die Leistungsbeschreibungen so-
Pflegewissenschaft durch die Förderung der       wie Vergütungsverhandlungen zwischen
Selbstbestimmung und Teilhabe und die An-        den Leistungsträgern und den einzelnen
wendung der UK auszeichnet.                      Leistungserbringern (Der Paritätische Ba-
                                                 den-Württemberg o. J. a) Diese Regelungen
                                                 können im Sinne von Menschen mit hohem
§ 124 SGB IX                                     Unterstützungsbedarf genutzt werden, um
Geeignete Leistungserbringer                     die Qualität der Leistungen zu verbessern,
                                                 nicht nur, aber auch durch Fortbildungen
§ 124 SGB IX normiert die Anforderungen an       (vgl. Theunissen 2019).
die Qualität des Personals, das die Leistungen
erbringen soll. Unter anderem wird in § 124
Abs. 2 Satz 2 SGB IX gefordert, dass Mitarbei-   § 128 SGB IX
tende „über die Fähigkeit zur Kommunikation      Wirtschaftlichkeits- und
mit den Leistungsberechtigten in einer für       Qualitätsprüfung
den Leistungsberechtigten wahrnehmbaren
Form verfügen.“ Bezogen auf Menschen mit         Vor dem Hintergrund, dass es bisher „keine
hohem Unterstützungsbedarf bedeutet dies         wirksamen Systeme der Qualitätssicherung“
eine ausreichende Qualifikation in UK.           gibt, wurden in § 128 SGB IX die Leistungs-
                                                 erbringer dem Prüfrecht des Trägers der Ein-
                                                 gliederungshilfe unterworfen (Rosenow: in
§ 125 SGB IX                                     F/R/R, § 128, Rn 2). Damit wird der Tatsache
Inhalt der schriftlichen                         Rechnung getragen, dass Menschen mit Be-
Vereinbarung                                     hinderung, also die Leistungsberechtigten,
                                                 erstens wegen ihrer Behinderung die Leis-
§ 125 SGB IX normiert die Inhalte der Leis-      tungserfüllung nur eingeschränkt prüfen
tungsvereinbarung (§ 125 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX)    können und zweitens vom Leistungsträger
und die Vergütungsvereinbarung (§ 125            abhängig sind (vgl. Rosenow: in F/R/R, § 128,
Abs. 1 Nr. 2 SGB IX) zwischen den Trägern        Rn 2). Unter der Voraussetzung, dass der Trä-
der Eingliederungshilfe und den Leistungs-       ger der Eingliederungshilfe Prüfungen auf
erbringern. Dazu gehören sowohl die perso-       der Grundlage der oben genannten Ziele
nelle Ausstattung als auch die Qualifikation     durchführt, sind die Prüfungen für Men-
des Personals (§ 125 Abs. 2 SGB IX). Fortbil-    schen mit hohem Unterstützungsbedarf
dungen, aber auch Supervision und regel-         also ausgesprochen sinnvoll.

DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF      |   INTERPRETATION DES BTHG     19
DIE PERSPEKTIVEN VON
     MENSCHEN MIT HOHEM
     UNTERSTÜTZUNGSBEDARF BEI
     DER ANWENDUNG DES
     BTHG BERÜCKSICHTIGEN

     Wie können nun die Perspektiven der sehr      „JA, ES GIBT MENSCHEN, DIE MEHR
     heterogenen Gruppe der Menschen mit ho-       ASSISTENZ UND UNTERSTÜTZUNG
     hem Unterstützungsbedarf bei der Umset-       BRAUCHEN ALS ALLGEMEIN
     zung des BTHG berücksichtigt werden? Die      ANGENOMMEN. JA, SIE GEHÖREN
     Antwort kann in folgenden Kernsätzen zu-      DAZU, SIE HABEN TEIL. JA, SIE WOLLEN
     sammengefasst werden: Es ist notwendig,       UND KÖNNEN ENTSCHEIDUNGEN
                                                   TREFFEN, WOLLEN MITWIRKEN UND
     •   dass die Beteiligten ein Verständnis      MITGESTALTEN. DAFÜR BENÖTIGEN
         für die Perspektiven von Menschen         SIE INTENSIVE UNTERSTÜTZUNG – EIN
         mit hohem Unterstützungsbedarf            LEBEN LANG.“              (Bell 2019 a, S. 113)
         entwickeln,
     •   dass die Prozesse konsequent nach
         ihren Bedarfen ausgerichtet sind und      Die Anwendung des BTHG bietet den Ak-
     •   dass Teilhabeziele menschenrechtlich      teur_innen an vielen Stellen Ansatzpunkte.
         formuliert werden.                        Folgende drei Instrumente, die der gesetz-
                                                   liche Rahmen bietet, sind für die Berücksich-
     Letztlich bedeutet dies nichts anderes als    tigung der Perspektiven besonders relevant:
     eine konsequente Umsetzung der Per-
     sonenzentrierung. Verwirklichung dieser       •   Gesamtplanverfahren
     Kernpunkte ist für alle Menschen mit Be-      •   Bedarfsermittlungsinstrumente
     hinderung entscheidend. Für Menschen          •   Leistungsvereinbarungen
     mit hohem Unterstützungsbedarf ist sie
     eine zwingende Voraussetzung für ihre
     gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der
     Gesellschaft. Ihre grundlegenden Bedarfe
     und Rechte unterscheiden sich nicht von
     denen anderer, sehr wohl aber die konkre-
     ten Bedarfe und die Bedingungen für ihre
     Verwirklichung.

20        ANWENDUNG DES BTHG   |   DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
Gesamtplanverfahren                               eindeutig kommunizieren bzw. ihre
                                                  Wünsche nicht äußern können. Der
Entscheidender Ort für die Berücksichtigung       Unterstützungsbedarf wird ohne
ist das Gesamtplanverfahren. Es wird emp-         Beteiligung der Leistungserbringer
fohlen, eine kurze Handreichung für Leis-         erhoben, bei der Planung konkreter
tungsträger, Leistungserbringer, Menschen         Ziele und Maßnahmen werden
mit hohem Unterstützungsbedarf, Angehö-           sie dann aber einbezogen (festgelegt
rige und gesetzliche Betreuer zu entwickeln.      im neuen Berliner Rahmenvertrag,
Sie sollte folgende Eckpunkte in Bezug auf        s. Bell 2019 a, S. 109).
die Haltung, Hinweise zur Beteiligung am       6. Es wird deshalb empfohlen, für
Verfahren und zu Inhalten von Teilhabezie-        Personen, für die eine „individuelle
len enthalten:                                    selbstbestimmte und autonome
                                                  Lebensgestaltung kaum möglich ist,
1. Eine kurze Darlegung, dass die                 Teilhabeziele zu formulieren, mit denen
   Zielgruppe die gleichen Rechte und             Potentiale, Stärken oder Ressourcen
   Bedarfe hat wie andere Menschen                erfasst werden können“
   mit Behinderung, dass sich aber                (vgl. Theunissen 2019).
   individuelle Bedarfe unterscheiden.         7. Es werden Hinweise gegeben, wie
   Dies wird durch konkrete Beispiele             eine menschenrechtliche Formulierung
   deutlich gemacht. Außerdem wird                von Teilhabezielen erfolgen kann.
   auf die große Heterogenität der                Es geht dabei insbesondere um mehr
   Zielgruppe hingewiesen, um sowohl              Selbstbestimmung und Teilhabe.
   eine Unterforderung als auch eine
   Überforderung zu vermeiden.
2. Die Beteiligten erhalten Hinweise             BEISPIELE FÜR
   darauf, dass vielen Menschen mit              MENSCHENRECHTSKONFORME
   Behinderung die Formulierung von              TEILHABEZIELE:
   Wünschen und Bedarfen bisher
   erschwert bzw. prinzipiell schwierig ist.     „Der Leistungsempfänger kann
3. Ihre Beteiligung an den Verfahren             selbstbestimmt trinken.
   wird zum Standard und Ausnahmen
   begründungspflichtig (vgl. Senats-            Die Leistungsempfängerin kann
   verwaltung für Integration, Arbeit und        selbst steuern, ob sie sitzen oder
   Soziales 2020).                               liegen möchte.“ (Delgado 2018, S. 50)
4. Es sind Ausführungen zu Bedingungen
   für eine aktive Teilnahme notwendig,
   beispielsweise der Einsatz der UK           8. Es wird empfohlen, Maßnahmen
   oder die Begleitung durch Vertrauens-          zur Nutzung der UK und des
   personen (vgl. Senatsverwaltung für            Empowerments als Teilhabeziele zu
   Integration, Arbeit und Soziales 2020).        formulieren.
5. Gegebenenfalls sind Zwischenschritte        9. Es wird empfohlen, Angebote
   im Gesamtplanverfahren                         außerhalb der bestehenden Strukturen
   einzubeziehen, wenn Menschen nicht             zu unterstützen.

DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF   |   ANWENDUNG DES BTHG        21
Bedarfsermittlungsinstrumente                        stützungsbedarf berücksichtigt
                                                          werden müssen, bei denen sich schwer
     Es wird empfohlen, die Bedarfsermittlungs-           bzw. keine messbaren Indikatoren für
     instrumente der Bundesländer so weiter zu            Entwicklungsfortschritte darstellen
     entwickeln, dass sie auch die Perspektiven von       lassen. Dies bedeutet unter
     Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf              Umständen die Festlegung weicherer
     berücksichtigen. Dies bedeutet insbesondere:         Ziele nach dem SMART-Prinzip.

     •   Die Beteiligten erhalten Hinweise
         darauf, dass vielen Menschen                 Leistungsvereinbarungen
         mit hohem Unterstützungsbedarf
         die Formulierung von Wünschen                Es wird empfohlen, in die Leistungsverein-
         und Bedarfen bisher erschwert bzw.           barungen zwischen Leistungsträgern und
         prinzipiell schwierig ist.                   Leistungserbringern folgende Punkte als
     •   Es werden Hinweise darauf gegeben,           Standard aufzunehmen:
         wie nach Teilhabezielen gefragt
         werden kann, die die Bedingungen             •   die Anwendung der UK als Standard
         von Menschen mit hohem Unter-                    für Tages- und Förderstätten sowie
         stützungsbedarf berücksichtigen, für             gemeinschaftliche Wohnformen sowie
         die eine individuelle selbstbestimmte        •   die Implementierung von Beteiligungs-
         und autonome Lebensgestaltung                    gremien in Tages- und Förderstätten
         kaum möglich bzw. erschwert ist.                 als Standard.
     •   Es werden in Ergänzung dazu Hinweise
         gegeben, wie die Potenziale, Stärken         Es werden Maßnahmen vereinbart, mit
         oder Ressourcen von Menschen mit             denen die Leistungserbringer Potenziale,
         hohem Unterstützungsbedarf besser            Stärken oder Ressourcen für Personen er-
         erfasst werden können.                       fassen, für die eine „individuelle selbstbe-
     •   Es wird gezielt abgefragt, ob bzw.           stimmte und autonome Lebensgestaltung
         inwieweit die Leistungen außerhalb           kaum möglich ist“ (vgl. Theunissen 2019).
         von bestehenden Einrichtungen
         erbracht werden können/sollen.               Es werden Fortbildungsmaßnahmen für das
     •   Es wird darauf hingewiesen, dass bei         Personal vereinbart, mit der gezielt die Qua-
         der Zielformulierung die Perspektiven        lität der Leistung verbessert wird (beispiels-
         von Menschen mit hohem Unter-                weise durch das Erlernen der UK).

22        ANWENDUNG DES BTHG     |   DIE PERSPEKTIVE VON MENSCHEN MIT HOHEM UNTERSTÜTZUNGSBEDARF
WEITERE EMPFEHLUNGEN

Über die Berücksichtigung der Perspektiven     Weiterentwicklung der
von Menschen mit hohem Unterstützungs-         Tagesförderstätten
bedarf bei den oben genannten Instrumen-       zu Einrichtungen von Bildung
ten gibt es ergänzend dazu folgende Not-       und Arbeit
wendigkeiten:
                                               Um erwachsenen Menschen mit hohem
•   Verbreitung der Unterstützten              Unterstützungsbedarf die gleichberechtigte
    Kommunikation                              Teilhabe in diesem Bereich zu ermöglichen,
•   Weiterentwicklung der Tagesförder-         wird Folgendes empfohlen:
    stätten zu Einrichtungen von Bildung
    und Arbeit                                 •   Die Bezeichnung „Tagesförderstätte“
•   Innovative Angebote entwickeln                 oder Ähnliches wird ersetzt durch
                                                   Bezeichnungen wie „Orte der Bildung
                                                   und Arbeit“.
Verbreitung der                                •   Es werden bundesweit einheitliche
Unterstützten Kommunikation                        Standards für die „Orte der
                                                   Bildung und Arbeit“ in einer Bundes-
Das BTHG enthält die Möglichkeit, die UK als       rahmenkonzeption festgelegt.
Standard festzulegen und dafür Leistungen          Bestandteile sind die Anwendung
bereitzustellen. Damit diese Möglichkeiten         der UK und die Einrichtung
mehr genutzt werden, erscheint es sinnvoll,        von Vertretungsorganen (Beiräten)
die Verbreitung der UK über verschiedene           (vgl. LAG WfbM Bayern, 2019).
Kanäle zu befördern. Hier sind private För-
derorganisationen wie Stiftungen sowie
Fachverbände gefragt. Sie können die An-       Innovative Angebote entwickeln
wendung der UK befördern, beispielsweise
im Rahmen einer Kampagne, die gemein-          Das derzeitige Angebot an Plätzen ins-
sam mit der Gesellschaft für Unterstützte      besondere in Tagesförderstätten und an
Kommunikation geplant wird. Menschen           Wohnmöglichkeiten für Menschen mit ho-
mit hohem Unterstützungsbedarf, die die        hem Unterstützungsbedarf, insbesondere
UK nutzen, dienen als Botschafter_innen.       bei denen mit einem herausfordernden Ver-
Ziel der Kampagne ist es aufzuzeigen, dass     halten, ist nicht ausreichend. Dies zeigen
die UK so notwendig ist wie die Leichte        die Fachliteratur, Wartelisten für Tagesför-
Sprache. Außerdem werden Praxisbeispiele       derstätten und Berichte von Angehörigen.
transportiert.                                 Um einen möglichst detaillierten und um-

WEITERE EMPFEHLUNGEN                                                                          23
fassenden Überblick über den Bedarf zu be-     schaftliche Wohnformen oder Arbeitsmög-
     kommen, sind Untersuchungen notwendig.         lichkeiten) sind mitten im Quartier. Dies
                                                    verbessert die Teilhabemöglichkeiten von
     Um den fehlenden Bedarf zu decken, gibt es     Menschen mit hohem Unterstützungsbe-
     zwei Möglichkeiten: (1) Bestehende Angebo-     darf und ermöglicht es ihnen, Bürger_innen
     te werden erweitert. (2) Fachkräfte und/oder   unter Bürger_innen zu sein. Das Setting ist
     Angehörige entwickeln innovative Angebote      möglichst inklusiv, die Wohneinheiten sind
     mit einem fachlich hohen Standard entspre-     klein (vgl. Theunissen 2019, S. 72). Kurz ge-
     chend dem State of the Art der jeweiligen      sagt: In diesen Angeboten prägen Selbstbe-
     Fachdisziplin. Das bedeutet: Prozesse und      stimmung, Teilhabe und Partizipation von
     Strukturen sind an der UN-BRK und der ICF      Menschen mit hohem Unterstützungsbe-
     ausgerichtet. Die neuen Angebote (Gemein-      darf von Anfang an den Alltag.

24                                                                        WEITERE EMPFEHLUNGEN
ZUSAMMENFASSUNG

Das vorliegende Diskussionspapier ist das      sern, um die Verpflichtungen der UN-BRK
Ergebnis des Projektes „Selbstbestimmung,      umzusetzen. Es will Anregungen dafür ge-
Teilhabe und Partizipation im Alltag von       ben, wie im Zuge der Umsetzung des BTHG
Menschen mit hohem Unterstützungs-             stärker als bisher die Perspektive dieser he-
bedarf“, das das IMEW durchgeführt hat.        terogenen Gruppe berücksichtigt werden
„Menschen mit hohem Unterstützungsbe-          kann. Kurz gefasst meint dies: Es ist not-
darf“ meint Personen, die erhebliche kogni-    wendig, dass die Beteiligten ein Verständ-
tive und zusätzliche andere Einschränkun-      nis für die Perspektiven von Menschen mit
gen haben, insbesondere in Bezug auf die       hohem Unterstützungsbedarf entwickeln,
Kommunikation, das emotionale Erleben          dass Prozesse konsequent an ihren Bedar-
und das Verhalten. Einige von ihnen ha-        fen ausgerichtet sind und dass Teilhabeziele
ben außerdem einen hohen pflegerischen         menschenrechtlich formuliert werden.
Unterstützungsbedarf. In dieser Veröffent-
lichung wird ausgeführt, was konkret Selbst-   Letztlich bedeutet dies nichts anderes als
bestimmung, Teilhabe und Partizipation für     eine konsequente Umsetzung der Personen-
Menschen mit hohem Unterstützungsbe-           zentrierung. Ihre Verwirklichung ist für alle
darf bedeuten kann und soll.                   Menschen mit Behinderung entscheidend.
                                               Für Menschen mit hohem Unterstützungs-
Die Veröffentlichung geht von folgenden        bedarf ist sie eine zwingende Voraussetzung
Prämissen aus:                                 für ihre gleichberechtigte Teilhabe am Leben
                                               in der Gesellschaft. Ihre grundlegenden Be-
•   Die in der UN-BRK niedergelegten           darfe und Rechte unterscheiden sich nicht
    Rechte auf gleichberechtigte Teilhabe      von denen anderer. Sie benötigen aber unter
    gelten für alle Menschen mit               Umständen andere Bedingungen und mehr
    Behinderung – unabhängig von ihrem         Unterstützung als andere.
    Unterstützungsbedarf.
•   Alle Menschen haben jenseits der
    Befriedigung von Grundbedürfnissen         „JA, ES GIBT MENSCHEN, DIE MEHR
    vergleichbare Bedarfe: nach Selbst-        ASSISTENZ UND UNTERSTÜTZUNG
    wirksamkeit, Anerkennung, sozialen         BRAUCHEN ALS ALLGEMEIN
    Kontakten, nach Anregungen und             ANGENOMMEN. JA, SIE GEHÖREN
    Freude.                                    DAZU, SIE HABEN TEIL. JA, SIE WOLLEN
•   Alle Menschen haben ein                    UND KÖNNEN ENTSCHEIDUNGEN
    Entwicklungspotenzial.                     TREFFEN, WOLLEN MITWIRKEN
                                               UND MITGESTALTEN.
Dieses Diskussionspapier zeigt, dass es not-   DAFÜR BENÖTIGEN SIE INTENSIVE
wendig ist, die Situation von Menschen mit     UNTERSTÜTZUNG – EIN LEBEN LANG.“
hohem Unterstützungsbedarf zu verbes-                                    (Bell 2019 a, S. 113)

ZUSAMMENFASSUNG                                                                                   25
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