Behinderung und internationale Entwicklung Disability and International Development - Themen: Inklusion in der Katastrophenvorsorge Themes: ...
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30. JAHRGANG / AUSGABE 1/2019 / 30nd YEAR / ISSUE 1/2019 Behinderung und internationale Entwicklung Disability and International Development Themen: Inklusion in der Katastrophenvorsorge Themes: Inclusion in Disaster Preparedness
Inhalt Für blinde und sehbehinderte Menschen ist die Zeitschrift im Internet erhältlich: www.zeitschrift.bezev.de Vom Warum zum Wie: Reflexionen zur Umsetzung des Sendai For persons with visual impairment, an electronic Frameworks for Disaster Risk Reduction im Bereich der Inklusion version of the journal is available at von Menschen mit Behinderungen www.zeitschrift.bezev.de Martin Kunstmann/Oliver Neuschäfer 4 Redaktionsgruppe | Editorial Board Inklusive Katastrophenvorsorge und Risikominderung in der Praxis: Dr. Isabella Bertmann, Prof. Dr. Michael Boecker, das Fallbeispiel Haiti Dr. Christine Bruker, Lukas Groß, Eileen Schuldt Dr. Thorsten Hinz, Jana Offergeld, 9 Prof. Dr. Sabine Schäper, Gabriele Weigt Leben retten und dabei niemanden zurücklassen. Inklusive Schriftleitung | Editorship Katastrophenvorsorge auf Gemeindeebene in Bangladesch Gabriele Weigt Oliver Neuschäfer/Manuel Rothe 14 Redaktionsassistenz | Editorial Assistance Katharina Silter Inclusion: From a Global Commitment to Local Actions Gestaltung | Layout 5 Inclusion Musts: Local and Operational Principles to Ensure Amund Schmidt Inclusion in DRR Actions Druck | Print Chrysant Lily Kusumowardoyo/Melina Margaretha Druckerei Nolte, Iserlohn 19 Bankverbindung | Bank Details Bank für Sozialwirtschaft Inclusive Disaster Risk Reduction in Myanmar Kai Pohlmann BIC: BFSWDE33XXX 28 IBAN: DE08 370 205 000 008 040 706 Katastrophenhilfe muss inklusiv sein Die Zeitschrift Behinderung und internationale Anna Hückmann Entwicklung ist eine Pubilikation des Instituts für 35 inklusive Entwicklung. Das Institut wird getragen von Behinderung und Entwicklungszusammen- Kurzmeldungen/Announcements 40 arbeit e.V. The journal Disability and International Develop- ment is a publication of the Institute for Inclusive Literatur Development. The Institute is part of Disability 47 and Development Cooperation. Impressum Hinweis: Für den Inhalt der Artikel sind die Autor Innen verantwortlich. Veröffentlichte Artikel stel- Impressum | Masthead len nicht unbedingt die Meinung der Redaktion Behinderung und internationale Entwicklung dar. Die Veröffentlichung von Beiträgen aus der Disability and International Development Zeitschrift in anderen Publikationen ist möglich, wenn dies unter vollständiger Quellenangabe Herausgeber | Editor geschieht und ein Belegexemplar übersandt wird. Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit e.V. Please note that the authors are responsible for Disability and Development Cooperation the content of the articles. Published articles do not necessarily reflect the opinion of the editorial Anschrift | Address board. Papers published in the journal Disability Altenessener Straße 394-398 and International Development may be reprinted 45329 Essen in other publications if correctly cited and if a Tel.: +49 (0)201/17 89 123 copy is forwarded to the contact provided above. Fax: +49 (0)201/17 89 026 E-Mail: info@inie-inid.org ISSN 2191-6888 (Print) Internet: www.zeitschrift.bezev.de ISSN 2199-7306 (Internet) 2 Behinderung und internationale Entwicklung 1/2019
Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Dear readers, die Überschwemmungen in Mosambik in the floods in Mozambique following Cy- Folge des Zyklons Idai lassen dieser Ausgabe clone Idai give this issue of the journal an un- der Zeitschrift eine nicht erwartete Aktualität expected topicality. Idai is regarded as one of zukommen. Idai gilt als einer der stärksten the strongest hurricanes in the southern hem- Wirbelstürme der südlichen Hemisphäre und isphere and has hit Malawi and Zimbabwe hat neben Mozambik auch Malawi und Sim- hard as well as Mozambique. babwe schwer getroffen. Wir müssen davon ausgehen, dass durch We must assume that extreme weather den Klimawandel bedingt extreme Wetterer- events caused by climate change will occur eignisse in Zukunft häufiger auftreten werden, more frequently in the future, some of which die zum Teil das Ausmaß einer Katastrophe may assume the magnitude of a catastrophe annehmen können und dadurch die Zahl der and thus the number of natural disasters will Naturkatastrophen ansteigen wird. Laut dem increase. According to the World Risk Re- Weltrisikobericht sind die Katastrophenrisi- port, disaster risks are unevenly distributed ken ungleich verteilt und betreffen vor allem and mainly affect island states and low and Inselstaaten und Staaten mit mittleren und middle-income countries. It also notes that niedrigen Einkommen. Außerdem stellt die- it is usually the wealth of a country that de- ser fest, dass gleichzeitig meist der Reichtum termines how many people survive natural eines Landes darüber entscheidet, wie viele disasters. Menschen bei Naturkatastrophen überleben. Für das Überleben der Menschen ist ein gut A well-developed and functioning civil pro- ausgebauter und funktionierender Katastro- tection system is of great importance for peo- phenschutz von großer Bedeutung. Beim Erd- ple’s survival. The 2011 earthquake and sub- beben und dem nachfolgenden Tsunami 2011 sequent tsunami in Fukushima proved what in Fukushima konnte nachgewiesen werden, had previously only been assumed to have was vorher nur vermutet worden war, dass killed twice as many persons with disabilities doppelt so viele Menschen mit Behinderung as compared to persons without disabilities. der Katastrophe zum Opfer gefallen waren It is therefore of great relevance that not only im Vergleich zu Menschen ohne eine Behin- first aid and emergency aid are carried out derung. Es ist daher von hoher Relevanz, dass barrier-free and inclusive, but that an inclu- nicht nur die Erst- und Nothilfe barrierefrei sive disaster prevention system exists. und inklusiv durchgeführt werden, sondern dass ein inklusives System der Katastrophen- In this issue you will find information on vorsorge existiert. the existing framework conditions in this In diesem Heft finden Sie Informationen area, how inclusive disaster risk management darüber, welche Rahmenbedingungen in die- has been put into practice and which aspects sem Bereich existieren, wie die inklusive Kata- are of particular importance. strophenvorsorge in die Praxis Eingang gefun- den hat und welche Aspekte von besonderer We wish you an interesting reading. Bedeutung sind. Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre. Your editorial board Ihre Redaktionsgruppe Disability and International Development 1/2019 3
Vom Warum zum Wie: Reflexionen zur Umsetzung des Sendai Frameworks for Disaster Risk Reduction im Bereich der Inklusion von Menschen mit Behinderungen Martin Kunstmann/Oliver Neuschäfer Der Artikel beschäftigt sich mit dem aktuellen Stand der Umsetzung der Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Katastrophenvorsorge im Rahmen des Sendai Frameworks for Disaster Risk Reduction (Sendai Framework). Es wird aufgezeigt, wie das Sendai Framework die Inklusion von Men- schen mit Behinderung als wichtiges Querschnittsthema der Katastrophenvorsorge verankert hat. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie inklusive Katastrophenvorsorge in der Praxis umgesetzt werden kann. Der Artikel analysiert, welche Fortschritte hierbei in den letzten Jahren erzielt wurden und wo weiter- hin Handlungsbedarf besteht. Vom Warum zum Wie in allen relevanten Prozesse zum einen Im Sendai Framework for Disaster Risk auf das universelle Design als wichtige Reduction (2015–2030), dem internati- Leitidee für den barrierefreien (Wie- onalen Rahmenwerk zur Katastrophen- derauf)bau (Paragraph 30c), zum an- vorsorge, das im Juni 2015 von der UN deren wird auch die hohe Relevanz der Generalversammlung verabschiedet wur- Disaggregation von Daten nach Alter, de, zieht sich das Thema Inklusion wie Geschlecht und auch nach Behinderung ein roter Faden durch die verschiedenen (Paragraph 19d) betont. Die starke Ver- Passagen (Robinson 2017: 20): Zunächst ankerung von Inklusions-Aspekten im erkennt das Sendai Framework explizit Sendai Framework ist dabei keine Selbst- das erhöhte Risiko an, dem Menschen mit verständlichkeit, wie ein kurzer Blick auf Behinderungen im Katastrophenfall aus- das Vorgängerdokument zeigt: Das Hy- gesetzt sind (Paragraph 19d). Daraus ab- ogo Framework for Action (2005-2015) leitend wird bereits in der Präambel des erwähnte Menschen mit Behinderungen Sendai Frameworks darauf hingewiesen, lediglich ein einziges Mal und zwar in Be- dass Katastrophenvorsorge nur dann zug auf soziale Sicherungssysteme (Ro- wirksam sein kann, wenn sie auch inklu- binson 2017: 18). Weder wurden erhöhte siv und für alle Menschen zugänglich ist. Risiken von Menschen mit Behinderun- Dies bedeutet in diesem Zusammenhang gen im Katastrophenfall erwähnt, noch natürlich auch, dass Menschen mit Be- wurde anerkannt, dass Menschen mit hinderungen aktiv in alle relevanten Pro- Behinderungen einen aktiven Beitrag zur zesse einzubinden sind (Paragraph 7 und Katastrophenvorsorge leisten können. Paragraph 36iii) und sie nicht bloß pas- Dieser Beitrag geht daher der Frage sive Adressaten sind. Was die konkrete nach, welche Faktoren zwischen 2005 Umsetzung betrifft, verweist das Sendai und 2015 dazu beigetragen haben, dass Framework neben der aktiven Einbin- dem Aspekt der Inklusion in der Katas- dung von Menschen mit Behinderungen trophenvorsorge im Sendai Framework 4 Behinderung und internationale Entwicklung 1/2018
Vom Warum zum Wie Reflexionen zur Umsetzung des Sendai Frameworks eine größere Bedeutung beigemessen wird und wel- Diese enge Verzahnung wurde durchaus bewusst kon- che Fortschritte bei der Umsetzung des Sendai Frame- zipiert: So trägt beispielsweise die Stärkung sozialer works bis heute erreicht wurden. Bei der Frage nach Sicherungssysteme (Paragraph 30j im Sendai Frame- den Faktoren spielen zwei Entwicklungen eine we- work) dazu bei, extreme Armut zu reduzieren (SDG 1). sentliche Rolle: Zunächst die Verabschiedung (2006) Umgekehrt trägt zugleich auch die Erreichung einzel- und sukzessive Ratifizierung der UN-Behinderten- ner SDGs und deren Unterziele dazu bei, die Resilienz rechtskonvention durch inzwischen mehr als 160 von Menschen, insbesondere solche, die in Entwick- Staaten weltweit. Artikel 11 der Konvention bezieht lungsländern leben, zu stärken und sie somit weniger sich ausdrücklich auf den Schutz von Menschen mit anfällig gegenüber Risiken zu machen. Beispielhaft sei Behinderungen in humanitären Notlagen wie etwa hier das Unterziel 13.1 der SDGs erwähnt, das in den bei Konflikten oder Naturkatastrophen; Artikel 32 Bereich Klimaschutz fällt und anstrebt, „die Wider- der Konvention fordert inklusive Strategien der Ent- standskraft und die Anpassungsfähigkeit gegenüber wicklungszusammenarbeit. Mit der völkerrechtlichen klimabedingten Gefahren und Naturkatastrophen in Grundlage der Behindertenrechtskonvention und der allen Ländern [zu] stärken“. Zugleich ist natürlich auch Spezifizierung in Artikel 11 und 32 ist es politisch nicht die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein mehr vertretbar, Menschen mit Behinderungen in der wichtiges Querschnittsthema der SDGs: Das Grund- Katastrophenvorsorge noch länger zu ignorieren. prinzip „Leave no one behind“ wird ausdrücklich in Zugleich ist die erfolgreiche Verankerung von In- der einleitenden Deklaration erklärt und bildet den ro- klusion im Sendai Framework auch ein Ausdruck ei- ten Faden der Agenda 2030. Es wendet sich gegen Dis- nes erstarkten Selbstbewusstseins sowie einer ver- kriminierung, auch von Menschen mit Behinderungen, stärkten Hinwendung zur Katastrophenvorsorge von und erkennt internationale Menschenrechtsverträge Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit wie die UN-Behindertenrechtskonvention als hand- Behinderungen, die sich vor und während der Sendai- lungsleitend an. Darüber hinaus werden Menschen mit Konferenz sowohl in ihren jeweiligen Ländern als auch Behinderungen in 8 der 17 SDGs explizit oder zumin- international sehr aktiv in die Diskussion eingebracht dest als Personengruppe mit einem besonderen Risiko haben. Zuvor war das Thema Katastrophenschutz auch erwähnt. von den Selbstvertretungsorganisationen lange Zeit Einen weiteren nennenswerten Meilenstein bildete nicht sehr prominent verfolgt worden, weil Themen der Humanitäre Weltgipfel, bei dem im Mai 2016 Re- wie der Zugang zum Arbeitsmarkt eine existentiellere gierungen, UN-Organisationen und Nichtregierungs- Bedeutung im Alltagsleben von Menschen mit Behin- organisationen in Istanbul zusammenkamen, um derungen spielen (Robinson 2017: 21). Die Relevanz Lösungen für die chronische Überlastung des humani- einer inklusiven Katastrophenvorsorge wurde nicht tären Systems zu diskutieren. Im Bereich der Inklusion zufällig zunächst vor allem von Selbstvertretungsorga- von Menschen mit Behinderungen wurde im Rahmen nisationen aus dem asiatischen Raum aufgegriffen, da des Gipfels die Charta on Inclusion of Persons with diese Länder in den letzten Jahrzehnten weitaus deut- Disabilities in Humanitarian Action verabschiedet, die licher von Naturkatastrophen betroffen waren und es inzwischen von über 200 Akteuren unterstützt wird. weiterhin sind. Als direkte Folge der Charta wurde Ende 2016 beim Die Verankerung von Inklusions-Strategien im Sen- Inter-Agency Standing Committee (IASC) eine Arbeits- dai Framework kann jedoch nicht isoliert betrachtet gruppe eingerichtet, die derzeit mit der Ausarbeitung werden, sondern steht in enger Verbindung mit wei- einer detaillierten Richtlinie zur Inklusion von Men- teren internationalen Prozessen und Rahmenabkom- schen mit Behinderungen betraut ist. Auch wenn diese men: Zunächst sind die Agenda 2030 und die nach- Richtlinie ihren Fokus auf die humanitäre Hilfe legen haltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development wird, sind sehr enge Bezüge zur Katastrophenvorsor- Goals (SDGs)) der Vereinten Nationen zu nennen, die ge gegeben. Darüber hinaus wurden bereits 2018 die die globale Entwicklungsagenda für die kommenden Humanitarian Inclusion Standards veröffentlicht und Jahre bestimmen werden, des Weiteren der huma- sind inzwischen als SPHERE Companion Standard an- nitäre Weltgipfel (World Humanitarian Summit), der erkannt, wodurch sie eine breite Anwendung in der 2016 stattfand. Zwischen den nachhaltigen Entwick- Planung und Umsetzung humanitärer Hilfsmaßnah- lungszielen und dem Sendai Framework besteht eine men finden. sehr enge Verbindung. Die Umsetzung der einen trägt jeweils auch zur Zielerreichung der anderen Ziele bei. Disability and International Development 1/2019 5
Vom Warum zum Wie Reflexionen zur Umsetzung des Sendai Frameworks Die Verankerung von In- RegierungsvertreterInnen, UN-Organisationen, Ver- treterInnen der Privatwirtschaft, nationale und in- klusion im Sendai Frame- ternationale Nichtregierungsorganisationen und nicht zuletzt natürlich Selbstvertretungsorganisatio- nen von Menschen mit Behinderungen aus mehr als work ist auch Ausdruck 30 Ländern für drei Tage zusammen, um u.a. neues- te wissenschaftliche Erkenntnisse, Modellprojekte, eines erstarkten Selbstbe- politische Entwicklungen zu diskutieren. Bereits am Ende der ersten Konferenz 2015 wurde die Dhaka De- wusstseins von Menschen claration on Disability and Disaster Risk Management verabschiedet, die auf der Konferenz 2018 bestätigt mit Behinderungen. und inhaltlich erweitert wurde. Auch diese Deklara- tion ist, wie die Verpflichtungen im Rahmen des Sen- dai Frameworks, für ihre UnterzeichnerInnen nicht rechtlich bindend, aber entfaltet selbstverständlich eine moralische und politische Wirkung. Es lässt sich daher zunächst ein sehr positives Bild Stand der Umsetzung und aktuelle festhalten, was die Verankerung von Inklusion in der Herausforderungen Katastrophenvorsorge in den relevanten globalen und Um die Umsetzung des Sendai Frameworks voran- regionalen (und somit letztlich auch nationalen) poli- zutreiben, hat eine Expertengruppe 38 Indikatoren tischen Prozessen betrifft. Kurz gesagt: Der politische definiert, entlang derer die Erreichung der im Sen- Wille zur Inklusion in der Katastrophenvorsorge ist dai Framework definierten Ziele gemessen wird. Die da. Wie bei allen politischen Prozessen stellt sich dar- Mitgliedsstaaten sind aufgefordert, entlang dieser an anknüpfend die Frage, wie es denn mit der prakti- Indikatoren sowie der für die Katastrophenvorsorge schen Umsetzung aussieht und ob der politische Wille relevanten SDGs 1, 11, 13 über ihre Fortschritte bei tatsächlich zu einer praktischen Umsetzung inklusi- der Umsetzung des Sendai Frameworks zu berich- ver Katastrophenvorsorge führt und somit letztlich ten. Darüber hinaus findet alle zwei Jahre eine Folge- in der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behin- Konferenz statt, die Global Platform for Disaster Risk derungen ankommt (Kang/Stough 2015: 147). Es Reduction, auf der sich zum Fortschritt der Umsetzung geht nun nicht mehr um das Warum einer inklusiven ausgetauscht wird und aktuelle Entwicklungen und Katastrophenvorsorge, sondern um das Wie: Wo lie- Erfahrungen geteilt werden. Ergänzt wird die Global gen also die großen Herausforderungen hinsichtlich Platform durch regionale Plattformen. Auf der globa- der praktischen Umsetzung des Sendai Frameworks len Plattform 2017 in Cancún sowie diversen regiona- und was sind erste Erfolge, die hierbei bereits erzielt len Plattformen, wie beispielsweise in der Mongolei wurden? Wo bestehen weiter Herausforderungen und oder in Quito 2018, zeigte sich in den letzten dreiein- Handlungsbedarf? halb Jahren, dass das Thema Inklusion auch weiterhin Als wichtiges Schlagwort sollte hier Kapazitäts- als Handlungsschwerpunkt gesehen wird und nicht aufbau genannt werden: In der Praxis ist es wichtig, hinter anderen Themen verschwindet. Für die nächste dass diejenigen Akteure, die mit der Umsetzung von globale Plattform im Mai 2019 in Genf stellen aktuell Maßnahmen zur Katastrophenvorsorge und dem bereits zwei der sechzehn so genannten Side Events Krisenmanagement betraut sind (z.B. öffentliche Ein- sowie einer der fünf High Level Dialogues einen direk- richtungen des Katastrophenschutzes, Hilfsorgani- ten Bezug zu Inklusion her. sationen) über das notwendige Wissen zu Inklusion In Bangladesch wurde aufbauend auf der Sendai- von Menschen mit Behinderungen verfügen. Oftmals Konferenz zunächst Ende 2015 und dann erneut im besteht eine gewisse Scheu vor dem Thema, weil es Mai 2018 eine Konferenz unter der Schirmherrschaft als technisch komplex betrachtet wird und Berüh- der Regierung von Bangladesch durchgeführt, die rungsängste und Vorurteile bestehen. Umso wichti- sich ausschließlich auf die Inklusion in der Katast- ger ist es daher, praxisnah und unter Einbindung von rophenvorsorge fokussiert: die International Con- Menschen mit Behinderungen ein Bewusstsein dafür ference on Disability and Disaster Risk Management. zu schaffen, dass es meist kleine und einfache Maß- Waren 2016 TeilnehmerInnen aus 16 Ländern nahmen sind, die zu einer verbesserten Inklusion bei- vertreten, so kamen auf der Folgekonferenz 2018 tragen. Beispielhaft sei hier die enge Einbindung von 6 Behinderung und internationale Entwicklung 1/2019
Vom Warum zum Wie Reflexionen zur Umsetzung des Sendai Frameworks Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit anzupassen (Kett/Lovell/Twigg 2018: 4). Das Fehlen Behinderungen in Notfall- und Evakuierungsübungen nach Behinderung desaggregierter Daten ist daher in der kambodschanischen und thailändischen Armee den letzten Jahren zunehmend in den Vordergrund ge- genannt (Guernsey/Scherrer 2017: 39). Die hohe Re- rückt und inzwischen steht mit den Washington Group levanz des Kapazitätsaufbaus geht einher mit einer Zu- Questions ein gutes Werkzeug zur Erhebung von diffe- nahme an Publikationen, in denen Modellprojekte und renzierten Daten zu Behinderung zur Verfügung. Erste gute Praxisbeispiele einer inklusiven Katastrophen- Schritte in die richtige Richtung sind bereits beschrit- vorsorge vorgestellt werden und die somit das not- ten, und neben einer Vielzahl kleinerer Pilotprojekte wendige Wissen zugänglicher machen (Kett/Lovell/ zur Anwendung der Washington Group Questions (Le- Twigg 2018: 3). Auf der anderen Seite darf natürlich onard Cheshire/Humanity & Inclusion 2018) werden auch der Kapazitätsaufbau der Selbstvertretungsor- diese inzwischen auch verstärkt in nationalen Zensus ganisationen von Menschen mit Behinderungen nicht wie beispielsweise in Neuseeland (2018) angewendet. vergessen werden: Wie bereits an anderer Stelle ge- Zu guter Letzt ist natürlich auch das Thema der nannt, stand die Katastrophenvorsorge lange Zeit auch Finanzierung eine der größten Herausforderungen, bei den meisten Selbstvertretungsorganisationen auf- insbesondere wenn es um Infrastrukturmaßnahmen grund anderer Prioritäten nicht im Fokus der Aufmerk- und Frühwarnsysteme geht: Sollen beispielsweise samkeit. Verschiedene Maßnahmen, insbesondere im Not- und Evakuierungsunterkünfte im Nachgang bar- Rahmen von Entwicklungsprojekten zivilgesellschaft- rierefrei umgebaut werden, ist dies kostspielig und licher Akteure, haben daher in den letzten Jahren auch gerade in den Ländern, die am häufigsten von Natur- an dieser Stelle angesetzt. Auch wenn diese Maßnah- katastrophen betroffen sind, fehlt es für solche Maß- men bislang oft lokal sehr begrenzt sind, bilden sie die nahmen häufig an Geld (Kang/Stough 2015: 147). Grundlage dafür, dass sich Selbstvertretungsorganisa- Dadurch besteht das Risiko, dass Maßnahmen zur tionen in ihren jeweiligen Ländern in die lokalen und Barrierefreiheit zu Lasten anderer notwendiger Maß- nationalen politischen und administrativen Prozesse nahmen vernachlässigt werden oder gleich ganz dem einbringen können und ihre Expertise wahrgenom- Rotstift zum Opfer fallen. Hier bedarf es neben einer men wird. Neben der Vermittlung von technischen Sensibilisierung der politischen Akteure auch starker Kenntnissen im Bereich der Katastrophenvorsorge ist Selbstvertretungsorganisationen, die sich aktiv in die daher auch eine Stärkung der Advocacy-Kapazitäten entsprechenden Prozesse einbringen und sich für eine dieser Organisationen erforderlich. ausreichende Budgetierung einsetzen. Dabei schließt Neben fehlenden Kapazitäten sowie oftmals unzu- sich zugleich der Kreis zum bereits genannten Kapazi- reichender Vernetzung zwischen klassischen Akteuren tätsaufbau, denn nur wenn die Selbstvertretungsorga- der Katastrophenvorsorge und Selbstvertretungsorga- nisationen das notwendige Selbstvertrauen und Fach- nisationen von Menschen mit Behinderungen, besteht wissen haben, werden sie als Akteur auf Augenhöhe in eine der größten Hürden in der Verfügbarkeit verläss- solchen Prozessen wahrgenommen und können wirk- licher Daten. Nur für sehr wenige Länder liegen valide sam Einfluss nehmen. Daten für die Prävalenz von Behinderungen vor. Zwar werden Daten zur Prävalenz von Behinderung meist Fazit und Ausblick im Rahmen eines nationalen Zensus erhoben, doch Es bleibt abschließend festzuhalten, dass mit dem sind die entsprechenden Fragen oftmals ungenau for- Sendai Framework for Disaster Risk Reduction ein muliert und liefern daher ungenaue Ergebnisse. Daher wichtiger Meilenstein in Richtung einer inklusiven ist es auch nicht verwunderlich, dass die Prävalenz in Katastrophenvorsorge erreicht wurde. Auch wenn das vielen Ländern offiziell weit unter fünf Prozent liegt, Sendai Framework keinerlei rechtliche Bindung entfal- wenngleich die WHO im Weltbehinderungsbericht tet, zeigt sich dennoch, dass sowohl staatliche als auch (2011) von circa 15 % ausgeht. Durch unterschied- nicht-staatliche Akteure gewillt sind, aktiv zu dessen liche Erhebungsmethoden ist es zudem auch nicht Umsetzung beizutragen. Darüber hinaus lässt sich ein möglich, die Daten verschiedener Länder miteinander wachsendes Bewusstsein für die Bedeutung von In- zu vergleichen. Wo keine validen und vergleichbaren klusion als zentralem Querschnittsthema in der Kata- Daten vorliegen, wird es zugleich schwierig, Menschen strophenvorsorge beobachten. Da der politische Wille mit Behinderungen angemessen in der Planung und gegeben ist, können sich die Akteure nun verstärkt auf Umsetzung nationaler Katastrophenschutzmaßnah- die praktische Umsetzung einer inklusiven Katastro- men zu berücksichtigen und beispielsweise Früh- phenvorsorge fokussieren. Zugleich darf jedoch nicht warnsysteme und Evakuierungspläne entsprechend vergessen werden, dass wirksame Inklusion am Ende Disability and International Development 1/2019 7
Vom Warum zum Wie Reflexionen zur Umsetzung des Sendai Frameworks auch immer mit Kosten verbunden ist: Es bedarf so- la question comment on peut pratiquer la prévention des catas- mit auch weiterhin einer starken Lobbyarbeit, insbe- trophes inlusive. Cet article analyse le progès qui à été fait dans les sondere durch Selbstvertretungsorganisationen, um dernières années et où il existe encore le besoin d’agir. sicherzustellen, dass notwendige Mittel am Ende auch wirklich bereitgestellt und verwendet werden. Je stärker über das Wie der richtigen Umsetzung ge- RESUMEN sprochen wird, umso wichtiger wird es auch, dass sich El artículo trata del estado actual de aplicación de la inclusión de die relevanten Akteure besser vernetzen und austau- las personas con discapacidad en la preparación ante desastres en schen. Erste Schritte hierzu waren beispielsweise die el marco del Sendai Framework for Disaster Risk Reduction (Sendai Gründung des Disability-inclusive Disaster Risk Reduc- Framework/Marco Sendai). Se mostrará cómo el Marco Sendai ha tion Network (DiDRRN) sowie die zweimalige Durch- anclado la inclusión de las personas con discapacidad como una im- führung der International Conference on Disability and portante cuestión transversal a la reducción del riesgo de desastres. Disaster Risk Management. Es bleibt daher zu hoffen, La atención se centra en la cuestión de cómo puede aplicarse en la dass das gegenwärtige Momentum hinsichtlich der práctica una gestión inclusiva. En el artículo se analiza los progresos praktischen Umsetzung inklusiver Katastrophenvor- realizados en este ámbito en los últimos años, en lo que es necesa- sorge in den kommenden Jahren weiter an Dynamik rio adoptar nuevas medidas. gewinnen wird und es nicht bei isolierten Modellmaß- nahmen bleibt (Guernsey/Scherrer 2017: 33). AUTOREN Martin Kunstmann ist Referent für Asien beim LITERATUR Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e.V. GUERNSEY, K./SCHERRER, V. (2017): Disability inclusion in disaster Oliver Neuschäfer ist Koordinator für humanitäre Hilfe und Katastro- risk management. promising practices and opportunities for phenvorsorge bei der Christoffel-Blindemission Deutschland e.V. enhanced engagement. Washington DC. Kontakt: m.kunstmann@asb.de; oliver.neuschaefer@cbm.de. KANG, D./STOUGH, L. (2015): The Sendai Framework for Disaster Risk Reduction and Persons with Disabilities. International Journal of Disaster Risk Science 6. KETT, M./LOVELL, E./TWIGG, J. (2018): Disability inclusion and disas- ter risk reduction Overcoming barriers to progress. London. ROBINSON, A. (2017): Disability inclusion and disaster risk: Principles and guidance for implementing the Sendai Framework. Oslo LEONARD CHESHIRE/HUMANITY & INCLUSION (2018): Disability Data Collection. A summary review of the use of Washington Group Questions by development and humanitarian actors. SUMMARY This paper deals with the current state of the implementation of inclusion of persons with disabilities in disaster risk reduction in line with the Sendai Framework for Disaster Risk Reduction (Sendai Framework). It is shown how the Sendai Framework enshrines the inclusion of persons with disabilities as cross-cutting issue of disaster risk reduction. A central question is how inclusive disaster risk reduc- tion can be put into practice. The paper analyses the progress of the last years and needs for action. RÉSUMÉE Cet article traite la situation récente de la réalisation de l’inclusion des personnes ayant des restrictions mentales ou physiques dans la prévention des catastrophes dans le cadre du «Sendai Framework for Disaster Risk Reducation» (Sendai Framework). On démontre comment le Sendai Framework ancre le sujet de l’inclusion des per- sonnes ayant des restrictions mentales ou physiques profondement dans la prévention des catastrophes. On met en centre de l’attention 8 Behinderung und internationale Entwicklung 1/2019
Inklusive Katastrophenvorsorge und Risikominderung in der Praxis: das Fallbeispiel Haiti Eileen Schuldt Der folgende Artikel bezieht sich auf Aktivitäten zur inklusiven Katastrophenvorsorge in Haiti, durchgeführt von Handicap International (HI) und lokalen Partnern. Seit dem Erdbeben von 2010 setzt sich HI für die Verbesserung der Katastrophenvorsorge auf nationaler und kommunaler Ebene ein, unter besonderem Einbezug von Menschen mit Behinderungen. Seit 2013 unterstützt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung diese Maßnahmen finanziell. Einführung mangelndem Zugang zur Gesundheits- Haiti ist hochgradig anfällig für natür- versorgung gegenüberstehen und somit liche Risiken wie Hurrikans, Dürren und einer Arbeit nachgehen, die oft wenig Erdbeben. Durch Umweltzerstörungen, rentabel und unsicher zugleich ist. Mit unkontrollierte Waldnutzung und Klima- einem geringen Einkommen wohnen und wandel werden die Auswirkungen dieser arbeiten betroffene Personen zudem oft Katastrophen noch verstärkt. Das Aufei- in risikoanfälligen Gebieten. Ein zugleich nanderfolgen der klimatischen Schocks niedrigeres Bildungsniveau und fehlende führt zu stetig wiederkehrender Ernäh- Anbindung an soziale Netzwerke schwä- rungsunsicherheit von landesweit 32,4 % chen zudem die Möglichkeiten, im und der Bevölkerung (CNSA 2018). nach einem Katastrophenfall angemes- Bedarfsanalysen vor Ort haben erge- sen zu reagieren. ben, dass das Nationale Risiko- und Ka- tastrophenmanagementsystem oft nicht Vorgehen bis zur lokalen Ebene angewandt wird. Folgt man dem Modell der Disaster Risk Zudem werden die Bedarfe von Men- Equation dann nimmt die Wahrscheinlich schen mit Behinderungen und anderen schädlicher Folgen oder erwarteter Ver- vulnerablen Gruppen nur selten bis gar luste (also des Risikos) zu, wenn häufi- nicht in die Vorsorge- und Reaktionsplä- ge und/oder schwere Katastrophen auf ne einbezogen. vulnerable Gebiete oder Bevölkerungs- Und dabei sind es vor allem vulnerable gruppen treffen, deren Bewältigungska- Gruppen und deren Angehörige (bezogen pazitäten nur begrenzt sind (Lafrenière/ auf Gender, Behinderung, Alter, Armut, Walbaum 2017). Isolation etc.), die im Falle einer Katast- Ziel von Inklusiver Katastrophenvor- rophe den größten Risiken für ihr Leben sorge ist es daher, die Verwundbarkeit und ihre Lebensgrundlagen ausgesetzt der am stärksten ausgegrenzten Perso- sind. nen zu verringern und gleichzeitig ihre Denn Erfahrungen in Haiti zeigen, dass eigenen Kapazitäten zur Risikoreduzie- beispielsweise Menschen mit Behinde- rung und zur Bewältigung aufgetrete- rungen beim Ausbau ihrer wirtschaft- ner Katastrophen zu erhöhen. Inklusive lichen Aktivitäten häufig Hindernissen Katastrophenvorsorge ist zudem auch wie Mobilitätseinschränkungen und die Anerkennung des Rechts dieser Disability and International Development 1/2019 9
Inklusive Katastrophenvorsorge und Risikominderung in der Praxis: das Fallbeispiel Haiti Gruppen, von den Maßnahmen zur Katastrophenvor- auftretender Naturereignisse, natürliches Profil, lokale sorge zu profitieren und sich gleichberechtigt daran zu wirtschaftliche Resilienz etc.), Vulnerabilitäten einzel- beteiligen. ner Haushalte (wirtschaftliche Grundlagen, Bildungs- Um das Ziel einer Inklusiven Katastrophenvorsorge niveau, Angehörige mit besonderem Unterstützungs- zu erreichen, nutzt Handicap International den Twin- bedarf, etc.) sowie der vorhandenen strukturellen und Track Approach. Dabei gilt es zum einen, das System nicht-strukturellen Bewältigungskapazitäten. der Katastrophenvorsorge und des Katastrophenma- Dabei gestaltet sich vor allem die Identifizierung nagements als Ganzes inklusiver zu gestalten. Zum vulnerabler Haushalte schwierig. Die vom haitiani- anderen steht aber auch die Widerstandsfähigkeit schen Ministerium des Inneren und der Gebietskör- der vulnerablen Gruppen bzw. der at-risk Gruppen im perschaften (MICT) bereitgestellten Übersichten zu Fokus. vulnerablen Personengruppen können oft nur bedingt Die HI-Interventionen basieren auf dem Menschen- genutzt werden, da sowohl die angewandten Kriterien rechtsansatz der UN-Behindertenrechtskonvention, für die Erfassung von Schutzbedürftigkeit als auch für der Dhaka Declaration on Disability and Disaster Risk die geografische Verteilung schutzbedürftiger Grup- Management, dem Sendai Framework sowie den Ver- pen nicht eindeutig erklärt und daher kaum nach- pflichtungen des World Humanitarian Summits von vollziehbar sind. Zugleich werden Behinderungen in 2016 „to leave no one behind, including most at risk der haitianischen Gesellschaft tabuisiert. Die dadurch groups and people with disabilities“. Demnach sind kaum vorhandene Sichtbarkeit von Menschen mit Be- universelles Design, Zugänglichkeit, freie und ver- hinderungen erschwert die Datenerhebung zusätzlich. ständliche Informationen sowie Beteiligung aller Be- Nach Konsultationen mit lokalen Akteuren (Bürger- völkerungsgruppen Schlüsselkomponenten einer ef- meistern, Behörden, zivilgesellschaftliche Organisa- fektiven Katastrophenvorsorge. tionen) sowie mehr als 2.500 Haushaltsumfragen zu Vulnerabilitäten, Risiken, Kenntnissen und Praxis der Katastrophenvorsorge konnten in den Interventions- regionen von HI letztlich sowohl die am meisten vul- nerablen Ortschaften als auch die besonders zu unter- stützenden Haushalte identifiziert werden. Partizipative Maßnahmen zur Katastrophenvorbereitung Inklusive Ansätze und das Mainstreaming der In- klusion von Menschen mit Behinderungen sind im überarbeiteten Nationalen Risiko- und Katastrophen- managementplan von 2016 institutionalisiert. So ist Übungen für den Evakuierungsfall die allgemeine, offene und nicht diskriminierende © Handicap International Beteiligung von Menschen mit Behinderungen und Inklusive Katastrophenvorsorge in Haiti anderen vulnerablen Gruppen in allen Phasen des Ka- Im Folgenden werden Erfahrungen in Haiti beschrie- tastrophenmanagements festgeschrieben. Auch wurde ben, wie Katastrophenvorsorge inklusiver gestaltet ein barrierefreies Informations- und Frühwarnsystem werden kann. Dabei wird neben dem Twin-Track Ap- eingeführt sowie die Mechanismen für die Informati- proach auch ein partizipativer, gemeindebasierter An- onserfassung zu Schutzbedürftigkeit und Risiken ver- satz genutzt. So findet die Umsetzung der Maßnahmen bessert. Nun unterstützt Handicap International die nicht nur auf nationaler und regionaler Ebene statt, lokalen Katastrophenbehörden, diese neuen Ansätze sondern in Dörfern und kleinen Ortschaften. Denn im auch in ihre Vorsorge- und Notfallpläne zu überführen. Falle einer Katastrophe sind es vor allem die lokalen Dazu gehört beispielsweise ein umfassendes kom- Gemeinschaften, die erste Notfallressourcen zur Verfü- munales Mapping der Risiken und Risikogebiete, der gung stellen müssen, bevor weitere Hilfe eintrifft. Bevölkerungsstruktur und von Menschen und Fami- lien, die im Katastrophenfall besonderen Unterstüt- Erfahrungen mit der Datenerhebung zungsbedarf haben. Alle hier dargestellten Maßnahmen basieren auf Auch eine bessere Identifizierung und Ausstattung einer grundlegenden Analyse und Datenerhebung zu sicherer Notfallunterkünfte für mögliche Evakuie- Risiken, Vulnerabilitäten der Gemeinden (Häufigkeit rungen wurde durchgeführt. In Kooperation mit HI 10 Behinderung und internationale Entwicklung 1/2019
Inklusive Katastrophenvorsorge und Risikominderung in der Praxis: das Fallbeispiel Haiti Durch eine ausgewogene legen heute viele regionale Reaktionspläne einen be- sonderen Fokus auf die Unterstützung vulnerabler Bevölkerungsgruppen in den Bereichen Gesundheit, Stärkung der Katastrophen- Ernährungssicherheit und sozialem Schutz. Beteiligung gelingt jedoch nur über eine kontinu- bewältigungskapazitäten ierliche Bewusstseinsbildung aller wichtigen Stake- holder. Parallel dazu müssen zumeist auch die Inter- auf kommunaler und indi- essensverbände kontinuierlich gestärkt werden, um deren effektive Teilnahme sicherzustellen. So erhalten vidueller Ebene können die sie neben Schulungen zur inklusiven Katastrophen- vorsorge auch Schulungen zu Rechten und Möglich- keiten zur Überwindung von Barrieren. Gleichzeitig negativen Auswirkungen unterstützt HI die Selbstvertretungsorganisationen bei eigenen Maßnahmen zur Bewusstseinssteigerung. von Naturkatastrophen auf In Haiti wurden so beispielsweise bereits kulturelle Abende und Kunstaktionen zu den Herausforderun- vulnerable Gruppen nach- gen für Menschen mit Behinderungen im Katastro- phenfall sowie Demonstrationen für die Rechte von weislich reduziert werden. Menschen mit Behinderungen durchgeführt. Auf Ebene der vulnerablen Haushalte wird sicher- gestellt, dass diese über individuelle Risikoanalysen und Familiennotfallpläne verfügen. Die Entwicklung solcher Pläne wird von den lokalen Katastrophen- behörden begleitet. Der Familiennotfallplan wird werden die Notunterkünfte in den Hochrisikogebieten mit allen Mitgliedern eines Haushaltes ausgearbeitet saniert und barrierefrei ausgebaut. Die lokalen Komi- und ermöglicht es der Familie, im Falle von bevorste- tees zur Evakuierung und Verwaltung der Notunter- henden Bedrohungen rechtzeitig und angemessen künfte werden zudem mit Blick auf die Bedarfe von zu reagieren. Der Familiennotfallplan besteht aus 5 Menschen mit Behinderungen und anderen vulnerab- Elementen: len Gruppen sensibilisiert. Die freiwilligen Helfenden 1. Analyse der Risiken (Standort des Hauses, Ver- werden darüber hinaus zu spezifischen Kommunika- wundbarkeit der Lebensgrundlage, usw.) tionsbarrieren und dem sicheren Transport von Men- 2. Kenntnis der besonderen Bedarfe innerhalb der schen mit Verletzungen und Behinderungen geschult, Familie um weitere Beeinträchtigungen zu vermeiden. 3. Kenntnis des lokalen Warnsystems, der Notunter- Wie bereits erwähnt, beinhaltet Inklusive Katas- künfte, der Katastrophenschutzverantwortlichen trophenvorsorge die aktive Teilnahme vulnerabler 4. Kenntnis der sicheren Orte und Straßen im Fall ei- Gruppen und Personen an den Maß- ner Evakuierung nahmen zur Katastrophenvorbereitung. 5. Bereithaltung eines Familiennotfall- Häufig wird dies über die Einbindung kits, das für einen Zeitraum von mindes- von Selbstvertretungsorganisationen in tens drei Monaten angepasst ist. die kommunalen Katastrophenmanage- mentsysteme gewährleistet. Inklusive Frühwarnsysteme So wirbt HI bei der Entwicklung von Auch die Frühwarnsysteme gilt es Reaktionsplänen und bei der Gründung inklusiver auszurichten. Häufig werden von lokalen Katastrophenschutzkomi- Warnmeldungen in Haiti nur über das tees immer wieder erfolgreich für die Radio ausgegeben. Daher ist es not- Beteiligung von Selbsthilfe- und Behin- wendig, zusammen mit unterschiedli- dertenorganisationen. Bis dato konn- chen Bevölkerungsgruppen angepass- ten 14 Selbstvertretungsorganisationen te Methoden der Frühwarnung sowie langfristig in die dezentralen Strukturen eine kommunale Weitergabekette von der Katastrophenschutzbehörden einge- Übungen für den Evakuierungsfall Warnmeldungen zu entwickeln. So wur- bunden werden. Durch diese Einbindung © Handicap International den in einer Gemeinde beispielweise Disability and International Development 1/2019 11
Inklusive Katastrophenvorsorge und Risikominderung in der Praxis: das Fallbeispiel Haiti ehrenamtliche Gemeindegruppen gebildet, die vor- widerstandsfähiger zu machen, werden Maßnahmen her identifizierte Haushalte persönlich über bevor- sowohl mit Kleinerzeugerverbänden als auch mit vor- stehende Ereignisse informiert haben. Neben Radio- her identifizierten vulnerablen Haushalten entwickelt. mitteilungen der Behörden wurde ein behördliches Zum einen werden die Produzenten über Risiken und Informationssystem über SMS installiert und mehrere nachteilige Verhaltensweisen aufgeklärt (unkontrol- Fahnenmasten zentral errichtet, um über Flaggensig- lierte Holzwirtschaft, unkontrollierte Viehhaltung, nale den Schweregrad des bevorstehenden Ereignisses Überfischung) und zu verbesserten Produktionstech- anzukündigen. Eine Umfrage nach dem Tropensturm niken geschult. Zum anderen werden aber auch Akti- Erika 2015 hat ergeben, dass über diese Maßnahmen vitäten zur Diversifizierung der Einkommensquellen 99 % der Familien über den bevorstehenden Sturm unterstützt. Auch steht die bessere Sicherung der informiert waren. Dabei zeigte sich die Mobilisierung Lebensgrundlage (Gerätschaften, Fischerboote, Vieh, durch die Gemeindegruppen, das Radio sowie die Fah- Saatgut, etc.) im Fokus dieser Aktivitäten. Auf Ebene nensignale als am effektivsten (Handicap Internatio- der Gemeinden werden Fonds eingerichtet, mit Hilfe nal 2015). derer die Bevölkerung Anpassungen zur Risikominde- rung finanzieren kann. Wirkungen Im Vorfeld identifizierte Haushalte von beispiels- Evaluierungen nach dem Tropensturm Erika 2015 weise Menschen mit Behinderungen erhalten darüber und dem Hurrikan Matthew 2016 haben gezeigt, dass hinaus eine sogenannte „personalisierte Unterstüt- alle im Vorfeld identifizierten Personen mit beson- zung“. Ziel ist es, die Rentabilität ihrer wirtschaftlichen derem Unterstützungsbedarf oder isoliert lebende Tätigkeiten durch kleinere Anpassungen zu erhöhen. Personen die notwendigen Warnmeldungen erhalten Über die Ausgabe von Mobilitätshilfen und anderen haben. Auch konnten die entsprechenden Familien im Hilfsmitteln wird zudem die Autonomie der Betrof- vorgesehenen Zeitrahmen mit Hilfe freiwilliger Helfer fenen verbessert. Auch sollen die familiären Einkom- evakuiert werden. Es stellte sich heraus, dass die sa- mensquellen diversifiziert und die soziale Isolation nierten Notfallunterkünfte angemessen ausgestattet reduziert werden. So wurden einigen Familien Finanz- und auf besondere Schutzbedarfe vorbereitet waren. mittel zur Verfügung gestellt, mit denen sie Ziegen er- Trotz materieller Schäden (beschädigte Häuser, warben und ihre bis dato einzige Einkommensquelle Verlust von Erntegut und Vieh) gab es in keiner der des Gemüseanbaus erweiterten. Andere Haushalte ha- Projektlokalitäten Tote oder Verletzte im Gegensatz zu ben sich auf neue widerstandsfähigere landwirtschaft- anliegenden Lokalitäten (MICT 2016). liche Produkte spezialisiert. Anschließend werden die Auch hat sich gezeigt, dass die Familien in der Pro- Familien dabei begleitet, sich einem Erzeugerverband jektregion angemessene Schutzmaßnahmen durch- anzuschließen, dadurch aus der Isolation zu treten führten (bspw. Abschneiden von Ästen, Absicherung und Zugang zu weiteren Unterstützungsleistungen der Häuser, Schutz von wichtigen Unterlagen). Die im und Mikrofinanzierungen zu erhalten. Vorfeld als vulnerabel identifizierten Haushalte erhiel- ten dabei Unterstützung durch die Gemeindeeingreif- Maßnahmen zur Risikominderung gruppen (Handicap International 2015). Die meisten Gemeinden verfügen über Pläne zur Ri- Gleichzeitig stellte sich jedoch heraus, dass die sikominderung, in denen strukturelle und nicht-struk- wirtschaftliche Grundlage vor allem von vulnerablen turelle Maßnahmen zur Begrenzung der nachteiligen Gruppen zumeist nachhaltig geschädigt war. Da weder Auswirkungen von natürlichen und anthropogenen Vorsorge zur Sicherung der Produktionsmittel getrof- Risiken enthalten sind. fen wurde, noch die Existenzgrundlagen ausreichend Zur Verbesserung der Katastrophenvorsorge wer- widerstandsfähig waren. Nach diesen Erfahrungen den diese Pläne von HI zusammen mit verschiedenen wurde ein verstärkter Fokus auf die Stärkung der wirt- Interessensvertretungen auf ihre Relevanz überprüft. schaftlichen Resilienz und der Bewältigungskapazitä- Zu den anschließenden Minderungsmaßnahmen, die ten von Gemeinschaften sowie einzelnen Haushalten HI in Kooperation mit den lokalen Akteuren durch- gesetzt. führt, gehören: die Verbesserung von Straßenanbin- dungen zu Notfalleinrichtungen, der Bau von Wasser- Stärkung der wirtschaftlichen Resilienz rückhaltebecken für die Viehhaltung oder auch der Im Falle Haitis bilden vornehmlich Landwirt- Ausbau von Erosionsrinnen und Wehren. Ähnliche schaft, Viehzucht, Fischerei und Handel die wirt- Maßnahmen um die Auswirkungen von beispielsweise schaftlichen Grundlagen. Um diese zu stärken und Starkregen zu verringern, werden auch mit den vorher 12 Behinderung und internationale Entwicklung 1/2019
Inklusive Katastrophenvorsorge und Risikominderung in der Praxis: das Fallbeispiel Haiti identifizierten Haushalten durchgeführt. Dies bein- VARGA, L. (2016) : Rapport d’évaluation externe finale du projet, haltet beispielsweise die Befestigung von abschüssig Port-au-Prince. gelegenen Gärten oder den Bau von hauseigenen WALBAUM, V. (2014): Inclusive Disaster Risk Reduction Post 2015. Trinkwassertanks in entlegenen Gebieten. Bei den ein- Handicap International Expertise, Handicap International, Lyon. zelnen Vorhaben wird darauf geachtet, dass diese ein- fach, kostengünstig und vor Ort durch die Haushalte SUMMARY oder die Gemeinden instandgehalten werden können. This paper refers to activities in inclusive disaster preparedness in Haiti, conducted by Handicap International (HI) and local partners. Zusammenfassung Since the 2010 Earthquake, HI advocates the improvement of Inklusive Katastrophenvorsorge kann dann gelin- disaster preparedness on national and local level, with special focus gen, wenn gleichzeitig auf struktureller und indivi- on inclusion of persons with disabilities. Since 2013 the Federal Min- dueller Ebene gearbeitet wird. Auch sollte ein ganz- istry for Economic Cooperation and Development supports these heitlicher Ansatz verfolgt werden, der nicht nur die activities financially. Vorbereitung auf den Katastrophenfall beinhaltet, sondern auch die Stärkung von kommunalen und in- RÉSUMÉE dividuellen Bewältigungskapazitäten sowie die Min- La prévention des catastrophes inclusive ne peut que réussir, si derung von Vulnerabilitäten. Für eine langfristige on travaille simultanément sur le niveau structural et individuel. Einbindung inklusiver Ansätze bedarf es einer konti- De plus on devrait poursuivre un approche global, qui ne traite nuierlichen Bewusstseinsbildung, die langfristig nur pas seulement la préparation des cas de catastrophes, mais aussi über starke Selbstvertretungen sichergestellt werden l’enforcemment des capacités de dépassement individuelles et com- kann. Diese gilt es von vornherein aktiv in die Maßnah- munales et aussi la minoration des vulnerabilités. Pour l’intégration men einzubinden und zu stärken. des approches inclusifs à long terme, on a besoin d’une éducation consciente continue, qui ne peut que être assuré par des auto-re- LITERATUR présentations fortes. Ceux-ci doivent être auparavant activement CNSA - COORDINATION NATIONALE DE LA SÉCURITÉ ALIMENTAIRE inclues et fortifiées dans les actions. (2018): Bulletin IPC Décembre 2018, Available at: http://www. cnsahaiti.org/autres-publications/. Visited on 08.02.2019. RESUMEN EUROPEAN COMMISSION (2017): Factsheet Disaster Risk Reduction. La prevención inclusiva de desastres sólo puede tener éxito si el Available at: https://ec.europa.eu/echo/what/humanitarian-aid/ trabajo se lleva a cabo simultáneamente a nivel estructural e indivi- risk-reduction_en. Visited on 08.02.2018. dual. También debería adoptarse un enfoque holístico, que no sólo GUTNIK, A./ROTH, M. (2018): Disability and Climate Change. How incluya la preparación para los desastres, sino también el fortale- climate-related hazards increase vulnerabilities among the most cimiento de las capacidades locales e individuales de respuesta y at risk populations and the necessary convergence of inclusive la reducción de las vulnerabilidades. La inclusión a largo plazo de disaster risk reduction and climate change adaption, Humanity & enfoques inclusivos requiere una concienciación continua, que sólo Inclusion, Lyon. puede garantizarse a largo plazo mediante una fuerte autorrepre- HANDICAP INTERNATIONAL (2015): Rapport d’évaluation de la ca- sentación. Esto debe integrarse y reforzarse activamente en las pacité de réaction des groupes ressources et communautés suite medidas desde el principio. au passage de la tempête tropicale Erica en aout 2015, Port-au- Prince. AUTORIN HANDICAP INTERNATIONAL (2016): Rapport d’évaluation de la ca- Eileen Schuldt ist derzeit Programmreferentin bei Handicap pacité de coordination et de réaction des EIC du Sud-Est mise en International und verantwortlich für die von deutschen Gebern place par Handicap International suite au passage de l’ouragan finanzierten Projekte. Seit vielen Jahren arbeitet sie zudem Matthew en Octobre 2016, Port-au-Prince. im Kontext der partizipativen Regionalentwicklung und guten LAFRENIERE, A./WALBAUM, V. (2017): Inclusive Disaster Risk reduc- Regierungsführung sowohl in Deutschland als auch in Ländern tion, Handicap International, Lyon. des Globalen Südens. MICT – MINISTÈRE DE L’INTÉRIEUR ET DES COLLECTIVITÉS TERRI- Kontakt: Eileen Schuldt, Handicap International, TORIALES (2016): Système nationale de gestion des risques et e.schuldt@hi.org. des désastres. Centre d’opérations d’urgence départemental du sud-est. Ouragan Matthew, Port-au-Prince. UNISDR (2014): Living with Disability and Disasters. UNISDR 2013 Survey on Living with Disabilities and Disasters – Key Findings, Genf. Disability and International Development 1/2019 13
Leben retten und dabei niemanden zurücklassen. Inklusive Katastrophenvorsorge auf Gemeindeebene in Bangladesch Oliver Neuschäfer/Manuel Rothe Der Artikel erläutert am Beispiel eines Pilotprojekts in Bangladesch, wie inklusive Katastrophenvorsorge erfolgreich gelingen kann. Es wird aufgezeigt, dass Katstro- phenvorsorge nur dann wirklich inklusiv sein kann, wenn Menschen mit Behinde- rungen zuvor in die Lage versetzt wurden, sich selbstständig für ihre Rechte und Belange einzusetzen. Zugleich führen Inklusionsmaßnahmen nicht nur dazu, dass Katastrophenvorsorge zugänglicher für Menschen mit Behinderungen wird, sondern sie erhöhen grundsätzlich die Effektivität der Katastrophenvorsorge und kommen letztlich somit allen Menschen in einer Gemeinde zu Gute. Einleitung durch Sirenen vor einer drohenden Ge- In den letzten Jahren konnte verstärkt, fahr gewarnt wird. Gleichzeitig können auch wissenschaftlich und anhand vali- sich Menschen mit Behinderungen in vie- der Daten, nachgewiesen werden, dass len Fällen nicht selbstständig evakuieren Menschen mit Behinderungen im Kata- und werden im schlimmsten Fall sprich- strophenfall einem höheren Risiko aus- wörtlich zurückgelassen. Begünstigt wird gesetzt sind als Menschen ohne Behin- dies auch dadurch, dass Katastrophen- derungen. Besonders eindrücklich zeigte schutz-Behörden in den seltensten Fällen sich dies am Beispiel des Erdbebens und wissen, welche Menschen bei einer Eva- des darauffolgenden Tsunamis in Japan kuierung auf ihre Hilfe angewiesen sind, im März 2011: Da in Japan sehr verläss- da sie nicht über die vorhandenen Daten liche Daten zu Prävalenz von Behinde- und Informationen verfügen. rungen vorliegen, konnte im Nachgang In 18 besonders von Überflutungen der Katastrophe ermittelt werden, dass betroffenen Gemeinden im Gaibandha- die Mortalitätsrate von Menschen mit Be- Distrikt in Bangladesch hat die CBM da- hinderungen (entsprechend ihrem Anteil her gemeinsam mit zwei lokalen Part- an der Bevölkerung) mehr als doppelt nerorganisationen vor circa zehn Jahren so hoch war wie die Mortalitätsrate von ein Pilotprojekt zur inklusiven Katastro- Menschen ohne Behinderungen (Fujii phenvorsorge mit dem Ziel begonnen, die 2012). Die höhere Mortalität lässt sich Katastrophenvorsorge-Kapazitäten der dabei durch verschiedene, miteinander lokalen Bevölkerung sukzessive zu stär- zusammenhängende Ursachen erklären: ken und dabei gleichzeitig die besondere Zunächst fehlt es meist an barrierefreien Vulnerabilität von Menschen mit Behin- Frühwarnsystemen, sodass beispielswei- derungen und anderen Risikogruppen se Menschen mit einer Hörbeeinträchti- wie älteren Menschen gegenüber Natur- gung nichts davon mitbekommen, wenn katastrophen zu adressieren. Ende 2019 14 Behinderung und internationale Entwicklung 1/2019
Leben retten und dabei niemanden zurücklassen. Inklusive Katastrophenvorsorge auf Gemeindeebene in Bangladesch wird das Projekt abgeschlossen. Katastrophenvorsorge auf Gemeindeebene ein lang- Bangladesch gehört mit seinen knapp 163 Millionen jähriger Prozess ist. Die Umsetzung des Projekts er- Einwohnern zu den weltweit am stärksten von Natur- folgte dabei unter der Grundannahme, dass zunächst katastrophen gefährdeten Ländern (Bündnis Entwick- die Inklusion von Menschen mit Behinderungen lung Hilft 2018: 32). Begrenzt durch die Ausläufer des grundsätzlich verbessert werden muss, bevor spe- Himalaya-Gebirges im Norden und den Golf von Ben- zifische Maßnahmen zu einer inklusiven Katastro- gal im Süden, sind es vor allem zwei Arten von Natur- phenvorsorge begonnen werden können ((Brown/ katastrophen, die Jahr für Jahr das Land heimsuchen: Neuschäfer/Rothe 2018: 18). Schließlich darf nicht Einerseits Überflutungen und Erdrutsche im Rahmen vergessen werden, dass vor allem im ländlichen Raum der jährlichen Monsun-Zeit und andererseits Zyklone, von Bangladesch bis heute viele Vorurteile gegenüber die aus dem Golf von Bengal gen Süden des Landes Menschen mit Behinderungen bestehen und eine ak- ziehen. Der Norden von Bangladesch ist vor allem von tive soziale und ökonomische Teilhabe am Gemeinde- jährlichen Überflutungen während der Monsunzeit Leben für Menschen mit Behinderungen oftmals nicht im Sommer betroffen – zuletzt im Sommer 2017. So möglich ist. auch der Distrikt Gaibandha, der am Zusammenlauf der Flüsse Tista und Brahmaptura liegt und somit von Starke Selbsthilfegruppen: zwei Seiten durch Hochwasser bedroht ist. Gaibandha Der Schlüssel zur Inklusion ist eine sehr ländliche und arme Region, in der die Zu Beginn des Projekts stand der Aufbau von Bevölkerung überwiegend als Kleinbauern vom Reis- Selbsthilfegruppen von Menschen mit Behinderun- und Gemüseanbau lebt. Die jährlichen Überflutungen gen im Fokus. Ziel einer solchen Selbsthilfegruppe sind für die Region Fluch und Segen zugleich: Einer- ist es, ein Netzwerk zwischen Menschen mit Behin- seits sind sie wichtig, da sie fruchtbare Erde aus dem derungen aufzubauen, durch das sie sich gegenseitig Norden anschwemmen, wodurch die Erträge in den unterstützen können. Zugleich kann die Gruppe ge- kommenden Ernten verbessert werden. Sind die Über- meinsam leichter ihre Anliegen durchsetzen, als es flutungen jedoch zu stark, wie in den letzten Jahren für die einzelnen Mitglieder allein möglich wäre. Da fast immer der Fall, kommt es zugleich zu massiven zu Beginn des Projekts keine verlässlichen Daten zu Schäden: die meist einfachen Häuser werden beschä- Prävalenz von Behinderungen vorlagen, war zunächst digt oder komplett zerstört, Nutztiere wie Kühe, Zie- die wichtigste Aufgabe die Identifizierung von Men- gen und Hühner ertrinken, Reis und Gemüse auf den schen mit Behinderungen. Was einfach klingt, ist in Feldern stirbt ab, weil es tage- oder wochenlang unter der Praxis sehr kompliziert, da viele Menschen mit Wasser steht. Behinderungen von ihren Familien versteckt werden Die Arbeit der CBM und ihrer lokalen Partner in und zugleich einige Gebiete in der ländlichen Regi- der Gaibandha-Region begann bereits im Jahr 2009 on nur sehr schwer zu erreichen sind. So ist es auch und wird Ende 2019 abgeschlossen sein. Die große zu erklären, dass selbst lange nach dem Projektstart Zeitspanne lässt erahnen, dass die wirksame Veranke- immer wieder Menschen mit Behinderungen identifi- rung von Inklusion und insbesondere von inklusiver ziert werden, die vorher nicht erfasst waren. Jede Selbsthilfegruppe umfasst circa 15 Mitglieder, wobei die Mitglieder unterschiedliche Beeinträch- tigungen haben. Kinder mit Behinderungen werden durch ihre Eltern vertreten. Beim Aufbau der Selbst- hilfegruppen wurde zugleich auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis geachtet, das sich auch in den jeweiligen Führungsstrukturen der einzelnen Gruppen widerspiegelt. Ein wichtiges Kriterium bei der Aufnahme in eine Selbsthilfegruppe war außer- dem die Motivation der potenziellen Mitglieder. Im ersten Jahr wurden die Selbsthilfegruppen bei ihren wöchentlichen Sitzungen durch einen Projektmitar- More than 400 households were destroyed in the last flood in Au- beiter begleitet. Im Rahmen der Gruppenentwicklung gust 2017. Hundreds of families were displaced and many families fanden in diesem Zeitraum eine Vielzahl relevanter are great worry of losing their household at any time. Schulungen statt, um die Kapazitäten der Gruppen Location: Embankment at Kapshia, Horipur. © CBM/Gonzalo Bell sowie der einzelnen Mitglieder aufzubauen. Dies Disability and International Development 1/2019 15
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