Procap - Fokus Reden wir über Sexualität - Procap Zürich
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Procap Das Magazin für Menschen mit Behinderungen 2/21 Mit Procap Züri Fokus Im Dialog mit Hoher Bedarf Reden Catherine Agthe Familienergänzende wir über sowie Betreuung für Kinder Sexualität Nadja Schmid mit Behinderungen
2/21 Procap Züri Liebe Procapmitglieder, Leserinnen und Leser Es freut mich sehr, Sie erstmals an dieser Stelle Fast 10 Jahre hat sie die Beratung im Bereich Sozialver- begrüssen zu dürfen. Und das gleich in zweifacher sicherungsrecht für Procap Zürich und Schaffhausen Hinsicht. Wie Sie schon im Weihnachts- und Infor- sicher gestellt und viele Mitglieder dabei unterstützt, mationsbrief vom Januar erfahren haben, bin ich die ihnen zustehenden Leistungen zu erlangen. Dafür seit Februar als Geschäftsführerin für Procap Zürich danken wir ihr herzlich und wünschen viel Musse für tätig. Ich freue mich auf den gemeinsamen Weg und all das, was sie immer schon mal machen wollte. baldige persönliche Begegnungen. Im Weiteren ist dies das erste Procap Magazin mit eigenem Züri-Teil. In Zukunft informieren wir ver- mehrt an dieser Stelle über Neuigkeiten, Wissens- wertes und Veranstaltungen im Kanton Zürich. Bitte beachten Sie, dass es dadurch weniger Postversände geben wird. Viel Spass bei der Lektüre. Neues aus dem Team Martina Hürlimann Marcel Neininger Nach der erfolgreichen Um- Neu sind im Beratungsteam Sozialversicherungsrecht setzung der Fusion der drei Marcel Neininger (seit Oktober 2020) und Martina Procap-Sektionen im Kanton Hürlimann (seit März 2021) tätig. Beide bringen �n- Zürich verlangte die aktuelle dierte Ausbildungen und fachspezifische Berufserfah- Situation eine strategische rungen mit. Neuausrichtung der Ge- schäftsstelle, insbesondere auch im Bereich der Ge- schäftsführung. Da war für Yolanda Gottardi der Zeitpunkt gekommen, beruflich neue Weichen zu stellen. Ende Februar hat sie Procap Zürich ver- lassen. Wir danken ihr herz- lich für den engagierten, um- sichtigen und beharrlichen Einsatz für Menschen mit Jeannette Frei Silvia Noser Behinderungen und wün- Zusammen mit Silvia Noser, unserer kompetenten All- schen ihr spannende neue Herausforderungen. rounderin mit langjähriger Beratungserfahrung, setzen Ebenfalls Ende Februar hat wir uns im neuen Team motiviert für unsere Mitglie- Esther Schelb ihren wohl- der und ihre Rechte ein. verdienten Ruhestand ange- treten. Jeannette Frei, Geschäftsführerin
Neues aus dem Verein Mitgliederversammlung 2021 Vereins-Aktivitäten Aufgrund der unsicheren epidemiologi- schen Lage müssen wir die für Juni ge- plante Vereinsreise absagen. Gemäss der Corona-Lockerungs-Strategie vom Bund sollten jedoch ab August wieder gesellige Treffen und Ausflüge möglich sein. Informationen zur defintiven Durchführung und die Details zum jeweiligen Programm folgen. Folgende Aktivitäten sind in Planung: 2021 musste Procap Zürich zum zweiten Mal die Kultureller Nachmittag mit geselligem Zusam- Mitgliederversammlung in schriftlicher Form mensein. durchführen. Die teilnehmenden Aktivmitglieder Datum und Ort sind noch offen haben die Jahresrechnung, den Jahresbericht sowie die Festsetzung der Jahresbeiträge 2022 angenom- Grillnachmittag men. Datum: 11. September, 14.00 - 17.00 Uhr Ort: Forsthaus Mühlehoz in Uster Zudem standen dieses Jahr Vorstandswahlen an. Kosten: Aktiv-/Solidarmitglieder und Lorenzo Marazzi, welcher sich seit Gründung der Gäste sind eingeladen. neuen Sektion im Vorstand für die Belange der Für Begleitpersonen steht ein Mitglieder eingesetzt hat, stand für eine Wieder- Kässeli bereit. wahl nicht zur Verfügung. Mit herzlichem Dank für Anmeldung: Bis spätestens 10. Juli sein wertvolles Engagement wünschen wir ihm alles Gute für die Zukunft. Der Präsident Hanspeter Weihnachtsfeier Lienhart, die übrigen Vorstandsmitglieder sowie Ganz herzlich laden wir zu unserer traditionellen die Revisionsstelle wurden für eine weitere Amts- Weihnachtsfeier ein. Freuen Sie sich auf gutes Es- periode bestätigt. Neu zur Wahl stellte sich Simone sen, festliche Stimmung und weihnächtliche Un- Wieland, ein langjähriges Procap Mitglied. Auch sie terhaltung. wurde von den Mitgliedern gewählt. Wir heissen Datum: 11. Dezember sie herzlich willkommen in unserem Vorstand und Ort: Hotel Thessoni, Regensdorf freuen uns auf die Zusammenarbeit. Anmeldung: Bis spätestens 13. November Im Weiteren wurde den neuen, umfassend überar- beiteten und zeitgemäss aktualisierten Statuten von Winti-Treff Procap Zürich zugestimmt. Die wesentlichste Ver- Bei Kaffee und Kuchen geniessen die Teilnehmen- änderung für die Mitglieder betrifft die Anpassung den einen gemütlichen Nachmittag mit interessan- der Kündigungsfrist. ten Gesprächen. Ab und zu wird spontan ein Spa- ziergang oder ein Ausflug in ein Restaurant unter- Die neuen Statuten sowie den Jahresbericht finden nommen. Deshalb ist eine Anmeldung unerläss- Sie auf der Website: �.procap-zuerich.ch. lich. Sie können diese auch bei uns bestellen und wir Daten: Jeweils letzter Dienstag im Monat senden sie Ihnen per Post oder per Mail zu. Kosten: Tragen die Teilnehmenden selbst Anmeldung: Laufend möglich Bitte melden Sie uns Ihr Interesse mit dem Talon auf der nächsten Seite oder per Mail an: zuerich@procap.ch II
News Neue Website Newsletter Sechs mal pro Jahr wird der Newsletter von Procap Schweiz per Mail verschickt. Dort finden Sie in Zukunft ebenfalls Infos aus dem Kanton Zürich. Wenn Sie den Newsletter noch nicht erhalten, kön- nen Sie diesen ganz einfach abonnieren. Melden Sie sich dazu über unsere Website (�.procap-zuerich.ch) an, oder schreiben Sie uns eine Mail an zuerich@procap.ch mit dem Vermerk Bestellung Newsletter. Seit Ende April ist unsere neue barrierefreie Websi- te online. Dort finden Sie immer aktuelle Neuigkei- ten, Hinweise und Infos zu unseren Angeboten und Veranstaltungen. Schauen Sie doch herein. Wir freuen uns auf einen Besuch. Wichtig Ende März wurde unsere Vereinssoftware erneuert. Um auch die Adress-Datenbank auf dem neuesten Stand zu halten, bitten wir Sie folgenden Talon auszufüllen und uns per Post (Procap Zürich, Oberlandstrasse 98, 8610 Uster) zurückzusenden. Sie können uns ihre Angaben auch per Mail (zuerich@procap.ch) zukommen lassen. Vielen Dank. � Vorname Name Strasse PLZ / Wohnort Telefon Mail Ich interessiere mich für folgende Vereinsanlässe: Kultureller Nachmittag (Datum und Ort noch offen) Grillnachmittag (11. September von 14.00 - 17.00 Uhr) Weihnachtsfeier (11. Dezember, Zeit noch offen) Winti-Treff (jeweils letzter Dienstag im Monat) Sobald das jeweilige Programm feststeht, senden wir Ihnen die definitiven Anmeldeunterlagen zu. III
Diverse Hinweise Nichts über uns ohne uns! CléA Schlüssel zur Assistenz Interessenvertretung von Menschen mit Die «CléA Assistenzplattform» schafft für Menschen Behinderungen: Ein Fachkurs der Paulusakademie mit Behinderungen ein digitales Hilfsmittel, das die von und der BKZ (Behindertenkonferenz Kanton Zürich) der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte Zielgruppe: Gleichstellung und Selbstbestimmung in allen Menschen, die sich für die Behindertengleichstel- Lebensbereichen ermöglicht. lungspolitik im Kanton Zürich interessieren, insbe- sondere Menschen, die selbst von Behinderung be- CléA soll Betroffenen sowie deren Angehörigen oder troffen sind und sich für die Interessen von Men- Betreuungspersonen bei der Herausforderung helfen, schen mit Behinderung einsetzen wollen. das Leben mit Assistenz administrativ zu vereinfachen. Bei Bedarf sind Gebärdensprachdolmetschende an- Die «CléA Assistenzplattform» wird von Betroffenen wesend. für Betroffene entwickelt. Ziel ist es mit ihren viel- Kursleitung: Beatrice Brülhart, Paulus Akademie schichtigen Kompetenzen, eine gut �nktionierende, be- Anja Reichenbach, BKZ nutzerfreundliche und den Ansprüchen der Zielgrup- Leitung Module: pen gerechte digitale Lösung auf den Markt zu bringen. • Andreas Daurù, Kantonsrat Dies in allen Bereichen (Stellenausschreibungen, Assis- • Thea Mauchle, Präsidentin BKZ tenzsuche, Planung, Abrechnung und weitere Dienst- leistungen) für das Leben im Assistenzmodell. • Ma�as Sagi-Kiss, Bezirksrat • Michael Vogt, Accessibili� Consultant Die «CléA Assistenzplattform» befindet sich im Aufbau. • Elena Mpintsis, Schauspielerin Das erste Modul, die «CléA Jobplattform», ist seit dem Ort: Paulus Akademie 2. März 2021 in der deutschen Beta-Version online. Pfingstweidstrasse 28 8005 Zürich Weitere Informationen: Kosten: CHF 300 (inkl. Pausenverpflegung, clea.app exkl. Mittagessen) info@clea.app Wenig Verdienende können sich bei Bedarf für einen reduzierten Preis bei der Tagungs- administration melden. Anmeldung: Bis 13. August 2021 WG-Zimmer frei Ausschreibung und alle weiteren Informationen: Du bist ein junger Mensch mit einer Behinderung �.paulusakademie.ch und möchtest in Zukunft mit Unterstützung selb- Kontakt: Eva Lipp-Zimmermann, ständig mit Assistenz leben? info@paulusakademie.ch, 043 336 70 30 Der Verein leben wie du und ich un- terstützt dich dabei. Auf Herbst 2021 wird im KULTURPARK in Zürich West eine 6.5-Zimmerwohnung frei. Wohn-/Arbeitsplatz finden! Vorstellbar sind verschiedene Formen des Zusammenlebens von Menschen meinplatz.ch ist eine Internetseite für erwachsene mit und ohne Behinderung. Ab Mai / Juni 2021 wer- Menschen mit Behinderungen, die ein Tages-, Wohn- den jeweils an einem Nachmittag pro Woche Ken- oder Arbeitsangebot suchen. Auf meinplatz.ch fin- nenlern-, Planungs- und Vorbereitungstreffen statt- den Sie alle aktuellen Angebote der Bereiche Tages- finden. Der Kulturpark bietet «einen interkulturel- struktur, Wohnen sowie Arbeiten. Die Internetzseite len, vernetzten und urbanen Lebensraum, wo Arbei- ist primär für Menschen mit Behinderungen. Aber ten und Wohnen, Bildung und Kultur zusammenfin- auch für deren Familien, Berater/innen sowie Be- den (�.kulturpark.ch). Der ideale Ort für dieses hörden und Ämter. Projekt. ein gemeinsames Projekt Interessiert? Dann melde dich direkt bei: kantonaler Ämter und junge_erwachsenen_wg@lebenwieduundich.ch INSOS Zürich �.lebenwieduundich.ch IV
«Dank Swiss-Trac kann ich den Urlaub mit meinen Kindern richtig geniessen» Probefahrt vereinbaren: www.swisstrac.ch RolliProTM B AU FÜR RolliProTM ist die clevere Lösung für UM ERSE DIV ARKEN Rollstuhltransporte mit Ihrem Personenwagen. TOM ICH AU GL Heckausschnitt und Auffahrrampe ermöglichen ein MÖ bequemes Ein- und Ausfahren, Kopf- und Rückenlehne sowie die 3-Punkt-Passagiersicherung garantieren höchstmögliche Sicherheitsanforderungen. FlexiRampTM Durch zweifaches Einklappen der Rampe wird ein komplett ebener Kofferraum geschaffen. So kann der Frachtraum wie im Original-Personen- wagen genutzt werden, falls kein Rollstuhltransport stattfindet. Für weitere Informationen beraten wir Sie sehr gerne. 044 743 80 40 • waldspurger.ch DITION WALDSPURGER AG BEWÄHRT UND INNOVATIV INDUSTRIESTRASSE 29 I 8962 BERGDIETIKON
Editorial Editorial Inhalt Lange Zeit war die Sexualität von Menschen Notizen 4 mit Behinderungen ein Tabuthema. Zwar Procap Sozialpolitik hat sich mit dem Behindertengleichstellungs- Familienergänzende Betreuung: gesetz von 2004 und der Annahme der Gleiche Rechte für Kinder mit Behinderungen 28 UNO-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2014 auf rechtlicher Ebene vieles verbessert. Fokus Doch bis heute wird in der Gesellschaft Reden wir über Sexualität 6 kaum über die Sexualität von Menschen Roland Burkart: mit Behinderungen gesprochen. Auch Unser Künstler vorgestellt 8 Bilder dazu gibt es nur selten. Und wenn Im Dialog mit: man etwas nicht sieht oder hört, entsteht Catherine Agthe, schnell der Eindruck, dass es nicht Sexualpädagogin für existiert – was wiederum das Tabu verstärkt, Menschen mit Behinderungen 10 darüber zu sprechen und es zu zeigen. Ratgeber Recht: Meine Rechte rund Nun brechen wir bei Procap gerne Tabus um Sexualität 17 und nennen die Dinge beim Namen. Im Dialog mit: Deshalb reden wir in dieser Ausgabe über Nadja Schmid, Lebensberaterin Sexualität und Sex. Wir fragen, warum es und Motivationscoach 18 diese Tabus gibt und wo bei diesem Thema Sex und Intimität, die wahren Probleme liegen. Wir versuchen, auch in Institutionen 23 einen respektvollen und humorvollen Service Zugang zu finden. Und wir haben eine kleine Auswahl an Informationen zusammen- Rätsel 26 getragen, die all jene, die mehr wissen Carte blanche 30 wollen, inspirieren und anregen soll. Sonja Wenger Verantwortliche Verbandskommunikation und Medien 3
Notizen Fokus Sexualität: Infos und Inspiration Die Journalistin und Bloggerin Katrin Rönicke schreibt in «Sex. 100 Seiten» – ganz explizit und konkret, persönlich und mutig «Klar und einfach» – über Sexualität in der Kindheit, – Aufklärung für alle Stimulation, Kommunikation, Nicht allen Menschen fällt es leicht, Fragen zur Sexualität zu Liebe, sexuelle Vielfalt, Gewalt beantworten, und die Aufklärung und Grenzen, Kinderwunsch. junger Menschen ist oft eine «Sex. 100 Seiten», Autorin: Katrin Rönicke, Reclam Verlag, 100 Seiten, 2017, CHF 15.90 Herausforderung. Zudem sind die bestehenden Informationen nicht immer zugänglich für Menschen mit einer kognitiven Behinderung. Die Hilfsorganisation Insieme kämpft Seit kurzem existiert dafür nun eine sensibel aufgebaute und für die Umsetzung des Rechts auf clever gemachte App mit dem Sexualität für Menschen mit einer Titel «Klar und einfach». Es ist kognitiven Behinderung. die erste App dieser Art in der deutschsprachigen Schweiz. tinyurl.com/liebeundvielfalt Entwickelt wurde sie von Mitarbeitenden der Stiftung Reportage: «Moi, assistante sexuelle» Schürmatt und der Fachstelle für sexuelle Gesundheit des Kantons Dieser RTS-Dokumentarfilm von 2016 porträtiert Aargau. die damals 26-jährige Claire, die als Künstlerin In der App sind alle Informationen und Sexualassistentin arbeitet. Der sehr in leichter Sprache verfasst und mit Illustrationen ergänzt. Viele empfehlenswerte Film ist auf Französisch einsehbar. Informationen kann man sich tinyurl.com/yt5d5kd8 ausserdem vorlesen lassen. Dabei geht es um Themen wie sexuelle Orientierung, sexuelle Rechte, SRF-Beitrag: Sehnsucht nach Intimität aber auch um Gefühle, Fragen Ein Beitrag von SRF aus dem Jahr 2018 zum Körper oder wo man sich mit diversen Links. beraten lassen kann. tinyurl.com/srfsehnsuchtnachintimitaet Die App eignet sich hervorragend zur Aufklärung von jungen Menschen. Sie ist aber auch für Angebotene Sexualassistenz alle anderen interessierten Personen www.insebe.ch ein verständliches und umfassendes Nachschlagewerk. www.sinnerose.ch Alle Informationen und die Links zur App www.sexcare.ch finden Sie unter www.klarundeinfach.ch. 4
Notizen Hilfsmittel zur Assistenzsuche Seit Anfang dieses Jahres besteht CléA, ein neues digitales Hilfsmittel für Menschen mit Behinderungen. CléA ist eine Plattform, auf der Fragen rund um das Thema Assistenzleistungen beantwortet werden und wo Menschen mit Behinderungen unter anderem Informationen und Hilfe bei den mitunter entmutigenden administrativen Verfahren geboten wird. Die Suchmaschine ist leicht zugänglich und kann «Das Aphasie- zielorientiert verwendet werden. Das kürzlich aufge- Experiment» schaltete erste Modul erleichtert die Suche nach einer Stellen Sie sich folgende Situation Assistentin oder einem Assistenten und erlaubt es, vor: Sie setzen sich im Freundes- spezifische Bedürfnisse einzugeben. Drei weitere Module kreis an den Tisch, doch sie können sind derzeit noch in der Entwicklungsphase: ein Planungs- nicht sprechen, und niemand modul, ein Modul zur Zeiterfassung und Budgetplanung versteht Ihre Botschaft. Als Folge werden Sie nicht mehr in die sowie ein Abrechnungsmodul. Die Plattform richtet sich Gespräche miteinbezogen und auch an Angehörige und Einrichtungen. können auch ihre Gefühle kaum www.clea.app noch ausdrücken. Solche und ähnliche Situationen haben zehn bekannte Persönlich- keiten erlebt, als sie einen ganzen Arbeitstag lang auf das Sprechen verzichtet haben. Ihre Erfahrungen «Linus und der Kakapo», und Erlebnisse wurden nun im ein Kinderbuch in Leichter Buch «Das Aphasie-Experiment» Sprache festgehalten, das von der Betroffe- nenorganisation aphasie suisse Linus ist ein kleiner Junge mit Trisomie 21, herausgegeben wurde. Die der viele grosse und kleine Dinge im Alltag Geschichten zeigen, was der und in den Ferien mit der Familie erlebt. Von Verlust der Sprache bedeutet. diesen Geschichten handelt «Linus und der Und es bietet einen Einblick in Kakapo», ein Kinderbuch in Leichter Sprache die Gefühlswelt betroffener von Eliane Schädler (Illustrationen) und Silke Mitmenschen. Knöbl (Text). Das Buch erschien im Rahmen des Projekts «Geschichten in Leichter Weitere Informationen finden Sie Sprache» und wurde mit dem Chancen- unter www.aphasie.ch. Das Buch «Das gleichheitspreis 2020 der Regierung des Aphasie-Experiment – Wer sind wir ohne Sprache» kann für CHF 29.– via Fürstentums Liechtenstein ausgezeichnet. info@aphasie.ch bestellt werden. Mehr Informationen und Buch bestellen: www.geschichten.li 5
Fokus Sexualität Reden wir über Sexualität Ein guter Zugang zur eigenen Sexualität und die Möglichkeit, seine Bedürfnisse zu befriedigen, sind Grundlagen für ein zufriedenes und erfülltes Leben. Das gilt für alle Menschen in gleichem Masse. Doch gerade Menschen mit Behinderungen müssen bei diesem Thema noch gegen viele Tabus, Klischees und Vorurteile ankämpfen. Tex t Sonja Wenger Foto Shutterstock Sex lauert überall: in den Medien, in Filmen und Lieder- texten, in vielen Social-Media-Beiträgen und in der Werbung sowieso. Nicht umsonst heisst es «Sex sells» – mit Sex verkauft sich (fast) alles. Seien es Autos oder Waschmaschinen, Hygieneartikel oder Süssgetränke, und manchmal sogar politische Programme: Ein perfekter Körper, der viel nackte Haut zeigt, überträgt offenbar den Effekt des sexuellen Begehrens auf das beworbene Produkt. Doch auch wenn man heute von freizügigen Bildern und sexualisierten Inhalten auf Schritt und Tritt verfolgt wird: Wohl nur wenige Menschen haben einen gesunden Umgang und vor allem unverkrampften Zugang zu ihrer eigenen Sexualität, zu ihren Wünschen und Bedürfnissen. Doch dazu später. Kaum präsent in der öffentlichen Wahrnehmung oder den Medien – und noch seltener in der Werbung – ist hingegen das Thema Sexualität von Menschen mit Behinderungen. Zwar zeigt der Versandhändler Zalando derzeit auch Menschen mit Behinderungen auf seinen Plakaten und will damit seine Bemühungen für mehr Diversität ausdrücken. Allerdings fehlen für Menschen mit kognitiven Behinderungen oder körperlichen Mehr- fachbehinderungen oft die Möglichkeiten, ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auch zu leben, erzählt die Sexualpädagogin Catherine Agthe im Interview. Doch selbst wenn dieses Recht zugestanden wird, können sich viele nicht vorstellen, dass Menschen mit egal welcher Art von Behinderung sexuelle Bedürfnisse haben oder diese sogar ausleben, sei es in wechselnden Beziehungen oder einer festen Partnerschaft. Wie denn das mit dem Sex funktioniere, sei jeweils eine der ersten 6
Sexualität Fokus Fragen, die ihm gestellt würden, wenn er jemand Neues Bedürfnisse, Möglichkeiten und Grenzen – und am kennenlerne, erzählt etwa unser Illustrator Roland Burkart besten auch mit viel Humor. im Austausch. Und auch andere Betroffene berichten Ein weiterer Punkt ist die Sichtbarkeit. Die Medien, von erstaunten Gesichtern ihrer Gesprächspartner*innen, die Unterhaltungsbranche oder die Konsumgesell- wenn es um das Thema gelebte Sexualität geht. schaft zeigen uns meist nur «perfekte» nackte Körper. Dies macht es schwierig, unsere eigenen, meistens Das Selbstwertgefühl stärken nicht perfekten Körper zu akzeptieren. Glücklicher- Solche Reaktionen, die oft auf eine fehlende Sensibilisie- weise verändert – respektive öffnet – sich derzeit unsere rung oder mangelndes Wissen zurückzuführen sind, Wahrnehmung dessen, was wir als schön und deshalb auszuhalten, ist nicht immer leicht. Nadja Schmid, begehrenswert empfinden. Im Zusammenhang mit der Lebensberaterin für Menschen, die ihr Selbstwertge- Forderung nach mehr Akzeptanz verschiedener sexueller fühl stärken und Veränderungen im Leben bewirken Ausprägungen oder unterschiedlicher Hautfarben wollen, hat sich entschieden, sehr offen damit umzu- sehen wir auch immer mehr Menschen mit Körpern, gehen. Im Gespräch mit Procap erzählt sie unter anderem die eben nicht dem sogenannten klassischen (und deshalb von ihren Erlebnissen bei der Suche nach Sexual- meist langweiligen) Schönheitsideal entsprechen. partnern im Internet und wie sie ihre Erfahrungen Natürlich sind diese Gedanken oder Forderungen verarbeitet und weitergibt. nicht neu. Schon seit langem gibt es einzelne Quintessenz des immer wieder Gehörten ist: Vorkämpfer*innen, die sich für die sexuellen Bedürf- Über Sexualität muss man reden, reden, reden. Und nisse von Menschen mit Behinderungen einsetzen. zwar richtig. Mit Offenheit gegenüber den Wünschen Doch nur langsam werden es mehr: Der notwendige anderer, mit Ehrlichkeit bezüglich der persönlichen gesellschaftliche Wandel braucht viel Zeit. Die sozialen Medien spielen dabei – trotz der mit ihnen verbundenen Gefahren – eine wichtige Rolle. Sie erlauben es jenen, die von den Massenmedien oft ignoriert werden, Gleichgesinnte zu finden. Und sie bieten die Chance, sich digital zu vernetzen und sexuelle Kontakte zu finden, gerade weil es im Alltag noch viele Hürden gibt. Vielschichtiges Thema Die Liste der möglichen Beiträge und Fragen für ein Ma- gazin mit dem Fokusthema Sexualität ist lang. Welche Klischees, Vorurteile und Tabus bezüglich der Sexualität von Menschen mit Behinderungen gibt es in der Gesellschaft? Wie steht es um die Aufklärung, und wie muss eine angepasste Sexualpädagogik für Menschen mit einer kognitiven Behinderung aussehen? Welche Möglichkeiten zur Prävention von sexuellen Übergriffen gibt es? Wie sieht es aus mit dem Thema LGBTQIA+ (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, queer, interse- xuell und asexuell) von Menschen mit Behinderungen? Welche Angebote gibt es für sexuelle Assistenz respektive Sexualbegleitung für Menschen mit Behinderungen? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Religion und Kultur der Gesellschaft, in der wir gerade leben? Oder wie geht das mit diesen verflixten Gefühlen? Dies zeigt, dass jede Auseinandersetzung mit einem so vielschichtigen Thema immer nur einen kleinen Ausschnitt dessen bieten kann, was möglich wäre. Es zeigt auch: Einige Fragen sind spezifisch, andere betreffen alle Menschen im gleichen Masse, ob mit oder ohne Behinderungen. Wichtig ist, anzufangen. Reden wir also über Sex und Sexualität. Alison Lapper ist eine britische Künstlerin, die ohne Arme und mit verkürzten Beinen geboren wurde. Hochschwanger sass sie 1999 dem Bildhauer Marc Quinn Modell. Die Marmorstatue ist 3,5 Meter hoch und war unter anderem von 2005 bis 2007 in London sowie 2008 in Verona (im Bild) ausgestellt. Die Statue gilt als eine der wichtigsten skulpturalen Arbeiten der britischen Nachkriegszeit. (www.marcquinn.com/artworks/alison-lapper und www.alilapper.com) 7
Fokus Unser Künstler vorgestellt «Ich möchte noch einmal den Sand zwischen meinen Händen spüren.» Roland Burkart (*1981) ist Illustrator und Teil des Gemeinschaftsateliers Merkur in Emmenbrücke bei Luzern. Seit seinem Abschluss in Illustration/Fiction 2015 an der Luzerner Hochschule für Design und Kunst arbeitet er als Freelancer. Seine Illustrationen finden Sie auf dem Titelbild und den Seiten 9, 16 und 27. www.rolandburkart.ch Interview Patrick Du bach Illustration Roland Burkart Procap: In deinem Comic-Buch «Wirbel- In deiner Illustration «Rollenspiele» treiben sturm» wird der Protagonist nach einem es zwei im Rollstuhl ziemlich wild. Wie muss Unfall zum Tetraplegiker. Wolltest du damit man sich das vorstellen – Sex im Rollstuhl? deine eigene Geschichte erzählen? Das ist natürlich übertrieben dargestellt. Im Normal- Roland Burkart: Es hat Episoden darin, die habe ich fall liegt man im Bett. Wenn du nicht mehr so viele selbst erlebt. Ein schwerer Unfall, das Koma, dann die Körperteile spürst, erlebst du die Berührungen umso Diagnose «Tetraplegie». Ich bin aber nicht vom Sprung- intensiver an den Zonen, wo du dich noch spürst. Zum brett, sondern vom Baugerüst gefallen. Seitdem sitze Beispiel am Hals oder an den Ohren. ich im Rollstuhl. Rumpf, Beine und Hände sind gelähmt. Mit dem Buch wollte ich Menschen, die nicht von Sexualität ist oft nur auf den Akt reduziert. Tetraplegie betroffen sind, einen Einblick in diese Art Wie ist das bei Menschen, die körperlich von Behinderung geben. wenig spüren? Du schaust mehr auf die Atmosphäre. Und du schaust Über dich und dein Buch gibt es auch einen auch mehr auf das Gegenüber und möchtest, dass auch kleinen Film. Darin sitzt du mit einer Frau der Partner/die Partnerin mehr Spass hat. Insgesamt am Tisch. ist also der Sex weniger egoistisch. Ja, das ist meine Frau. Wir haben uns zwei Monate vor meinem Unfall kennengelernt. Wir sind jetzt vierzehn Was erlebst du öfters, wenn Leute sehen, dass Jahre zusammen, haben geheiratet und sind stolze du im Rollstuhl bist? Eltern einer Tochter, die elf Monate alt ist. Ab und zu kommt es vor, dass mir wildfremde Menschen, ohne zu fragen, Geld in den Schoss legen. Wie hat sich seit dem Unfall eure Beziehung In solchen Situationen fühlt man sich schon bevor- verändert? mundet. Als ich noch Fussgänger war, gab mir auch Am Anfang war es schwierig, wir waren kaum allein. niemand Geld. Es ist wohl Ausdruck einer Art Hilf- In der Reha kamen am Anfang täglich Leute, die mich losigkeit oder Überforderung gegenüber Menschen besuchten und wissen wollten, wie es mir geht. Da meine mit Behinderungen, die sie mit einer «Spende» Frau einen pflegerischen Hintergrund hat, konnte sie wettmachen wollen. relativ gut mit dem Unfall und der neuen Situation umgehen. Viele Paare gehen auseinander. Wir haben Wenn du könntest: Was würdest du gerne noch- jetzt sogar ein Kind. mals erleben? Ich möchte etwas Handwerkliches oder Körperliches machen. Im Haushalt mithelfen oder schwimmen zum Beispiel. Und ich würde gerne das Gefühl nochmals erleben, wie es sich anfühlt, wenn meine Hände in den Sand greifen. 8
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Fokus Sexualität – Gespräch mit Catherine Agthe «Wer hat wirklich ein Problem?» Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen muss heute nicht mehr speziell eingefordert werden. Doch noch immer fehlten vielen Betroffenen die Möglichkeiten, dieses Recht auch umzusetzen, sagt die Sexualpädagogin und Erwachsenenbildnerin Catherine Agthe. Im Gespräch erzählt sie, wieso Masturbation wichtig ist, weshalb Sexualität eine dreigeteilte Sprache ist, und warum man über Sexualität trotzdem nicht nur reden sollte. Text und Foto Sonja Wenger Catherine Agthe ist begeistert darüber, was sie stets aufs Neue von Menschen mit einer kognitiven Behinderung lernen kann. «Sie sind kreativ und trauen sich Sachen, für 10 die uns Menschen ohne Behinderungen oft der Mut fehlt.»
Sexualität Fokus 11
Fokus Sexualität – Gespräch mit Catherine Agthe Wer über das Thema Sexualität von Menschen mit Be- Masturbation. «Für einige Menschen mit einer Mehr- hinderungen sprechen möchte, stösst unweigerlich auf fachbehinderung ist das oft die einzige Möglichkeit, ein den Namen Catherine Agthe. Ab den späten Siebziger- sexuelles Erlebnis zu haben. Doch da diese Menschen jahren engagierte sie sich in der Schweiz, in Belgien meist für alles die Hilfe anderer benötigen, sind sie dar- und in Frankreich in Organisationen, Institutionen auf angewiesen, dass ihnen beispielsweise jemand nach und Kommissionen. So prägte die Sexualpädagogin der Intimpflege die Hände an die Geschlechtsteile legt.» massgeblich die Grundlagen der Sexualerziehung für Eine kleine Sache, sollte man meinen. «Doch ich Menschen mit Behinderungen. Auch heute, mit 69 Jah- kenne Pflegepersonen, die sich weigern, diese Handgriffe ren, berät sie noch immer Betroffene und Eltern in zu tun. Für sie ist es keine Frage, Exkremente wegzuwi- Krisensituationen zum Thema Intimität, Gefühlsleben schen, das gehört zur Hygiene. Aber ein bisschen Sperma? oder Sexualität. Und nicht zuletzt ist sie mit Fach- Das gehe gar nicht», erzählt Catherine Agthe, und man personen aus Pflege, Betreuung, Erziehung, Therapie spürt, dass diese Haltung sie empört. Doch weil das Thema oder Heimleitung in regem Austausch – auch wenn Intimität und vor allem der Umgang mit sexuellen die Corona-Pandemie lange Zeit keine Einzel- oder Bedürfnissen nur einen kleinen Teil der Ausbildung von Gruppensitzungen mehr erlaubte. Pflege- und Betreuungspersonen ausmacht, ist es für die «Solange ich noch jeden Tag etwas Neues von den meisten auch nicht Teil der Arbeit. «Hinzu kommt der Menschen, die ich begleite, lernen kann, werde ich die- Umstand, dass viele Personen in der Pflege oder Betreu- se Arbeit weitermachen», sagt Catherine Agthe im Ge- ung aus anderen Kulturen kommen. Möglicherweise darf spräch mit Procap in ihrem gemütlichen Zuhause in sich in ihrer Kultur ein Mensch mit Behinderungen nicht Nyon. Basis unseres Gesprächs ist ihr sehr lesenswer- selbst berühren, sodass sie es auch hier verbieten.» Und tes Buch «Sexualité et handicaps – entre tout et rien…» wenn es doch mal passierte, werde in einem Heim schnell (Sexualität und Behinderungen – zwischen allem und eine grosse Geschichte daraus gemacht. nichts). Sinngemäss bedeutet dieser Titel, dass früher nichts möglich war, wenn es um Menschen mit Behin- derungen und ihr Bedürfnis nach Sexualität ging, heute «Das sexuelle Verhalten von aber alles. Und genau darum geht es. Wo stehen wir als Menschen mit einer Gesellschaft? Muss man auch heute noch über das Thema Sexualität von Menschen mit Behinderungen kognitiven Behinderung wird sprechen? Und wenn ja, warum? Und wie müsste man oft viel strenger beurteilt.» dabei differenzieren? «Kürzlich haben mich die Eltern eines jungen Mannes Masturbieren untersagt mit Asperger kontaktiert. Die Nachtwache sagte, er Catherine Agthe mag die Fragen – und überrascht erst glaube gesehen zu haben, dass der junge Mann morgens einmal mit ihrer Antwort. «Wir müssen heute nicht um drei Uhr im Wohnzimmer des Wohnheims einen mehr spezifisch hervorheben, dass Menschen mit Be- erotischen Film geschaut und dabei masturbiert habe. hinderungen die gleichen sexuellen Rechte haben wie Nun müssen ihm seine Eltern beibringen, dass er so Menschen ohne Behinderungen.» Diese Rechte sind etwas nur in seinem eigenen Zimmer tun darf. Obwohl nicht nur in der UNO-Behindertenrechtskonvention völlig unklar ist, was wirklich passiert ist, heisst es festgehalten und im Behindertengleichstellungsgesetz nun, der Mann habe ein Problem mit seiner Sexualität. definiert, sondern auch in zahlreichen Grundsatzerklä- Da sollte man einmal darüber nachdenken, wer denn rungen und Richtlinien von Institutionen und Organi- wirklich ein Problem hat.» sationen. «Für diese Rechte haben wir jahrzehntelang gekämpft. Wenn man sie heute noch speziell schriftlich Uralte Ängste festhalten will, kommt das bereits einer Diskriminie- Diese Frage kommt immer wieder auf, besonders wenn rung gleich. Denn schliesslich braucht in der Schweiz ja es darum geht, wie Menschen mit einer kognitiven Be- kein Mensch ohne Behinderung eine spezielle Erlaubnis hinderung in der Öffentlichkeit wahrgenommen wer- dafür, seine sexuelle Selbstbestimmung zu leben.» den. «Da gibt es ein junges Pärchen, das bei mir in The- Worüber wir stattdessen sprechen müssen, sind die rapie ist und jeweils mit dem Zug anreist. Sie küssen fehlenden Möglichkeiten für Menschen mit kognitiven sich gerne, und manchmal sind sie dabei vielleicht et- Behinderungen oder körperlichen Mehrfachbehinde- was laut. Dass andere Mitfahrende dann das Abteil rungen, ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auch wechseln, irritiert die beiden aber sehr, denn das Küssen zu leben. «Hier haben wir noch immer einen grossen würde wohl problemlos toleriert, wenn es sich bei den Handlungsbedarf, und zwar auf diversen Ebenen», sagt beiden um junge Menschen ohne Behinderungen han- Catherine Agthe. Da sei zum Beispiel das Thema der deln würde», erzählt Catherine Agthe. 12
Sexualität – Gespräch mit Catherine Agthe Fokus Über das Warum kann sie nur spekulieren. «Bei Menschen ein stärkeres Selbstbewusstsein in Bezug auf ihre se- mit einer körperlichen Behinderung gibt es heute wohl xuellen Rechte. Dass mit den Rechten auch Verantwort- kaum noch skeptische Blicke, wenn sie sich in der Öffent- lichkeiten kämen, sei jedoch nicht immer so einfach zu lichkeit küssen. Doch bei Menschen mit einer kognitiven vermitteln, erzählt Catherine Agthe. Behinderung haben die Leute vielleicht Angst, dass sich «Sie sagen dann beispielsweise zu mir: Madame diese streicheln und auf offener Strasse Sex haben.» Agthe, ich bin jetzt ein Mann und ich will eine Freundin Geht es also einmal mehr um althergebrachte Bilder und ich habe auch das Recht, eine Freundin zu haben.» und Vorstellungen in den Köpfen der Menschen? «Das ist In einem solchen Fall müsse sie dann erst einmal den möglich. Bis heute wird eine kognitive Behinderung oft Gedanken vermitteln, was es heisse, eine Freundin auch als bizarr oder fremdartig wahrgenommen. Kommt dann zu respektieren. «Ihnen in diesem Bereich eine nuan- noch das Thema Sexualität hinzu, verstärkt sich alles, und cierte Wahrnehmung beizubringen, ist oft kompliziert die Leute urteilen viel strenger.» Um dies zu überwinden, und kann lange dauern.» Dasselbe gelte für den Umgang braucht es die stetige Sensibilisierung der Bevölkerung. mit Pornografie oder den Bildern, die sie etwa im Fern- «Früher gab es die Vorstellung, dass Menschen mit einer sehen sähen. «Man muss sie sensibilisieren und ihnen kognitiven Behinderung entweder unschuldige und ge- dabei helfen, zu begreifen, dass in diesen Filmen nicht schlechtslose Engel oder in erster Linie triebgesteuert die Realität gezeigt wird.» sind. Die Realität ist, dass die allermeisten sich bezüglich Man könne aber nicht nur reden. Gerade wenn es ihrer Sexualität irgendwo dazwischen befinden, genauso um Fragen über Sex gehe, müssen die Antworten auch wie es bei Menschen ohne Behinderungen der Fall ist.» physisch erfahrbar sein. «Wir benutzen dafür spezielle Puppen mit Geschlechtsteilen und zeigen so, wie man Mit Rechten kommen auch Verantwortlichkeiten sanft und zärtlich vorgehen kann und was man alles Nun ist Sexualbildung für alle Kinder ab der ersten machen darf und was nicht. Diese Form des Unterrichts Klasse in der Romandie seit über dreissig Jahren Teil des ist aber heikel. Er funktioniert nur mit einer Einzelper- normalen Unterrichts (vgl. «Sexualaufklärung in der son oder mit einem Paar.» Genauso wichtig sei es, den Schweiz»). Fast so lange erhalten Kinder mit Behinde- Betreuenden einer Institution zu zeigen, wie weit eine rungen regelmässig einen angepassten Unterricht. Auch Person oder ein Paar begleitet werden müsse, und wie dank dieser angepassten Sexualbildung haben heute viele Freiheiten man ihnen lassen solle. «Und nicht zu- viele junge Menschen mit Behinderungen einen besse- letzt muss man jeden Fall einzeln betrachten. Bei Fragen ren Zugang zu ihrer eigenen Sexualität – und teilweise der Sexualität kann man nie verallgemeinern.» Sexualaufklärung in • In der französischen Schweiz hat sich bereits seit über 30 Jahren ein Modell etabliert, bei dem externe Fachpersonen der sexuellen Gesundheit eine der Schweiz kontinuierliche Sexualaufklärung in der Schule anbieten. Die Akzeptanz der Eltern gegenüber dieser Tradition ist gross, und das Angebot wird geschätzt. Die staatlichen Schulen in der Schweiz haben einen gesetzlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag zu • In der italienischen Schweiz sind die Lehrperso- erfüllen. Bildung zur sexuellen Gesundheit wird im nen für die Sexualaufklärung verantwortlich. Eine Kontext der Schule als schulische Sexualaufklärung Gruppe von Ausbildungscoaches steht den Lehrper- bezeichnet. Sie ist in den sprachregionalen Lehrplänen sonen zur Verfügung, um sie bei der Umsetzung integriert und wird unterschiedlich umgesetzt: dieser Aufgabe zu unterstützen. In der Sekundar- schule und im postobligatorischen Bereich interve- • In der deutschen Schweiz sind in der Regel die nieren externe Fachpersonen der sexuellen Gesund- Lehrpersonen für Sexualaufklärung zuständig. Es heit, um die Sexualaufklärung zu ergänzen. existiert eine Vielfalt an verschiedenen Modellen, welche von den jeweiligen Schulen oder Lehrperso- nen abhängig sind. Darunter finden sich umfassen- Quelle: Sexuelle Gesundheit Schweiz, de Angebote, aber auch solche, die sich auf die www.sexualaufklaerung-schule.ch minimale Vermittlung von Informationen, meistens zu Biologie und Fortpflanzung, beschränken, wobei Beziehungsaspekte und soziale Komponenten ausser Acht gelassen werden. 13
Fokus Sexualität – Gespräch mit Catherine Agthe Von der Sprache und der sexuellen Assistenz wird sexuelle Assistenz gar nicht so oft in Anspruch Dasselbe gilt für die Wahrnehmung von Sexualität, und genommen, wie viele denken. «Die meisten Betroffenen es beginnt bei der Sprache. So verbinden Menschen mit wünschen sich vielmehr eine Partnerin oder einen Partner. dem Wort Sexualität die unterschiedlichsten Vorstellun- Es ist zwar gut, dass es das Angebot der sexuellen Assis- gen, Werte und Verhaltensregeln. Wohl die meisten tenz gibt. Aber zum einen muss man dafür bezahlen. Und denken dabei an «Sex haben», also an Verführung, zum anderen bleibt es eher künstlich und ist deshalb Geschlechtsverkehr und Orgasmus. «Doch Sexualität ist auch kein Ersatz für eine Liebesbeziehung.» mehr als Sex. Es ist eine dreigeteilte Sprache», sagt Catherine Was Catherine Agthe derzeit noch stärker beschäftigt, Agthe und erläutert dies anhand einer Skizze. «Es gibt die ist der Blick nach vorne. Da sie aufgrund der Corona-Pan- Sprache des Körpers, des Herzens und des Kopfes. Aber demie fast ein Jahr lang keine Ausbildungen, Supervisionen oft bringt man im Leben nicht alle drei Ebenen und Gruppentherapien mehr geben konnte, sind viele zusammen. So kann man jemanden lieben, ohne ein ihrer Kontakte zu Betroffenen abgebrochen. «Das Corona- sexuelles Bedürfnis zu empfinden. Man kann seine virus hat die Art, wie wir leben, in vielerlei Hinsicht Sexualität aber auch ohne Liebe ausleben. Manchmal verändert. Ich habe deshalb versucht, auch meine thera- klappt alles, und man kann beides verbinden. Dabei handelt peutische Arbeit einmal von einem anderen Blickwinkel es sich jedoch um einen anspruchsvollen Prozess.» aus zu betrachten. Dabei stellte ich mir die Frage, was denn die wahre Quelle des Wunsches ist, wenn etwa eine Sexualität Person mit einer kognitiven Behinderung sagt, sie möchte ist eine Sprache gerne Liebe machen. Handelt es sich dabei um ein echtes Bedürfnis, oder entspringt es vielmehr dem Wunsch, es auf 3 Ebenen «so wie alle anderen zu machen»? Dieselbe Frage muss man sich stellen, wenn jemand sagt, er oder sie möchte eine Freundin oder einen Freund, obwohl der Mensch eigentlich noch nicht bereit ist für eine Partnerschaft. Ko- mit dem Körper lieben reflektieren pieren sie damit nicht eher das Verhalten der Menschen teilhaben verstehen in der Gesellschaft?» Eine Antwort darauf hat Catherine Agthe noch nicht gefunden. «Aber ich frage mich, ob wir nicht versuchen sollten, zusammen mit den betroffenen Körper Herz Kopf Personen herauszufinden, was sie wirklich wollen, was ihre wahren Bedürfnisse sind, und ob es noch andere · sensorisch · Verbundenheit · kognitiv · sinnlich · Gefühle (z.B. das Möglichkeiten gibt, wie sie Liebe und Leidenschaft · sexuell · Liebe Respektieren von gesellschaftlichen empfinden und ihre Sehnsüchte stillen können.» Regeln) Besonders schwer falle es Menschen mit einer starken kog- Mehr Informationen zu Catherine Agthe und ihrer Arbeit finden nitiven Behinderung wie auch Personen mit psychischen Sie hier (Website auf Französisch): https://catherineagthe.ch/ Behinderungen diese Verbindung herzustellen. Es gebe allerdings einen wichtigen Unterschied zwischen diesen «Sexualité et handicaps – entre tout et rien…» beiden Behinderungsformen. «So haben Menschen mit Catherine Agthe Diserens, Verlag Saint-Augustin, psychischen Behinderungen oft keine Energie oder Pers- 225 Seiten, Januar 2013, CHF 25.90 pektiven und nehmen Medikamente, die oft die Libido un- terdrücken. Bei Menschen mit einer kognitiven Behinde- «Assistance sexuelle et handicaps» rung ist es anders. Sie leben zwar eine eher atypische Catherine Agthe Diserens und Françoise Vatré, Verlag Sexualität, bei der es mal um Sex geht und mal nicht. Aber Chronique Sociale, 191 Seiten, Februar 2012, CHF 25.90 bei allem, was sie tun, verfügen sie über eine hohe emotio- nale und körperliche Kreativität.» Für sie finde sich des- Beide Bücher sind zurzeit nur auf Französisch erhältlich. halb meist eine Lösung, auch wenn es etwas länger dauere. Die Suche nach Alternativen ist etwas, was Catherine Agthe auch in anderen Bereichen ihrer Tätigkeit beschäf- tigt. So war sie in der Romandie eine treibende Kraft bei der Selektion und Ausbildung jener Personen, die seit über zehn Jahren die Dienstleistung der sexuellen Assis- tenz anbieten. Obwohl das Thema in den Medien meist reflexartig in einen Zusammenhang mit der Sexualität von Menschen mit Behinderungen gebracht wird, 14
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Porträt 16
Ratgeber Recht Meine Rechte rund um Sexualität Marc Zürcher Anwalt Behinderungen mitunter häufiger urteilsunfähigen oder einer zum wiederfinden, einen spezifischeren Widerstand unfähigen Person in Schutz zu. Kenntnis ihres Zustandes sexuelle Es ist jedoch darauf hinzu- Handlungen vorgenommen werden weisen, dass es im Vorfeld einer (Art. 191 Schweizerisches Strafge- potenziell strafrechtlichen Situation setzbuch). Es handelt sich dabei um In den Medien werden oft eine «Grauzone» gibt. In dieser kriminelle Handlungen, die von Amtes immer wieder Übergriffe «Grauzone» wäre es ratsam, sorgfäl- wegen verfolgt werden. Deshalb ist thematisiert, über tig mit Grenzverletzungen, die noch es nicht notwendig, Strafanzeige welche die Opfer endlich keinen Straftatbestand darstellen, zu stellen. Dennoch muss der Sach- umzugehen und Voraussetzungen verhalt auf die eine oder andere sprechen können. Doch zu schaffen, um solche zu erkennen. Weise der Staatsanwaltschaft oder wie schützt mich das Das Erkennen und entsprechende der Polizei zur Kenntnis gebracht Recht vor einem mög- Handeln in solchen risikobehafteten werden (Anschuldigung). lichen Missbrauch? Bin Situationen ermöglicht den Schutz aller Beteiligten und vermeidet Schutz der Privatsphäre (Art. 13 ich völlig frei in meiner Leid aller Art. Bundesverfassung) Sexualität? Was sind Auf der Website von Procap Selbstbestimmung ist einer der meine Rechte in Bezug Schweiz findet sich der «Verhal- grundlegenden Aspekte des Privat- auf meine Sexualität, tenskodex zur Prävention von lebens und folglich seines Schutzes. Grenzverletzungen und sexuellen In diesem Sinne darf niemand ohne und wie kann ich diese Übergriffen». Darin werden kon- seine Zustimmung zu sexuellen geltend machen? krete Instrumente angesprochen, Handlungen gezwungen werden. die eingesetzt werden können, Andernfalls wird ein solches Ver- damit potenziell problematische halten strafrechtlich sanktioniert. Die Prävention von Missbrauch Situationen nicht zu einem Über- Die Situation ist allerdings weit- Das Strafrecht sieht keine besonde- griff führen. aus komplexer, wenn die betroffene ren zusätzlichen Rechte für Men- Person zwar einverstanden, aber schen mit Behinderungen vor. Es Strafrecht nicht zwangsläufig in der Lage ist, bemüht sich darum, alle Menschen Das Strafrecht schützt vor allem selbstbestimmt zu handeln, oder gegen Angriffe auf ihre sexuelle Personen, die in einem Erziehungs-, von einer Behörde abhängig ist. Integrität zu schützen. Gewisse, Betreuungs- oder Arbeitsverhältnis Dabei geht es vor allem um Personen, im Folgenden kurz angesprochenen stehen oder die auf andere Weise die in Einrichtungen leben bzw. deren Gesetzesartikel verfügen jedoch abhängig sind (Art. 188 Schweizeri- Urteilsvermögen eingeschränkt ist. über eine verstärkte Komponente sches Strafgesetzbuch). Die Aus- mit Blick auf die Täter-Opfer-Be- nützung dieser Abhängigkeit, um «Verhaltenskodex zur Prävention von Grenzverletzungen und sexuellen ziehung und deren Macht- bzw. zu einer sexuellen Handlung zu Übergriffen» unter www.procap.ch > Abhängigkeitsverhältnis. In diesem verleiten, ist eine Straftat. Das sich engagieren > Verhaltenskodex Sinne gestehen sie in Situationen, Strafrecht sieht umso grössere in welchen sich Menschen mit Sanktionen vor, wenn an einer 17
Fokus Sexualität – im Dialog mit Nadja Schmid «Sexualität beginnt immer mit der Liebe zu sich selbst»
Sexualität – im Dialog mit Nadja Schmid Fokus Ein Gespräch über Selbst- liebe und deshalb auch über Sexualität. Für Nadja Schmid ist das eine un- trennbar mit dem anderen verbunden. Ein Gespräch mit einer jungen Frau, die gelernt hat, sich selbst, ihr Leben und ihren Körper zu lieben, und heute ihre Erfah- rungen als Lebensberaterin und Motivationscoach weitergibt. Text und Fotos Sonja Wenger Hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht: Nadja Schmid möchte andere Menschen mit ihrer positiven Lebenseinstellung und ihren Erfahrungen inspirieren. 19
Fokus Sexualität – im Dialog mit Nadja Schmid Die junge Frau im elektrischen Rollstuhl, die mir die erzählt sie rückblickend. «Ausserdem interessierte es Haustüre per Knopfdruck öffnet, muss erst einmal die mich immer mehr, die Menschen bei ihren Lebenspro- Begeisterung ihrer beiden grossen Hunde bändigen. blemen zu beraten. Bei diesen Fragen kann ich aus Dann begrüsst sie mich mit einem herzlichen Lächeln – meinen persönlichen Erfahrungen schöpfen und und wir sind bereits mitten im Gespräch. glaubwürdig die Haltung vertreten: Ich bin da durch, Ich habe Nadja Schmid im Zusammenhang mit also bringe ich auch andere durch.» einer Veranstaltungsreihe von Procap Bern zum The- ma Leben mit Assistenz kennengelernt. Auf die Frage, ob sie auch über das Thema Sexualität von Menschen mit Behinderungen sprechen würde, sagte Nadja Schmid ohne zu zögern Ja. Als Lebensberaterin und «Was man immer Motivationscoach weiss sie, wie wichtig ein unver- krampfter Zugang zur eigenen Sexualität ist. Und noch verändern kann, sind wichtiger: Sie weiss aus eigener Erfahrung, wie man die vielen Hürden und Tabus überwinden kann, die in die eigenen Gedanken der Regel mit der eigenen Sexualität verbunden sind. «Viele Menschen, die zu mir in die Lebensbera- und Einstellungen.» tung kommen, haben Probleme, weil sie seit langem Single sind und keinen Partner finden oder weil sie kurz vor einem Burn-out stehen.» Bei solchen Proble- Es erstaunt nicht, dass die heute 31-Jährige ursprüng- men gebe es ein klares gemeinsames Muster. «Es fehlt lich Psychologie studieren wollte. Doch die IV meinte den Betroffenen meist an Selbstwertgefühl und an damals, dass dieses Studium zu lange dauere. Also Selbstliebe.» Viele nehmen sich nicht genug Zeit für absolvierte Nadja Schmid eine kaufmännische Ausbil- sich selbst oder mögen sich und ihren Körper nicht. dung und war noch bis vergangenes Jahr erfolgreich «Sexualität beginnt aber immer mit der Liebe zu sich im ersten Arbeitsmarkt tätig. «Und statt eines Psycho- selbst.» Deshalb liege der Fokus ihrer Beratung erst logiestudiums habe ich dann einfach gefühlt hunderte einmal auf der Erkenntnis: «Hör auf, dich verändern zu Kurse absolviert, weil mich bei allem im Leben immer wollen. Du bist perfekt, so wie du bist.» auch der psychologische Aspekt interessiert.» In diesen Kursen ging es oft um Selbstliebe und Selbst- akzeptanz. «Und dabei stösst man dann automatisch auf das Thema Sexualität.» «Ich bin da durch, Da sie aufgrund ihrer Hilfsbereitschaft von immer mehr Leuten wegen aller möglichen Dinge um Rat also bringe ich auch gefragt wurde, entschloss sie sich, diese Beratungen beruflich anzubieten. «Seit diesem Jahr bin ich nun andere durch.» vollumfänglich selbstständigerwerbend. Ich konnte meine Leidenschaft zu meinem Beruf machen.» Und: Sie hat inzwischen wesentlich mehr Menschen ohne Behinderungen als Klient*innen als umgekehrt. Obwohl sich diese Erkenntnis beinahe banal anhört, ist es für viele Menschen nicht leicht, an diesen Punkt Selbstliebe als Grundsatz von allem zu gelangen. «Ich weiss, dass es sehr viel Mut braucht, Warum das so ist? «Ich halte meinem Gegenüber jeweils sich mit sich selbst auseinanderzusetzen», sagt Nadja einen Spiegel vor und zeige meine Lebenssituation.» Schmid. «Und ich weiss auch, dass diese Auseinander- Das führt bei vielen dann oft zu einer Erkenntnis im setzung manchmal höllisch wehtun kann.» Sinne von: «Diese Frau ist im Rollstuhl, muss viele Hürden überwinden und hat doch so viel Energie und eine posi- Auf Umwegen zum Ziel tive Lebenshaltung. Wenn sie es mit ihrer Behinderung Vor einigen Jahren gründete Nadja Schmid ihre Bera- schafft, dann kann ich es doch auch schaffen.» Für Nad- tungsplattform www.you-are-never-alone.ch. Zu Be- ja Schmid ist diese Reaktion keineswegs abwertend, im ginn wollte sie mit ihrer Tätigkeit vor allem Menschen Gegenteil: «Sie ist der Trigger, der funktioniert. Denn mit Behinderungen unterstützen, die etwa bei Fragen wenn die Leute richtig hinschauen, müssen sie sich ein- zur Assistenz oder für den Umgang mit der IV Unter- gestehen, dass ich mit meinem nicht perfekten Leben stützung brauchten. «Da bin ich aber oft an Grenzen offenbar etwas besser mache als sie selbst, obwohl sie gestossen, wenn es etwa um rechtliche Fragen ging», gesund sind und viel mehr Möglichkeiten haben.» 20
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