Berichte und Kommentare - Nomos eLibrary
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Berichte und Kommentare Nachruf auf Ulrich Köhler (1937–2016) Günter Best Der Ethnologe und Amerikanist Ulrich Köhler ist am 04. 08. 2016 in Merzhausen bei Freiburg i. Br. im Alter von 79 Jahren an den Folgen der Parkin- sonschen Krankheit verstorben. Ulrich Köhler wurde am 03. 05. 1937 in Buda- pest geboren. Seine Eltern waren der Botschafter Dr. phil. Heinrich Köhler und die österreichische Juristin Dr. jur. Gertrud Köhler geb. Strohmayer. Gegen Ende des Krieges floh die Familie von Buda pest – dort war sein Vater damals Gesandtschaftsrat an der deutschen Botschaft – über Umwegen nach Gleichwohl sollte für Ulrich Köhler der indische Deutschland. Nach Schulbesuchen in Frankfurt und Subkontinent später als Feldforschungsgebiet nicht Bonn nahm er 1957 das Studium der Volkswirt- in Frage kommen. schaftslehre an der Johann Wolfgang Goethe-Uni- Am 26. 04. 1962 schloss er sein Erststudium in versität in Frankfurt am Main auf und trat auch dem Freiburg mit der volkwirtschaftlichen Diplomarbeit “Internationalen Studentenbund” bei. Nach drei “Die Bedeutung des Haavelmo-Theorems für die Semestern folgten Studienaufenthalte an der Sor- Kreislauftheorie” ab und hörte dann an derselben bonne in Paris und der Rheinischen Friedrich-Wil- Universität weiterhin Politikwissenschaften mit helms-Universität Bonn. Dort war er nur de facto Schwerpunkt Entwicklungspolitik. Während dieser als Student eingeschrieben, da er inzwischen zu ei- Zeit reifte in ihm der Wunsch, sich näher mit Afri- nem Vollzeit-Funktionär des “Internationalen Stu- ka und der US-amerikanischen cultural anthropol- dentenbundes” avanciert war. Nach einem Jahr setz- ogy auseinanderzusetzen. Deshalb reiste er mit ei- te er im Sommersemester 1960 sein Studium an der nem DAAD-Jahresstipendium im September 1962 Christian-Albrechts-Universität Kiel fort; dort be- nach Chicago, um an der Northwestern University geisterten ihn jedoch die Lehrenden nicht. Auf An- zu studieren. Dort lehrte damals Melville Jean Her- raten seines Vaters, der inzwischen Generalkonsul skovits, der Mitbegründer der cultural anthropol- in Basel war, wechselte Ulrich Köhler an die Albert- ogy und ehemaliger Schüler des Gründungsvaters Ludwigs-Universität in Freiburg. Die Breisgau-Me- Franz Boas. Des Weiteren besuchte er Veranstal- tropole sollte seine lebenswerteste Stadt werden. tungen von Paul Jean Bohannan und George Dal- Hier besuchte er neben volkswirtschaftlichen Ver- ton. Zugleich verfolgte Ulrich Köhler das Ziel, sich anstaltungen mit großem Interesse die politikwis- näher mit der Anwendung entwicklungsethnologi- senschaftlichen Seminare von Arnold Bergstraesser, scher Theorien im Feld in Form der applied anthro- die sein Interesse an entwicklungspolitischen Fra- pology zu beschäftigen. gen weckten. Und so folgte er 1961 gerne der Ein- Doch die geplante Dissertation mit dem Arbeits- ladung seines Vaters nach Indien, der in Bombay titel “Der Beitrag der Cultural Anthropology zur das Amt des Generalkonsuls übernommen hatte. US-amerikanischen Entwicklungshilfe in Afrika” Anthropos 112.2017 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2017-2-553 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 05.11.2021, 10:47:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
554 Berichte und Kommentare kam nicht zustande, da Herskovits ihn überzeugen bereich “Alte und Außereuropäische Sprachen und konnte, dass es bislang über Afrika noch nicht aus- Kulturen” der Universität Münster ein. Bei dieser reichend Material zu diesem Thema gäbe; jedoch Studie handelt es sich nicht nur um eine beschrei- sei die Situation in Mexiko vielversprechend. U lrich bende und analytische Untersuchung positiv wirk- Köhler ließ sich überzeugen, lernte spanisch, stu- samer Resultate der vom Instituto Nacional Indige- dierte die relevante Literatur und reiste im Septem- nista im Hochland angewandten Methoden, sondern ber 1963 nach Mexiko. Im Hochland von Chiapas hier nimmt Köhler auch eine kritische Haltung hin- hatte damals die mexikanische Regierung ein exten- sichtlich der bisherigen Arbeitsweise von beteiligten sives Entwicklungsprogramm mit Indianern reali- Mitarbeitern ein, die sich – nicht nur wegen zu vie- siert. Nach kurzen Archivarbeiten vor Ort konzen ler Verwaltungsarbeiten – bei ihren Aufgaben in den trierte er seine Datenerhebungen auf die Umgebung Entwicklungsprojekten teilweise aus Unkenntnis des Ortes San Christóbal de las Casas. der Indianerkultur vernachlässigend bis attentistisch Nach Ablauf des DAAD-Stipendiums blieb Ul- verhielten. Schließlich wurde dies zur Kernfrage rich Köhler weiter in Mexiko und setzte seine Feld- stellung der Arbeit: “In besonderem Maße wurde forschungen “über den Beitrag von Ethnologen zur bei der Untersuchung den Fragen nachgegangen, in- Planung und Durchführung wirtschaftlicher und so- wieweit die einzelnen Programme die traditionel- zialer Entwicklungsprogramme unter der dortigen le Lebensweise sowie die Aspiration der Indianer Indianerbevölkerung” fort (1969: 297). Im Juli 1964 berücksichtigen und inwieweit Konflikte, die sich kehrte er mit seinem Feldforschungsmaterial nach häufig aus Unkenntnis der Kultur der betroffenen Freiburg zurück, um sein Promotionsvorhaben bei Bevölkerung oder mangelnder Kenntnis der Grund- Arnold Bergstraesser durchzuführen, der seit 1959 prozesse des Kulturwandels ergeben, durch die Mit- eine “Forschungsgruppe Entwicklungsländer” lei- arbeit von Ethnologen vermieden werden konnten” tete, welche nach seinem Tod 1964 in “Arnold- (1969: 14). Bergstraesser-Institut für Kulturwissenschaftliche Schon 1968 nahm er am Internationalen Ame- Forschung” an der Albert-Ludwigs-Universität Frei- rikanisten-Kongress in Stuttgart und München teil burg umbenannt wurde. An diesem Institut führte er und hielt einen Vortrag “Zur Geschichte und Ethno- zunächst auch entwicklungspolitische Lehraufträge graphie der Chiapaneken” (1970b). Fürderhin nahm durch und war vom 01. 01. 1965 bis 30. 04. 1965 als er aktiv an den Internationalen Amerikanisten-Kon- wissenschaftlicher Assistent tätig. Am 01. 05. 1965 gressen teil und pflegte so zusätzlich die Kommu- nahm er die Stelle des Verwalters eines wissen- nikation mit den Fachvertretern, insbesondere mit schaftlichen Assistenten am neu gegründeten Lehr- den Mexikanisten. stuhl für Völkerkunde an der Westfälischen Wil- Nach dem Rigorosum im Dezember 1968 wur- helms-Universität Münster an. de Ulrich Köhler promoviert und im Januar 1969 Zu dieser Zeit wurde man auf Ulrich Köhler we- zum wissenschaftlichen Assistenten (H 1) ernannt. gen seiner empirischen Forschungen und Freibur- Schon im August desselben Jahres reiste er in das ger Lehrveranstaltungen zur “Entwicklungshilfe” Hochland von Bolivien, um sich Eindrücke von aufmerksam. So erhielt er neben seiner Tätigkeit in den dortigen Umsiedlungsprogrammen von India- Münster während der Jahre 1965 und 1966 vom “In- nern zu verschaffen. Im Herbst 1969 brach er zu ei- stitut zur Vorbereitung von akademischen Mitarbei- ner längeren – von der DFG geförderten – Feldfor- tern für Entwicklungsländer e. V.” in Bensberg bei schung ins Hochland von Chiapas auf, um sich vor Köln Aufträge für die Vorbereitungen und Durch- allem mit der Religion und Kosmologie der Tzot- führungen von stationären Lehruntersuchungen in zil zu beschäftigen. Das Datenmaterial dieser zwei- elsässischen Dörfern, deren Ergebnisse in Berichten jährigen Feldforschung war die Grundlage für seine (1966, 1967) dokumentiert wurden. Habilitationsschrift. Aus diesem Grunde konnte er Für die nächsten Jahre war Ulrich Köhler haupt- sich kaum den Veröffentlichungen von Beiträgen in sächlich mit der Institutsbibliotheksausstattung, mit Fachzeitschriften widmen. Verwaltungsarbeiten und mit vier Semesterwochen Nach seiner Rückkehr nach Münster arbeitete stunden in der Lehre beauftragt. Nach Dienstschluss Ulrich Köhler nur zwei Semester als wissenschaftli- widmete er sich seiner Dissertation. Zusätzlich cher Assistent, da er ab dem Wintersemester 1973/74 übernahm er ab Herbst 1966 für fast zehn Jahre den die Lehrstuhlvertretung für “Altamerikanische Spra- Rezensionsteil der Zeitschrift für Ethnologie. chen und Kulturen” des verstorbenen Ordinarius Im Herbst 1968 schloss er seine Dissertation mit Günter Zimmermann in Hamburg für zwei Semes- dem Titel “Gelenkter Kulturwandel im Hochland ter übernahm. Während der Hamburger Zeit heirate- von Chiapas. Eine Studie zur angewandten Ethno- ten Ulrich Köhler und Gisela Hörstgen, die gebürtig logie in Mexiko” (1969) ab und reichte sie im Fach- aus Essen kam und in Münster Pädagogik studierte. Anthropos 112.2017 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2017-2-553 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 05.11.2021, 10:47:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Berichte und Kommentare 555 Zurück in Münster vertrat Ulrich Köhler den (1981) als Buch im Oktavformat. Bei der Vorberei- wegen Feldforschung beurlaubten Rüdiger Schott tung und Durchführung dieser Tagung zeigte sich im Wintersemester 1974/75 und widmete sich da- sein Organisationstalent, das selbst sein Vorgänger nach intensiv seiner Habilitationsschrift. Im Win- Eike Haberland höchst lobend anerkannte. tersemester 1975/76 reichte er diese unter dem Titel Von 1985 bis 2011 war Ulrich Köhler Redak- “Čonbilal Č’ulelal. Grundformen mesoamerikani- tionsmitglied der Zeitschrift für Ethnologie und bis scher Kosmologie und Religion in einem Gebetstext 1994 Mitherausgeber der Reihe “Acta Mesoameri- auf Maya-Tzotzil” (1977) an der Universität Müns- cana” (Markt Schwaben). Des Weiteren war er Mit- ter im Fachbereich “Alte und Außereuropäische glied des ethnologischen Fachvertreterausschusses Sprachen und Kulturen” ein und erhielt im Janu- im “Permanent Council of the International Union ar 1976 die Venia Legendi für Ethnologie und Alt of Anthropological and Ethnological Sciences” amerikanistik. Čonbilal č’ulelal bedeutet “verkauf- (Osaka), des wissenschaftlichen Beirats des “Insti te Seele”. Das Kernstück der Studie basiert auf tuts für den wissenschaftlichen Film” (Göttingen) dem Text eines therapeutischen Gebets zur Hei- und der Kommission für allgemeine und verglei- lung von “verkauften Seelen” (1977: 1), den Ul- chende Archäologie des “Deutschen Archäologi- rich Köhler mit dem Tonband in der Maya-Sprache schen Instituts” (Berlin). Tzotzil aufgenommen, transkribiert sowie zusätz- Noch von Münster aus unternahm er mit vier lich übersetzt und interpretiert hat. Nach dem Ver- Studentinnen und einem Studenten 1986 eine ständnis der Tzotzil handelt es sich um eine Erkran- Lehrexkursion nach Mexiko. Dort wurde von den kung, die von feindlichen Mächten ausgelöst wird. Teilnehmern innerhalb von 16 Tagen eine Bestands- Diese bemächtigen sich der Seele(n) des Erkrank- aufnahme der materiellen Kultur der Tzotzil von San ten und verkaufen sie. Lediglich Heiler können die Pedro Chenalhó im Hochland von Chiapas durchge- Symptome erkennen und den Kranken mit Hilfe führt. Die Ergebnisse dieser Feldforschungsübung der hier berücksichtigten Gebete heilen. Gleichzei- wurden 1990 als Band 7 in der von Ulrich Köhler tig bemühte sich Ulrich Köhler, diese präkolumbi- 1985 in Münster gegründeten und seitdem heraus- schen Gebetstexte mit rezenten ethnographischen gegebenen Reihe “Ethnologische Studien” im LIT Fakten zu korrelieren, um so zwischen den beiden Verlag veröffentlicht. In Münster hat Ulrich Köhler Forschungsrichtungen “altamerikanische Hochkul- etwa 20 Studenten bis zum Magister-Examen und turen” einerseits und “ethnographische Untersu- drei Promotionen bis zum Abschluss betreut. Sieben chungen” heutiger Indianer andererseits eine Brü- der Kandidaten aus Münster haben in der Folge ihre cke zu schlagen (1977: xi). Promotion in Freiburg abgeschlossen. Im Jahre 1977 erfolgte die Ernennung zum Hoch- Im Jahre 1987 erhielt Ulrich Köhler den Ruf schuldozenten (H 2) und gleichzeitig zum außer- auf den Freiburger Lehrstuhl für Völkerkunde des planmäßigen Professor; im Sommersemester 1980 emeritierten Rolf Herzog. Bisher lag der regionale wurde diese Stelle auf Antrag des Fachbereichs in Schwerpunkt hier auf Afrika. In kurzer Zeit gelang eine H 3-Professur auf Lebenszeit übergeleitet. es ihm, auch in Freiburg die Amerikanistik zu eta- Erneut führte Ulrich Köhler eine Feldforschung blieren; zugleich war ihm daran gelegen, das Lehr- bei den Tzotzil und Nachfahren der Azteken durch angebot thematisch wie regional durch die Mitarbeit und kehrte zum Sommersemester 1980 nach Müns- von Stefan Seitz, den Assistenten und auswärtigen ter zurück. Während der nächsten Jahre widmete er Lehrenden breit zu gestalten. Ulrich Köhlers eige- sich noch der angewandten Ethnologie, d. h. seine ne Lehre und Forschung konzentrierte sich bald auf Forschungsschwerpunkte bildeten der wirtschaftli- die Religionsethnologie, besonders Synkretismus, che und kulturelle Wandel beim Entwicklungspro- Alter Ego-Vorstellungen, Revitalisierungen, Nagua zess der Indianer im Hochland von Chiapas. Doch lismus, Ethnoastronomie, Kosmologie sowie wei- sukzessive konzentrierte er sich mehr auf die klassi- terhin angewandte Ethnologie, kognitive Ethnologie sche Altamerikanistik, welches seine diesbezüglich und Wirtschaftsethnologie. reichlichen Publikationen bezeugen. Hinsichtlich seiner Freizeitbeschäftigung wurde Von der DGV wurde Ulrich Köhler für die Jahre die Situation optimiert: er ließ sich in Merzhausen 1979 bis 1981 zum Vorsitzenden und Franz-Josef ein Einfamilienhaus auf einem großen Grundstück Thiel zu seinem Stellvertreter gewählt; der Verfasser bauen; dort kultivierte er einen Garten mit Bäumen, übernahm das Amt des Schriftführers. Im Jahre 1981 züchtete Blumen sowie andere Pflanzen und legte fand die DGV-Tagung in Münster statt; dazu er- einen Schilfteich an. Wie schon in den münster- schien erstmals in Deutschland der von Ulrich Köh- schen Rieselfeldern konnte er nun als Pächter eines ler zusammengestellte “Studien- und Forschungs- Bachabschnitts in Merzhausen seiner Angelleiden- führer Ethnologie mit Ethno logen verzeichnis” schaft nachgehen. Anthropos 112.2017 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2017-2-553 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 05.11.2021, 10:47:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
556 Berichte und Kommentare Von 1988 bis 1992 wurde er zum Vorsitzenden tigsten Altamerikanisten der Zeit im deutschspra- des Gutachterausschusses der DFG bestellt und war chigen Raum zusammengetragen; der Herausgeber gleichzeitig Mitglied im Wahlausschuss des DAAD. hat dazu selbst sieben Artikel beigetragen. Bislang In Freiburg war er Mitglied im Fachbereichsrat der gibt es kein vergleichbares deutsches Nachschla- Geowissenschaftlichen Fakultät, zu der damals gewerk, das sowohl für Studenten als auch Fach das Fach Völkerkunde zählte. Vom Wintersemester spezialisten einen besseren Überblick über den 1989/90 bis Sommersemester 1991 wurde er mit Stand der Altamerikanistik-Forschung ermöglicht. dem Amt des Prodekans betraut und leitete dann Auch während seiner Freiburger Zeit führte Ul- vom Wintersemester 1991/92 bis Sommersemester rich Köhler mehrwöchige Lehrforschungen in Chia- 1992 diese Fakultät als Dekan. pas durch: 1994 in Santa Catarina Pantelhó und Ulrich Köhler führte die von Rolf Herzog und 2002 in Nueva Maravilla bei San Christóbal de las Meinhard Schuster begonnene Zusammenarbeit in Casas. Die Lehrexkursions-Ergebnisse wurden in Form der Regio-Seminare mit Basel fort, die noch seiner Reihe “Ethnologische Studien” 1997 und mit Pierre Erny vom L’Institut d’Ethnologie der 2004 veröffentlicht. Darüber hinaus wurden in die- L’Université de Strasbourg erweitert wurde; so fan- ser Reihe mehrere Dissertationen publiziert. Im Jahr den Seminare nicht nur in Instituten, sondern auch 1990 war der Verfasser Ulrich Köhlers erster Habi- als Blockveranstaltungen im Schweizer Jura, in den litand; bis zu seiner Emeritierung schlossen bei ihm elsässischen Vogesen und im Fachschaftshaus der weitere vier Ethnologen ihre Habilitation ab. Universität Freiburg auf dem “Schauinsland” statt. Während einer erneuten Feldforschung in Chia- Die studentischen Leistungsnachweise wurden von pas wurde Ulrich Köhler irrtümlicherweise als Mit- den beteiligten Universitäten gleichermaßen an verschwörer des Zapatisten-Aufstandes von 1994 erkannt. verhaftet und inhaftiert. Die unrechtmäßige Berau- Im Jahre 1989 initiierten Ulrich Köhler und bung seiner Freiheit und die Haftumstände haben H. Dieter Heinen ein gemeinsames Projekt mit dem ihn sehr betroffen gemacht. Selbst aus der Retro- Instituto Venezolano de Investigaciones Científicas perspektive hat er nur selten und dann mit Bitter- in Caracas über “Entwicklungspolitische Grund keit über dieses traumatische Erlebnis gesprochen. lagenforschung bei den Warao-Indianern im Orino- Im Jahre 1995 wurde Ulrich Köhlers Habilitati- ko-Delta”, das während einer Freiburger Gastpro- onsschrift (1977) vom Instituto de Investigaciones fessur von H. Dieter Heinen in den Jahren 1994 bis Antropológicas der Universidad Nacional de Méxi- 1996 abgeschlossen wurde. Auch wurde die Zusam- co als spanische Übersetzung publiziert. menarbeit zwischen dem Freiburger Institut für Eth- Während der 1990er Jahre veröffentlichte er nologie und dem Instituto de Investigaciones An- eine Monografie (1999), über 30 Aufsätze in Fach- tropológicas der Universidad Nacional de México zeitschriften, Lexikonbeiträge, Nachrufe und For- (UNAM), dem Centro de Estudios Superiores de schungsberichte und gab drei Sammelbände (1990a, México der UNAM, dem Centro de Estudios Ma- 1990b, 1997) heraus. Ab dem Jahr 2000 konzen yas der UNAM, dem Instituto de Investigaciones trierte er sich auf die Aufarbeitung und Veröffent- Indígenas (IEI) und der Universidad Autónoma de lichung der empirischen Daten früherer Feldfor- Chiapas (UNACH) in San Cristóbal de las Casas schungen, zunächst insbesondere der Monografie fortgesetzt. Zudem beteiligte sich Ulrich Köhler ge- “Vasallen des linkshändigen Kriegers im Kolibri meinsam mit Stefan Seitz am DFG-Graduiertenkol- gewand. Über Weltbild, Religion und Staat der Az- leg “Sozio-Ökonomie der Waldnutzung in den Tro- teken” (2009). Der Inhalt des Bandes beruht auf sei- pen und Subtropen”. nen früher verstreut publizierten Aufsätzen zu den Während seiner Freiburger Zeit wurden die Stu- Schwerpunktthemen, die durch vier neue Kapitel diengänge “Historische Anthropologie” und “Glob- erweitert wurden. al Studies” zu dem heutigen Masterstudiengang “In- Noch vor seiner Emeritierung 2002 organisier- terdisziplinäre Anthropologie” akkreditiert. Auch te er die Mesoamerikanisten-Tagung in Freiburg. bei der Installation des Studiengangs “Gender Stud- An einer DGV-Tagung nahm er zum letzten Mal ies” war die Freiburger Ethnologie beteiligt, wel- 2007 in Halle an der Saale teil. Ein Jahr später wur- ches zur Gründung des “Zentrum für Anthropologie den Ulrich Köhler und der Verfasser zu der Tagung und Genderstudies” führte (vgl. Seitz 2015: 28 f.). “Calpe 08. The Evolution of Identities: Small Com- Im Jahre 1990 erschien das unter der Heraus- munities in Space and Time” vom 17. bis 20. Sep- geberschaft von Ulrich Köhler entstandene Hand- tember 2008 nach Gibraltar eingeladen. Ulrich Köh- buch “Altamerikanistik – Eine Einführung in die ler hielt in der McKintosh Hall einen Vortrag über Hochkulturen Mittel- und Südamerikas”. In diesem “Ethnic Identity among the Tzotzil of Chiapas”. Nachschlagewerk wurden Beiträge von den wich- Zu diesem Zeitpunkt waren bereits seine sprachli- Anthropos 112.2017 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2017-2-553 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 05.11.2021, 10:47:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
Berichte und Kommentare 557 chen und motorischen Einschränkungen bemerkbar. Schriftenverzeichnis Ulrich Köhler Dennoch fühlte er sich in diesem englisch- und spa- (ohne Buchbesprechungen) nischsprachigen Fleckchen Erde erkennbar wohl. Trotz oder wegen seiner Erkrankung bemühte er Monografien sich weiterhin um einen strukturierten Tagesablauf. Als seine ertragreichsten Arbeitszeiten erachtete 1967 (mit Klaus-Dieter Osswald und Werner Ruf), Frankreichs Entwicklungshilfe. Politik auf lange Sicht? Köln: West- er die Nachmittage und Abende sowie seine gele- deutscher Verlag. (Ordo Politicus, 6) gentlichen tageszeitunabhängigen “Arbeitsschübe”; 1969 Gelenkter Kulturwandel im Hochland von Chiapas. Eine dann zog er sich manchmal stundenlang in seine Studie zur angewandten Ethnologie in Mexiko. Bielefeld: “Dependance” zurück. Im Hause des Nachbarn hat- Bertelsmann Universitätsverlag. (Freiburger Studien zu te er sich eine “Studierstube” gemietet, in der er sich Politik und Gesellschaft überseeischer Länder. Schriften- reihe des Arnold-Bergstraesser-Instituts für kulturwissen- nur den Unterlagen für den jeweils zu publizieren- schaftliche Forschung, 7) den Beitrag widmete, der auf frühere Feldforschun- 1977 Čonbilal Č’ulelal. Grundformen mesoamerikanischer gen beruhte. Kosmologie und Religion in einem Gebetstext auf Maya- Im Jahre 2009 nahm Ulrich Köhler letztmals und Tzotzil. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag. (Acta Humbol- diana, Series Geographica et Ethnographica, 5) mit großem Kraftaufwand an der Mesoamerikanis- 1999 Der Chamula-Aufstand in Chiapas, Mexiko, aus der Sicht ten-Tagung in Bonn teil; dort hielt er einen Vortrag heutiger Indianer und Ladinos. Münster: Lit Verlag. (Eth- über die “Entstehung des Staates bei den Azteken”. nologische Studien, 18) Sein letztes großes wissenschaftliches Werk soll- 2009 Vasallen des linkshändigen Kriegers im Kolibrigewand. te die Trilogie “San Pablo Chalchikuitán in Chiapas, Über Weltbild, Religion und Staat der Azteken. Münster: Lit Verlag. (Ethnologische Studien, 39) Mexiko” werden. Er war glücklich, im Jahr 2012 2012 San Pablo Chalchihuitán in Chiapas, Mexiko. Band III: den dritten Band “Mythen, Erzählungen und ethno- Mythen, Erzählungen und ethnographische Berichte auf graphische Berichte auf Tzotzil und Deutsch über Tzotzil und Deutsch über Weltbild und Religion. Müns- Weltbild und Religion” druckfrisch in seinen Hän- ter: Lit Verlag. (Ethnologische Studien, 44) den halten zu können. Die Bände 1 und 2 konnte er nicht mehr abschließen. Der 3. Band basiert auf ei- ner von ihm während vieler Jahre aufgenommenen Zeitschriften- und Buchbeiträge Mythensammlung, die er auch übersetzt und inter- 1968 Neuere Methoden zur Integration der Indianer in Mexiko. pretiert hat. Mit dieser Monografie zählt die von Ul- Die Regionalprogramme des Instituto Nacional Indige- rich Köhler herausgegebene Reihe “Ethnologische nista (INI). Zur Integration der indianischen Bevölkerung Studien” 45 Bände und ist damit im deutschsprachi- in die moderne Gesellschaft Lateinamerikas. Schriften gen Raum die umfangreichste Publikationsreihe zur der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-For- Altamerikanistik. schung (ADLAF) 1: 59–83. Im April 2016 wurde er nach einem häuslichen 1969 Entwicklungshilfe – wirklichkeitsnah oder wie bislang? Politisch-Soziale Korrespondenz 11/18: 3–4. Sturz mit Beinbruch operiert. Seinen letzten Ge- 1970a Cambio cultural dirigido en el Altiplano de Chiapas. In: J. burtstag erlebte er in einer Schwarzwälder Reha- Weber (ed.), La Serranía Central. Regiones de Chiapas I; Klinik. Nach seiner Entlassung kehrte er für kurze pp. 69–84. San Christóbal de las Casas. Zeit in sein Haus zurück. Am 15. 07. 2016 starb sei- 1970b Zur Geschichte und Ethnographie der Chiapaneken. Ver- ne Frau Gisela 67-jährig während eines Klinikauf- handlungen des XXXVIII Internationalen Amerikanisten- kongresses 2: 413–422. enthaltes. Ulrich Köhlers Leben endete nur wenige 1973 Fledermaus oder Kaiman? Deutung der Tierdarstellung Wochen später. Er wurde am 10. 08. 2016 auf seinen eines Räuchergefäßes aus Nebaj, Guatemala. Tribus 22: Wunsch hin in aller Stille von seinen zwei Schwes- 183–186. tern und deren Familien in seiner breisgauer Wahl- 1974a Grundzüge des religiösen Denkens der Pableros im heimat bestattet. Hochland von Chiapas, Mexiko. Atti del XL Congresso Zweifelsohne war er kein verträumter Visionär, Internazionale degli Americanisti 2: 321–328. sondern ein Realist, der logisch dachte und han 1974b Huitzilopochtli und die präkolumbische Einteilung des Kosmos in links und rechts. Eine Kritik gängiger Lehr- delte. Sein persönlich intensives Engagement für meinungen. Atti del XL Congresso Internazionale degli unsere Disziplin und insbesondere für die Altame- Americanisti 2: 257–271. rikanistik war für ihn über ein halbes Jahrhundert 1974c Zur Jagd auf die Schemel der Berggötter. Ein Gebetstext gleichermaßen Beruf wie Berufung. Seinen wissen- auf Tzotzil (Maya). Indiana 2: 193–207. schaftlichen Nachlass hat Ulrich Köhler testamenta- 1975 Ein Zauberspruch auf Maya-Tzotzil zur Heilung von Schlangenbissen. Zeitschrift für Ethnologie 100: 238– risch dem Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin 247. anvertraut. Sein Œuvre bleibt für die Altamerikanis- 1976a Mushrooms, Drugs, and Potters. A New Approach to the tik von nachhaltiger Relevanz. Ulrich Köhler wird Function of Pre-Columbian Mesoamerican Mushroom seinen Freunden und Kollegen fehlen. Stones. American Antiquity 41: 145–153. Anthropos 112.2017 https://doi.org/10.5771/0257-9774-2017-2-553 Generiert durch IP '46.4.80.155', am 05.11.2021, 10:47:41. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
558 Berichte und Kommentare 1976b Nachkommen der klassischen Maya? – Kritische Anmer- Stadt Freiburg; Museum für Ur- und Frühgeschichte der kungen zur Stellung der Tzotzil und ihrer Vorfahren in Stadt Freiburg. der Kulturgeschichte Mesoamerikas. Actas del XLI Con- 1985b The Flying Blackman in Highland Chiapas and Beyond. greso Internacional de Americanistas 3: 48–55. New Aspects from the Northern Tzotzil Area. Latin 1977a Aztekische Reinkarnationsvorstellungen aus der Sicht American Indian Literatures Journal 1: 122–137. neuerer ethnographischer Daten. Indiana 4: 75–84. 1985c Formen des Handelns in ethnologischer Sicht. In: K. 1977b Vorläufer der heutigen Menschen und Weltalter. Diskus- Düwel, H. Jahnkuhn, H. Siems und D. Timpe (Hrsg.), sion eines Mythos auf Maya-Tzotzil. Paideuma 23: 265– Untersuchungen zu Handel und Verkehr der vor- und 276. frühgeschichtlichen Zeit in Mittel- und Nordeuropa. Teil 1: Methodische Grundlagen und Darstellungen …; 1978a Reflections on Zinacantan’s Role in Aztec Trade with pp. 13–55. Göttingen: Vandenhoek und Ruprecht. (Ab- Soconusco. In: Th. A. Lee, Jr., and C. Navarrete (eds.), handlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttin- Mesoamerican Communication Routes and Cultural gen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, 143) Contacts; pp. 67–73. Provo: New World Archaeolocical 1985d Olmeken und Jaguare. Zur Deutung von Mischwesen in Foundation. (Papers of the New World Archaeolocical der präklassischen Kunst Mesoamerikas. Anthropos 80: Foundation, 40) 15–52. 1978b Das traditionelle Bodenrecht der Tzotzil von San Pa- blo Chalchihuitán. In: R. Hartmann und U. Oberem 1986a Das Ballspiel. In: H. J. Prem und U. Dyckerhoff (Hrsg.), (Hrsg.), Amerikanistische Studien – Estudios America- Das Alte Mexiko; pp. 273–280. München: Bertelsmann. nistas. 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