Das Experiment in der Literatur. Eine Einleitung
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Raul Calzoni Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung Bereits am Anfang unserer Beteiligung am Europischen Forschungsprojekt ACUME2 – Interfacing Sciences, Literature & Humanities: An Interdisciplinary Approach war uns die Idee gekommen, einen Band zum ›Experiment‹ in der deutschsprachigen Literatur herauszugeben. Es war Oktober 2007, als wir be- gannen, den vorliegenden Band zu planen, die Autoren auszuwhlen, die in Frage kommen kçnnten, und die entsprechenden Beitrge einzufordern. Be- ginnt man mit der Arbeit an einem neuen Projekt, so fîhlt man sich immer ein bisschen wie Forschungspioniere – unabhngig davon, ob es stimmen mag oder nicht. Das war auch in unserem Fall so: Sehr bald wurde uns bewusst, dass das Thema des ›Experiments‹ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhun- derts sehr aktuell ist und in den letzten Jahrzehnten von hervorragenden Lite- ratur- und Kulturwissenschaftlern erforscht worden ist. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion hat der Begriff ›Experiment‹ tatschlich in jîngerer Zeit an Brisanz gewonnen. Das von Michael Gamper geleitete Forschungsprojekt »Experimentierkunst. Poetologie und østhetik des Versuchs in Neuzeit und Moderne«1 hat diesbezîglich eine bedeutende Rolle gespielt, weil es die Entwicklung der ›Experimentforschung‹ entscheidend ge- fçrdert hat. Seit 2007 werden an der Eidgençssischen Technischen Hochschule Zîrich von Gamper und seinen Mitarbeitern Jahrestagungen organisiert, auf denen sich berîhmte Literaturwissenschaftler intensiv mit dem Thema ›Expe- riment und Literatur‹ auseinandersetzen. Der erste Aktenband der Zîrcher Tagungen ist vor kurzem erschienen mit dem Titel »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«: Experiment und Literatur I: 1580 – 1790. Weitere Bnde zu diesem Thema sind geplant, und sie werden die Beziehung zwischen Literatur und ›Experiment‹ in den Zeitspannen 1790 – 1890 und 1890 – 2009 untersuchen.2 1 Vgl. hierzu die Projektwebseite: http://www.lw.ethz.ch/projekt_experimentierkunst.htm 2 »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Literatur und Experiment I: 1580 – 1790, hrsg. von Michael Gamper, Martina Wernli, Jçrg Zimmer (Gçttingen: Wallstein, 2009). Die zu-
12 Raul Calzoni Der vorliegende Band, der der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahr- hunderts gewidmet ist, mçchte hinsichtlich der Experimentforschung jene Wege beschreiten, die diese »Literaturgeschichte des Experiments« und Gampers Aufsatz ‘Dichtung als »Versuch«: Literatur zwischen Experiment und Essay’ bereits eingeschlagen haben.3 Die Herausgeber des vorliegenden Bandes wîn- schen sich, dass sich »Ein in der Phantasie durchgefîhrtes Experiment«: Lite- ratur und Wissenschaft nach Neunzehnhundert mit seinen Forschungsergeb- nissen denen des Projekts »Experimentierkunst. Poetologie und østhetik des Versuchs in Neuzeit und Moderne« von Gamper gesellen kann, um einen fruchtbaren literaturwissenschaftlichen Dialog unter Germanisten verschiede- ner Nationen zu fçrdern. Vor Gamper haben sich auch andere berîhmte Literaturwissenschaftler mit diesem Thema beschftigt, wie z. B. Harald Hartung, Bodo Heimann, Siegfried J. Schmidt, Nicholas Pethes und Marcus Krause, um nur einige zu nennen, auf deren Analysen sich die in diesem Buch gesammelten Beitrge berufen.4 Unter Berîcksichtigung der Ergebnisse der vor allem in den letzten fînfzig Jahren durchgefîhrten ›Experimentforschung‹ schlagen die Beitrge des vorliegenden Bandes zwei unterschiedliche Wege ein bei der Analyse des Begriffs ›Experi- ment‹: Einerseits liegt bei diesen Texten der Schwerpunkt auf der epistemolo- gischen Wirkung des wissenschaftlichen ›Experiments‹ in der deutschsprachi- gen Literatur des 20. Jahrhunderts, andererseits verweisen sie auf die Analyse der sthetischen Strategien der ›experimentellen Literatur‹, die sich in den 60er und 70er Jahren als Tendenz etablierte. Dank der in diesem Band gesammelten Beitrge gewinnt man den Eindruck, dass der Begriff ›Experiment‹ eine ambivalente Position in der aktuellen lite- raturwissenschaftlichen Diskussion einnimmt. Auf der einen Seite scheint er neuerdings ein gewisses Interesse zu erwecken: Das Interfacing zwischen Lite- ratur und Wissenschaft steht im Zentrum vieler Analysen,5 in denen die Kon- stellationen des ›Experimentellen‹ zwischen Wissenschaft und Literatur in un- stzlichen geplanten Bnde dieser ›Literaturgeschichte des Experiments‹, wie Gamper selbst das Projekt in der Einleitung zum ersten Band bezeichnet (vgl. ebd., S. 9) werden nach Ankîndigung des Verlags voraussichtlich 2010 und 2011 erscheinen. 3 Michael Gamper, ‘Dichtung als »Versuch«. Literatur zwischen Experiment und Essay’, Zeit- schrift fîr Germanistik, XVII, 3 (2007), S. 593 – 611. 4 Vgl. Harald Hartung, Experimentelle Literatur und konkrete Poesie (Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1975); Bodo Heimann, Experimentelle Prosa der Gegenwart (Mînchen: Olden- bourg, 1978); Das Experiment in Literatur und Kunst, hrsg. von Siegfried J. Schmidt (Mîn- chen: Fink, 1978); Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, hrsg. von Marcus Krause, Nicolas Pethes (Wîrzburg: Kçnigshausen & Neumann, 2005). 5 Vgl. Nicolas Pethes, ‘Literatur und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht’, IASL, 28 (2003), S. 181 – 231.
Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung 13 terschiedlichen Epochen untersucht werden. Auf der anderen Seite wird er von vielen als ein Modebegriff des Naturalismus oder der Avantgardeliteraturen der 60er und 70er Jahre abgestempelt. So zum Beispiel von Jochen Venus, der un- lngst behauptete: »Das Experiment hat sich als sthetische Kategorie nicht etablieren kçnnen«.6 Oder von Markus Krause und Nicolas Pethes, die im Vorwort zu ebenselbem, 2005 erschienenen Band die Vorsicht unterstreichen, mit der man diesen Begriff verwenden sollte: Daß es literarische Experimente gibt, wird hier […] nicht vorausgesetzt, sondern in Frage gestellt. Dabei gilt es, eine voreilige Verabschiedung des Experiments als literarisch nicht umsetzbare Methode ebenso zu vermeiden wie seine unver- bindliche metaphorische Vereinnahmung. Statt dessen ist genau zu unterschei- den, welche Elemente literarische Verfahren und Schreibweisen mit wissen- schaftlichen Vorgehensweisen teilen, welche Elemente naturwissenschaftlichen Paradigmen entgegenstehen und welche Elemente zuallererst aus literarischen Szenarien gewonnen werden.7 Viele Arbeiten îber das ›Experiment‹ und das ›Experimentelle‹ in der Literatur haben dies gemeinsam8 : Sie gehen von einer (Wçrterbuch)Definition des ›Ex- periments‹ aus, um dann eine Brîcke zu schlagen zur Literatur. Dennoch kçnnte man heute immer noch der Meinung sein, dass keine îberzeugende Definition fîr die ›experimentelle Literatur‹ herausgearbeitet worden ist. 1997 erklrt Georg Jger in seiner Begriffserklrung im Reallexikon der deutschen Litera- turwissenschaft: Experimentell: Literarische Verfahren auf der Suche nach neuen Ausdrucksmçg- lichkeiten oder ïberprïfbaren Erkenntnissen. Allgemein wird ein erkundendes, probierendes, ungewohntes Vorgehen in der Literatur als experimentell bezeich- net, im engeren Sinn wird der Begriff in Analogie zum wissenschaftlichen Expe- riment gebraucht. Wegen der unterschiedlichen Bedeutungen sollte der Begriffs- gebrauch stets expliziert werden.9 Jeder Kritiker setzt den Anfang der ›experimentellen Literatur‹ an einen anderen Punkt an. Georg Jger schlgt zum Beispiel einen Bogen von der ›Experimen- talphilosophie‹ der Romantiker îber Nietzsche und den Naturalismus bis hin 6 Jochen Venus, ‘Kontrolle und Entgrenzung. berlegungen zur sthetischen Kategorie des Experiments’, in Literarische Experimentalkulturen. Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, S. 19. 7 Marcus Krause, Nicolas Pethes, ‘Zwischen Erfahrung und Mçglichkeit. Literarische Experi- mentalkulturen im 19. Jahrhundert’, in Literarische Experimentalkulturen, S. 10. 8 Vgl. in diesem Band die Beitrge von Silvia Bonacchi, Walter Busch und Ina Heuser. 9 Georg Jger, ‘Experimentell’, in Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Klaus Weimar (Berlin, New York: W. de Gruyter, 1997), S. 546 – 547.
14 Raul Calzoni zur Avantgardeliteratur der 1950er Jahre, als dieser Begriff zum Schlagwort wurde: Bei der Rede vom Experiment im Kunstzusammenhang ist zu beachten, auf wel- chen Entwicklungsstand in den Naturwissenschaften sie sich jeweils bezieht. Zunchst bleibt der Begriffsgebrauch metaphorisch, da wesentliche Definitions- merkmale fehlen: Der theoretische Rahmen, das methodische Vorgehen und folglich die Mçglichkeit der berprïfung durch Wiederholung. Das Interesse am kïnstlerischen Experiment betrifft in der Regel nur den Vorgang oder das Resultat selbst, es ist nicht funktional ausgerichtet auf Erkenntnisgewinn oder Naturbe- herrschung.10 In Der Begriff des Experiments in der Dichtung11 (1968) beklagt Hans Schwerte, dass das ›Experiment‹ zum »modischen Gerede« geworden ist, das oft als Syn- onym fîr Avantgarde oder ›modern‹ verwendet wird. Schwerte spricht auch von schwatzhaftem Wortgebrauch dieses Konzepts, dem Autoren wie Hans Magnus Enzensberger, Alfred Andersch und Gînter Grass ein Ende setzen wollten. Das ›Experiment‹ in der Dichtung kçnnte also nichts weiter als ein schlecht for- mulierter metaphorischer Ausdruck sein. Aber gerade weil sich so wichtige Autoren wie Thomas Mann, Gottfried Benn und Bertolt Brecht mit dem ›Ex- periment‹ auseinandergesetzt haben, kçnne laut Schwerte dieser Begriff nicht mit dem Hinweis ungenauen Wortgebrauchs auf die Seite geschoben werden. Es wurde oft versucht, den Begriff des ›Experimentellen‹ aus den Naturwis- senschaften in den Kunstbereich zu îbertragen. bertragungen dieser Art stellen sich bei nherem Zusehen als metaphorische Operationen heraus, bei denen man bestimmte Konnotationen des Begriffs ›Experiment‹ als Kennzei- chen fîr die eigene Produktion nimmt. Solche Bedeutungen sind beispielsweise neuartig, innovativ, mit ungewissem Ausgang, nonkonformistisch. Fîr Siegfried Schmidt, der 1978 die Akten eines 10 Ebd. Fîr Jgers Begriff des ›Experiments‹ gilt, was Pethes und Krause festgestellt haben: »Daß sthetische Produktion experimentell verfaßt sei, wird im Diskurs der Literaturwis- senschaften immer dann in Anschlag gebracht, wenn es gilt, das Neue, Andere, Wider- stndige literarischer Produktionen zu bezeichnen. Dabei versandet die Experiment-Kate- gorie jedoch meist in einem seichten Irgendwie des Ausprobierens neuer Formen und wenn ihr Status reflektiert wird, dann lediglich als metaphorischer Transfer naturwissenschaftli- cher Erkenntnis auf Literatur«, Marcus Krause, Nicolas Pethes, ‘Zwischen Erfahrung und Mçglichkeit. Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert’, S. 7. 11 Hans Schwerte, ‘Der Begriff des Experiments in der Dichtung’, in Literatur und Geistesge- schichte. Festgabe fîr Heinz Otto Burger, hrsg. von Reinhold Grimm, Conrad Wiedemann (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 1968), S. 387 – 405. Man kann nicht umhin, auf die NS-Ver- gangenheit von Hans Schwerte hinzuweisen, der nach dem Krieg seinen Namen nderte (er hieß ursprînglich Hans Ernst Schneider), als Literaturwissenschaftler ttig war und von 1972 – 1975 sogar als Rektor der RTWH in Aachen fungierte. 1995 wurde sein Fall aufge- deckt.
Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung 15 Kolloquiums zum Experiment in Literatur und Kunst herausgab, hat es keinen Sinn, nach einer genauen Definition dieses Begriffs im Kunstbereich zu suchen. Wichtiger ist, wie dieser verwendet wird (ob apologetisch, programmatisch, oder diskriminierend) und was darunter zu verstehen ist. Es zwingt sich fîr Schmidt folgende Frage auf: »Wer verwendet zu welchem Zweck diesen Be- griff ?«. Da es keinen verbindlichen Kanon fîr Kunstformen und -inhalte gibt, kann der Kînstler neue Formen erschließen, die fîr die Rezipienten grund- stzlich îberraschend sind. Zusammenfassend ließe sich vielleicht formulieren: »Den erwhnten Erscheinungsweisen experimenteller Kunst kann vielleicht eine generelle Intention zugeordnet werden: Grenzîberschreitung«.12 Eine solche berschreitung erfolgt sowohl bezîglich der Grenzen des Kunstbegriffs, als auch gegenîber den Erwartungen der Rezipienten. In der Diskussion, die am 10. Oktober 1975 in Karlsruhe stattfand, versuchten die Teilnehmer einen mçglichst klaren Begriff fîr ›Experiment‹ zu finden. Es wurde zum Beispiel diskutiert, ob das naturwissenschaftliche ›Experiment‹ planmßig und zielge- richtet oder ob es ein Wagnis, eine riskante Unternehmung sei. Auch war es nicht klar, ob es zur Theoriefindung oder zur Theoriebesttigung dienen sollte. Deswegen betonte Gunter Gebauer in seinem Beitrag, dass eigentlich niemand wisse, was ein ›Experiment‹ sei: Die Wissenschaftler selbst htten in den em- pirischen Wissenschaften eine Reihe unterschiedlicher Konzepte entwickelt. Gebauer zitiert u. a. Poppers Fallibilismustheorie.13 Winfried Nçths Aufsatz beruft sich hingegen auf Thomas Kuhn, der in Der Struktur der wissenschaftli- chen Revolutionen (1972) die Normalwissenschaft von der wissenschaftlichen Revolution unterscheidet. In der ersten werden ›Experimente‹ durchgefîhrt, um eine akzeptierte wissenschaftliche Theorie zu besttigen und zu przisieren. In der zweiten werden ›Experimente‹ eines anderen Typs durchgefîhrt, deren Ziel es ist, die Inadquatheit eines bestehenden Systems nachzuweisen, neue Hy- pothesen auszuprobieren und zu einem neuen Paradigma zu fîhren – in diesem Zusammenhang analysiert Nçth das Happening als ein Beispiel von Paradig- menwechsel hinsichtlich der Normalkunst.14 In Experimentelle Literatur und konkrete Poesie (1975) behauptet Harald Hartung, dass seit Emile Zola »immer wieder einzelne experimentelle Praktiken in der Literatur als experimentell bezeichnet worden [seien], ohne dass sich daraus eine geschlossene Vorstellung vom literarischen Experiment gebildet 12 Siegfried J. Schmidt, ‘Was heißt »Experiment in der Kunst« / »Kunst als Experimente?«: Einige Diskussionsthesen’, in Das Experiment in Literatur und Kunst, S. 11. 13 Gunter Gebauer, ‘Wissenschaftliche Experimente und experimentelle Kunst’, in Experiment in Literatur und Kunst, S. 22 – 26. 14 Winfried Nçth, ‘Das Happening als kînstlerisches Experiment’, in Das Experiment in Li- teratur und Kunst, S. 32 – 37.
16 Raul Calzoni htte«.15 Hartung zhlt Befîrworter und Gegner (u. a. Hans Magnus Enzens- berger und Alfred Andersch) dieses Begriffs auf. Er verteidigt das ›Experiment‹, indem er betont, dass die moderne Physik nicht mehr nach strenger Kausalitt, sondern nach Wahrscheinlichkeitsvorhersagen handelt. Er beruft sich auf Benses østhetik, nach der Kunstwerke Objekte in einem relativ unwahrschein- lichen Zustand sind, und auf seine Definition von ›experimenteller Literatur‹: die experimentelle Literatur [relativiert] alle Kategorien zwischen Prosa und Poesie, baut sie in gewisser Hinsicht sogar ab und zieht den linguistisch allgemeineren und tiefer liegenden Begriff »Text« vermittelnd vor, wie sie auch lieber vom »schreiben« als vom »dichten« spricht. Dazu kommt, daß experimentelle Lite- ratur ihre Versuche nicht wie die manieristische aus der Mçglichkeit dieses oder jenes dekretierten Manuals symbolischer Funktion entwickelt, sondern vor dem Hintergrund gewisser aus erkenntnistheoretischem Zwang hervorgegangener Theorien, die die gesamten Kommunikationsfhigkeiten des linguistischen Ma- terials betreffen.16 Fîr Bodo Heimann hat jeder ›Versuch‹, ›experimentelle Literatur‹ zu definieren, mit zwei Problemen zu kmpfen: Erstens, ob die literarische Praxis einhlt, was die Theorie verspricht, und zweitens ihr Verhltnis zur Tradition.17 Anscheinend ist das ›Experiment‹ ein mot-valise, das jeder irgendwie auffîllt und auf seine Reise mitschleppt. Es sollte daher nicht verwundern, wenn die Herausgeber dieses Bandes darauf verzichten, eine neue Definition des Begriffs in diese Einleitung zu pressen. Stattdessen mçchten sie das ›Experiment‹ als eine Glei- chung betrachtet wissen und mit diesem Band 18 ›x-Grçßen‹ – dies ist die An- zahl der hier versammelten Beitrge – anbieten, um ein paar Variablen dieser Gleichung zu fîllen.18 Das ›Experiment‹ in der Literatur lsst sich nur differential definieren: Es hngt erstens immer vom naturwissenschaftlichen Experiment- begriff ab, auf den es sich bezieht. Zweitens setzt sich eine ›experimentelle Li- teratur‹ immer von einer ›klassischen‹ oder ›traditionellen‹ Tradition ab, die sie 15 Harald Hartung, Experimentelle Literatur und konkrete Poesie, S. 5. 16 Max Bense, ‘Movens. Experimentelle Literatur’, Grundlagen aus Kybernetik und Geistes- wissenschaft, 1, 1 (1960), S.122. 17 Vgl. Heimann, Experimentelle Prosa der Gegenwart, S. 9 f. 18 1962 wurde diese Metapher von Hans Magnus Enzensberger benutzt, der den Bezug zwi- schen ›Experiment‹ und ›Dichtung‹ einen »simplen Bluff« nannte und Folgendes hervorhob: »Sinnvoll ist ein Experiment nur, wenn die auftretenden Variablen bekannt sind und be- grenzt werden kçnnen. Als weitere Bedingung tritt hinzu: Jedes Experiment muß nach- prîfbar sein und bei seiner Wiederholung stets zu ein und demselben, eindeutigen Resultat fîhren. Das heißt: ein Experiment kann gelingen und scheitern nur in Hinblick auf ein vorher genau definiertes Ziel. […] Keineswegs kann es Selbstzweck sein: Sein inhrenter Wert ist gleich Null«; Hans Magnus Enzensberger, ‘Die Aporien der Avantgarde’, in Ein- zelheiten. Poesie und Politik (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1962), S. 309 f.
Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung 17 als solche erst an- und erkennen muss. Um die beiden unbekannten Grçßen dieser Gleichung zu fîllen, mçchten die Herausgeber das Vorwort zum vorlie- genden Band wie folgt fortsetzen: Raul Calzoni wird zunchst eine kleine Ge- schichte der ›experimentellen Literatur‹ von den Anfngen bis zum 19. Jahr- hundert vorlegen (»Das ›Experiment‹ in der Literatur«), in seiner Einleitung (»Die Literatur im ›Experiment‹«) wird sich Massimo Salgaro einigen Experi- mentbegriffen des 20. Jahrhunderts widmen. Hinsichtlich des Themenkomplexes »›Experiment‹ in der Literatur« spielen die Beitrge dieses Bandes auf eine etymologische Frage an, die so alt ist wie der Begriff ›Versuch‹. Der deutschen Sprache stehen zwei Vokabeln zur Verfîgung, um sich auf das ›wissenschaftliche Experiment‹ zu beziehen, deshalb werden ›Versuch‹ und ›Experiment‹ in den Beitrgen des vorliegenden Bandes als Synonyme verwendet. Nichtsdestotrotz gibt es einige historische, philologische und methodologische Merkmale, die den Gebrauch des aus dem Germanischen stammenden ›Versuchs‹ und des aus dem Lateinischen kommenden ›Experi- ments‹ unterscheiden. Der erste Begriff trgt in der deutschen Sprache eine Vieldeutigkeit in sich, die aufgrund seiner faszinierenden Geschichte dem ›Versuch‹ innewohnt.19 Es lohnt sich, die Geschichte des ›Versuchs/Experiments‹ kurz zu rekonstruieren, obwohl man sich auf die Deutung dieses Doppelbegriffs – um es mit Mieke Bals Stichwort auszudrîcken – als Travelling Concept zwi- schen alchimistischem, naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftli- chem Diskurs beschrnken muss.20 In diesem Sinne ist es besonders bedeutsam, dass der Eintrag ›Experiment‹ in Jacob und Wilhelm Grimms Deutsches Wçr- terbuch nicht vorkommt, whrend das Lemma ›Versuch‹ ausgiebig besprochen wird. In Grimms Wçrterbuch fehlt der Begriff ›Experiment‹ zwar nicht, aber er wird erst beim zweiten Punkt des Eintrags als ›Versuch‹ ausgelegt. Hier werden die zwei Vokabeln als sinnverwandte Wçrter zu folgenden schriftlichen Zeug- nissen geknîpft: »vorîbung, versuch, progymnasma, praeexercitamen, tenta- mentum, experimentum«.21 Es geht hier um den ersten Beleg einer annhernden Gleichstellung des germanischen ›Versuchs‹ mit dem lateinischen ›Experiment‹, welche aus den Praecepta mororum utilissima (1536) von dem lutherischen Theologen, Fabel- und Kirchenliederdichter Erasmus Alberus stammt. Diese 19 Vgl. den Eintrag ‘Versuch’, in Der digitale Grimm: Deutsches Wçrterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung. Hrsg. von Hans-Werner Bartz, Thomas Burch, Ruth Christmann, Kurt Gartner, Vera Hildebrandt, Thomas Schares, Klaudia Wegge (Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2004). 20 Vgl. Mieke Bal, Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide (Toronto: University of Toronto Press, 2002). 21 ‘Versuch’, in Der digitale Grimm: Deutsches Wçrterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Vgl. Erasmus Alberus, Praecepta morum utilissima oder Beleuchtungen der Zehn Gebote durch Bibelstellen u. Stellen aus kirchl. u. weltl. Schriftstellern in dt. Reimen (Frankfurt am Main: 1536), S. 22b.
18 Raul Calzoni Gleichstellung bringt einige epistemologische Fragen mit sich, die mit der Hy- bridisierung des Wortes ›Versuch‹ durch die ›alchimistischen Experimente‹ zu tun haben: Die ersten Belege des ›Versuchs‹ als Praxis des okkultistischen und pseudo-wissenschaftlichen ›Experimentierens‹ verraten durchaus ein îberwie- gendes Interfacing mit der Alchemie. brigens darf man nicht vergessen, dass Paracelsus einer der ersten Mystiker war, der den Begriff zur Alchemie îber- wechseln ließ, wie in seinem Werk Opera omnia medico-chemico-chirurgica zu lesen ist: »mit solchen versuchen trifft der inner geist etwan ein stundt, oder constellation, dasz der narr ausz ihme redt«.22 Diesbezîglich ist die Aufmerksamkeit auf die alchimistischen, astrologischen und magischen ›Versuche‹ Paracelsus zu lenken, weil sie in der deutschen und europischen Literatur vom 16. bis 18. Jahrhundert und darîber hinaus ihre Spuren hinterlassen haben.23 Dazu hatten jene eine Kultur des ›Experimentie- rens‹ begrîndet, die »den manipulativen Umgang mit der Natur in hermetisches Wissen, kosmologisches Systemdenken und naturwissenschaftliche Spekulation einbettete«.24 Whrend Alchimisten wie Paracelsus und Johann Joachim Becher, deren berîhmteste ›Versuche‹ mit der Transmutation von Silber und anderen geheimnisvollen Zutaten zu Gold zu tun hatten, eine magisch orientierte ›ex- perimentelle Methode‹ entwickelten, ging von anderen Gelehrten ein entschei- dender Impuls zur ›experimentalwissenschaftlichen Methode‹ aus. In der Zeit der schweizerischen und deutschen Magie und Alchemie von Paracelsus und Becher waren unter anderem Galileo Galilei und Robert Boyle ttig, dank derer der ›experimentellen Methode‹ eine objektive, empirische und naturwissen- schaftliche Ausrichtung gesichert wurde.25 Besonders interessant ist es in diesem Zusammenhang, den historischen Moment ausfindig zu machen, in dem diese zwei Kulturen des ›Experiments‹ in Deutschland und Europa miteinander in Kontakt und Konflikt gerieten: die Aufklrung. Dank einer auf der Vernunft grîndenden Erforschung der Welt und der Wirklichkeit herrschte in jener Zeit die naturwissenschaftlich orientierte ›experimentelle Methode‹ vor, whrend das magisch und alchimistisch orien- tierte ›Experimentierverfahren‹ nur noch bei den mystischen und okkulten 22 Paracelsus, Opera omnia medico-chemico-chirurgica tribus voluminibus comprehensa (Genf: De Tourmes, 1658), Bd. 2, S. 178. 23 Ulrich Ernst, Manier als Experiment in der europischen Literatur : Aleatorik und Sprach- magie. Tektonismus und Ikonizitt. Zugriffe auf innovatorische Potentiale in Lyrik und Roman (Heidelberg: Winter, 2009). 24 Michael Gamper, Zur Literaturgeschichte des Experiments – eine Einleitung, in »Es ist nun einmal zum Versuch gekommen«. Literatur und Experiment I: 1580 – 1790, S. 11. 25 Man sollte nicht vergessen, dass Leonardo da Vinci eine entscheidende Rolle in der Ent- wicklung der italienischen Kultur des ›Experiments‹ der Renaissance vor Galilei gespielt hat, vgl. hierzu Morris H. Shamos, Great Experiments in Physics: Firsthand Accounts from Galileo to Einstein (New York: Dover Publications), S. 14 f.
Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung 19 Logen, z. B. der Freimaurer und der Illuminaten, praktiziert wurde.26 In dieser Phase ist der Einfluss der franzçsischen Enzyklopdisten auf die deutsche Weltanschauung und Kultur des ›Experiments‹ entscheidend gewesen. Man kann also den Ausgangspunkt des modernen und ›experimentellen Denkens‹ in der europischen Philosophie bei Descartes, Leibniz, Spinoza und schließlich Kant erkennen. Das Denken dieser Philosophen sollte erst an das wissen- schaftliche Verfahren eines Newton anknîpfen, damit die aufklrerische und spter auch die romantische Handhabung des Begriffs ›Experiment‹ in der neueren deutschen Literatur Fuß fassen konnte. Am Anfang dieses aufklreri- schen Paradigmenwechsels vom mystischen zum wissenschaftlichen ›Experi- mentieren‹ stand die berzeugung der franzçsischen Encyclop¤distes, die Welt anhand der Vernunft wahrnehmen zu kçnnen. Ihrem rationalen Projekt, das Lebendige in vernunftsmßige Kategorien einzuordnen, sollte aber das Erdbe- ben von Lissabon vier Jahre nach dem Erscheinen des ersten Hefts der von Diderot herausgegebenen Encyclop¤die, ou dictionnaire raisonn¤ des sciences, des arts et des m¤tiers (1751 – 1780) den Todesstoß versetzen. Die sich am 1. November 1755 ereigneten Erdstçße bedeuteten nicht nur das Ende des Op- timismus eines Voltaire, wie aus seinem Poºme sur le disastre de Lisbonne her- vorgeht, sondern auch der Beginn jener Denkanstze der »Experimentalphilo- sophie« Kants27, »die bis heute zivilisatorische europische Standards zur Kri- senbewltigung im Leben wie im Denken darstellen«.28 Es geht hier um einen ›experimentellen‹ und kognitiven Konstruktivismus, den Kant in seinen drei Erdbebenschriften (1756) und in seinem Versuch einiger Betrachtungen îber den Optimismus (1759) problematisierte29 und dessen 26 Es ist bekannt, dass literarische Darstellungen des okkultistischen Experimentierens noch in Friedrich Schillers Der Geisterseher (1789), J. W. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795 – 1796) und Jean Pauls Unsichtbare Loge (1793) zu finden sind; vgl. hierzu Scott H. Abbott, Fictions of Freemasonry : Freemasonry and the German Novel (Detroit: Wayne State Uni- versity, 1991). 27 So kennzeichnet Kant sein philosophisches System in der Kritik der reinen Vernunft (Riga: bey Johann Friedrich Hartknoch, 1787), S. 452. 28 Stefen Dietzsch, ‘Denken und Handeln nach der Katastrophe: Pombal und Kant als Meister der Krise’, in Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, hrsg. von Gerhard Lauer, Thorsten Unger (Gçttingen: Wallstein, 2008), S. 259. 29 Die Texte von Voltaire und Kant werden hier zitiert nach: Die Erschîtterung der vollkom- menen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europischer Zeitgenossen, hrsg. von Wolfgang Breidert (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1994: Voltaire: Poºme sur le d¤sastre de Lisbonne, S. 58 – 76; Kant: Von den Ursachen der Erderschîtterungen bei Ge- legenheit des Unglîcks, welche die westlichen Lnder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat, S. 100 – 107; Geschichte und Naturbeschreibung der merkwîrdigen Vorflle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen Großen Teil der Erde erschîttert hat, S. 108 – 136; Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen Erderschîtterungen, S. 137 – 143). Zur Diskussion der Schwerpunkte der Erdbebenschriften von Kant vgl. Ulrich Lçffler, Lissabons Fall – Europas Schrecken. Die Deutung des Erdbebens
20 Raul Calzoni Auswirkungen auch im Denken und Werk des Literatur- und Physikexperi- mentators Georg Christoph Lichtenberg zu finden sind. Lichtenberg, als para- digmatischer Vertreter der Aufklrung, begrîndete sowohl die moderne na- turwissenschaftliche Methodik, als auch das Genre des deutschsprachigen Aphorismus. So waren seine ›Versuche‹ im Bereich der Experimentalphysik fîr die Deutung des ›Experimentierens‹ als epistemologisches Verfahren in der Literatur ausschlaggebend.30 Diesbezîglich ist in seinen Sudelbîchern ein be- deutender Aphorismus zu finden, der Lichtenbergs auf dem ›Experiment‹ ba- sierende kritisch-analytische Denkweise erhellt: Je mehr sich bei der Erforschung der Natur die Erfahrungen und Versuche hufen, desto schwankender werden die Theorien. Es ist aber immer gut sie deswegen nicht gleich aufzugeben. Denn jede Hypothese, die gut war, dient wenigstens die Erscheinungen bis auf ihre Zeit gehçrig zusammen zu denken und zu behalten. Man sollte die widersprechenden Erfahrungen besonders niederlegen, bis sie sich hinlnglich angehuft haben, um es der Mïhe wert zu machen lohnt ein neues Gebude aufzufïhren.31 Der kognitive Konstruktivismus Kants und die ›experimentelle Methode‹ Lichtenbergs haben die deutsche Literatur der Aufklrung geprgt – nicht zu vergessen ist die Rolle Gotthold Ephraim Lessings in Bezug auf das ›experi- mentelle Prinzip‹ in der Literatur : »bis zur ›Emilia Galotti‹ hatten die ver- schiedenen Gattungen eins gemeinsam: Sie kannten Standardunterschiede. In der Lyrik bildeten Oden, Kantaten, Idyllen, Elegien, Satiren, Epigramme und andere so etwas wie eine stndische Gesellschaft«.32 Mit seinem Rîckbezug auf Lessings bîrgerliches Trauerspiel schaffte Helmut Heißenbîttel eine Art Wen- depunkt in der deutschen Literatur, der durch eine ›experimentelle ber- schreitung‹ der aristotelischen Kategorien bewerkstelligt wurde. In Lessings frîhem Poem Aus einem Gedicht an den Herrn M*** (1748) verdichtet, im Lakoon oder îber die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) theoretisch von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts (Berlin, New York: W. de Gruyter 1999), S. 341 – 374. 30 Zur frîhromantischen Entwicklung dieser experimentellen Perspektive Lichtenbergs, vgl. Ulrich Stadler, ‘Kleines Kunstwerk, kleines Buch und kleine Form. Kîrze bei Lichtenberg, Novalis und Friedrich Schlegel’, in Die Kleinen Formen in der Moderne, hrsg. von Elmar Locher (Mînchen, Wien, Innsbruck, Bozen: Edition Sturzflîge StudienVerlag, 2001), S. 15 – 35. 31 Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbuch J [1601], in Schriften und Briefe, hrsg. von Wolf- gang Promies, Bd. 2: Sudelbîcher II. Materialhefte, Tagebîcher (Darmstadt: Wissenschaft- liche Buchgesellschaft, 1967), S. 294 – 295. 32 Helmut Heißenbîttel, ‘Kurze Theorie der kînstlerischen Grenzîberschreitung’, in Zur Tradition der Moderne. Aufstze und Anmerkungen 1964 – 1971 (Neuwied, Berlin: Luch- terhand, 1972), S. 21 – 22.
Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung 21 durchdiskutiert und durch seine Trauerspiele auf die Bîhne gebracht, begann ein ›ur‹experimenteller Umgang mit den rumlichen und zeitlichen Kînsten in der deutschen Literatur, welcher auch von Goethe, Schiller und Herder proble- matisiert wurde.33 Auf der Suche nach einer ›experimentellen‹ berschreitung der Grenzen zwischen einem erkenntnistheoretischen und einem naturwissenschaftlichen ›Experiment‹ hatte Goethe darîber hinaus 1790 in seinem methodologischen Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt die epistemologischen Grenzen des ›Experiments‹ ausgelotet. In diesem Essay wird der ›Versuch‹ als subjektive Erfahrung gesehen, die îber das Auge abluft, weil das Letztere als Mittler der Erkenntnis der Wirklichkeit gedeutet wird. Das Auge wird beim ›Experimentieren‹ zum kçrperlichen Vermittler zwischen dem Ich (›Subjekt‹) und der Welt (›Objekt‹), d. h. zum Ursprung jeglicher naturwissenschaftlichen Untersuchung, whrend die ›Erfahrung‹ als Quelle der Erkenntnis bezeichnet wird.34 Fîr Goethe, der seine Analyse dieser Fragen in dem Essay Erfahrung und Wissenschaft (1798) weiterentwickelte, beeinflusst die subjektive Erfahrung alles, was der Mensch zustande bringt. Hinsichtlich der empirischen Methode eines Bacon, Newton und Humes betonte er deshalb die Notwendigkeit der sinnlichen Wahrnehmung als Grundlage fîr die menschliche Natur- und Wirklichkeitserkenntnis: Wenn von einer Seite eine jede Erfahrung, ein jeder Versuch ihrer Natur nach als isoliert anzusehen sind und von der andern Seite die Kraft des menschlichen Geistes alles, was außer ihr ist und was ihr bekannt wird, mit einer ungeheuren Gewalt zu verbinden strebt, so sieht man die Gefahr leicht ein, welche man luft, wenn man mit einer gefassten Idee eine einzelne Erfahrung verbinden oder ir- gendein Verhltnis, das nicht ganz sinnlich ist, das aber die bildende Kraft des Geistes schon ausgesprochen hat, durch einzelne Versuche beweisen will.35 Diese Stellungnahme Goethes enthlt eine Formulierung, durch die das Tra- velling des ›Versuchs‹ zwischen Literatur und Wissenschaft in der deutschen Kultur des spten 18. Jahrhunderts erklrbar wird, nmlich: die »bildende Kraft 33 Zur ›Laokoondebatte‹ und zur ›Entgrenzung‹ als Grundlage des heuristischen Experimen- tierens in der literarischen Theorie und Praxis des 18. Jahrhunderts, vgl. Monika Schrader, Laokoon – »eine vollkommene Regel der Kunst«. østhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts. Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe (Hildesheim: Olms, 2005). 34 Vgl. J. M. van der Laan, ‘ber Goethe, Essays und Experimente’, in Literarische Experi- mentalkulturen, S. 243 – 250. 35 Johann W. Goethe, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, in Goethe Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. 13: Naturwissenschaftliche Schriften I, hrsg. von Dorothea Kuhn, Rike Wankmîller (Mînchen: Beck, 1982), S. 11.
22 Raul Calzoni des Geistes«. Diese habe die Fhigkeit, die objektive Wahrnehmung der Wirk- lichkeit zu verklren und zu einer komplett subjektiven Auffassung der Natur zu fîhren.36 Der Unzuverlssigkeit des menschlichen Auges und der »bildenden Kraft des Geistes« wegen hat Goethe den Wissenschaftlern empfohlen, nicht nur einzelne und isolierte Flle, Phnomene und Erfahrungen, sondern den ge- samten »Kreis der Dinge« in Betracht zu ziehen.37 Das stellt unter anderem Goethes Definition des ›Versuchs‹ klar : Wenn wir die Erfahrungen, welche vor uns gemacht wurden, die wir selbst oder andere zur gleichen Zeit mit uns machen, vorstzlich wiederholen und die Ph- nomene, die teils zufllig, teils kïnstlich entstanden sind, wieder darstellen, so nennen wir dieses einen Versuch. Der Wert eines Versuchs besteht vorzïglich darin, dass er, er sei nun einfach oder zusammengesetzt, unter gewissen Bedin- gungen mit einem bekannten Apparat und mit der erforderlichen Geschicklichkeit jederzeit wieder hervorgebracht werden kçnne, so oft sich die bedingten Um- stnde miteinander vereinbaren lassen. Wir bewundern mit Recht den menschli- chen Verstand, wenn wir auch nur obenhin die Kombinationen ansehen, die er zu diesem Endzwecke gemacht hat, und die Maschinen betrachten, die dazu erfun- den worden sind und, man darf wohl sagen, tglich erfunden werden.38 Der ›Versuch‹ kann daher einerseits zur objektiven und naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Realitt fîhren, andererseits »ein in der Phantasie durchge- fîhrtes Experiment«39 sein. Diese Polaritt zeigen die Beitrge des vorliegenden Bandes auf, welche wiederum beweisen, dass sich das ›Experiment‹ in der Li- teratur nur differential definieren lsst: Es hngt erstens immer vom natur- wissenschaftlichen Experimentbegriff ab, auf den es sich bezieht. Zweitens setzt sich eine ›experimentelle Literatur‹ immer von einer ›klassischen‹ oder ›tradi- tionellen‹ Tradition ab, die aber als solche erst erkannt werden muss. Der ›Versuch‹ ist also eine unbekannte Grçße, eine Gleichung mit mindestens zwei Variablen. Was die erste Variable betrifft, trat der Begriff als ›Kunstwort‹ vorher im Essayismus dank des Versuchs als Vermittler von Objekt und Subjekt auf, spter in der Literatur dank der auf »verschiedenen Versuchen« basierenden 36 Es geht um ein umfassend behandeltes Thema, das in Bezug auf den Begriff ›Gedankenex- periment‹ im Denken der englischen Empiristen und der franzçsischen Sensualisten und Enzyklopdisten wurzelt; vgl. hierzu Inka Mîlder-Bach, ‘Kommunizierende Monaden. Herders literarisches Universum’, in Sinne und Verstand. østhetische Modellierungen der Wahrnehmung um 1800, hrsg. von Caroline Welsh, Christina Dongowski, Susanna Lul¤ (Wîrzburg: Kçnigshausen & Neumann, 2002), S. 41 – 52. 37 Goethe, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, S. 10. 38 Ebd., S. 14. 39 Arno Holz, Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze (Berlin: Wilhelm Issleib, Gustav Schuhr, 1891), S. 80.
Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung 23 Wahlverwandtschaften (1809).40 Die zweite Variable kam bereits wenige Jahre nach der Verfassung von Goethes methodologischem Aufsatz zum Vorschein. Die ›experimentelle Literatur‹ der Frîhromantiker scheint tatschlich den Zeitpunkt anzugeben, in dem ein wichtiger Paradigmenwechsel zu erkennen ist.41 Als die Frîhromantiker an dieser Grundlage der »progressiven Univer- salpoesie«42 und an der »Poetisierung der Wissenschaften«43 arbeiteten, wurden in Jena die Beziehungen zwischen den Dichtern und den Wissenschaftlern so eng, dass z. B. das Denken von Gelehrten wie Johann Wilhelm Ritter die litera- rische Produktion eines Novalis stark prgte.44 Der magische Galvanismus Ritters beeinflusste die frîhromantische Weltanschauung so sehr, dass die Werke Friedrich von Hardenbergs zum Zeugnis einer in der Literatur durch- gefîhrten ›experimentellen Methode‹ wurden, welche der Dichter îber Ritters 40 Vgl. Hans Otto Horch, ‘Experiment’, in Moderne Literatur in Grundbegriffen, hrsg. von Dieter Borchmeyer, Viktor Zmegač (Tîbingen: Niemeyer, 1994), S. 139 – 141. In Bezug auf das epistemologische Werk des Experiments in Goethes Wahlverwandschaften, vgl. hierzu Margherita Cottone, ‘»…und in Gottes Namen, sei der Versuch gemacht!«. Il lessico delle Wahlverwandtschaften come »Zwischenraum«. Goethe: poesia e natura’, AION, IX, 1 – 2 (1999), S. 63 – 76. Zum Stand der italienischen Forschung zu den Beziehungen zwischen Goethes naturwissenschaftlichen und epistemologischen Studien und seinen literarischen Werken, seien hier folgende Werke genannt: Elena Agazzi, Il prisma di Goethe. Letteratura di viaggio e scienza nell’et classico-romantica (Napoli: Guida, 1996), und Arte, scienza e natura in Goethe, hrsg. von Gian Franco Frigo, Raffaella Simili, Federico Vercellone, Dietrich von Engelhardt (Torino: Trauben, 2005). 41 Vgl. Helmut Schanze, ‘Das sthetische Experiment zwischen Erfahrung und Wissenschaft: Empirie, Experiment, Episteme’, Diagonal. Zeitschrift der Universitt Siegen, 2 (1992), S. 169 – 180. 42 Friedrich Schlegel, [Athenumfragment 116], in Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, Bd. 2, Abt. 1: Charakteristiken und Kritiken (Mînchen, Paderborn: Schçningh, 1967), S. 182 – 183. Man beachte, dass Goethe in seinem Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt fîr eine naturwissenschaftliche ›progressive Forschungsmethode‹ pldiert, die øhnlichkeiten mit dem sthetischen Ideal der Frîhromantiker aufzeigt. Wie die Fragmente der Brîder Schlegel, die sich ›nach der Unendlichkeit strebend‹ entwickeln, sind die ›Versuche‹ bei Goethe progressiv, wie er in seinem Aufsatz îber eine Reihe von ›Expe- rimenten‹ schreibt, die zu »hçheren Erfahrungen« fîhren sollen, vgl. Goethe, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, S. 9. In diesem Sinne vgl. auch folgende Fragmente Schlegels: »Meine Philosophie ist ein System von Fragmenten und eine Progreßion von Projekten. […] Ein Fragment ist ein selbstbestimmter und selbstbestimmender Gedanke«, [Fragment 857; Fragment 1333], in Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 18, Abt. 2: Schriften aus dem Nachlass. Philosophische Lehrjahre. 1796 – 1806 (Mînchen, Paderborn: Schçningh, 1963), S. 100, S. 305. 43 Johannes Hegener, Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis dargestellt am Prozess der Entwicklung von Welt und Menschheit. Studien zum Problem enzyklopdischen Welterfah- rens (Bonn: Bouvier, 1975). 44 Zum Verhltnis zwischen Wissenschaften und Literatur in der Romantik, vgl. Romanticism in Science: Science in Europe, 1790 – 1840, hrsg. von Maurizio Bossi, Stefano Poggi in Zu- sammenarbeit mit Berendina van Straalen (Boston: Kluwer Academic, 1994).
24 Raul Calzoni und Alexander von Humboldts Versuche45, Schellings Naturphilosophie, John Browns Elementa Medicinae (1780), Paracelsus’ Lehre und Herders Plastik (1778) entwickelte.46 ber Physik, Mathematik und Herders Theorie, nach der Ideen empfunden und erfahren werden kçnnen47, bearbeitete Novalis seine »Plastisirungsmethode«, bzw. »Experimentalmethode«: Er [der Mathematiker, R.C.] plastisirt die Begr[iffe] um sie zu fixiren und dadurch einen fest bezeichneten, sichren Gang und Rïckgang nehmen zu kçnnen – Warum soll dies der Phil[osoph] nicht auch thun – oder ïberhaupt jeder einzelne wis- senschaftliche Meister – In allen W[issenschaften] soll selbstthtig plastisirt werden. Die Plastisirungsmethode ist die chte Experimentalmethode. Mann soll nicht blos in Einer Welt – in beyden zugleich soll man zugleich thtig seyn – nicht denken, ohne zu sinnen, nicht sinnen, ohne zu denken. Die Umgekehrte, mathe- matische Methode bestnde in Construction der Anschauungen, im Gegensatz der Begriffe – in unsinnlicher, unmittelbarer Darst[ellung] der Ansch[auungen] – im activen Denken – in Bildung reiner Gedanken – in Fixirung des Anschauens (Sinnens) durch Gedanken – um sich ebenfalls den sichern Progressus und Regressus, die Revision etc. mçglich zu machen. Die Begreifungs, oder Erkenntnißmeth[ode] ist nichts, als die chte Beobachtungsmethode.48 »Sinnen« und »denken« wird hier von Novalis die Macht verliehen, nach einer symphilosophischen Erkenntnis der Natur gelangen zu kçnnen Es geht um ein Ziel, zu dem im Erkenntnissystem Novalis’ nur der Poet dank seiner magischen idealistischen Gaben gelangen kann, wie der Lehrer aus den Lehrlingen zu Sais und Klingsohr aus Heinrich von Ofterdingen (1802) beweisen und wie Har- 45 Vgl. Johann Wilhelm Ritter, Beweis, daß ein bestndiger Galvanismus den Lebensproceß in dem Thierreich begleite (Weimar : Fîrstl. Schs. privil. Industrie-Comptoi, 1798); Johann Wilhelm Ritter, Beitrge zur nheren Kenntniß des Galvinismus und der Resultate seiner Untersuchung (Jena: Fîrstl. Schs. privil. Industrie-Comptoi, 1800 – 1805), 2 Bde.; Alexander von Humboldt, Versuche îber die gereizte Muskel- und Nervenfaser nebst Vermuthungen îber den chemischen Process des Lebens in der Thier- und Pflanzenwelt (Posen: Decker und Compagnie / Berlin: Heinrich August Rottmann, 1797). 46 Vgl. hierzu Fergus Henderson, ‘Romantische Naturphilosophie. Zum Begriff ›Experiment‹ bei Novalis, Ritter und Schelling’, in Novalis und die Wissenschaften, hrsg. von Herbert Uerlings (Tîbingen: Niemeyer, 1997), S. 121 – 128. Zur weiterfîhrenden Analyse des s- thetischen und methodologischen Begriffs ›Experiment‹ bei Novalis, vgl. das aufschluss- reiche Buch von Jîrgen Daiber, Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment (Gçttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001). 47 Vgl. Johann Gottfried Herder, Plastik. Einige Wahrnehmungen îber Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, in Smtliche Werke, hrsg. von Bernhard Suphan, Bd. 8 (Berlin: Weidmann, 1877), S. 71: »Ists ein Metaphysisch- und Physisch erwiesener Satz, ›daß nur kçrperliches Gefîhl uns Formen gebe,‹ so mîssen die Ableitungen desselben in jeder Kunst und Wissenschaft wahr sein«. 48 Novalis, Mathematische Studien zu Bossut und Murhard, in Schriften. Das Werk Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Richard Samuel, Bd. 3: Das philosophische Werk II (Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag, 1968), S. 123.
Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung 25 denberg selbst betonte: »Der Po×t versteht die Natur besser, wie der wissen- schaftliche Kopf«.49 Diese berzeugung fîhrte Novalis dazu, mit unterschied- lichen ›Versuchen‹ in seinem Werk zu ›experimentieren‹, und somit den Weg fîr die nach dem Wunderbaren und dem Phantastischen orientierte Sptromantik zu bereiten.50 Mit dem Tod Novalis’ endete die Jenaer Frîhromantik und ihre magische und zugleich wissenschaftliche »Experimentalmethode«, die auf fol- gender Deutung der Physiologie beruhte: Physiol[ogie]. Sensibilitaet und innrer Reitz (Seele) beziehen sich, als hçheres Organ – nicht directe auf die ußre Welt, sondern nur indirecte mittelst des niedern Organs – Reitzbarkeit und ußrer Reitz – oder Welt.51 Im Mittelpunkt der frîhromantischen Physiologie Novalis’ befand sich also jenes Organ der Seele, das Samuel Thomas Sçmmering in der »Flîssigkeit der Hirnhçlen« festmacht.52 Das Werk Sçmmerings beeinflusste die Theorie der menschlichen Physiologie der Jenaer Romantik, auch hatte es Auswirkungen auf die neurologische Forschung des 19. Jahrhunderts. In den Jahren, als sich die Heidelberger und Berliner Romantik entwickelte, begann die deutsche Neuro- logie, neue Lçsungen zur Frage des Organs der Seele zu finden, welche die romantische Physiologie dann umsetzte. Erst 1814 verçffentlichte der Neurologe Carl Gustav Carus seinen Versuch einer Darstellung des Nervensystems und insbesondere des Gehirns nach ihrer Bedeutung, Entwicklung und Vollendung, in dem er sich fîr eine genetische Einstellung bei der Erforschung des Nerven- systems entschied und die berzeugung ausdrîckte, »dass jeder Versuch einen ›Sitz‹ oder ein ›Organ‹ der Seele nachzuweisen auf falschen Voraussetzungen beruhe. Das Nervensystem sollte als ein Ganzes angesehen werden: er hielt das ganze Nervensystem, also Rîckenmark und Gehirn, fîr ›das Bestimmende und Centrale‹ des ›Thierorganismus‹«.53 Carus’ Entdeckungen wurden in den fol- 49 Novalis, Das Allgemeine Brouillon, in Novalis. Schriften. Das Werk Friedrich von Harden- bergs, Bd. 3, S. 468. Vgl. hierzu Raul Calzoni, ‘A Never Written Treatise. Notes on Novalis’ Representations of Light’, in Representing Light across Arts and Sciences: Theories and Practices, hrsg. von Elena Agazzi, Enrico Giannetto, Franco Giudice (Gçttingen: Van- denhoeck & Ruprecht unipress, 2009), S. 87 – 101. 50 Vgl. Frederick Burwick, ‘Novalis: Transcendental Physics and the Sidereal Man’, in The Damnation of Newton. Goethe’s Color Theory and Romantic Perception (Berlin: W. de Gruyter, 1986), S. 102 – 138. 51 Novalis, Das Allgemeine Brouillon, S. 331 – 332. 52 Samuel Thomas Sçmmering, ber das Organ der Seele (Kçnigsberg: Nicolovius, 1796). Nachgedruckt in S. T. Sçmmering, Werke, hrsg. von Gunter Mann, Jost Benedum, Werner F. Kîmmel, Bd. 9 (Stuttgart, Basel: Schwabe & Co., 1999), S. 67. 53 Stefano Poggi, ‘Neurologie, Philosophie und Literatur im 19. Jahrhundert. Die romantische Naturforschung und der Fall Georg Bîchner’, in Der fragile Kçrper. Zwischen Fragmentie- rung und Ganzheitsanspruch, hrsg. von Elena Agazzi, Eva Kocziszky (Gçttingen: Vanden-
26 Raul Calzoni genden Jahren durch die Forschung vieler Neurologen, wie z. B. Carl Friedrich Burdach und Karl Ernst von Baer, flankiert, die andere Darstellungen des Ner- vensystems anboten, als sie unter anderem die Entwicklungsgeschichte der Seele und die Entwicklungsgeschichte der Thiere offerierten.54 Gerade diese neurolo- gischen Studien hinterließen neben der raschen Entwicklung der Gehirnana- tomie, Neurophysiologie, Medizin und Biologie in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entscheidende Spuren in der Literatur jener Periode. In diesem Zusammenhang erscheint Georg Bîchner als ein îberaus bedeu- tender Schriftsteller, weil er die wissenschaftlichen Entdeckungen der bereits erwhnten Physiologen und Neurologen mit einem ›experimentellen‹ literari- schen Verfahren zu verbinden wusste. Als Beweis dafîr gelten einerseits Bîch- ners wissenschaftliche Arbeiten, d. h. ber das Nervensystem der Barben (1836) und ber Schdelnerven (1836), und andererseits seine dramatischen Werke. Diese zeigen, dass Bîchner wie ein ›experimentierender‹ Neuroanatom arbei- tete; wie der Doktor seines Woyzecks (1836) wollte er den Menschen sezieren und damit »die unsterblichsten Experimente« machen: Ja, Herr Hauptmann, Sie kçnnen eine apoplexia cerebralis kriegen, Sie kçnnen sie aber vielleicht nur auf der einen Seite bekommen, und dann auf der einen gelhmt seyn, oder aber Sie kçnnen im besten Fall geistig gelhmt werden und nur fort vegetiren, das sind so ohngefhr Ihre Aussichten auf die nchsten vier Wochen. brigens kann ich Sie versichern, dass Sie einen von den Interessanten Fllen abgeben, und wenn Gott will, daß Ihre Zunge zum Theil gelhmt wird, so machen wir die unsterblichsten Experimente.55 Auf der Suche nach »den Interessanten Fllen« hat Bîchner nicht nur Woyzeck zum ›Versuchskaninchen‹ des Doktors in seinem Drama werden lassen, sondern ihn auch zum Beweis »der doppelten Natur« des Menschen gemacht. Es geht hier um eine Spaltung zwischen Natur und Zivilisation, die Bîchner durch Woyzeck und Lenz exemplarisch darstellt und die das ›Experiment‹ mit dem gelehrten Pferd in seinem Drama hervorhebt: hoeck & Ruprecht unipress, 2005), S. 243 – 244. Poggi zitiert hier aus Carl Gustav Carus, Versuch einer Darstellung des Nervensystems und insbesondere des Gehirns nach ihrer Be- deutung, Entwicklung und Vollendung (Leipzig: Dyk’sche Buchhandlung, 1814), S. 1677 f.; 301; 41 und 303. 54 Vgl. Carl Gustav Carus, Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele (Pforzheim: Flammer u. Hoffmann, 1846); Karl Ernst von Baer, ber die Entwicklungsgeschichte der Thiere. Be- obachtungen und Reflexionen, 2 Bde. (Kçningsberg: Borntrger, 1828); Karl Friedrich Burdach, Vom Baue und Leben des Gehirns (Leipzig: Dyk’sche Buchhandlung, 1819 – 1827). 55 Georg Bîchner, Woyzeck, in Smtliche Werke Briefe und Dokumente, hrsg. von Henri Po- schmann unter Zusammenarbeit von Rosemarie Poschmann, Bd. 2 (Frankfurt am Main: DKV, 1999), S. 159.
Das ›Experiment‹ in der Literatur. Eine Einleitung 27 Ja das ist kei viehdummes Individuum, das ist eine Person. Ei Mensch, ei thierisch Mensch und doch ei Vieh, ei bÞte. Das Pferd fïhrt sich ungebïhrlich auf. So beschm die soci¤t¤. Sehn Sie das Vieh ist noch Natur, unideale Natur! Lern Sie bey ihm.56 Man kann daher sagen, dass sich das wissenschaftliche ›Experiment‹ und die gesellschaftliche Kritik zum ersten Mal in der deutschen Literatur bei Bîchner vereinigen. Darîber hinaus ist in diesem doppelt begabten Schriftsteller der wahre Vorlufer des deutschen Naturalismus zu erkennen: einer literarischen Bewegung, in der das Drama Bîchners mit dem Einfluss der franzçsischen ›experimentellen‹ Prosa in Kontakt kam und deren beste Frîchte bei Arno Holz, Gerhard Hauptmann und Johannes Schlaf reiften. Man kçnnte den deutschen Realismus in diesem Sinne als »Sattelzeit«57 des wissenschaftlichen ›Experiments‹ in der Literatur bezeichnen.58 Dies ließe sich dem sthetischen Prinzip der Verklrung zuschreiben, nach dem die Literatur des Realismus eine zweite poetische Wirklichkeit zu schaffen hatte.59 Man muss daher auf die Entstehung des deutschen Naturalismus und der »klassischen Moderne« warten60, um auf ein neues Interfacing zwischen Literatur und Wis- senschaft zu stoßen, welches das wissenschaftliche ›Experiment‹ zur Grundlage der subjektiven und gesellschaftlichen Erkenntnis macht.61 Deshalb sind die 56 Ebd., S. 142. 57 Zur Definition des Begriffs »Sattelzeit« als bergangsphase zwischen Frîher Neuzeit und Moderne, vgl. Reinhard Koselleck, ‘ber die Theoriebedîrftigkeit der Geschichtswissen- schaft’, in Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, hrsg. von Werner Conze (Stuttgart: Klett Cotta, 1972), S. 14 f. 58 Wie Sabine Becker in Bezug auf die Literatur des Bîrgerlichen Realismus betont hat: »Der in den Jahrzehnten nach 1848 weiderholt ausgesprochenen Aufforderung, die wissenschaftli- che Erkenntnis nicht nur als Grundlage, sondern als Gegenstand literarischen Schreibens heranzuziehen, ist die Literatur des Bîrgerlichen Realismus mithin nicht gefolgt. Die in ihrem Umfeld entwickelte Theorie realistischen Schreibens nahm naturwissenschaftliche Impulse zweifelsohne auf; doch im Thematischen ist der Bîrgerliche Realismus nur in einem geringen Maß von den naturwissenschaftlichen Gegenstnden und Themen beeinflusst«; Sabine Becker, Bîrgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bîrgerlichen Zeitalter 1848 – 1900 (Tîbingen, Basel: Francke, 2003), S. 90. 59 Vgl. Fritz Martini, Deutsche Literatur im bîrgerlichen Zeitalter 1848 – 1898 (Stuttgart: Metzler, 1961) und ferner Realism and Representation: Essays on the Problem of Realism in Relation to Science, Literature, and Culture, hrsg. von George Lewis Levine (Madison, London: University of Wisconsis Press, 1993). 60 Erich Kleinschmidt, ‘Literatur als Experiment. Poetologische Konstellationen der ›Klassi- schen Moderne‹ in Deutschland’, Musil Forum, hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui, Rosmarie Zeller, 27 (2001/2002), S. 1 – 30. 61 Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass Literatur und Wissenschaft whrend der Bieder- meierzeit dank Adalbert Stifter miteinander in Kontakt traten. Zur Bedeutung der stheti- schen und naturwissenschaftlichen ›Experimente‹ Stifters, vgl. die umfassende Untersu- chung von Friderich Sengle, Biedermeierzeit: Die deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815 – 1848, Bd. 3: Die Dichter (Stuttgart: Metzler, 1980), S. 953 f.; vgl. ferner Wilhelm Kuhlmann, ‘Von Diderot bis Stifter : Das Experiment
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