Berlin greift Bern im Kampf um die Teilnahme an EU-Forschungsprogrammen unter die Arme
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Berlin greift Bern im Kampf um die Teilnahme an EU-Forschungsprogrammen unter die Arme Die EU-Kommission will die Schweiz, Grossbritannien und Israel von EU-Forschungsprojekten in den Bereichen Quantencomputer und Weltraum ausschliessen. Doch dagegen gibt es innerhalb der EU von Deutschland angeführten Widerstand. Christoph G. Schmutz, Brüssel 30.04.2021, 05.30 Uhr Lockheed Martin Im Mars-Gefährt Insight von der NASA ist ein Seismometer der ETH eingebaut. Die Schweizer Forscher geraten einmal mehr in einen Streit zwischen Bern und Brüssel. Wegen mangelnder Fortschritte beim Rahmenabkommen konnte die Schweiz die Verhandlungen über eine Teilnahme am neunten Forschungsrahmenprogramm der EU, kurz Horizon Europe, noch nicht aufnehmen. Und eine EU-Beamtin legte am Montag nach. Man denke nicht einmal daran, die Gespräche über die von 2021 bis 2027 laufende Forschungskooperation zu beginnen, hiess es. Zuvor müsse die Schweiz die zweite Kohäsionsmilliarde für ärmere EU- Länder freigeben. EU-Weltraumforschung ohne die Schweiz? Doch selbst wenn sich ein Ausweg aus dieser verschachtelten Situation finden liesse und die Schweiz vollständig assoziiert würde, droht
Schweizer Forschern der Ausschluss von wichtigen EU-Projekten. Aus einem Entwurf des Arbeitsprogramms geht hervor, dass die Schweiz, Grossbritannien und Israel an wichtigen Ausschreibungen in den Bereichen Quanteninformatik und Weltraumforschung nicht teilnehmen dürfen. Die Kommission will damit verhindern, dass die EU zu stark abhängig wird von Komponenten, Materialien und Prozessen, die im Ausland zu finden sind. Geistiges Eigentum soll in der EU bleiben. Darüber hinaus wird auch die öffentliche Sicherheit als Begründung angeführt. Solche Pläne wälzt Brüssel unter dem Begriff «offene strategische Autonomie» auch in anderen Bereichen. Ausgelöst vom feindseligen Verhalten des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, von zunehmenden geopolitischen Spannungen sowie verstärkt durch den Streit um die Impfstoffherstellung werden die protektionistischen Stimmen lauter. Man will eine unabhängige Gesundheitsversorgung. Und von seltenen Erden über Wasserstoff bis zu Batterien sollen für das Technologie-Zeitalter bedeutende Komponenten in Europa produziert werden. Der französische Kommissar Thierry Breton ist ein vehementer Verfechter dieses Ansatzes. Böse Zungen unterstellen ihm gar Autarkie- Phantasien. Der Widerstand wächst Doch nun regt sich in der EU Widerstand. Die deutsche Forschungsministerin Anja Karliczek schrieb der Kommission einen Brief in der Angelegenheit. Ihr Staatssekretär Thomas Rachel sagte gegenüber dem Nachrichtenportal Sciencebusiness.net: «Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt die uneingeschränkte Beteiligung der Schweiz, Israels und Grossbritanniens an Horizon Europe als assoziierte Länder.» Insbesondere im Bereich der Quantentechnologie seien diese Staaten traditionell wichtige Partner, und diese Rolle sollten sie auch in Zukunft übernehmen, so Rachel. Und Deutschland ist nicht allein. Eine von Berlin vorbereitete Deklaration ist von 14 weiteren EU-Mitgliedstaaten unterschrieben worden. Zwei Länder verlangten zusätzliche Erklärungen von der Kommission. Auch im EU-Parlament gibt es kritische Stimmen. Er halte einen kompletten Ausschluss der drei Länder aus den Weltraum- und Quanteninformatik-Programmen nicht für sinnvoll, erklärt der grüne Abgeordnete Niklas Nienass. Wohl sei strategische Vorsicht bei Zukunftstechnologien geboten. Allerdings sei zu unterscheiden zwischen Russland und China einerseits und der Schweiz,
Grossbritannien und Israel andererseits. Die lange und positive Tradition in der Forschung mit diesen drei Ländern solle nicht aufgegeben werden, so Nienass. Mehrere Abgeordnete hätten ihren Unmut über den Vorschlag der Kommission ausgedrückt. Und nicht zuletzt kommt auch Widerstand aus dem Wissenschaftsbetrieb. So forderten 77 Universitäten die Kommission auf, den Zugang von assoziierten Ländern wie Grossbritannien und der Schweiz zu Horizon Europe nicht einzuschränken. «Ein allzu protektionistischer ‹EU first›-Ansatz könnte bahnbrechende Forschung und Innovation behindern», liess sich Kurt Deketelaere zitieren. Er ist der Präsident der Liga der Europäischen Forschungsuniversitäten und Professor für Umweltrecht an der KU Löwen in Belgien. Kommt es zum Umdenken? Der Protest hat offenbar teilweise zu einem Umdenken der Kommission geführt. Neuere Entwürfe zeigen, dass die Schweiz zumindest bei der Quanteninformatik wieder teilnehmen könnte. Auf Anfrage teilt die Kommission mit, dass solche Ausschlüsse in dem vom Rat der Mitgliedstaaten und vom Parlament gutgeheissenen Gesetz vorgesehen seien. Diese sollen aber auf ein Minimum beschränkt und, wie verlangt, gut begründet werden. Die entsprechenden Gespräche liefen noch. Der Entscheid, wie das Arbeitsprogramm genau aussehen soll, ist also noch nicht gefallen. Kommt es zu einer Kehrtwende, wären die Schweizer Forscher zumindest eine Sorge los. Doch die Frage bliebe, wie sich die Tür zu der Forschungskooperation überhaupt wieder öffnen lässt. Von dieser profitieren neben den Hochschulen auch Firmen, darunter die vom Bund kontrollierte Ruag International. Jüngst warnten Vertreter der Hochschulen vor einem Abseitsstehen. Die Wettbewerbsfähigkeit des Forschungsstandorts Schweiz würde enorm leiden, sagte der EPFL-Präsident Martin Vetterli. Michael Hengartner, der Präsident des ETH-Rates, drückte es so aus: «Ohne europäische Zusammenarbeit wäre es für uns, als ob wir mit einer hinter den Rücken gebundenen Hand in den Boxring steigen müssten: Wir könnten zwar vielleicht noch gewinnen, aber es würde sehr, sehr schwierig.» Mehr zum Thema Israel Quantencomputer
INTERVIEW «Man kann es nicht beschönigen: Wir haben ein Problem» Martin Vetterli ist eine der bedeutendsten Figuren im Schweizer Wissenschaftsbetrieb. Im Interview erklärt er, weshalb ihm das Klima und die EU-Debatte Sorgen bereiten – und wie wir als reiches Land die Digitalisierung verschlafen konnten. Marc Tribelhorn, Antonio Fumagalli, Text; Christoph Ruckstuhl, Bilder 25.03.2021 INTERVIEW Michael Hengartner: «Der Schweiz fehlt oft der Mut, gross zu denken» Der neue Präsident des ETH-Rats, Michael Hengartner, will massiv in Umwelt-Themen investieren. Und Lösungen schneller an den Markt bringen. Schweizer Forscher haben Angst, dass die EU die Forschungszusammenarbeit mit der Europapolitik verknüpft Bisher hat die Schweiz mehr Gelder aus dem europäischen Programm für Forschung und Innovation bekommen, als sie einzahlen musste. Nun startet «Horizon» in eine neue Runde. Noch ist unklar, ob und wie sich die Schweiz daran beteiligen kann. Larissa Rhyn, Bern 24.09.2020 Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG. Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen oder anderen Zwecken ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis von Neue Zürcher Zeitung ist nicht gestattet.
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