Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
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Berliner MITGLIEDERZEITSCHRIFT ÄRZTEKAMMER BERLIN AUSGABE 08 / 2021 Ärzt:innen Perspektive Substitution – Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht
BERLINER ÄRZT:INNEN EDITORIAL AUSGABE 08 / 2021 Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der 124. Deutsche Ärztetag hat im Mai dieses Jahres wegen der Corona-Pandemie virtuell stattgefunden. Durch die Wahl von Dr. med. Peter Bobbert zum Präsidenten Dr. med. Regine Held der Ärztekammer Berlin im Februar 2021 war ein Platz im Vorstand der Bundes- ist niedergelassene HNO-Ärztin, ärztekammer vakant geworden. Die Nachwahl fand im schriftlichen Umlaufver- ehemalige Vizepräsidentin fahren per Briefwahl statt. der Ärztekammer Berlin und Vorstandsmitglied der Bundes- ärztekammer. Für die Wahl kandidierten Dr. med. Andreas Botzlar vom Marburger Bund, Dr. med. Foto: Kathleen Friedrich Robin Maitra als hausärztlich tätiger Internist und ich als HNO-Ärztin in eigener Praxis für die niedergelassenen und ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte. Nach- dem im ersten Wahlgang keiner die Mehrheit erreichen konnte, zog Robin Maitra seine Kandidatur zurück. Mit 112 von 223 gültigen Stimmen konnte ich mich letzt- lich im zweiten Wahlgang gegen den verbliebenen Mitbewerber durchsetzen. Beworben hatte ich mich mit meinem bisherigen berufspolitischen Werdegang und mit drei Themen, die mir besonders am Herzen liegen. Das ist erstens: der Erhalt der Freiberuflichkeit. Dazu gehört für mich auch eine neue Gebührenord- nung. Das ist zweitens: die voranschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen. Wir als Ärzteschaft müssen diese kritisch, aber auch konstruktiv begleiten. Und das ist drittens: die sektorenverbindende Gesundheitsversorgung. Die Gräben zwi- schen Klinik und Ambulanz müssen wir dringend und nachhaltig überwinden. Mit meiner Bewerbung habe ich aber auch in besonderer Weise das wichtige Thema der Parität von Ärztinnen und Ärzten in allen berufspolitischen Gremien in den Fokus gerückt. Es müssen die nötigen Voraussetzungen für die Attraktivität des Berufes sowie für den Nachwuchs in der Gesundheitspolitik geschaffen werden. Das sind familienfreundliche Arbeitsbedingungen, eine strukturierte Weiterbildung, auch in Teilzeit, und eine digitale Gestaltung von Sitzungen jeglicher Art mit Hilfe neuer Technologien. Hausärztinnen und Hausärzte haben eine herausragende Rolle in unserer Gesund- heitsversorgung. Nicht zuletzt werbe ich um die Wertschätzung der Medizinischen Fachangestellten in unseren Praxen – insbesondere in der momentanen Zeit der personal- und zeitintensiven Corona-Impfkampagne. Mit dem Einzug in den Vorstand der Bundesärztekammer freue ich mich besonders, dass Berlin nunmehr paritätisch in diesem Gremium vertreten ist. Mit der zusätz- lichen „Berliner“ Stimme können Peter Bobbert und ich an die gute Zusammen- arbeit in der Koalition der Ärztekammer Berlin zwischen Marburger Bund und der Allianz Berliner Ärzte/MEDI-Berlin auch auf Bundesebene anschließen. Ich danke allen, die mich unterstützt haben. Bleiben Sie der Ärztekammer Berlin gewogen. Ihre 3
Inhalt EDITORIAL POLITIK & PRAXIS Begrüßung von Dr. Regine Held 3 Ein Blick zurück und nach vorn 25 Jahre Berliner Gesundheitspreis Von Ole Eggert 33 KURZ NOTIERT 3 Fragen an Aktuelles / Nachrichten 6 Prof. Dr. med. Stefan Müller-Lissner 34 Fairness, Freude und Hygieneregeln AUS DER KAMMER beim Paul Ehrlich Contest Von Robert Gintrowicz und Frauke Glöckner 36 Abschließende Entscheidungen zur Neufassung der Weiterbildungsordnung Eine Frage der Sicherheit Bericht von der Delegiertenversammlung Drohende Sepsis erkennen und richtig handeln 37 am 16. Juni 2021 Von Ole Eggert 18 KULTUR & GESCHICHTE „Was bitte ist denn ein Ärzt?!“ Rückmeldungen der Berliner Ärzt:innen Eine außergewöhnliche Tuberkuloseforscherin zur Neugestaltung und zum neuen Namen und Berlins erste Frau mit Professorentitel 40 der Mitgliederzeitschrift 22 Virchow-Jahr 2021 Medizinische Fachangestellte Virchow contra Koch – Fakten und Informationen zur Ausbildung Fiktion eines Gelehrtenstreites und Weiterqualifizierung 24 Von Christoph Gradmann 42 Ärztliche Fortbildungen Veranstaltungskalender Impressum 44 der Ärztekammer Berlin 26 Weiterbildung Bestandene Facharztprüfungen im Mai und Juni 2021 30 Titelfoto und Foto rechts: Sibylle Fendt, OSTKREUZ / Ärztekammer Berlin → www.instagram.com/aekberlin → www.twitter.com/aekberlin 4
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2021 IM FOKUS Perspektive Substitution 8 Die Initiative „Substitutionstherapie – Wege zurück ins Leben“ soll Nachwuchsärzt:innen für das Thema Substitution sensibilisieren und sie für diese Therapieform gewinnen. Denn immer weniger Ärzt:innen versorgen eine steigende Anzahl von opioidabhängigen Menschen. Von Ute Wegner 5
KURZ NOTIERT Online-Umfrage Veranstaltung Ihre Erfahrungen sind gefragt! Berliner Krebskongress Die Geschäftsstelle des „Runden Tisches Berlin – Weibliche Tumore, Digitalisierung Gesundheitsversorgung bei häuslicher und sexua- und Empowerment – das sind die lisierter Gewalt“ befragt aktuell mit einer Online- Themen des 16. Berliner Krebskon- Umfrage Mitarbeitende der Gesundheitsversor- gresses am 10.–11. September 2021. gung, wie sie in ihrem Beruf mit Gewalt in Paar- Der digitale Kongress stellt Frauen in beziehungen umgehen. den Mittelpunkt. Folglich geht es um Krebserkrankungen, die (fast nur) Sicht und Bedürfnisse von Praktiker:innen sollen verstärkt in die Arbeit des Frauen betreffen, wie Erkrankungen Runden Tisches einbezogen und Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten werden. der Brust und der weiblichen Genital- Die Umfrage wird in Kooperation mit der Hochschule Nordhausen realisiert und organe. erfolgt anonym. Die Teilnahme ist selbstverständlich freiwillig. Ungewöhnlich für einen medizinischen Die Ärztekammer Berlin ist Mitglied des Runden Tisches. Wir bitten die in Berlin Fachkongress: Als Referentinnen sind tätigen Ärztinnen und Ärzte herzlich, das Vorhaben mit 5 bis 10 Minuten ihrer ausschließlich Frauen eingeladen. Zeit zu unterstützen und sich an der Umfrage zu beteiligen. Die beiden Kongresspräsidentinnen Dr. med. Marion Paul und PD Dr. med. Scannen Sie den QR-Code ein – Sie kommen dann automatisch Mandy Mangler, Chefärztinnen bei zum Fragebogen. Wenn Sie kein Smartphone oder Tablet zur Vivantes, wollen damit ein Zeichen Hand haben, können Sie den Fragebogen unter setzen: „Auf manchen Kongressen → www.soscisurvey.de/befragung_gesundheitswesen abrufen. spricht keine einzige Frau. Das Argu- ment, dass es nicht genügend quali- Am 25. November 2021, dem Internationalen Tag gegen Gewalt fizierte Frauen in der Medizin gäbe, an Frauen, werden die Ergebnisse der Befragung im Rahmen einer Fachveran- haben wir zumindest für unseren Fach- staltung des Runden Tisches Berlin vorgestellt werden. bereich widerlegt.“ Weitere Informationen zum Runden Tisch erhalten Sie unter Programm und Anmeldung: → www.signal-intervention.de/der-runde-tisch ∕ → www.berliner-krebskongress.de ∕ Anzeige 6
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2021 ÄKB Social Media Intervention Instagram und Twitter Arzt SUCHT Hilfe – Das Interventionspro- Suchtproblematik gramm der Ärztekammer Kennen Sie schon die Social Media-Kanäle der Ärztekammer Berlin berät und begleitet Berlin? Seit Juni veröffentlichen wir auf Instagram und bei Ärztinnen und Ärztinnen und Ärzte mit Twitter regelmäßig Fotos aus dem jeweiligen Titelthema – Ärzten problematischem Subs- und mehr. Damit wollen wir die Arbeit unserer Kammer- tanzkonsum professionell mitglieder greifbar machen und Berliner Ärzt:innen in Suchen Sie Hilfe, und kollegial. Suchen Sie ihrem Arbeitsumfeld zeigen. Hilfe, Beratung, Unter- Beratung, stützung? Nutzen Sie die Hier finden Sie uns: Unterstützung? Möglichkeit, um mit uns in → www.instagram.com/aekberlin Kontakt zu kommen: → www.twitter.com/aekberlin E kontakt- suchtprogramm@aekb.de Weitere Informationen finden Sie auf der Website → www.aekb.de/ suchtintervention Foto: Frank Schinski, OSTKREUZ / Ärztekammer Berlin Sagen Sie uns Ihre Meinung zu den Artikeln in „Berliner Ärzt:innen“! Was gefällt Ihnen, was nicht und vor allem: Was fehlt Ihnen? Schreiben Sie uns an: E presse@aekb.de Anzeige 7
IM FOKUS Perspektive Substitution Die Initiative „Substitutionstherapie – Wege zurück ins Leben“1 soll Nachwuchsärzt:innen für das Thema Substitution sensibilisieren und sie für diese Therapieform gewinnen. Denn immer weniger Ärzt:innen versorgen eine steigende Anzahl von opioidabhängigen Menschen. Text: Ute Wegner Fotos: Sibylle Fendt, OSTKREUZ / Ärztekammer Berlin Das medizinische Team des „Praxiskombinat Neubau“ in Berlin-Lichtenberg behandelt Menschen, die wegen einer Suchterkrankung bzw. Opioidabhängigkeit Hilfe suchen. 8
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2021 Adil S.2 hat alles verloren. Der Krieg in Syrien nahm ihm stellt [unter den Hauptdiagnosen] bei Personen mit Migra- seine vier Kinder, die beschwerliche Flucht seine Frau. Er tionshintergrund ambulant (49 %) und stationär (32 %) trifft allein in Berlin ein. Auf der Straße bietet ein Dealer den größten Anteil“, heißt es in der Suchthilfestatistik dem syrischen Ingenieur Heroin an. Er raucht die Droge, 2019 der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und um seine seelischen Schmerzen zu lindern. „In Berlin gibt Gleichstellung (SenGPG) in Berlin.3 In der täglichen Praxis es an jeder zweiten Ecke Heroin“, erklärt Dr. med. Hans- der Berliner Suchtmediziner:innen bedeutet das, auch mit Tilmann Kinkel, hausärztlicher Internist und Suchtmedi- sprachlichen und kulturellen Hürden umzugehen. In einem ziner im „Praxiskombinat Neubau“, einer auf Substituti- Gespräch, in dem es gilt herauszufinden, wo die Ursachen onstherapie spezialisierten Schwerpunktpraxis in Berlin- für die Sucht liegen könnten, und Vertrauen aufzubauen, Lichtenberg. Dort arbeiten vier Ärzt:innen und ein ganzer ist die sprachliche Barriere ein Hindernis. S. erhält in der Stab von spezialisierten Medizinischen Fachangestellten Szene einen Tipp und kommt in das Praxiskombinat Neubau. und Krankenpfleger:innen, studentischen Mitarbeitenden „In seinem Fall haben wir einen Dolmetscher dazu holen und Auszubildenden. „Heroin hilft, die schlimmsten Symp- können“, sagt Kinkel. Aber auch dann könne man nicht tome des Traumas zu beheben“, erklärt er. Schnell gerät sicher sein, ob sich der Patient in Gegenwart eines Dritten der von Sozialhilfe lebende 38-jährige Adil S. in die Spirale traue, offen zu sprechen. „Viele Details aus der Biografie der Sucht: Heroin kostet Geld, davon hat er wenig, die erfährt man erst nach Jahren“, ergänzt der Lichtenberger Entzugserscheinungen sind unangenehm. Suchtdruck Internist. Doch in der ersten Vorstellung des Betroffenen stellt sich ein, das heißt, der Syrer braucht die Droge, um geht es zunächst darum, schnell und niedrigschwellig zu den Entzug zu bekämpfen. „Dieser Druck löst erheblichen behandeln. Der syrische Geflüchtete erhält – auch aufgrund Stress aus“, erklärt der Lichtenberger Suchtmediziner. seiner Traumastörung – 400 Milligramm retardiertes Morphin Der hochgebildete Syrer erkennt, dass er Hilfe benötigt, zur Substitution. In den folgenden Wochen wird diese Ein- um sich aus der Abhängigkeit zu befreien. stiegsdosis auf 2.000 Milligramm erhöht. Sprachliche und kulturelle Hürden meistern Bundesweite Kampagne gestartet Insgesamt gibt es in Berlin rund 15.000 opioidabhängige Allein dieses Beispiel zeigt, wie komplex die Substitutions- Menschen, begleitet von einer hohen Dunkelziffer. An therapie ist. Sorgen bereitet Expert:innen jedoch der Nach- erster Stelle konsumieren sie Heroin, gefolgt von Tilidin, wuchsmangel in der Suchtmedizin. So sind bundesweit Fentanyl und Kokain, letzteres vor allem im Beigebrauch. immer weniger suchtmedizinisch qualifizierte Ärzt:innen Zirka 6.000 der Betroffenen machen eine Substitutions- in der Substitutionsbehandlung aktiv. Ungefähr 8.000 be- therapie. 350 von ihnen sind im Praxiskombinat Neubau sitzen zwar die Zusatzqualifikation in der „Suchtmedizini- in Behandlung, etwa ein Viertel hat einen Migrationshin- schen Grundversorgung“, doch nur etwa 2.600 von ihnen tergrund. Das ist in Berlin als Einwanderungsstadt eine behandeln entsprechend. Darunter leidet einerseits die Qua- der besonderen Herausforderungen in der Substitutions- lität der Behandlung, andererseits haben manche Betroffene, behandlung. „Die Gruppe mit opioidbezogener Problematik etwa in ländlichen Gebieten in Flächenländern, gar keinen Zu- gang zu einer Substitutionsbehandlung. Um mehr Ärzt:innen dazu zu bewegen, opioidabhängige Menschen zu substitu- ieren, hat die Bundesärztekammer gemeinsam mit der Die Fotografin und der Ort Drogenbeauftragten der Bundesregierung Daniela Ludwig Für dieses Schwerpunktthema hat OSTKREUZ-Fotografin die Kampagne „Substitutionstherapie – Wege zurück ins Sibylle Fendt die auf Substitutionstherapie spezialisierte Leben“ initiiert. „Wir stehen vor einem akuten Nachwuchs- Praxis „Praxiskombinat Neubau“ in Berlin-Lichtenberg mangel, wenn es uns nicht gelingen sollte, die Substitutions- zwei Tage lang begleitet. Die Bilder zeigen den unaufge- therapie attraktiver zu machen“, sagt die Politikerin. „Daher regten Praxisalltag und wahren bewusst Distanz zu den werden die Bundesärztekammer und ich umfangreiche vir- Patient:innen. Alle fotografierten Personen waren mit tuelle Rundgänge in Substitutionspraxen und Ambulanzen, den Bildern und ihrer Veröffentlichung einverstanden. Mehr Fotos online: Weitere Fotos der Reihe sehen Sie im 1 Es handelt sich um eine Initiative der Drogenbeauftragten der August auf unseren Social-Media-Kanälen Bundesregierung und der Bundesärztekammer. 2 Name von der Redaktion geändert → www.instagram.com/aekberlin 3 SenGPG: Suchthilfestatistik 2019. Jahresbericht zur aktuellen Situation der Suchthilfe in Berlin. → www.suchthilfestatistik.de/fileadmin/user_upload_dshs/ → www.twitter.com/aekberlin Publikationen/Jahresberichte/Jahresberichte_Laender/Berliner_ Suchthilfestatistik_DJ_2019_barrierefrei.pdf 9
IM FOKUS So sind die niedergelassenen Suchtmediziner:innen nicht nur eng miteinander vernetzt, sondern arbeiten auch solide mit den Entwöhnungskliniken und Entzugsstationen sowohl in Berlin als auch im Umland zusammen. Drogenkonsumie- rende oder substituierte Schwangere und deren Kinder etwa werden in der Klinik für Geburtsmedizin des Charité Campus Virchow-Klinikum in Berlin-Wedding in Kooperation mit der Klinik für Neonatologie geburtsmedizinisch, neonato- logisch, suchtmedizinisch, infektiologisch und psychosozial betreut. In der Klinik für Infektiologie am Vivantes Auguste- Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg sowie auch in an- deren Krankenhäusern der Stadt behandeln die Fachärzt:in- nen opioidabhängige Patient:innen, die beispielsweise an Hepatitis C erkrankt oder HIV-positiv sind. In der Hauptstadt gibt es außerdem ein sogenanntes „AID- Modell“. Die Abkürzung steht für „Ambulanz für Integrierte Drogenhilfe“ und bezeichnet eine ambulante Schwerpunkt- praxis, die Suchtmediziner:innen und Psychosoziale Be- treuung (PSB) unter einem Dach vereint. Davon gibt es neben dem eingangs bereits erwähnten Lichtenberger Praxiskombinat Neubau eine in Neukölln, eine weitere in Friedrichshain sowie die Praxis Lyonn, die sogenannte AID Kreuzberg. Sie ist die erste, im Jahr 1997 gegründete Berliner Ambulanz dieser Art. „Unser Team behandelt 330 opioidabhängige Patient:innen“, erklärt Norbert E. Lyonn, Arzt für Allgemeinmedizin mit Zusatzbezeichnung „Sucht- medizinische Grundversorgung“. Insgesamt gehören drei Ärzt:innen für Allgemeinmedizin mit Spezialisierung in der Suchtmedizin sowie ein Arzt in Weiterbildung zum Team. Andere Praxen arbeiten nach einem AID-ähnlichen Modell Warten gehört zum Tagesablauf. In der Regel müssen Patient:innen und bieten ebenfalls psychosoziale Beratung in ihren Räu- das Substitutionsmittel täglich und unter Aufsicht in der Arztpraxis men an. Deutlich wird: Die Hauptstadt bietet ein reichhal- einnehmen. tiges und gut strukturiertes Behandlungs- und Hilfsange- bot für opioidabhängige Menschen. Zusatzweiterbildung der Ärztekammer Berlin FAQs und Informationen auf unseren Homepages, in The- Die Ärztekammer Berlin (ÄKB) bietet regelmäßig die um- mendossiers und speziellen Informationsveranstaltungen fangreiche Zusatzweiterbildung „Suchtmedizinische für Ärzt:innen streuen.“ Grundversorgung“ nach dem (Muster-)Kursbuch der Bun- desärztekammer an. In vier Modulen, die insgesamt 60 Interdisziplinäres Netzwerk von Suchtexpert:innen Unterrichtseinheiten umfassen, werden die Lerninhalte In Berlin ist, wie auch in den Großstädten Hamburg und praxisnah vermittelt und können mit dem Zusatzmodul Frankfurt, die Situation derzeit noch nicht dramatisch. „Substitution mit Diamorphin“ ergänzt werden. Das Team Von 152 Ärzt:innen in Berlin, die eine Genehmigung für die der Referierenden besteht aus erfahrenen Berliner Sucht- Substitutionstherapie haben, sind immerhin 120 in dem mediziner:innen und im Suchthilfesystem arbeitenden Bereich aktiv tätig. Die Anzahl der Ärzt:innen ist – entgegen Kolleg:innen. Für die Abschlussprüfung sind ergänzend 80 dem bundesweiten Trend – seit Jahren stabil. Stunden Hospitation in einer suchtmedizinischen Schwer- punkteinrichtung nachzuweisen. „Wir entwickeln unsere „In Berlin gibt es ein gutes interdisziplinäres Netzwerk von Weiterbildungen genau auf den aktuellen Bedarf hin“, er- Suchtexpert:innen“, sagt Andreas von Blanc aus der Abtei- klärt Manja Nehrkorn aus der Abteilung Fortbildung/Quali- lung Qualitätssicherung der Kassenärztlichen Vereinigung tätssicherung in der Ärztekammer Berlin. Dreimal im Jahr Berlin (KV Berlin). „Dieses hat sich über Jahrzehnte bewährt.“ treffen sich Berliner Ärzt:innen, die in der Suchtmedizin 10
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2021 arbeiten, im „Arbeitskreis Drogen und Sucht“ der Berliner Schwerpunktpraxen mit mehreren Ärzt:innen dagegen bis Ärztekammer und beschäftigen sich mit aktuellen sucht- zu 100 Patient:innen versorgen. Davon gibt es 39 in der Stadt, medizinischen und -politischen Fragen. Das Qualitätsma- die rund 50 Prozent der opioidabhängigen Menschen be- nagement der KV Berlin überwacht zudem mit Stichproben handeln. In zwei Berliner Schwerpunktpraxen werden sehr und Beratung der substituierenden Ärzt:innen die hohen schwer Abhängige mit Diamorphin therapiert (siehe Dia- Qualitätsanforderungen in der Hauptstadt. morphin-Substitution für Schwerstkranke, Seite 12). Doch so vielfältig die Beratungs- und Behandlungsmöglich- Hauptstadt versorgt Außenbezirke und Umland mit keiten in der Berliner Suchtmedizin und Drogenhilfe derzeit Im Gegensatz zu den Großstädten ist die Option einer wohn- auch sind, ist auch sie nicht gegen einen Nachwuchsmangel ortnahen Substitutionstherapie in den Flächenstaaten gefeit. „Die substituierenden Ärzt:innen altern mit ihren schwierig bis aussichtslos. „Wir versorgen mindestens 100 Patient:innen“, erklärt Andreas von Blanc von der KV Berlin. Kilometer Umland mit, Potsdam ausgenommen“, sagt Doris „Mehr als die Hälfte der 120 in der Substitution aktiven Berli- Höpner, Hausärztin und Suchtmedizinerin im Berliner Orts- ner Ärzt:innen sind über 60 Jahre alt, 35 von ihnen haben teil Wedding/Gesundbrunnen. „Und das nicht, weil wir bes- das 65. Lebensjahr hinter sich und zwei sind 80 Jahre alt. ser als Kolleg:innen aus Brandenburg sind, sondern weil es Da können Sie die Uhr stellen, wann es auch in Berlin mit dort keine entsprechenden Angebote gibt.“ So behandele dem Nachwuchs dünn wird.“ Denn, so der Sozialpädagoge, sie allein in ihrer Praxis 15 opioidabhängige Brandenbur- der in der KV Berlin Ansprechpartner sowohl für Ärzt:in- ger:innen, die zum Teil aus Prenzlau oder Frankfurt (Oder) nen als auch für potenzielle Patient:innen ist, die Zahl der anreisen. Auch in den Berliner Außenbezirken wie Marzahn, substituierten opioidabhängigen Patient:innen steige in Köpenick, Spandau, Lichtenrade und Hellersdorf sind Sub- Berlin seit Jahren kontinuierlich an. Kleine Berliner Praxen stitutionsärzt:innen rar, denn die Mediziner:innen bevor- mit einer Ärztin oder einem Arzt dürfen bis zu 50 Betroffene, zugen als Standort ihrer Praxen zentralere Bezirke. Rechtsgrundlagen der Substitutionstherapie Betäubungsmittel-Verschreibungs- Richtlinie der Bundesärztekammer Die Richtlinie erkennt deutlich an, verordnung (BtmVV) zur Durchführung der substituti- dass es sich bei der Opioidabhängig- Die Betäubungsmittel-Verschreibungs- onsgestützten Behandlung Opioid- keit um eine schwere chronische verordnung (BtmVV) regelt die Grund- abhängiger 4 Krankheit handelt, die in der Regel sätze zur Verschreibung und Abgabe Die BÄK-Richtlinie stellt „den allge- einer lebenslangen Behandlung be- von Betäubungsmitteln. Paragraph 5 mein anerkannten Stand der Erkennt- darf. Die Abstinenz von Opioiden ist gibt vor, mit welchen Maßnahmen nisse der medizinischen Wissenschaft eines von vielen Therapiezielen und und Zielen eine Therapie zur Opioid- insbesondere für die Therapieziele nicht mehr wie zuvor oberstes Gebot. substitution zu erfolgen hat. Dieser der substitutionsgestützten Behand- Entsprechend den neuen Vorgaben Paragraph ist 2017 vom Gesetzgeber lung Opioidabhängiger, die allgemei- von BÄK-Richtlinie und BtmVV hat novelliert worden, um Rechtssicher- nen Voraussetzungen für die Einlei- der Gemeinsame Bundesausschuss heit für substituierende Ärzt:innen zu tung und Fortführung einer Substi- (G-BA) 2018 den Leistungskatalog der schaffen und „die bislang durch § 16 tution sowie die Erstellung eines Thera- gesetzlichen Krankenversicherung erfolgte Strafbewehrung der Therapie- piekonzeptes gemäß § 5 Absatz 12 (GKV), nach denen opioidabhängige ziele in § 5 Absatz 1 (das Abstinenz- BtMVV fest. Letzteres umfasst ins- Menschen eine Substitutionstherapie ziel RU) aufzuheben“, wie es in der besondere die Auswahl des Substitu- erhalten können, angepasst. Begründung heißt. Mit der Novelle tionsmittels, die Bewertung und wurden Sachverhalte, die unmittel- Kontrolle des Therapieverlaufs, die bar ärztlich-therapeutische Bewer- Voraussetzungen für das Verschreiben tungen betreffen, aus dem § 5 des eines Substitutionsmittels zur eigen- 4 Richtlinie der Bundesärztekammer zur BtMVV in die „Richtlinie der Bundes- verantwortlichen Einnahme sowie Durchführung der substitutionsgestütz- ten Behandlung Opioidabhängiger. ärztekammer zur Durchführung der die Entscheidung über die Erforder- → www.bundesaerztekammer.de/ substitutionsgestützten Behandlung lichkeit einer Einbeziehung psycho- fileadmin/user_upload/downloads/ Opioidabhängiger“ übertragen. sozialer Betreuungsmaßnahmen“. pdf-Ordner/RL/Substitution.pdf 11
IM FOKUS Diamorphin-Substitution für Schwerstkranke In Deutschland werden opioidabhängige Menschen eben- Substitutionstherapie mit Diamorphin zu ermöglichen, sind falls mit Diamorphin, auch Diacetylmorphin (DCM) genannt, die positiven Ergebnisse der sogenannten Heroinstudie. Es behandelt. Diese Substanz ist halbsynthetisch hergestelltes handelt sich um ein bundesweites, 2008 abgeschlossenes Heroin und wird in der Substitutionstherapie bei schwerst- Modellprojekt, in dem eine Diamorphinbehandlung mit der kranken Betroffenen eingesetzt. Für die Behandlung müssen Methadonsubstitution verglichen wurde. „Das zentrale Er- die Patient:innen mindestens 23 Jahre alt und wenigstens gebnis […] zeigt eine statistisch signifikante Überlegenheit fünf Jahre opiatabhängig sein. Sie müssen zumindest ein- der Heroin- gegenüber der Methadonbehandlung [...]. In der mal für sechs Monate eine andere Substitutionstherapie Heroingruppe zeigte sich bei 80,0 % der Probanden eine inklusive Psychosoziale Betreuung ohne Erfolg hinter sich gesundheitliche Verbesserung, in der Vergleichsgruppe der gebracht haben und überwiegend intravenös konsumieren. Methadonbehandelten nur bei 74,0 %. Ein Rückgang des Nach Angaben des Substitutionsregisters 2021 werden ak- illegalen Drogenkonsums trat in der Heroingruppe bei 69,1 % tuell bundesweit etwas mehr als ein Prozent der Betroffe- der Probanden auf, in der Methadongruppe nur bei 55,2 %“, nen mit Diamorphin behandelt.5 In Berlin sind es 200 Kon- so in der Kurzfassung der Ergebnisse der Vergleichsstudie6. sument:innen. Die Diamorphin-Abgabe darf nur in einer Spezialambulanz erfolgen. Entsprechende Einrichtungen sind bundesweit in zwölf Großstädten vorhanden. In Berlin 5 Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Bericht bieten zwei Praxen eine diamorphingestützte Behandlung zum Substitutionsregister (Januar 2021). an: die Praxis Patrida in Berlin-Tegel sowie das Praxiskom- → www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bundesopium- binat Neubau in Berlin-Lichtenberg. stelle/SubstitReg/Subst_Bericht2021.pdf 6 Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg: Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiat- Grundlage für die Entscheidung des Bundestages im Jahre abhängiger. Ergebnisse der Vergleichsstudie (Kurzfassung), 2006. 2009, schwerstkranken opioidabhängigen Menschen eine → www.heroinstudie.de/Ergebnisse_Kurzform.pdf Im Praxiskombinat Neubau werden Schwerstkranke auch mit Patient:innen dürfen das Diamorphin nur vor Ort und unter ärzt- Diamorphin substituiert. licher Aufsicht intravenös injizieren. 12
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2021 13
IM FOKUS Die Verabreichung des oralen Substituts ist nur ein Baustein der Therapie. Der Suchtmediziner Dr. med. Hans-Tilmann Kinkel und der Arzt in Weiterbildung Niklas Gerhards sprechen mit dem Patienten. Ein großes Problem in Berlin ist der Mangel an Psychia- Psychiaterin Beate Münchow gesprächstherapeutisch und ter:innen in der Substitution: „Da besteht ein echter Eng- medikamentös mitbehandelt. „Er erhält fünf Milligramm pass“, meint Dr. med. Beate Münchow, selbst Fachärztin Diazepam zur Nacht, um seinen Albträumen und Schlaf- für Psychiatrie und Psychotherapie im Praxiskombinat Neu- störungen entgegenzuwirken“, so Kinkel. bau. „In einer klassischen psychiatrischen Praxis sind opi- oidabhängige Menschen nicht so erwünscht. Sie halten Liberalisierte BtmVV schafft juristische Sicherheit nicht zuverlässig ihre Termine ein und fallen im Wartezimmer Wie kommt es, dass die Substitutionsärzt:innen in Berlin auf.“ Doch gerade diese Patient:innen benötigen neben weniger werden? „Für viele Ärzt:innen hat die Substitu- der Substitutionstherapie eine „normale“ hausärztliche, tionsmedizin noch den Nimbus einer ,Dirty Medicine‘“, eine infektionsmedizinische und psychiatrische Betreuung. erklärt Andreas von Blanc von der KV Berlin. „Sie haben Denn mehr als die Hälfte aller suchterkrankten Menschen Berührungsängste mit den Betroffenen und meinen außer- leidet zusätzlich an somatischen und psychischen Erkran- dem, sich auf juristisch unsicherem Terrain zu bewegen.“ kungen wie zum Beispiel Hepatitis C, HIV, Lungenkrank- Doch das ist nicht der Fall. So ist im Jahr 2017 insbesondere heiten und weiteren Abhängigkeiten.7 Häufige psychische § 5 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung Beeinträchtigungen sind Depressionen, Angst-, Persönlich- (BtmVV) vom Gesetzgeber überarbeitet worden, um die keits- und posttraumatische Belastungsstörungen sowie Verordnung den aktuellen Erkenntnissen der Suchtmedizin die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung anzupassen. So wurde zum Beispiel die „Take-Home-Ver- des Erwachsenenalters. Hinzu kommen alle weiteren kar- ordnung“ erweitert und den substituierenden Ärzt:innen diovaskulären, orthopädischen, neurologischen und on- damit deutlich mehr Spielraum gegeben, die Behandlung kologischen Krankheiten älterer Menschen. Der Leidens- individuell auf die Bedürfnisse und die Situation der Pa- druck für Betroffene und Angehörige ist enorm, die Heraus- tient:innen anzupassen (siehe Rechtsgrundlagen der forderungen bei dem komplexen Therapiemanagement sind hoch. „Wir behandeln die meisten unserer Patient:in- nen interdisziplinär“, erklärt Hans-Tilmann Kinkel, der vor gut zehn Jahren das erste Methadonprogramm in Afgha- 7 Scherbaum, N.; Specka, M.: Komorbide psychische Störungen bei nistan mit aufgebaut hat. Der Syrer Adil S. wird von der Opiatabhängigen. In: Suchttherapie 15(01): 22–28 14
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2021 Substitutionstherapie, Seite 11). Möglichen Bedenken ge- genüber „schwierigen“ Patient:innen begegnen subsituie- rende Ärzt:innen, indem sie über ihre lebendige, berei- chernde und befriedigende Arbeit mit opioidabhängigen Menschen berichten. „Es ist eine sehr direkte Medizin“, sagt der Arzt Norbert E. Lyonn aus Kreuzberg. Es sei ein besonderes Erlebnis, diesen Menschen ihre Last zu nehmen und zu sehen, wie sie sich Stück für Stück weiterentwickeln. Die Substitutionsmedizin erweist sich als eine sehr zufrie- denstellende, interessante, komplexe, aber auch heraus- fordernde ärztliche Tätigkeit. Die Behandlung, in der jede Leistung extrabudgetär bezahlt wird, ist nicht allein damit getan, den Patient:innen die Dosis des Substituts zu ver- abreichen. Die Opiatabhängigkeit ist eine vielschichtige Er- krankung; die behandelnden Ärzt:innen müssen die Lebens- geschichte und Umstände der Betroffenen genau kennen, um die unterschiedlichen Auslöser der Sucht auszumachen. Es geht darum, bei Patient:innen Vertrauen herzustellen. „Das erfordert Zeit und Nachdenken“, bestätigt der Substi- tutionsarzt Kinkel. „Jeder Fall ist eine Herausforderung für sich.“ Man begleite den Menschen durch Höhen und Tiefen. Dabei entstehe eine große Nähe zu den Patient:innen und eine emotionale Intensität. Zudem zeige die Substitutions- therapie viele positive Verläufe, und das in recht kurzer Zeit. „Mithilfe oraler Substitution erreichen 60 bis 80 Prozent der Betroffenen nach einem Jahr ihre ersten Therapieziele, die individuell sehr unterschiedlich sind“, erklärt Kinkel. Es sind Die beiden Ärzte prüfen die Wundheilung an Einstichstellen. meist kleine Teilerfolge, angefangen damit, überhaupt be- Beikonsum sollte zwar vermieden werden, ist aber ein häufiges reit zu sein, auch nur ein fünfminütiges Gespräch zu führen Thema, über das offen gesprochen wird. oder eine Wohnung zu finden, bis dahin, den Beigebrauch von Drogen zu reduzieren oder gar zu beenden. Im Falle des syrischen Patienten Adil S. ist das erste Therapieziel, die Kontrolle über seine Sucht zu gewinnen. Dann fängt er an, Bedürfnisse abgestimmte interdisziplinäre Therapie zu das Rauchen von Heroin zu reduzieren. bieten. Eine tragende Säule neben der medikamentösen Behandlung ist die Psychosoziale Betreuung (PSB) durch Sucht ist eine körperliche und psychosoziale Erkrankung geschulte Sozialarbeiter:innen. Eine Besonderheit in Berlin: „Die Behandlung von Menschen mit einer substanzbezoge- Jede:r substituierte Patient:in hat das Anrecht auf eine der nen Störung muss immer den ganzen Menschen verstehen individuellen Situation angemessene Anzahl von PSB- und fordert den ganzen Menschen als Ärzt:in“, sagt Michael Stunden die Woche in einer von der Senatsverwaltung für Janßen. Die ärztliche Aufgabe beinhalte nicht allein die Be- Gesundheit anerkannten Drogenhilfeeinrichtung. Die Psycho- handlung einer Opioidabhängigkeit, sondern aller substanz- soziale Betreuung bietet Hilfen, um soziale, psychische und bezogenen Störungen, betont der Allgemeinmediziner mit somatische Probleme zu bewältigen, aber auch Krisen- Hausarztpraxis in Berlin-Neukölln. „Die Opioidabhängigkeit interventionen, Rückfallprophylaxe und lebenspraktische ist eine chronische Erkrankung und keine Charakterschwä- Unterstützung im Alltag. Dazu gehört die Unterstützung che.“ Nach aktuellem Stand des Diskurses tritt das biome- bei der Wohnsituation, juristischen Fragen, Schule, Aus- chanistische Modell, nach der die Suchterkrankung allein bildung oder Arbeitssuche. Die Psychosoziale Betreuung auf gestörten neuronalen Mechanismen im Gehirn beruht, ist mitentscheidend dafür, dass Betroffene Verhaltens- zurück. Expert:innen gehen heute davon aus, dass es sich änderungen aufrechterhalten. um eine körperliche und vor allem psychosoziale Störung handelt. Sie erfordert die Kooperation mit Fachärzt:innen Um die Opioidabhängigkeit wirkungsvoll zu durchbrechen, anderer Disziplinen und mit Angeboten der Drogenhilfe, ist eine unbefristete Substitutionstherapie der Goldstan- um den Patient:innen eine auf die Lebensumstände und dard. Dabei legt die Gabe von Methadon, Levomethadon, 15
IM FOKUS Morphin oder Buprenorphin einen Grundstein. Die medi- Ganz im Gegenteil: „Durch viele Gespräche mit Suchthilfe- kamentöse Behandlung mit diesen Substitutionsarzneien einrichtungen oder Beratungsstellen habe ich erfahren, ist die Basis für den Erfolg. So zeigen die Ergebnisse der dass insbesondere heroinabhängige Menschen durch bundesweiten und repräsentativen klinischen PREMOS- die Pandemie erstmalig mit der Substitution begonnen Studie8, in der mehr als 2.600 Patient:innen in 223 Einrich- haben“, sagt die Bundesdrogenbeauftragte Daniela Ludwig. tungen fünf Jahre lang begleitet wurden, dass eine auf Der Markt habe sich allerdings schnell auf „online“ ein- Dauer angelegte Substitutionsbehandlung sowohl wirksam gestellt und die Menschen, die bereits vorher konsumiert als auch sicher ist. Bei der Mehrzahl der Patient:innen über- hätten, hätten während der Pandemie tendenziell mehr wiegen – trotz meist chronischer gesundheitlicher Proble- konsumiert. Denn die soziale Isolation hat opioidabhängige me und schlechter psychosozialer Ausgangssituation – Menschen in der Corona-Pandemie stärker getroffen als Haltequote, Überleben, Reduktion von Drogenkonsum andere Menschen. Auch ihr Beikonsum von Drogen, auch und körperlicher Morbidität sowie gesellschaftliche Teil- Alkohol und Sedativa, ist in dieser Zeit angestiegen. habe wie etwa Berufstätigkeit oder berufsqualifizierende Maßnahmen. Einen Beweis dafür, dass die Substitutions- Folgen einer mangelnden ärztlichen Versorgung therapie bei opioidabhängigen Menschen die Behandlung Doch trotz der Erfolge der Substitutionstherapie und einer der ersten Wahl ist, hat sich auch während der Corona- insgesamt gut aufgestellten Substitutionsmedizin in Berlin, Pandemie gezeigt. Es ist weder zu Engpässen in den Berliner kann eine Lücke unter den substituierenden Ärzt:innen die Arztpraxen noch zu „Notsubstitutionen“ gekommen, weil Situation merklich ändern, auch in der Hauptstadt. Drogen- die Versorgung mit Straßenheroin zusammengebrochen ist. szene und Schwarzmarkt würden anwachsen, die Zahl der Drogentoten zunehmen. Das Risiko von drogenabhängigen Menschen zu sterben, ist fünf- bis zehnmal so hoch wie in der gleichaltrigen „Normalbevölkerung“. Allein im Jahr 2019 bezahlten bundesweit knapp 1.400 Betroffene den Konsum illegaler Drogen mit ihrem Leben, bei fast der Hälfte von ihnen waren Opioidvergiftungen die Ursache. Das geht aus dem aktuellen Bericht der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) hervor.9 Damit sind laut Bundeskriminalamt (BKA) die Todesfälle im Vergleich zum Vorjahr um knapp zehn Prozent gestiegen.10 Allein in Berlin sind 2019 insgesamt 215, ein Jahr darauf 216 Menschen an den Folgen der Drogeneinnahme gestorben. Dazu kommt: Diese Zahlen stehen nicht nur für unendliches Leid der Be- troffenen und Angehörigen, sondern auch für enorme Kosten für die Gesellschaft. Im Gesundheitssystem schlagen jahre- lange stationäre und ambulante Behandlungen, Arztkosten, Medikamente sowie Krankengeld, Hilfs- und Heilmittel und andere medizinische Leistungen direkt zu Buche. In- direkt sorgen Obdachlosigkeit, Beschaffungskriminalität, Haft und Ausfälle wie etwa durch Arbeitsunfähigkeit, Schul- und Ausbildungsabbruch oder soziale Defizite für zusätzliche hohe Folgekosten. Auch Rezidive durch Therapieabbruch können eine Folge der mangelnden ärztlichen Versorgung 8 PREMOS: Langfristige Substitution Opiatabhängiger, 2011. → www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/ ressortforschung/drogen-und-sucht/verbesserung-von-be- ratung-behandlung-und-therapie/premos-langfristige-substi- tution-opiatabhaengiger.html 9 Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD): Reitox-Bericht 2020. → www.dbdd.de Ist die richtige Dosis gefunden, kann die Ausgabe des Substituts 10 Anzahl der Drogentoten in Deutschland in den Jahren von 2000 bis 2020. zur unmittelbaren Einnahme auch an dafür ausgebildetes medizi- → de.statista.com/statistik/daten/studie/403/umfrage/todesfael- nisches Personal delegiert werden. le-durch-den-konsum-illegaler-drogen 16
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2021 Unter bestimmten Voraussetzungen erhalten Patient:innen ein „Take-Home-Rezept“. Dieses erlaubt ihnen, das Substitutionsmittel für 1 bis 7 Tage (in Einzelfällen auch länger) zu Hause einzunehmen. sein. „Das wird in Berlin derzeit nicht passieren. Ich finde Adil S. hat Vertrauen gefasst. Seit nunmehr drei Jahren sofort Ersatz“, meint zwar Andreas von Blanc von der KV fährt er jeden Tag von Berlin-Spandau nach Lichtenberg Berlin. „Wenn allerdings drei Schwerpunktpraxen aufhören und zurück. „Das ist ein Lebensinhalt“, sagt sein behan- würden, wird es auch in der Hauptstadt eng.“ delnder Arzt Hans-Tilmann Kinkel. Irgendwann habe sein Patient angefangen, weniger Heroin zu rauchen. Er sei noch Um einer Mangelversorgung vorzubeugen und die interes- nicht stabil abstinent, aber jede zweite seiner Speichelkon- santen Seiten der Suchtmedizin aufzuzeigen, ist es nach trollen zeige keine Spuren von Beigebrauch mehr. Der syri- Ansicht der Expert:innen neben der gezielten Ansprache sche Ingenieur pflegt inzwischen stundenweise den Garten von Ärzt:innen sinnvoll, Nachwuchsmediziner:innen be- einer wohlhabenden älteren Dame in Spandau. „Er hat ein reits im Studium mit dem Fach bekannt zu machen. „Wenn kleines Einkommen, entwickelt Selbstwert und wird ge- jungen Menschen die Suchtmedizin früh nahegebracht schätzt“, so Kinkel. Adil S. hat mithilfe der Substitutions- wird, habe ich gleich zwei Ziele erreicht“, erklärt die Bundes- therapie den Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben drogenbeauftragte: „Erstens mehr Interessierte für die gefunden. ∕ Versorgung und Behandlung suchtkranker Menschen und zweitens die Akzeptanz für Sucht als Krankheit.“ Der junge Arzt Niklas Gerhards, der das erste Jahr seiner Weiterbil- dung zum Facharzt für Innere Medizin in der auf Substitu- tionstherapie spezialisierten Schwerpunktpraxis Praxis- kombinat Neubau absolviert, sagt: „Ich habe im Studium immer nach einem Bereich gesucht, in dem man den Men- schen als Ganzes betrachtet.“ Da ihn auch die internisti- sche Diagnostik sehr interessiere, sei er schnell auf die Suchtmedizin gekommen. Sein langfristiger Plan sei, in Ute Wegner der Suchtmedizin zu arbeiten. „Es bereitet mir Freude, Freie Medizin- und Menschen so anzunehmen, wie sie sind“, meint er, „und Wissenschaftsjournalistin Vertrauen aufzubauen.“ Foto: Anna Rozkosny 17
AUS DER KAMMER Abschließende Entscheidungen zur Neufassung der Weiterbildungs- ordnung Bericht von der Delegiertenversammlung am 16. Juni 2021 Nicht nur die Frage, ob die Zusatzweiterbildung Homöopathie in der neuen Weiterbildungsordnung verbleiben soll, bot den Delegierten viele Gründe zur intensiven Diskussion. Ebenso rege diskutierte die Versammlung Entschließungs- anträge zu den Themen sexualisierte Gewalt im Gesundheitswesen oder Klima- wandel und Gesundheit sowie das Verfahren zur Gewinnung dringend benötigter Prüfer:innen. Bereits um 19 Uhr kamen die Delegierten diesmal zur hybri- Eine Neuausrichtung der Gremienarbeit werde durch den Versammlung zusammen. Aufgrund der umfangreichen den Vorstand angestrebt, teilte Bobbert weiterhin mit. Tagesordnung hatte man sich dazu entschieden, eine Stunde Die Besetzung der Gremien sollte zukünftig die Zusam- früher als sonst zu beginnen. In seiner Eröffnung betonte mensetzung der Mitgliedschaft spiegeln. Um dieses Ziel in der Präsident der Ärztekammer Berlin PD Dr. med. Peter zweieinhalb Jahren zu den dann anstehenden Wahlen zu Bobbert (Marburger Bund), wie sehr er sich wünschte, dies erreichen, lade Bobbert bereits jetzt die Listenspre- sei die letzte virtuelle Sitzung. Nach der Sommerpause cher:innen zum gemeinsamen Gespräch ein. würde zumindest die nächste Delegiertenversammlung am 22. September nach derzeitiger Planung wieder in Präsenz im Der Vorstand wolle bei der nächsten Kammerwahl die Langenbeck-Virchow-Haus stattfinden. Wahlbeteiligung erhöhen, informierte Bobbert weiter. Daher werde man prüfen, ob zukünftig neben der Briefwahl Vor dem Einstieg in die Tagesordnung (TO) beglückwünschte auch eine digitale Wahl möglich sei. In einem ersten Schritt er Miriam Vosloo (Hartmannbund Plus) zu ihrer einstimmigen würden die technischen wie juristischen Voraussetzungen Wahl zur Vorsitzenden des Hartmannbundes Landesver- geklärt. Zur Umsetzung müsste jedoch die Wahlordnung band Berlin. Er kündigte weiterhin an, dass der 125. Deut- geändert werden. Das solle auf der Delegiertenversamm- sche Ärztetag am 1. und 2. November 2021 im Berliner Estrel lung im Dezember vorgeschlagen und debattiert werden. Hotel stattfinden wird. Derzeit werde von einem hybriden Ärztetag ausgegangen, bei dem möglichst viele Teilnehmen- Dringende Themen und kontroverse Diskussionen de vor Ort sein sollten – so es die pandemischen Umstände Es folgte eine Debatte über den von den Delegierten Dr. med. im Herbst zulassen. Katharina Thiede (FrAktion Gesundheit) und Julian Veelken (FrAktion Gesundheit) eingebrachten Entschließungsantrag Bei den Mitteilungen des Vorstandes wies Bobbert darauf „Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt im Gesundheits- hin, dass die kommende Delegiertenversammlung im wesen strukturiert entgegentreten“. Zuvor leitete Thiede September wegen der anstehenden Wahl zum 19. Berliner die Entstehung des Papiers kurz her. Der Impuls sei aus Abgeordnetenhaus einen Schwerpunkt haben sollte: Welche der #MeToo-Debatte entstanden, die seit Mitte Oktober 2017 gesundheitspolitischen Erwartungen und Forderungen im Zuge des Skandals um den amerikanischen Filmprodu- stellt die Berliner Ärzt:innenschaft an die neue Berliner zenten Harvey Weinstein läuft. Thiede sagte: „Ärzt:innen Regierung? Zudem informierte Bobbert die Delegierten sind an ihrem Arbeitsplatz leider besonders häufig mit sexua- darüber, dass der Reservetermin am 8. Dezember 2021 für lisierter Diskriminierung und Gewalt konfrontiert – aufgrund eine weitere Delegiertenversammlung genutzt wird. Schwer- der oftmals hierarchischen Strukturen oder der zwangs- punktthema dieser Sitzung werde die Diskussion um eine läufigen Nähe zwischen Kolleg:innen, vor allem in operati- neue Satzung und Geschäftsordnung sein. ven und interventionellen Fächern.“ Es sei ein verbreitetes 18
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2021 „Ärzt:innen sind an zu sexueller Belästigung begründet. Laut Vorstand habe es damals auf dem Ärztetag jedoch keine offizielle Begründung ihrem Arbeitsplatz zur Nichtbefassung gegeben. Nach kurzer Diskussion einigte man sich darauf, den Halbsatz zur Begründung aus dem leider besonders häufig Entschließungsantrag von Thiede und Veelken zu streichen. Dr. med. Eva Müller-Dannecker (FrAktion Gesundheit) be- mit sexualisierter Dis- grüßte den zügigen Kompromiss. In der anschließenden Ab- stimmung beschlossen die Delegierten den Entschließungs- kriminierung und Gewalt antrag mit klarer Mehrheit. konfrontiert – aufgrund Eine Einigung gelang bei dem von der FrAktion Gesundheit eingebrachten Entschließungsantrag „Einrichtung eines der oftmals hierarchi- Ausschusses ‚Klimawandel und Gesundheit‘“ vorerst nicht: Demzufolge bittet die Delegiertenversammlung den Vorstand schen Strukturen oder zunächst, einen Arbeitskreis einzurichten. Dabei wurde jedoch die Notwendigkeit betont, dass aus dem Arbeits- der zwangsläufigen Nähe kreis in der nächsten Amtsperiode ein Ausschuss hervor- gehen solle. Mit breiter Mehrheit nahm die Delegierten- zwischen Kolleg:innen, versammlung den Entschließungsantrag an. vor allem in operativen Ein dritter von der FrAktion Gesundheit eingebrachter Ent- schließungsantrag zur „Divestment-Strategie der Berliner und interventionellen Ärzteversorgung“ wurde kontrovers diskutiert. Dabei ging es um die Frage, ob die Berliner Ärzteversorgung Kapital Fächern.“ aus Industrien der fossilen Energiebranche abziehen und in klimafreundliche Anlagen investieren soll. Einigen Dele- gierten leuchtete nicht ein, warum dies in der Delegierten- Dr. med. Katharina Thiede versammlung diskutiert werden sollte. Dafür sei vor einigen Jahren die regelmäßig tagende Vertreterversammlung der Berliner Ärzteversorgung einberufen worden. Letzt- lich lehnten die Delegierten den Entschließungsantrag ab. Phänomen, das Kolleg:innen, aber auch Patient:innen be- Gleichwohl wurde zugesichert, dass der zu gründende Ar- trifft. Daher müssten die Ärztekammer Berlin und weitere beitskreis der Ärztekammer Berlin sich mit der Thematik Einrichtungen des Gesundheitswesens diesem Missstand befassen werde. nun dringend mit Coachings und klaren Regelungen be- gegnen. Zu diesem Zweck sei das vorliegende Papier ein- Umstrittenes Verfahren zur Wahl der Prüfer:innen gebracht worden. Unter dem TOP V wurde anschließend die Wahl der Prü- ferinnen und Prüfer für die Prüfungen nach der Weiter- Im Anschluss erörterten Bobbert und Veelken, in welcher bildungsordnung der Ärztekammer Berlin debattiert. Zusammensetzung der im Papier erwähnte Ethikkodex PD Dr. med. Uwe Torsten (Hartmannbund Plus) fragte, ob erarbeitet werden sollte. Veelken sagte, man hätte sich die Personen auf den Listen, die zur Wahl als Prüferinnen nicht festlegen wollen. So könnte eine interfraktionelle und Prüfer ständen, zuvor darüber informiert worden Arbeitsgemeinschaft zu diesem Zweck gegründet werden, seien? Dr. med. Antje Koch, Leiterin der Abteilung Weiter- um einen möglichst breiten Konsens zu finden. Generell bildung / Ärztliche Berufsausübung der Ärztekammer Berlin, sei man jedoch offen hinsichtlich Art, Größe und Zusam- antwortete, dass tatsächlich nicht alle 124 Personen zuvor mensetzung der Arbeitsgruppe. angefragt worden seien, da dies ein sehr aufwendiges Ver- fahren sei. Die gewählten Prüfer:innen würden über ihre Bobbert nahm anschließend den Änderungsantrag des Vor- Wahl benachrichtigt und könnten dieser zustimmen oder standes zu dem Papier auf. In dem Entschließungsantrag sie ablehnen. Dieses Verfahren habe sich bewährt. So von Thiede und Veelken wird die Nichtbefassung des Deut- hätte man viele dringend benötigte Prüfer:innen gewin- schen Ärztetages im Jahr 2018 mit einem seinerzeit von Ber- nen können. Dr. med. Christine Wessel (NAV-Virchow- liner Abgeordneten eingebrachten Entschließungsantrag Bund – Haus- und Fachärzte gemeinsam!) konstatierte, 19
AUS DER KAMMER dass dies in ihren Augen ein fragwürdiges Verfahren sei, Zu den Themen Allergologie und Homöopathie gaben Leute zu wählen, die gar nicht wissen, dass sie gewählt wer- Prof. Dr. med. Margitta Worm, Leiterin der Hochschul- den. Weitere Delegierte schlossen sich in ihren Wortbei- ambulanz und Lehrkoordinatorin der Klinik für Derma- trägen dieser Einschätzung an. tologie, Venerologie und Allergologie an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, sowie Dr. med. Ursula Dohms, Die Delegierten Dr. med. Klaus Thierse (Marburger Bund) Erste Vorsitzende des Berliner Vereins Homöopathischer und Dr. med. Kai Sostmann (Marburger Bund) verteidigten Ärzte (BVhÄ), kurze Stellungnahmen ab. das übliche Verfahren als effektiv. Sostmann ergänzte, es vereinfache die Wahlen und Prüfer:innen würden drin- Worm wies darauf hin, dass es in Deutschland sehr unein- gend gesucht. Weiterhin sei sein Eindruck, dass sich ein heitliche Regelungen zur Allergologie gebe. Wichtig sei es, Großteil der gewählten Kolleg:innen geehrt fühlen würde. dass Allergolog:innen ihren Patient:innen exzellente Be- Nach der kontroversen Debatte zum Verfahren wurden treuung auf hohem Niveau bieten können. Dohms warb in letztlich dennoch alle Vorschläge zum TOP V mehrheitlich ihrer Stellungnahme um Toleranz gegenüber der Homöo- angenommen. pathie. Der Bedarf der Patient:innen sei ungebrochen hoch. Es ginge heute in der Abstimmung darum, Patientensicher- Unter TOP VI beschloss die Delegiertenversammlung nach heit zu schaffen. Die qualitative Weiterbildung der Homöo- Diskussion eine Änderung der Hauptsatzung. Sie sieht pathie müsse in ärztlicher Hand bleiben. unter anderem vor, dass die Delegierten Beschlüsse auch weiterhin mittels elektronischer Kommunikationsmittel Hinsichtlich der Allergologie diskutierten die Delegierten fassen können. Im Anschluss beriet sich die Versammlung anschließend vor allem, ob das stationäre Pflichtjahr bei- zur neuen Weiterbildungsordnung. behalten werden soll. So berichtete Dr. med. Laura Schaad (Marburger Bund) eindringlich von ihren Erfahrungen damit Zusatzweiterbildung Homöopathie aus der Weiter- und plädierte für eine berufsbegleitende Zusatzweiterbil- bildungsordnung gestrichen dung. Letztlich entschied sich die Delegiertenversammlung Einleitend informierte der Präsident die Versammlung, mit deutlicher Mehrheit gegen ein Pflichtjahr und für die dass der Entwurf zur Neufassung der Weiterbildungsord- berufsbegleitende Zusatzweiterbildung in Allergologie. nung (WBO) der Ärztekammer Berlin an diesem Abend aufgrund der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie der EU noch nicht beschlossen werden würde. Dies würde erst in der Delegiertenversammlung im September geschehen. Die laufende Delegiertenversammlung solle über drei Emp- „Wir haben in Berlin das fehlungen des Vorstandes zur neuen Weiterbildungsord- nung entscheiden: 1. Die Formulierung „und somathera- Problem, dass wir aus peutische“ im Abschnitt zum Facharzt Psychosomatische Medizin und Psychotherapie zu ergänzen. 2. Die Zusatz- formaljuristischen Grün- bezeichnung Homöopathie weiterhin als Bestandteil der Weiterbildungsordnung beizubehalten. 3. Den Erwerb der den gezwungen sind, Zusatzbezeichnung Allergologie entsprechend der (Muster-) Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer berufs- Fortbildungen zu zerti- begleitend zu ermöglichen. fizieren, die wir so nach In einem kurzen Vortrag bekräftigte Thierse, Vorsitzender des Gemeinsamen Weiterbildungsausschusses der Ärzte- unseren Kriterien der kammer Berlin, die Ziele der ersten Änderung der WBO seit 17 Jahren. Man wollte die WBO mit der Neufassung evidenzbasierten Medizin verschlanken und insbesondere solle diese auf Kompe- tenz basieren und nicht auf Zeiten und Zahlen. Statt auf und den Vorgaben unserer Pflichtzeiten würde nun zukünftig mehr auf die Vermitt- lung von Kompetenzen gesetzt. Zudem unterstrich er, Fortbildungsordnung nie dass es zukünftig juristische Folgen für die Weiterbildungs- befugten haben werde, wenn ehemaligen Weiterbildungs- akzeptieren würden.“ assistent:innen kurze Zeit nach Erhalt der Bescheinigung grobe Fehler unterliefen. Dr. med. Matthias Brockstedt 20
BERLINER ÄRZT:INNEN AUSGABE 08 / 2021 Insbesondere die Homöopathie wurde in der Folge inten- siv wie kontrovers diskutiert. Der Vorsitzende des Fort- bildungsausschusses der Ärztekammer Berlin, Dr. med. Matthias Brockstedt (FrAktion Gesundheit) plädierte lei- denschaftlich für eine Streichung der Zusatzbezeichnung Homöopathie aus der WBO. „Wir haben in Berlin das Prob- lem, dass wir aus formaljuristischen Gründen gezwungen sind, Fortbildungen zu zertifizieren, die wir so nach unse- ren Kriterien der evidenzbasierten Medizin und den Vor- gaben unserer Fortbildungsordnung nie akzeptieren wür- den “, sagte er. Später ergänzte Thierse: „Wir zertifizieren praktisch durch die Prüfung eine Therapiemethode, von der wir selbst sagen, dass ihr die Evidenz fehlt.“ Man könne sich ausrechnen, was mit der Homöopathie in der Diesmal kamen die Delegierten in hybrider Form zusammen: mit nächsten Musterweiterbildungsordnung beim Deutschen begrenzter Teilnahmezahl vor Ort und parallel online. Ärztetag passieren werde, wo bereits zwei Drittel der Bild: Ärztekammer Berlin Kammern sie abgeschafft hätten, so Thierse weiter. Vizepräsident Dr. med. Matthias Blöchle (Allianz Berliner Ärzte – MEDI Berlin) plädierte hingegen für Toleranz: Man werden. Da dies bei rund 20 Prozent der Anträge der Fall solle die Kolleg:innen nicht wegstoßen. Veelken ergänzte, sei, sei dies bedauerlicherweise notwendig, hieß es. Ein dass Patient:innen die Zuwendung durch die Ärzt:innen in Beschluss hierzu soll in der nächsten Delegiertenversamm- der Schulmedizin vermissen würden: „Wir werden den Be- lung folgen. dürfnissen der Patienten nicht gerecht“, sagte er. Man solle die Zusatzbezeichnung Homöopathie in der WBO belassen Weiter ging es dann mit der Wahl von Abgeordneten und in den nächsten Jahren eine harte Diskussion mit den sowie deren Vertreter:innen zum 125. Deutschen Ärzte- Homöopath:innen führen. Die Kontroverse spiegelte sich tag am 1. und 2. November 2021 in Berlin. Abschließend dann auch im Abstimmungsverhalten wider: 16 Delegierte wurde die Resolution „Krankenversorgung ist ein Men- stimmten für eine Zusatzweiterbildung Homöopathie, 22 schenrecht“ von der Delegiertenversammlung beschlossen. stimmten dagegen, bei einer Enthaltung. Darin fordert die Ärztekammer Berlin, dass für die geschätzt aktuell mehreren zehntausend in Berlin lebenden Menschen Resolution „Krankenversorgung ist ein Menschen- ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz die Ver- recht“ beschlossen mittlung des Krankenversicherungsschutzes intensiviert, Als letzter Punkt des TOPs wurde die Ergänzung der Formu- die Kapazitäten und Kompetenzen der Sozialämter gestärkt lierung „und somatherapeutische“ im Abschnitt zum Fach- und eine Handlungssicherheit für alle Beteiligten geschaffen arzt Psychosomatische Medizin und Psychotherapie dis- werden. kutiert. Dr. med. Christian Messer (Allianz Berliner Ärzte – MEDI Berlin) leitete mit einem kurzen Vortrag zum Für und Die nächste Delegiertenversammlung findet am 22. Sep- Wider der Ergänzung in die Diskussion ein. Die Mehrheit tember 2021 statt. ∕ stimmte für die Ergänzung der Formulierung, die in der bundesdeutschen Kammerlandschaft einzigartig ist. In einem Wortbeitrag von Prof. Dr. med. Wulf Pankow (FrAktion Gesundheit) betonte dieser, dass er stolz auf die Ergänzung des Facharztes Infektiologie in die Neufassung der WBO sei. Damit sei Berlin als erstes Bundesland mutig vorangeschritten. Einen umfänglichen Bericht zur Neu- fassung der WBO wird es in der Oktoberausgabe der „Berliner Ärzt:innen“ geben. Ole Eggert Stabsstelle Gesundheits- Anschließend diskutierten die Delegierten das Vorhaben, politik / Presse- und eine Verwaltungsgebühr zu erheben, wenn Anträge zur An- Öffentlichkeitsarbeit erkennung von Weiterbildungskursen verspätet eingereicht Foto: privat 21
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