Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...

 
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Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
Berliner

                             MITGLIEDERZEITSCHRIFT
                             ÄRZTEKAMMER BERLIN
                             AUSGABE 08 / 2021
Ärzt:innen

Perspektive Substitution –
Weshalb die Suchtmedizin
Nachwuchs sucht
Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
BERLINER ÄRZT:INNEN
 EDITORIAL                                                                                      AUSGABE 08 / 2021 

                                  Sehr geehrte
                                  Kolleginnen und Kollegen,
                                  der 124. Deutsche Ärztetag hat im Mai dieses Jahres wegen der Corona-Pandemie
                                  virtuell stattgefunden. Durch die Wahl von Dr. med. Peter Bobbert zum Präsidenten
Dr. med. Regine Held              der Ärztekammer Berlin im Februar 2021 war ein Platz im Vorstand der Bundes-
ist niedergelassene HNO-Ärztin,   ärztekammer vakant geworden. Die Nachwahl fand im schriftlichen Umlaufver-
ehemalige Vizepräsidentin
                                  fahren per Briefwahl statt.
der Ärztekammer Berlin und
Vorstandsmitglied der Bundes-
ärztekammer.                      Für die Wahl kandidierten Dr. med. Andreas Botzlar vom Marburger Bund, Dr. med.
Foto: Kathleen Friedrich          Robin Maitra als hausärztlich tätiger Internist und ich als HNO-Ärztin in eigener
                                  Praxis für die niedergelassenen und ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte. Nach-
                                  dem im ersten Wahlgang keiner die Mehrheit erreichen konnte, zog Robin Maitra
                                  seine Kandidatur zurück. Mit 112 von 223 gültigen Stimmen konnte ich mich letzt-
                                  lich im zweiten Wahlgang gegen den verbliebenen Mitbewerber durchsetzen.

                                  Beworben hatte ich mich mit meinem bisherigen berufspolitischen Werdegang
                                  und mit drei Themen, die mir besonders am Herzen liegen. Das ist erstens: der
                                  Erhalt der Freiberuflichkeit. Dazu gehört für mich auch eine neue Gebührenord-
                                  nung. Das ist zweitens: die voranschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen.
                                  Wir als Ärzteschaft müssen diese kritisch, aber auch konstruktiv begleiten. Und
                                  das ist drittens: die sektorenverbindende Gesundheitsversorgung. Die Gräben zwi-
                                  schen Klinik und Ambulanz müssen wir dringend und nachhaltig überwinden.

                                  Mit meiner Bewerbung habe ich aber auch in besonderer Weise das wichtige Thema
                                  der Parität von Ärztinnen und Ärzten in allen berufspolitischen Gremien in den
                                  Fokus gerückt. Es müssen die nötigen Voraussetzungen für die Attraktivität des
                                  Berufes sowie für den Nachwuchs in der Gesundheitspolitik geschaffen werden.
                                  Das sind familienfreundliche Arbeitsbedingungen, eine strukturierte Weiterbildung,
                                  auch in Teilzeit, und eine digitale Gestaltung von Sitzungen jeglicher Art mit Hilfe
                                  neuer Technologien.

                                  Hausärztinnen und Hausärzte haben eine herausragende Rolle in unserer Gesund-
                                  heitsversorgung. Nicht zuletzt werbe ich um die Wertschätzung der Medizinischen
                                  Fachangestellten in unseren Praxen – insbesondere in der momentanen Zeit der
                                  personal- und zeitintensiven Corona-Impfkampagne.

                                  Mit dem Einzug in den Vorstand der Bundesärztekammer freue ich mich besonders,
                                  dass Berlin nunmehr paritätisch in diesem Gremium vertreten ist. Mit der zusätz-
                                  lichen „Berliner“ Stimme können Peter Bobbert und ich an die gute Zusammen-
                                  arbeit in der Koalition der Ärztekammer Berlin zwischen Marburger Bund und der
                                  Allianz Berliner Ärzte/MEDI-Berlin auch auf Bundesebene anschließen.

                                  Ich danke allen, die mich unterstützt haben.
                                  Bleiben Sie der Ärztekammer Berlin gewogen.

                                  Ihre

                                                                                                                         3
Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
Inhalt
    EDITORIAL                                                POLITIK & PRAXIS

Begrüßung von Dr. Regine Held                          3    Ein Blick zurück und nach vorn
                                                            25 Jahre Berliner Gesundheitspreis
                                                            Von Ole Eggert                                 33
    KURZ NOTIERT
                                                            3 Fragen an
Aktuelles / Nachrichten                                6    Prof. Dr. med. Stefan Müller-Lissner           34

                                                            Fairness, Freude und Hygieneregeln
    AUS DER KAMMER                                          beim Paul Ehrlich Contest
                                                            Von Robert Gintrowicz und Frauke Glöckner      36
Abschließende Entscheidungen
zur Neufassung der Weiterbildungsordnung                    Eine Frage der Sicherheit
Bericht von der Delegiertenversammlung                      Drohende Sepsis erkennen und richtig handeln   37
am 16. Juni 2021
Von Ole Eggert                                        18
                                                             KULTUR & GESCHICHTE
„Was bitte ist denn ein Ärzt?!“
Rückmeldungen der Berliner Ärzt:innen                       Eine außergewöhnliche Tuberkuloseforscherin
zur Neugestaltung und zum neuen Namen                       und Berlins erste Frau mit Professorentitel    40
der Mitgliederzeitschrift                             22
                                                            Virchow-Jahr 2021
Medizinische Fachangestellte                                Virchow contra Koch – Fakten und
Informationen zur Ausbildung                                Fiktion eines Gelehrtenstreites
und Weiterqualifizierung                              24    Von Christoph Gradmann                         42

Ärztliche Fortbildungen
Veranstaltungskalender                                      Impressum                                      44
der Ärztekammer Berlin                                26

Weiterbildung
Bestandene Facharztprüfungen
im Mai und Juni 2021                                  30

Titelfoto und Foto rechts:
Sibylle Fendt, OSTKREUZ / Ärztekammer Berlin

      → www.instagram.com/aekberlin            → www.twitter.com/aekberlin

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Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
BERLINER ÄRZT:INNEN
                                   AUSGABE 08 / 2021 

IM FOKUS

Perspektive Substitution                       8
Die Initiative „Substitutionstherapie – Wege
zurück ins Leben“ soll Nachwuchsärzt:innen für
das Thema Substitution sensibilisieren und sie
für diese Therapieform gewinnen. Denn immer
weniger Ärzt:innen versorgen eine steigende
Anzahl von opioidabhängigen Menschen.
Von Ute Wegner

                                                         5
Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
KURZ NOTIERT

Online-Umfrage                                                                     Veranstaltung
Ihre Erfahrungen sind gefragt!                                                     Berliner Krebskongress
Die Geschäftsstelle des „Runden Tisches Berlin –                                   Weibliche Tumore, Digitalisierung
Gesundheitsversorgung bei häuslicher und sexua-                                    und Empowerment – das sind die
lisierter Gewalt“ befragt aktuell mit einer Online-                                Themen des 16. Berliner Krebskon-
Umfrage Mitarbeitende der Gesundheitsversor-                                       gresses am 10.–11. September 2021.
gung, wie sie in ihrem Beruf mit Gewalt in Paar-                                   Der digitale Kongress stellt Frauen in
beziehungen umgehen.                                                               den Mittelpunkt. Folglich geht es um
                                                                                   Krebserkrankungen, die (fast nur)
Sicht und Bedürfnisse von Praktiker:innen sollen verstärkt in die Arbeit des       Frauen betreffen, wie Erkrankungen
Runden Tisches einbezogen und Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten werden.        der Brust und der weiblichen Genital-
Die Umfrage wird in Kooperation mit der Hochschule Nordhausen realisiert und       organe.
erfolgt anonym. Die Teilnahme ist selbstverständlich freiwillig.
                                                                                   Ungewöhnlich für einen medizinischen
Die Ärztekammer Berlin ist Mitglied des Runden Tisches. Wir bitten die in Berlin   Fachkongress: Als Referentinnen sind
tätigen Ärztinnen und Ärzte herzlich, das Vorhaben mit 5 bis 10 Minuten ihrer      ausschließlich Frauen eingeladen.
Zeit zu unterstützen und sich an der Umfrage zu beteiligen.                        Die beiden Kongresspräsidentinnen
                                                                                   Dr. med. Marion Paul und PD Dr. med.
                  Scannen Sie den QR-Code ein – Sie kommen dann automatisch        Mandy Mangler, Chefärztinnen bei
                  zum Fragebogen. Wenn Sie kein Smartphone oder Tablet zur         Vivantes, wollen damit ein Zeichen
                  Hand haben, können Sie den Fragebogen unter                      setzen: „Auf manchen Kongressen
                  → www.soscisurvey.de/befragung_gesundheitswesen abrufen.         spricht keine einzige Frau. Das Argu-
                                                                                   ment, dass es nicht genügend quali-
                 Am 25. November 2021, dem Internationalen Tag gegen Gewalt        fizierte Frauen in der Medizin gäbe,
an Frauen, werden die Ergebnisse der Befragung im Rahmen einer Fachveran-          haben wir zumindest für unseren Fach-
staltung des Runden Tisches Berlin vorgestellt werden.                             bereich widerlegt.“

Weitere Informationen zum Runden Tisch erhalten Sie unter                          Programm und Anmeldung:
→ www.signal-intervention.de/der-runde-tisch ∕                                     → www.berliner-krebskongress.de ∕

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Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
BERLINER ÄRZT:INNEN
                                                                                AUSGABE 08 / 2021 

ÄKB Social Media                                           Intervention
Instagram und Twitter                                      Arzt SUCHT Hilfe –      Das Interventionspro-
                                                           Suchtproblematik        gramm der Ärztekammer
Kennen Sie schon die Social Media-Kanäle der Ärztekammer                           Berlin berät und begleitet
Berlin? Seit Juni veröffentlichen wir auf Instagram und
                                                           bei Ärztinnen und       Ärztinnen und Ärzte mit
Twitter regelmäßig Fotos aus dem jeweiligen Titelthema –   Ärzten                  problematischem Subs-
und mehr. Damit wollen wir die Arbeit unserer Kammer-                              tanzkonsum professionell
mitglieder greifbar machen und Berliner Ärzt:innen in      Suchen Sie Hilfe,       und kollegial. Suchen Sie
ihrem Arbeitsumfeld zeigen.                                                        Hilfe, Beratung, Unter-
                                                           Beratung,               stützung? Nutzen Sie die
Hier finden Sie uns:                                       Unterstützung?          Möglichkeit, um mit uns in
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                                                                                   Weitere Informationen
                                                                                   finden Sie auf der Website
                                                                                   → www.aekb.de/
                                                                                   suchtintervention

Foto: Frank Schinski, OSTKREUZ / Ärztekammer Berlin

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Ärzt:innen“! Was gefällt Ihnen, was nicht und vor allem:
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Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
IM FOKUS

               Perspektive
               Substitution
Die Initiative „Substitutionstherapie – Wege
zurück ins Leben“1 soll Nachwuchsärzt:innen
für das Thema Substitution sensibilisieren und
sie für diese Therapieform gewinnen. Denn
immer weniger Ärzt:innen versorgen eine
steigende Anzahl von opioidabhängigen Menschen.
Text: Ute Wegner
Fotos: Sibylle Fendt, OSTKREUZ / Ärztekammer Berlin

                                        Das medizinische Team des „Praxiskombinat Neubau“
                                        in Berlin-Lichtenberg behandelt Menschen, die wegen
                                        einer Suchterkrankung bzw. Opioidabhängigkeit Hilfe
                                        suchen.

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Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
BERLINER ÄRZT:INNEN
                                                                                              AUSGABE 08 / 2021 

Adil S.2 hat alles verloren. Der Krieg in Syrien nahm ihm       stellt [unter den Hauptdiagnosen] bei Personen mit Migra-
seine vier Kinder, die beschwerliche Flucht seine Frau. Er      tionshintergrund ambulant (49 %) und stationär (32 %)
trifft allein in Berlin ein. Auf der Straße bietet ein Dealer   den größten Anteil“, heißt es in der Suchthilfestatistik
dem syrischen Ingenieur Heroin an. Er raucht die Droge,         2019 der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und
um seine seelischen Schmerzen zu lindern. „In Berlin gibt       Gleichstellung (SenGPG) in Berlin.3 In der täglichen Praxis
es an jeder zweiten Ecke Heroin“, erklärt Dr. med. Hans-        der Berliner Suchtmediziner:innen bedeutet das, auch mit
Tilmann Kinkel, hausärztlicher Internist und Suchtmedi-         sprachlichen und kulturellen Hürden umzugehen. In einem
ziner im „Praxiskombinat Neubau“, einer auf Substituti-         Gespräch, in dem es gilt herauszufinden, wo die Ursachen
onstherapie spezialisierten Schwerpunktpraxis in Berlin-        für die Sucht liegen könnten, und Vertrauen aufzubauen,
Lichtenberg. Dort arbeiten vier Ärzt:innen und ein ganzer       ist die sprachliche Barriere ein Hindernis. S. erhält in der
Stab von spezialisierten Medizinischen Fachangestellten         Szene einen Tipp und kommt in das Praxiskombinat Neubau.
und Krankenpfleger:innen, studentischen Mitarbeitenden          „In seinem Fall haben wir einen Dolmetscher dazu holen
und Auszubildenden. „Heroin hilft, die schlimmsten Symp-        können“, sagt Kinkel. Aber auch dann könne man nicht
tome des Traumas zu beheben“, erklärt er. Schnell gerät         sicher sein, ob sich der Patient in Gegenwart eines Dritten
der von Sozialhilfe lebende 38-jährige Adil S. in die Spirale   traue, offen zu sprechen. „Viele Details aus der Biografie
der Sucht: Heroin kostet Geld, davon hat er wenig, die          erfährt man erst nach Jahren“, ergänzt der Lichtenberger
Entzugserscheinungen sind unangenehm. Suchtdruck                Internist. Doch in der ersten Vorstellung des Betroffenen
stellt sich ein, das heißt, der Syrer braucht die Droge, um     geht es zunächst darum, schnell und niedrigschwellig zu
den Entzug zu bekämpfen. „Dieser Druck löst erheblichen         behandeln. Der syrische Geflüchtete erhält – auch aufgrund
Stress aus“, erklärt der Lichtenberger Suchtmediziner.          seiner Traumastörung – 400 Milligramm retardiertes Morphin
Der hochgebildete Syrer erkennt, dass er Hilfe benötigt,        zur Substitution. In den folgenden Wochen wird diese Ein-
um sich aus der Abhängigkeit zu befreien.                       stiegsdosis auf 2.000 Milligramm erhöht.

Sprachliche und kulturelle Hürden meistern                      Bundesweite Kampagne gestartet
Insgesamt gibt es in Berlin rund 15.000 opioidabhängige         Allein dieses Beispiel zeigt, wie komplex die Substitutions-
Menschen, begleitet von einer hohen Dunkelziffer. An            therapie ist. Sorgen bereitet Expert:innen jedoch der Nach-
erster Stelle konsumieren sie Heroin, gefolgt von Tilidin,      wuchsmangel in der Suchtmedizin. So sind bundesweit
Fentanyl und Kokain, letzteres vor allem im Beigebrauch.        immer weniger suchtmedizinisch qualifizierte Ärzt:innen
Zirka 6.000 der Betroffenen machen eine Substitutions-          in der Substitutionsbehandlung aktiv. Ungefähr 8.000 be-
therapie. 350 von ihnen sind im Praxiskombinat Neubau           sitzen zwar die Zusatzqualifikation in der „Suchtmedizini-
in Behandlung, etwa ein Viertel hat einen Migrationshin-        schen Grundversorgung“, doch nur etwa 2.600 von ihnen
tergrund. Das ist in Berlin als Einwanderungsstadt eine         behandeln entsprechend. Darunter leidet einerseits die Qua-
der besonderen Herausforderungen in der Substitutions-          lität der Behandlung, andererseits haben manche Betroffene,
behandlung. „Die Gruppe mit opioidbezogener Problematik         etwa in ländlichen Gebieten in Flächenländern, gar keinen Zu-
                                                                gang zu einer Substitutionsbehandlung. Um mehr Ärzt:innen
                                                                dazu zu bewegen, opioidabhängige Menschen zu substitu-
                                                                ieren, hat die Bundesärztekammer gemeinsam mit der
 Die Fotografin und der Ort                                     Drogenbeauftragten der Bundesregierung Daniela Ludwig
 Für dieses Schwerpunktthema hat OSTKREUZ-Fotografin            die Kampagne „Substitutionstherapie – Wege zurück ins
 Sibylle Fendt die auf Substitutionstherapie spezialisierte     Leben“ initiiert. „Wir stehen vor einem akuten Nachwuchs-
 Praxis „Praxiskombinat Neubau“ in Berlin-Lichtenberg           mangel, wenn es uns nicht gelingen sollte, die Substitutions-
 zwei Tage lang begleitet. Die Bilder zeigen den unaufge-       therapie attraktiver zu machen“, sagt die Politikerin. „Daher
 regten Praxisalltag und wahren bewusst Distanz zu den          werden die Bundesärztekammer und ich umfangreiche vir-
 Patient:innen. Alle fotografierten Personen waren mit          tuelle Rundgänge in Substitutionspraxen und Ambulanzen,
 den Bildern und ihrer Veröffentlichung einverstanden.

 Mehr Fotos online: Weitere Fotos der Reihe sehen Sie im        1   Es handelt sich um eine Initiative der Drogenbeauftragten der
 August auf unseren Social-Media-Kanälen                            Bundesregierung und der Bundesärztekammer.
                                                                2   Name von der Redaktion geändert
      → www.instagram.com/aekberlin                             3   SenGPG: Suchthilfestatistik 2019. Jahresbericht zur aktuellen
                                                                    Situation der Suchthilfe in Berlin.
                                                                    → www.suchthilfestatistik.de/fileadmin/user_upload_dshs/
      → www.twitter.com/aekberlin                                   Publikationen/Jahresberichte/Jahresberichte_Laender/Berliner_
                                                                    Suchthilfestatistik_DJ_2019_barrierefrei.pdf

                                                                                                                               9
Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
IM FOKUS

                                                                       So sind die niedergelassenen Suchtmediziner:innen nicht
                                                                       nur eng miteinander vernetzt, sondern arbeiten auch solide
                                                                       mit den Entwöhnungskliniken und Entzugsstationen sowohl
                                                                       in Berlin als auch im Umland zusammen. Drogenkonsumie-
                                                                       rende oder substituierte Schwangere und deren Kinder etwa
                                                                       werden in der Klinik für Geburtsmedizin des Charité Campus
                                                                       Virchow-Klinikum in Berlin-Wedding in Kooperation mit
                                                                       der Klinik für Neonatologie geburtsmedizinisch, neonato-
                                                                       logisch, suchtmedizinisch, infektiologisch und psychosozial
                                                                       betreut. In der Klinik für Infektiologie am Vivantes Auguste-
                                                                       Viktoria-Klinikum in Berlin-Schöneberg sowie auch in an-
                                                                       deren Krankenhäusern der Stadt behandeln die Fachärzt:in-
                                                                       nen opioidabhängige Patient:innen, die beispielsweise an
                                                                       Hepatitis C erkrankt oder HIV-positiv sind.

                                                                       In der Hauptstadt gibt es außerdem ein sogenanntes „AID-
                                                                       Modell“. Die Abkürzung steht für „Ambulanz für Integrierte
                                                                       Drogenhilfe“ und bezeichnet eine ambulante Schwerpunkt-
                                                                       praxis, die Suchtmediziner:innen und Psychosoziale Be-
                                                                       treuung (PSB) unter einem Dach vereint. Davon gibt es
                                                                       neben dem eingangs bereits erwähnten Lichtenberger
                                                                       Praxiskombinat Neubau eine in Neukölln, eine weitere
                                                                       in Friedrichshain sowie die Praxis Lyonn, die sogenannte
                                                                       AID Kreuzberg. Sie ist die erste, im Jahr 1997 gegründete
                                                                       Berliner Ambulanz dieser Art. „Unser Team behandelt 330
                                                                       opioidabhängige Patient:innen“, erklärt Norbert E. Lyonn,
                                                                       Arzt für Allgemeinmedizin mit Zusatzbezeichnung „Sucht-
                                                                       medizinische Grundversorgung“. Insgesamt gehören drei
                                                                       Ärzt:innen für Allgemeinmedizin mit Spezialisierung in der
                                                                       Suchtmedizin sowie ein Arzt in Weiterbildung zum Team.
                                                                       Andere Praxen arbeiten nach einem AID-ähnlichen Modell
Warten gehört zum Tagesablauf. In der Regel müssen Patient:innen       und bieten ebenfalls psychosoziale Beratung in ihren Räu-
das Substitutionsmittel täglich und unter Aufsicht in der Arztpraxis   men an. Deutlich wird: Die Hauptstadt bietet ein reichhal-
einnehmen.                                                             tiges und gut strukturiertes Behandlungs- und Hilfsange-
                                                                       bot für opioidabhängige Menschen.

                                                                       Zusatzweiterbildung der Ärztekammer Berlin
FAQs und Informationen auf unseren Homepages, in The-                  Die Ärztekammer Berlin (ÄKB) bietet regelmäßig die um-
mendossiers und speziellen Informationsveranstaltungen                 fangreiche Zusatzweiterbildung „Suchtmedizinische
für Ärzt:innen streuen.“                                               Grundversorgung“ nach dem (Muster-)Kursbuch der Bun-
                                                                       desärztekammer an. In vier Modulen, die insgesamt 60
Interdisziplinäres Netzwerk von Suchtexpert:innen                      Unterrichtseinheiten umfassen, werden die Lerninhalte
In Berlin ist, wie auch in den Großstädten Hamburg und                 praxisnah vermittelt und können mit dem Zusatzmodul
Frankfurt, die Situation derzeit noch nicht dramatisch.                „Substitution mit Diamorphin“ ergänzt werden. Das Team
Von 152 Ärzt:innen in Berlin, die eine Genehmigung für die             der Referierenden besteht aus erfahrenen Berliner Sucht-
Substitutionstherapie haben, sind immerhin 120 in dem                  mediziner:innen und im Suchthilfesystem arbeitenden
Bereich aktiv tätig. Die Anzahl der Ärzt:innen ist – entgegen          Kolleg:innen. Für die Abschlussprüfung sind ergänzend 80
dem bundesweiten Trend – seit Jahren stabil.                           Stunden Hospitation in einer suchtmedizinischen Schwer-
                                                                       punkteinrichtung nachzuweisen. „Wir entwickeln unsere
„In Berlin gibt es ein gutes interdisziplinäres Netzwerk von           Weiterbildungen genau auf den aktuellen Bedarf hin“, er-
Suchtexpert:innen“, sagt Andreas von Blanc aus der Abtei-              klärt Manja Nehrkorn aus der Abteilung Fortbildung/Quali-
lung Qualitätssicherung der Kassenärztlichen Vereinigung               tätssicherung in der Ärztekammer Berlin. Dreimal im Jahr
Berlin (KV Berlin). „Dieses hat sich über Jahrzehnte bewährt.“         treffen sich Berliner Ärzt:innen, die in der Suchtmedizin

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Berliner Ärzt:innen - Perspektive Substitution - Weshalb die Suchtmedizin Nachwuchs sucht - Ärztekammer ...
BERLINER ÄRZT:INNEN
                                                                                               AUSGABE 08 / 2021 

arbeiten, im „Arbeitskreis Drogen und Sucht“ der Berliner         Schwerpunktpraxen mit mehreren Ärzt:innen dagegen bis
Ärztekammer und beschäftigen sich mit aktuellen sucht-            zu 100 Patient:innen versorgen. Davon gibt es 39 in der Stadt,
medizinischen und -politischen Fragen. Das Qualitätsma-           die rund 50 Prozent der opioidabhängigen Menschen be-
nagement der KV Berlin überwacht zudem mit Stichproben            handeln. In zwei Berliner Schwerpunktpraxen werden sehr
und Beratung der substituierenden Ärzt:innen die hohen            schwer Abhängige mit Diamorphin therapiert (siehe Dia-
Qualitätsanforderungen in der Hauptstadt.                         morphin-Substitution für Schwerstkranke, Seite 12).

Doch so vielfältig die Beratungs- und Behandlungsmöglich-         Hauptstadt versorgt Außenbezirke und Umland mit
keiten in der Berliner Suchtmedizin und Drogenhilfe derzeit       Im Gegensatz zu den Großstädten ist die Option einer wohn-
auch sind, ist auch sie nicht gegen einen Nachwuchsmangel         ortnahen Substitutionstherapie in den Flächenstaaten
gefeit. „Die substituierenden Ärzt:innen altern mit ihren         schwierig bis aussichtslos. „Wir versorgen mindestens 100
Patient:innen“, erklärt Andreas von Blanc von der KV Berlin.      Kilometer Umland mit, Potsdam ausgenommen“, sagt Doris
„Mehr als die Hälfte der 120 in der Substitution aktiven Berli-   Höpner, Hausärztin und Suchtmedizinerin im Berliner Orts-
ner Ärzt:innen sind über 60 Jahre alt, 35 von ihnen haben         teil Wedding/Gesundbrunnen. „Und das nicht, weil wir bes-
das 65. Lebensjahr hinter sich und zwei sind 80 Jahre alt.        ser als Kolleg:innen aus Brandenburg sind, sondern weil es
Da können Sie die Uhr stellen, wann es auch in Berlin mit         dort keine entsprechenden Angebote gibt.“ So behandele
dem Nachwuchs dünn wird.“ Denn, so der Sozialpädagoge,            sie allein in ihrer Praxis 15 opioidabhängige Brandenbur-
der in der KV Berlin Ansprechpartner sowohl für Ärzt:in-          ger:innen, die zum Teil aus Prenzlau oder Frankfurt (Oder)
nen als auch für potenzielle Patient:innen ist, die Zahl der      anreisen. Auch in den Berliner Außenbezirken wie Marzahn,
substituierten opioidabhängigen Patient:innen steige in           Köpenick, Spandau, Lichtenrade und Hellersdorf sind Sub-
Berlin seit Jahren kontinuierlich an. Kleine Berliner Praxen      stitutionsärzt:innen rar, denn die Mediziner:innen bevor-
mit einer Ärztin oder einem Arzt dürfen bis zu 50 Betroffene,     zugen als Standort ihrer Praxen zentralere Bezirke.

 Rechtsgrundlagen der Substitutionstherapie

 Betäubungsmittel-Verschreibungs-           Richtlinie der Bundesärztekammer           Die Richtlinie erkennt deutlich an,
 verordnung (BtmVV)                         zur Durchführung der substituti-           dass es sich bei der Opioidabhängig-
 Die Betäubungsmittel-Verschreibungs-       onsgestützten Behandlung Opioid-           keit um eine schwere chronische
 verordnung (BtmVV) regelt die Grund-       abhängiger 4                               Krankheit handelt, die in der Regel
 sätze zur Verschreibung und Abgabe         Die BÄK-Richtlinie stellt „den allge-      einer lebenslangen Behandlung be-
 von Betäubungsmitteln. Paragraph 5         mein anerkannten Stand der Erkennt-        darf. Die Abstinenz von Opioiden ist
 gibt vor, mit welchen Maßnahmen            nisse der medizinischen Wissenschaft       eines von vielen Therapiezielen und
 und Zielen eine Therapie zur Opioid-       insbesondere für die Therapieziele         nicht mehr wie zuvor oberstes Gebot.
 substitution zu erfolgen hat. Dieser       der substitutionsgestützten Behand-        Entsprechend den neuen Vorgaben
 Paragraph ist 2017 vom Gesetzgeber         lung Opioidabhängiger, die allgemei-       von BÄK-Richtlinie und BtmVV hat
 novelliert worden, um Rechtssicher-        nen Voraussetzungen für die Einlei-        der Gemeinsame Bundesausschuss
 heit für substituierende Ärzt:innen zu     tung und Fortführung einer Substi-         (G-BA) 2018 den Leistungskatalog der
 schaffen und „die bislang durch § 16       tution sowie die Erstellung eines Thera-   gesetzlichen Krankenversicherung
 erfolgte Strafbewehrung der Therapie-      piekonzeptes gemäß § 5 Absatz 12           (GKV), nach denen opioidabhängige
 ziele in § 5 Absatz 1 (das Abstinenz-      BtMVV fest. Letzteres umfasst ins-         Menschen eine Substitutionstherapie
 ziel RU) aufzuheben“, wie es in der        besondere die Auswahl des Substitu-        erhalten können, angepasst.
 Begründung heißt. Mit der Novelle          tionsmittels, die Bewertung und
 wurden Sachverhalte, die unmittel-         Kontrolle des Therapieverlaufs, die
 bar ärztlich-therapeutische Bewer-         Voraussetzungen für das Verschreiben
 tungen betreffen, aus dem § 5 des          eines Substitutionsmittels zur eigen-      4   Richtlinie der Bundesärztekammer zur
 BtMVV in die „Richtlinie der Bundes-       verantwortlichen Einnahme sowie                Durchführung der substitutionsgestütz-
                                                                                           ten Behandlung Opioidabhängiger.
 ärztekammer zur Durchführung der           die Entscheidung über die Erforder-            → www.bundesaerztekammer.de/
 substitutionsgestützten Behandlung         lichkeit einer Einbeziehung psycho-            fileadmin/user_upload/downloads/
 Opioidabhängiger“ übertragen.              sozialer Betreuungsmaßnahmen“.                 pdf-Ordner/RL/Substitution.pdf

                                                                                                                               11
IM FOKUS

Diamorphin-Substitution für Schwerstkranke

In Deutschland werden opioidabhängige Menschen eben-          Substitutionstherapie mit Diamorphin zu ermöglichen, sind
falls mit Diamorphin, auch Diacetylmorphin (DCM) genannt,     die positiven Ergebnisse der sogenannten Heroinstudie. Es
behandelt. Diese Substanz ist halbsynthetisch hergestelltes   handelt sich um ein bundesweites, 2008 abgeschlossenes
Heroin und wird in der Substitutionstherapie bei schwerst-    Modellprojekt, in dem eine Diamorphinbehandlung mit der
kranken Betroffenen eingesetzt. Für die Behandlung müssen     Methadonsubstitution verglichen wurde. „Das zentrale Er-
die Patient:innen mindestens 23 Jahre alt und wenigstens      gebnis […] zeigt eine statistisch signifikante Überlegenheit
fünf Jahre opiatabhängig sein. Sie müssen zumindest ein-      der Heroin- gegenüber der Methadonbehandlung [...]. In der
mal für sechs Monate eine andere Substitutionstherapie        Heroingruppe zeigte sich bei 80,0 % der Probanden eine
inklusive Psychosoziale Betreuung ohne Erfolg hinter sich     gesundheitliche Verbesserung, in der Vergleichsgruppe der
gebracht haben und überwiegend intravenös konsumieren.        Methadonbehandelten nur bei 74,0 %. Ein Rückgang des
Nach Angaben des Substitutionsregisters 2021 werden ak-       illegalen Drogenkonsums trat in der Heroingruppe bei 69,1 %
tuell bundesweit etwas mehr als ein Prozent der Betroffe-     der Probanden auf, in der Methadongruppe nur bei 55,2 %“,
nen mit Diamorphin behandelt.5 In Berlin sind es 200 Kon-     so in der Kurzfassung der Ergebnisse der Vergleichsstudie6.
sument:innen. Die Diamorphin-Abgabe darf nur in einer
Spezialambulanz erfolgen. Entsprechende Einrichtungen
sind bundesweit in zwölf Großstädten vorhanden. In Berlin     5   Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Bericht
bieten zwei Praxen eine diamorphingestützte Behandlung            zum Substitutionsregister (Januar 2021).
an: die Praxis Patrida in Berlin-Tegel sowie das Praxiskom-       → www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Bundesopium-
binat Neubau in Berlin-Lichtenberg.                               stelle/SubstitReg/Subst_Bericht2021.pdf
                                                              6   Zentrum für interdisziplinäre Suchtforschung der Universität
                                                                  Hamburg: Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiat-
Grundlage für die Entscheidung des Bundestages im Jahre           abhängiger. Ergebnisse der Vergleichsstudie (Kurzfassung), 2006.
2009, schwerstkranken opioidabhängigen Menschen eine              → www.heroinstudie.de/Ergebnisse_Kurzform.pdf

Im Praxiskombinat Neubau werden Schwerstkranke auch mit       Patient:innen dürfen das Diamorphin nur vor Ort und unter ärzt-
Diamorphin substituiert.                                      licher Aufsicht intravenös injizieren.

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BERLINER ÄRZT:INNEN
AUSGABE 08 / 2021

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IM FOKUS

Die Verabreichung des oralen Substituts ist nur ein Baustein der Therapie. Der Suchtmediziner Dr. med.
Hans-Tilmann Kinkel und der Arzt in Weiterbildung Niklas Gerhards sprechen mit dem Patienten.

Ein großes Problem in Berlin ist der Mangel an Psychia-                Psychiaterin Beate Münchow gesprächstherapeutisch und
ter:innen in der Substitution: „Da besteht ein echter Eng-             medikamentös mitbehandelt. „Er erhält fünf Milligramm
pass“, meint Dr. med. Beate Münchow, selbst Fachärztin                 Diazepam zur Nacht, um seinen Albträumen und Schlaf-
für Psychiatrie und Psychotherapie im Praxiskombinat Neu-              störungen entgegenzuwirken“, so Kinkel.
bau. „In einer klassischen psychiatrischen Praxis sind opi-
oidabhängige Menschen nicht so erwünscht. Sie halten                   Liberalisierte BtmVV schafft juristische Sicherheit
nicht zuverlässig ihre Termine ein und fallen im Wartezimmer           Wie kommt es, dass die Substitutionsärzt:innen in Berlin
auf.“ Doch gerade diese Patient:innen benötigen neben                  weniger werden? „Für viele Ärzt:innen hat die Substitu-
der Substitutionstherapie eine „normale“ hausärztliche,                tionsmedizin noch den Nimbus einer ,Dirty Medicine‘“,
eine infektionsmedizinische und psychiatrische Betreuung.              erklärt Andreas von Blanc von der KV Berlin. „Sie haben
Denn mehr als die Hälfte aller suchterkrankten Menschen                Berührungsängste mit den Betroffenen und meinen außer-
leidet zusätzlich an somatischen und psychischen Erkran-               dem, sich auf juristisch unsicherem Terrain zu bewegen.“
kungen wie zum Beispiel Hepatitis C, HIV, Lungenkrank-                 Doch das ist nicht der Fall. So ist im Jahr 2017 insbesondere
heiten und weiteren Abhängigkeiten.7 Häufige psychische                § 5 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung
Beeinträchtigungen sind Depressionen, Angst-, Persönlich-              (BtmVV) vom Gesetzgeber überarbeitet worden, um die
keits- und posttraumatische Belastungsstörungen sowie                  Verordnung den aktuellen Erkenntnissen der Suchtmedizin
die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung                 anzupassen. So wurde zum Beispiel die „Take-Home-Ver-
des Erwachsenenalters. Hinzu kommen alle weiteren kar-                 ordnung“ erweitert und den substituierenden Ärzt:innen
diovaskulären, orthopädischen, neurologischen und on-                  damit deutlich mehr Spielraum gegeben, die Behandlung
kologischen Krankheiten älterer Menschen. Der Leidens-                 individuell auf die Bedürfnisse und die Situation der Pa-
druck für Betroffene und Angehörige ist enorm, die Heraus-             tient:innen anzupassen (siehe Rechtsgrundlagen der
forderungen bei dem komplexen Therapiemanagement
sind hoch. „Wir behandeln die meisten unserer Patient:in-
nen interdisziplinär“, erklärt Hans-Tilmann Kinkel, der vor
gut zehn Jahren das erste Methadonprogramm in Afgha-                   7   Scherbaum, N.; Specka, M.: Komorbide psychische Störungen bei
nistan mit aufgebaut hat. Der Syrer Adil S. wird von der                   Opiatabhängigen. In: Suchttherapie 15(01): 22–28

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BERLINER ÄRZT:INNEN
                                                                                                AUSGABE 08 / 2021

Substitutionstherapie, Seite 11). Möglichen Bedenken ge-
genüber „schwierigen“ Patient:innen begegnen subsituie-
rende Ärzt:innen, indem sie über ihre lebendige, berei-
chernde und befriedigende Arbeit mit opioidabhängigen
Menschen berichten. „Es ist eine sehr direkte Medizin“,
sagt der Arzt Norbert E. Lyonn aus Kreuzberg. Es sei ein
besonderes Erlebnis, diesen Menschen ihre Last zu nehmen
und zu sehen, wie sie sich Stück für Stück weiterentwickeln.

Die Substitutionsmedizin erweist sich als eine sehr zufrie-
denstellende, interessante, komplexe, aber auch heraus-
fordernde ärztliche Tätigkeit. Die Behandlung, in der jede
Leistung extrabudgetär bezahlt wird, ist nicht allein damit
getan, den Patient:innen die Dosis des Substituts zu ver-
abreichen. Die Opiatabhängigkeit ist eine vielschichtige Er-
krankung; die behandelnden Ärzt:innen müssen die Lebens-
geschichte und Umstände der Betroffenen genau kennen,
um die unterschiedlichen Auslöser der Sucht auszumachen.
Es geht darum, bei Patient:innen Vertrauen herzustellen.
„Das erfordert Zeit und Nachdenken“, bestätigt der Substi-
tutionsarzt Kinkel. „Jeder Fall ist eine Herausforderung für
sich.“ Man begleite den Menschen durch Höhen und Tiefen.
Dabei entstehe eine große Nähe zu den Patient:innen und
eine emotionale Intensität. Zudem zeige die Substitutions-
therapie viele positive Verläufe, und das in recht kurzer Zeit.
„Mithilfe oraler Substitution erreichen 60 bis 80 Prozent der
Betroffenen nach einem Jahr ihre ersten Therapieziele, die
individuell sehr unterschiedlich sind“, erklärt Kinkel. Es sind   Die beiden Ärzte prüfen die Wundheilung an Einstichstellen.
meist kleine Teilerfolge, angefangen damit, überhaupt be-         Beikonsum sollte zwar vermieden werden, ist aber ein häufiges
reit zu sein, auch nur ein fünfminütiges Gespräch zu führen       Thema, über das offen gesprochen wird.
oder eine Wohnung zu finden, bis dahin, den Beigebrauch
von Drogen zu reduzieren oder gar zu beenden. Im Falle des
syrischen Patienten Adil S. ist das erste Therapieziel, die
Kontrolle über seine Sucht zu gewinnen. Dann fängt er an,         Bedürfnisse abgestimmte interdisziplinäre Therapie zu
das Rauchen von Heroin zu reduzieren.                             bieten. Eine tragende Säule neben der medikamentösen
                                                                  Behandlung ist die Psychosoziale Betreuung (PSB) durch
Sucht ist eine körperliche und psychosoziale Erkrankung           geschulte Sozialarbeiter:innen. Eine Besonderheit in Berlin:
„Die Behandlung von Menschen mit einer substanzbezoge-            Jede:r substituierte Patient:in hat das Anrecht auf eine der
nen Störung muss immer den ganzen Menschen verstehen              individuellen Situation angemessene Anzahl von PSB-
und fordert den ganzen Menschen als Ärzt:in“, sagt Michael        Stunden die Woche in einer von der Senatsverwaltung für
Janßen. Die ärztliche Aufgabe beinhalte nicht allein die Be-      Gesundheit anerkannten Drogenhilfeeinrichtung. Die Psycho-
handlung einer Opioidabhängigkeit, sondern aller substanz-        soziale Betreuung bietet Hilfen, um soziale, psychische und
bezogenen Störungen, betont der Allgemeinmediziner mit            somatische Probleme zu bewältigen, aber auch Krisen-
Hausarztpraxis in Berlin-Neukölln. „Die Opioidabhängigkeit        interventionen, Rückfallprophylaxe und lebenspraktische
ist eine chronische Erkrankung und keine Charakterschwä-          Unterstützung im Alltag. Dazu gehört die Unterstützung
che.“ Nach aktuellem Stand des Diskurses tritt das biome-         bei der Wohnsituation, juristischen Fragen, Schule, Aus-
chanistische Modell, nach der die Suchterkrankung allein          bildung oder Arbeitssuche. Die Psychosoziale Betreuung
auf gestörten neuronalen Mechanismen im Gehirn beruht,            ist mitentscheidend dafür, dass Betroffene Verhaltens-
zurück. Expert:innen gehen heute davon aus, dass es sich          änderungen aufrechterhalten.
um eine körperliche und vor allem psychosoziale Störung
handelt. Sie erfordert die Kooperation mit Fachärzt:innen         Um die Opioidabhängigkeit wirkungsvoll zu durchbrechen,
anderer Disziplinen und mit Angeboten der Drogenhilfe,            ist eine unbefristete Substitutionstherapie der Goldstan-
um den Patient:innen eine auf die Lebensumstände und              dard. Dabei legt die Gabe von Methadon, Levomethadon,

                                                                                                                                  15
IM FOKUS

Morphin oder Buprenorphin einen Grundstein. Die medi-              Ganz im Gegenteil: „Durch viele Gespräche mit Suchthilfe-
kamentöse Behandlung mit diesen Substitutionsarzneien              einrichtungen oder Beratungsstellen habe ich erfahren,
ist die Basis für den Erfolg. So zeigen die Ergebnisse der         dass insbesondere heroinabhängige Menschen durch
bundesweiten und repräsentativen klinischen PREMOS-                die Pandemie erstmalig mit der Substitution begonnen
Studie8, in der mehr als 2.600 Patient:innen in 223 Einrich-       haben“, sagt die Bundesdrogenbeauftragte Daniela Ludwig.
tungen fünf Jahre lang begleitet wurden, dass eine auf             Der Markt habe sich allerdings schnell auf „online“ ein-
Dauer angelegte Substitutionsbehandlung sowohl wirksam             gestellt und die Menschen, die bereits vorher konsumiert
als auch sicher ist. Bei der Mehrzahl der Patient:innen über-      hätten, hätten während der Pandemie tendenziell mehr
wiegen – trotz meist chronischer gesundheitlicher Proble-          konsumiert. Denn die soziale Isolation hat opioidabhängige
me und schlechter psychosozialer Ausgangssituation –               Menschen in der Corona-Pandemie stärker getroffen als
Haltequote, Überleben, Reduktion von Drogenkonsum                  andere Menschen. Auch ihr Beikonsum von Drogen, auch
und körperlicher Morbidität sowie gesellschaftliche Teil-          Alkohol und Sedativa, ist in dieser Zeit angestiegen.
habe wie etwa Berufstätigkeit oder berufsqualifizierende
Maßnahmen. Einen Beweis dafür, dass die Substitutions-             Folgen einer mangelnden ärztlichen Versorgung
therapie bei opioidabhängigen Menschen die Behandlung              Doch trotz der Erfolge der Substitutionstherapie und einer
der ersten Wahl ist, hat sich auch während der Corona-             insgesamt gut aufgestellten Substitutionsmedizin in Berlin,
Pandemie gezeigt. Es ist weder zu Engpässen in den Berliner        kann eine Lücke unter den substituierenden Ärzt:innen die
Arztpraxen noch zu „Notsubstitutionen“ gekommen, weil              Situation merklich ändern, auch in der Hauptstadt. Drogen-
die Versorgung mit Straßenheroin zusammengebrochen ist.            szene und Schwarzmarkt würden anwachsen, die Zahl der
                                                                   Drogentoten zunehmen. Das Risiko von drogenabhängigen
                                                                   Menschen zu sterben, ist fünf- bis zehnmal so hoch wie in
                                                                   der gleichaltrigen „Normalbevölkerung“. Allein im Jahr 2019
                                                                   bezahlten bundesweit knapp 1.400 Betroffene den Konsum
                                                                   illegaler Drogen mit ihrem Leben, bei fast der Hälfte von
                                                                   ihnen waren Opioidvergiftungen die Ursache. Das geht aus
                                                                   dem aktuellen Bericht der Deutschen Beobachtungsstelle
                                                                   für Drogen und Drogensucht (DBDD) hervor.9 Damit sind laut
                                                                   Bundeskriminalamt (BKA) die Todesfälle im Vergleich zum
                                                                   Vorjahr um knapp zehn Prozent gestiegen.10 Allein in Berlin
                                                                   sind 2019 insgesamt 215, ein Jahr darauf 216 Menschen an
                                                                   den Folgen der Drogeneinnahme gestorben. Dazu kommt:
                                                                   Diese Zahlen stehen nicht nur für unendliches Leid der Be-
                                                                   troffenen und Angehörigen, sondern auch für enorme Kosten
                                                                   für die Gesellschaft. Im Gesundheitssystem schlagen jahre-
                                                                   lange stationäre und ambulante Behandlungen, Arztkosten,
                                                                   Medikamente sowie Krankengeld, Hilfs- und Heilmittel
                                                                   und andere medizinische Leistungen direkt zu Buche. In-
                                                                   direkt sorgen Obdachlosigkeit, Beschaffungskriminalität,
                                                                   Haft und Ausfälle wie etwa durch Arbeitsunfähigkeit, Schul-
                                                                   und Ausbildungsabbruch oder soziale Defizite für zusätzliche
                                                                   hohe Folgekosten. Auch Rezidive durch Therapieabbruch
                                                                   können eine Folge der mangelnden ärztlichen Versorgung

                                                                   8    PREMOS: Langfristige Substitution Opiatabhängiger, 2011.
                                                                        → www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/
                                                                        ressortforschung/drogen-und-sucht/verbesserung-von-be-
                                                                        ratung-behandlung-und-therapie/premos-langfristige-substi-
                                                                        tution-opiatabhaengiger.html
                                                                   9    Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht
                                                                        (DBDD): Reitox-Bericht 2020. → www.dbdd.de
Ist die richtige Dosis gefunden, kann die Ausgabe des Substituts   10   Anzahl der Drogentoten in Deutschland in den Jahren von 2000 bis 2020.
zur unmittelbaren Einnahme auch an dafür ausgebildetes medizi-          → de.statista.com/statistik/daten/studie/403/umfrage/todesfael-
nisches Personal delegiert werden.                                      le-durch-den-konsum-illegaler-drogen

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BERLINER ÄRZT:INNEN
                                                                                                   AUSGABE 08 / 2021

                                 Unter bestimmten Voraussetzungen erhalten Patient:innen ein „Take-Home-Rezept“. Dieses erlaubt
                                 ihnen, das Substitutionsmittel für 1 bis 7 Tage (in Einzelfällen auch länger) zu Hause einzunehmen.

sein. „Das wird in Berlin derzeit nicht passieren. Ich finde        Adil S. hat Vertrauen gefasst. Seit nunmehr drei Jahren
sofort Ersatz“, meint zwar Andreas von Blanc von der KV             fährt er jeden Tag von Berlin-Spandau nach Lichtenberg
Berlin. „Wenn allerdings drei Schwerpunktpraxen aufhören            und zurück. „Das ist ein Lebensinhalt“, sagt sein behan-
würden, wird es auch in der Hauptstadt eng.“                        delnder Arzt Hans-Tilmann Kinkel. Irgendwann habe sein
                                                                    Patient angefangen, weniger Heroin zu rauchen. Er sei noch
Um einer Mangelversorgung vorzubeugen und die interes-              nicht stabil abstinent, aber jede zweite seiner Speichelkon-
santen Seiten der Suchtmedizin aufzuzeigen, ist es nach             trollen zeige keine Spuren von Beigebrauch mehr. Der syri-
Ansicht der Expert:innen neben der gezielten Ansprache              sche Ingenieur pflegt inzwischen stundenweise den Garten
von Ärzt:innen sinnvoll, Nachwuchsmediziner:innen be-               einer wohlhabenden älteren Dame in Spandau. „Er hat ein
reits im Studium mit dem Fach bekannt zu machen. „Wenn              kleines Einkommen, entwickelt Selbstwert und wird ge-
jungen Menschen die Suchtmedizin früh nahegebracht                  schätzt“, so Kinkel. Adil S. hat mithilfe der Substitutions-
wird, habe ich gleich zwei Ziele erreicht“, erklärt die Bundes-     therapie den Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben
drogenbeauftragte: „Erstens mehr Interessierte für die              gefunden. ∕
Versorgung und Behandlung suchtkranker Menschen und
zweitens die Akzeptanz für Sucht als Krankheit.“ Der junge
Arzt Niklas Gerhards, der das erste Jahr seiner Weiterbil-
dung zum Facharzt für Innere Medizin in der auf Substitu-
tionstherapie spezialisierten Schwerpunktpraxis Praxis-
kombinat Neubau absolviert, sagt: „Ich habe im Studium
immer nach einem Bereich gesucht, in dem man den Men-
schen als Ganzes betrachtet.“ Da ihn auch die internisti-
sche Diagnostik sehr interessiere, sei er schnell auf die
Suchtmedizin gekommen. Sein langfristiger Plan sei, in
                                                                    Ute Wegner
der Suchtmedizin zu arbeiten. „Es bereitet mir Freude,              Freie Medizin- und
Menschen so anzunehmen, wie sie sind“, meint er, „und               Wissenschaftsjournalistin
Vertrauen aufzubauen.“                                              Foto: Anna Rozkosny

                                                                                                                                   17
AUS DER KAMMER

Abschließende Entscheidungen
zur Neufassung der Weiterbildungs-
ordnung
Bericht von der Delegiertenversammlung am
16. Juni 2021
Nicht nur die Frage, ob die Zusatzweiterbildung Homöopathie in der neuen
Weiterbildungsordnung verbleiben soll, bot den Delegierten viele Gründe zur
intensiven Diskussion. Ebenso rege diskutierte die Versammlung Entschließungs-
anträge zu den Themen sexualisierte Gewalt im Gesundheitswesen oder Klima-
wandel und Gesundheit sowie das Verfahren zur Gewinnung dringend benötigter
Prüfer:innen.

Bereits um 19 Uhr kamen die Delegierten diesmal zur hybri-    Eine Neuausrichtung der Gremienarbeit werde durch
den Versammlung zusammen. Aufgrund der umfangreichen          den Vorstand angestrebt, teilte Bobbert weiterhin mit.
Tagesordnung hatte man sich dazu entschieden, eine Stunde     Die Besetzung der Gremien sollte zukünftig die Zusam-
früher als sonst zu beginnen. In seiner Eröffnung betonte     mensetzung der Mitgliedschaft spiegeln. Um dieses Ziel in
der Präsident der Ärztekammer Berlin PD Dr. med. Peter        zweieinhalb Jahren zu den dann anstehenden Wahlen zu
Bobbert (Marburger Bund), wie sehr er sich wünschte, dies     erreichen, lade Bobbert bereits jetzt die Listenspre-
sei die letzte virtuelle Sitzung. Nach der Sommerpause        cher:innen zum gemeinsamen Gespräch ein.
würde zumindest die nächste Delegiertenversammlung am
22. September nach derzeitiger Planung wieder in Präsenz im   Der Vorstand wolle bei der nächsten Kammerwahl die
Langenbeck-Virchow-Haus stattfinden.                          Wahlbeteiligung erhöhen, informierte Bobbert weiter.
                                                              Daher werde man prüfen, ob zukünftig neben der Briefwahl
Vor dem Einstieg in die Tagesordnung (TO) beglückwünschte     auch eine digitale Wahl möglich sei. In einem ersten Schritt
er Miriam Vosloo (Hartmannbund Plus) zu ihrer einstimmigen    würden die technischen wie juristischen Voraussetzungen
Wahl zur Vorsitzenden des Hartmannbundes Landesver-           geklärt. Zur Umsetzung müsste jedoch die Wahlordnung
band Berlin. Er kündigte weiterhin an, dass der 125. Deut-    geändert werden. Das solle auf der Delegiertenversamm-
sche Ärztetag am 1. und 2. November 2021 im Berliner Estrel   lung im Dezember vorgeschlagen und debattiert werden.
Hotel stattfinden wird. Derzeit werde von einem hybriden
Ärztetag ausgegangen, bei dem möglichst viele Teilnehmen-     Dringende Themen und kontroverse Diskussionen
de vor Ort sein sollten – so es die pandemischen Umstände     Es folgte eine Debatte über den von den Delegierten Dr. med.
im Herbst zulassen.                                           Katharina Thiede (FrAktion Gesundheit) und Julian Veelken
                                                              (FrAktion Gesundheit) eingebrachten Entschließungsantrag
Bei den Mitteilungen des Vorstandes wies Bobbert darauf       „Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt im Gesundheits-
hin, dass die kommende Delegiertenversammlung im              wesen strukturiert entgegentreten“. Zuvor leitete Thiede
September wegen der anstehenden Wahl zum 19. Berliner         die Entstehung des Papiers kurz her. Der Impuls sei aus
Abgeordnetenhaus einen Schwerpunkt haben sollte: Welche       der #MeToo-Debatte entstanden, die seit Mitte Oktober 2017
gesundheitspolitischen Erwartungen und Forderungen            im Zuge des Skandals um den amerikanischen Filmprodu-
stellt die Berliner Ärzt:innenschaft an die neue Berliner     zenten Harvey Weinstein läuft. Thiede sagte: „Ärzt:innen
Regierung? Zudem informierte Bobbert die Delegierten          sind an ihrem Arbeitsplatz leider besonders häufig mit sexua-
darüber, dass der Reservetermin am 8. Dezember 2021 für       lisierter Diskriminierung und Gewalt konfrontiert – aufgrund
eine weitere Delegiertenversammlung genutzt wird. Schwer-     der oftmals hierarchischen Strukturen oder der zwangs-
punktthema dieser Sitzung werde die Diskussion um eine        läufigen Nähe zwischen Kolleg:innen, vor allem in operati-
neue Satzung und Geschäftsordnung sein.                       ven und interventionellen Fächern.“ Es sei ein verbreitetes

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BERLINER ÄRZT:INNEN
                                                                                         AUSGABE 08 / 2021

„Ärzt:innen sind an                                           zu sexueller Belästigung begründet. Laut Vorstand habe es
                                                              damals auf dem Ärztetag jedoch keine offizielle Begründung
ihrem Arbeitsplatz                                            zur Nichtbefassung gegeben. Nach kurzer Diskussion einigte
                                                              man sich darauf, den Halbsatz zur Begründung aus dem
leider besonders häufig                                       Entschließungsantrag von Thiede und Veelken zu streichen.
                                                              Dr. med. Eva Müller-Dannecker (FrAktion Gesundheit) be-
mit sexualisierter Dis-                                       grüßte den zügigen Kompromiss. In der anschließenden Ab-
                                                              stimmung beschlossen die Delegierten den Entschließungs-
kriminierung und Gewalt                                       antrag mit klarer Mehrheit.

konfrontiert – aufgrund                                       Eine Einigung gelang bei dem von der FrAktion Gesundheit
                                                              eingebrachten Entschließungsantrag „Einrichtung eines
der oftmals hierarchi-                                        Ausschusses ‚Klimawandel und Gesundheit‘“ vorerst nicht:
                                                              Demzufolge bittet die Delegiertenversammlung den Vorstand
schen Strukturen oder                                         zunächst, einen Arbeitskreis einzurichten. Dabei wurde
                                                              jedoch die Notwendigkeit betont, dass aus dem Arbeits-

der zwangsläufigen Nähe                                       kreis in der nächsten Amtsperiode ein Ausschuss hervor-
                                                              gehen solle. Mit breiter Mehrheit nahm die Delegierten-

zwischen Kolleg:innen,                                        versammlung den Entschließungsantrag an.

vor allem in operativen                                       Ein dritter von der FrAktion Gesundheit eingebrachter Ent-
                                                              schließungsantrag zur „Divestment-Strategie der Berliner

und interventionellen                                         Ärzteversorgung“ wurde kontrovers diskutiert. Dabei ging
                                                              es um die Frage, ob die Berliner Ärzteversorgung Kapital

Fächern.“                                                     aus Industrien der fossilen Energiebranche abziehen und
                                                              in klimafreundliche Anlagen investieren soll. Einigen Dele-
                                                              gierten leuchtete nicht ein, warum dies in der Delegierten-
Dr. med. Katharina Thiede                                     versammlung diskutiert werden sollte. Dafür sei vor einigen
                                                              Jahren die regelmäßig tagende Vertreterversammlung
                                                              der Berliner Ärzteversorgung einberufen worden. Letzt-
                                                              lich lehnten die Delegierten den Entschließungsantrag ab.
Phänomen, das Kolleg:innen, aber auch Patient:innen be-       Gleichwohl wurde zugesichert, dass der zu gründende Ar-
trifft. Daher müssten die Ärztekammer Berlin und weitere      beitskreis der Ärztekammer Berlin sich mit der Thematik
Einrichtungen des Gesundheitswesens diesem Missstand          befassen werde.
nun dringend mit Coachings und klaren Regelungen be-
gegnen. Zu diesem Zweck sei das vorliegende Papier ein-       Umstrittenes Verfahren zur Wahl der Prüfer:innen
gebracht worden.                                              Unter dem TOP V wurde anschließend die Wahl der Prü-
                                                              ferinnen und Prüfer für die Prüfungen nach der Weiter-
Im Anschluss erörterten Bobbert und Veelken, in welcher       bildungsordnung der Ärztekammer Berlin debattiert.
Zusammensetzung der im Papier erwähnte Ethikkodex             PD Dr. med. Uwe Torsten (Hartmannbund Plus) fragte, ob
erarbeitet werden sollte. Veelken sagte, man hätte sich       die Personen auf den Listen, die zur Wahl als Prüferinnen
nicht festlegen wollen. So könnte eine interfraktionelle      und Prüfer ständen, zuvor darüber informiert worden
Arbeitsgemeinschaft zu diesem Zweck gegründet werden,         seien? Dr. med. Antje Koch, Leiterin der Abteilung Weiter-
um einen möglichst breiten Konsens zu finden. Generell        bildung / Ärztliche Berufsausübung der Ärztekammer Berlin,
sei man jedoch offen hinsichtlich Art, Größe und Zusam-       antwortete, dass tatsächlich nicht alle 124 Personen zuvor
mensetzung der Arbeitsgruppe.                                 angefragt worden seien, da dies ein sehr aufwendiges Ver-
                                                              fahren sei. Die gewählten Prüfer:innen würden über ihre
Bobbert nahm anschließend den Änderungsantrag des Vor-        Wahl benachrichtigt und könnten dieser zustimmen oder
standes zu dem Papier auf. In dem Entschließungsantrag        sie ablehnen. Dieses Verfahren habe sich bewährt. So
von Thiede und Veelken wird die Nichtbefassung des Deut-      hätte man viele dringend benötigte Prüfer:innen gewin-
schen Ärztetages im Jahr 2018 mit einem seinerzeit von Ber-   nen können. Dr. med. Christine Wessel (NAV-Virchow-
liner Abgeordneten eingebrachten Entschließungsantrag         Bund – Haus- und Fachärzte gemeinsam!) konstatierte,

                                                                                                                     19
AUS DER KAMMER

dass dies in ihren Augen ein fragwürdiges Verfahren sei,       Zu den Themen Allergologie und Homöopathie gaben
Leute zu wählen, die gar nicht wissen, dass sie gewählt wer-   Prof. Dr. med. Margitta Worm, Leiterin der Hochschul-
den. Weitere Delegierte schlossen sich in ihren Wortbei-       ambulanz und Lehrkoordinatorin der Klinik für Derma-
trägen dieser Einschätzung an.                                 tologie, Venerologie und Allergologie an der Charité –
                                                               Universitätsmedizin Berlin, sowie Dr. med. Ursula Dohms,
Die Delegierten Dr. med. Klaus Thierse (Marburger Bund)        Erste Vorsitzende des Berliner Vereins Homöopathischer
und Dr. med. Kai Sostmann (Marburger Bund) verteidigten        Ärzte (BVhÄ), kurze Stellungnahmen ab.
das übliche Verfahren als effektiv. Sostmann ergänzte, es
vereinfache die Wahlen und Prüfer:innen würden drin-           Worm wies darauf hin, dass es in Deutschland sehr unein-
gend gesucht. Weiterhin sei sein Eindruck, dass sich ein       heitliche Regelungen zur Allergologie gebe. Wichtig sei es,
Großteil der gewählten Kolleg:innen geehrt fühlen würde.       dass Allergolog:innen ihren Patient:innen exzellente Be-
Nach der kontroversen Debatte zum Verfahren wurden             treuung auf hohem Niveau bieten können. Dohms warb in
letztlich dennoch alle Vorschläge zum TOP V mehrheitlich       ihrer Stellungnahme um Toleranz gegenüber der Homöo-
angenommen.                                                    pathie. Der Bedarf der Patient:innen sei ungebrochen hoch.
                                                               Es ginge heute in der Abstimmung darum, Patientensicher-
Unter TOP VI beschloss die Delegiertenversammlung nach         heit zu schaffen. Die qualitative Weiterbildung der Homöo-
Diskussion eine Änderung der Hauptsatzung. Sie sieht           pathie müsse in ärztlicher Hand bleiben.
unter anderem vor, dass die Delegierten Beschlüsse auch
weiterhin mittels elektronischer Kommunikationsmittel          Hinsichtlich der Allergologie diskutierten die Delegierten
fassen können. Im Anschluss beriet sich die Versammlung        anschließend vor allem, ob das stationäre Pflichtjahr bei-
zur neuen Weiterbildungsordnung.                               behalten werden soll. So berichtete Dr. med. Laura Schaad
                                                               (Marburger Bund) eindringlich von ihren Erfahrungen damit
Zusatzweiterbildung Homöopathie aus der Weiter-                und plädierte für eine berufsbegleitende Zusatzweiterbil-
bildungsordnung gestrichen                                     dung. Letztlich entschied sich die Delegiertenversammlung
Einleitend informierte der Präsident die Versammlung,          mit deutlicher Mehrheit gegen ein Pflichtjahr und für die
dass der Entwurf zur Neufassung der Weiterbildungsord-         berufsbegleitende Zusatzweiterbildung in Allergologie.
nung (WBO) der Ärztekammer Berlin an diesem Abend
aufgrund der Verhältnismäßigkeitsrichtlinie der EU noch
nicht beschlossen werden würde. Dies würde erst in der
Delegiertenversammlung im September geschehen. Die
laufende Delegiertenversammlung solle über drei Emp-
                                                               „Wir haben in Berlin das
fehlungen des Vorstandes zur neuen Weiterbildungsord-
nung entscheiden: 1. Die Formulierung „und somathera-
                                                               Problem, dass wir aus
peutische“ im Abschnitt zum Facharzt Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie zu ergänzen. 2. Die Zusatz-
                                                               formaljuristischen Grün-
bezeichnung Homöopathie weiterhin als Bestandteil der
Weiterbildungsordnung beizubehalten. 3. Den Erwerb der
                                                               den gezwungen sind,
Zusatzbezeichnung Allergologie entsprechend der (Muster-)
Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer berufs-
                                                               Fortbildungen zu zerti-
begleitend zu ermöglichen.
                                                               fizieren, die wir so nach
In einem kurzen Vortrag bekräftigte Thierse, Vorsitzender
des Gemeinsamen Weiterbildungsausschusses der Ärzte-           unseren Kriterien der
kammer Berlin, die Ziele der ersten Änderung der WBO
seit 17 Jahren. Man wollte die WBO mit der Neufassung          evidenzbasierten Medizin
verschlanken und insbesondere solle diese auf Kompe-
tenz basieren und nicht auf Zeiten und Zahlen. Statt auf       und den Vorgaben unserer
Pflichtzeiten würde nun zukünftig mehr auf die Vermitt-
lung von Kompetenzen gesetzt. Zudem unterstrich er,            Fortbildungsordnung nie
dass es zukünftig juristische Folgen für die Weiterbildungs-
befugten haben werde, wenn ehemaligen Weiterbildungs-          akzeptieren würden.“
assistent:innen kurze Zeit nach Erhalt der Bescheinigung
grobe Fehler unterliefen.                                      Dr. med. Matthias Brockstedt

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BERLINER ÄRZT:INNEN
                                                                                            AUSGABE 08 / 2021

Insbesondere die Homöopathie wurde in der Folge inten-
siv wie kontrovers diskutiert. Der Vorsitzende des Fort-
bildungsausschusses der Ärztekammer Berlin, Dr. med.
Matthias Brockstedt (FrAktion Gesundheit) plädierte lei-
denschaftlich für eine Streichung der Zusatzbezeichnung
Homöopathie aus der WBO. „Wir haben in Berlin das Prob-
lem, dass wir aus formaljuristischen Gründen gezwungen
sind, Fortbildungen zu zertifizieren, die wir so nach unse-
ren Kriterien der evidenzbasierten Medizin und den Vor-
gaben unserer Fortbildungsordnung nie akzeptieren wür-
den “, sagte er. Später ergänzte Thierse: „Wir zertifizieren
praktisch durch die Prüfung eine Therapiemethode, von
der wir selbst sagen, dass ihr die Evidenz fehlt.“ Man
könne sich ausrechnen, was mit der Homöopathie in der          Diesmal kamen die Delegierten in hybrider Form zusammen: mit
nächsten Musterweiterbildungsordnung beim Deutschen            begrenzter Teilnahmezahl vor Ort und parallel online.
Ärztetag passieren werde, wo bereits zwei Drittel der          Bild: Ärztekammer Berlin
Kammern sie abgeschafft hätten, so Thierse weiter.

Vizepräsident Dr. med. Matthias Blöchle (Allianz Berliner
Ärzte – MEDI Berlin) plädierte hingegen für Toleranz: Man      werden. Da dies bei rund 20 Prozent der Anträge der Fall
solle die Kolleg:innen nicht wegstoßen. Veelken ergänzte,      sei, sei dies bedauerlicherweise notwendig, hieß es. Ein
dass Patient:innen die Zuwendung durch die Ärzt:innen in       Beschluss hierzu soll in der nächsten Delegiertenversamm-
der Schulmedizin vermissen würden: „Wir werden den Be-         lung folgen.
dürfnissen der Patienten nicht gerecht“, sagte er. Man solle
die Zusatzbezeichnung Homöopathie in der WBO belassen          Weiter ging es dann mit der Wahl von Abgeordneten
und in den nächsten Jahren eine harte Diskussion mit den       sowie deren Vertreter:innen zum 125. Deutschen Ärzte-
Homöopath:innen führen. Die Kontroverse spiegelte sich         tag am 1. und 2. November 2021 in Berlin. Abschließend
dann auch im Abstimmungsverhalten wider: 16 Delegierte         wurde die Resolution „Krankenversorgung ist ein Men-
stimmten für eine Zusatzweiterbildung Homöopathie, 22          schenrecht“ von der Delegiertenversammlung beschlossen.
stimmten dagegen, bei einer Enthaltung.                        Darin fordert die Ärztekammer Berlin, dass für die geschätzt
                                                               aktuell mehreren zehntausend in Berlin lebenden Menschen
Resolution „Krankenversorgung ist ein Menschen-                ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz die Ver-
recht“ beschlossen                                             mittlung des Krankenversicherungsschutzes intensiviert,
Als letzter Punkt des TOPs wurde die Ergänzung der Formu-      die Kapazitäten und Kompetenzen der Sozialämter gestärkt
lierung „und somatherapeutische“ im Abschnitt zum Fach-        und eine Handlungssicherheit für alle Beteiligten geschaffen
arzt Psychosomatische Medizin und Psychotherapie dis-          werden.
kutiert. Dr. med. Christian Messer (Allianz Berliner Ärzte –
MEDI Berlin) leitete mit einem kurzen Vortrag zum Für und      Die nächste Delegiertenversammlung findet am 22. Sep-
Wider der Ergänzung in die Diskussion ein. Die Mehrheit        tember 2021 statt. ∕
stimmte für die Ergänzung der Formulierung, die in der
bundesdeutschen Kammerlandschaft einzigartig ist.

In einem Wortbeitrag von Prof. Dr. med. Wulf Pankow
(FrAktion Gesundheit) betonte dieser, dass er stolz auf die
Ergänzung des Facharztes Infektiologie in die Neufassung
der WBO sei. Damit sei Berlin als erstes Bundesland mutig
vorangeschritten. Einen umfänglichen Bericht zur Neu-
fassung der WBO wird es in der Oktoberausgabe der
„Berliner Ärzt:innen“ geben.
                                                               Ole Eggert
                                                               Stabsstelle Gesundheits-
Anschließend diskutierten die Delegierten das Vorhaben,        politik / Presse- und
eine Verwaltungsgebühr zu erheben, wenn Anträge zur An-        Öffentlichkeitsarbeit
erkennung von Weiterbildungskursen verspätet eingereicht       Foto: privat

                                                                                                                          21
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