Übersetzen als interkulturelles Handeln - Translating as an Intercultural Act

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                  Interkult. Forum dtsch.-chin. Kommun. 2021; 1(1): 41–60

Yong Liang*
Übersetzen als interkulturelles Handeln
Translating as an Intercultural Act
https://doi.org/10.1515/ifdck-2021-2004

Zusammenfassung: Im vorliegenden Beitrag werden einige altbekannte Fragen
in der Übersetzungsforschung und -praxis aufgegriffen und aus interkultureller
Sicht neu reflektiert. Anhand von exemplarischen Übersetzungen geisteswissen-
schaftlicher Schlüsselwörter, die in ihrem historischen, soziokulturellen und
sprachlichen Kontext sowie im Hinblick auf ihre Verwendung und Wirkung hin
analysiert bzw. diskutiert werden, möchten wir der Frage nachgehen, was inter-
kulturell qualifiziertes Übersetzen auszeichnet.

Stichwörter: Übersetzen, Geisteswissenschaften, Schlüsselwörter, Perspektiven,
Interkulturalität

Abstract: In this article, some well-known questions in translation research and
practice are taken up and reconsidered from an intercultural perspective. Using
examples from the translations of keywords in the humanities, which are ana-
lyzed and discussed in their historical, socio-cultural and linguistic context, and
with regard to their use and effect, the question of what characterizes an intercul-
tural qualified translation is explored.

Keywords: translation, humanities, keywords, perspectives, interculturality

1 Aufgabenstellung
Übersetzen hat Konjunktur in China. Auf dem Gebiet der Belletristik wie in ver-
schiedenen wissenschaftlichen Bereichen ist in den letzten Jahren eine kaum
noch überschaubare Fülle von Übersetzungen vor allem aus europäischen Spra-
chen ins Chinesische erschienen. Die Anzahl der Übersetzungen in die andere
Richtung fällt dagegen vergleichsweise bescheiden aus. Mit diesem Trend sind
unlängst auch alle möglichen Übersetzungstheorien nach China importiert und

*Korrespondenzautor: Prof. Dr. Yong Liang, Universität Trier, FB II, Sinologie, 54286 Trier,
Germany, zurzeit: Ocean University of China, College of Foreign Languages, 266100 Qingdao,
China. E-Mail: liang@uni-trier.de

   Open Access. © 2021 Yong Liang, publiziert von De Gruyter.           Dieses Werk ist
lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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mit viel Eifer rezipiert worden: angefangen bei den linguistischen, hermeneuti-
schen, handlungstheoretischen und funktionalen bis hin zu den kognitiven und
kulturwissenschaftlichen Ansätzen.1 Auch die theoretische Beschäftigung mit
interkulturellen Fragestellungen des Übersetzens hat zunehmend an Bedeutung
und Aufmerksamkeit gewonnen. Es gilt daher zu überprüfen, ob und inwiefern
diese verschiedenen Theorien und Modelle, die sich zumeist auf Daten und
Erfahrungen stützen, welche im Rahmen von Translationsversuchen zwischen
mehr oder weniger verwandten europäischen Sprachen gesammelt wurden,
sinnvoll und geeignet sind, Fragen und Probleme bei der Übersetzung zwischen
zwei sowohl in sprachlicher als auch kultureller Hinsicht überaus weit entfern-
ten Sprachen wie z. B. dem Deutschen und Chinesischen zu analysieren und zu
beschreiben.
    Es scheint heute Konsens zu sein, dass Übersetzen nicht nur als Sprach-,
sondern auch als Kulturtransfer anzusehen ist. Infolgedessen wird mittlerweile
häufig gefordert, den kulturellen Einflussfaktoren auf den Übersetzungspro-
zess ein größeres Gewicht beizumessen. Das ist gewiss eine wichtige Horizont-
erweiterung gegenüber einer rein linguistischen Betrachtungsweise. Allerdings
werden dabei die beiden Begriffe kulturell und interkulturell nicht selten wie
austauschbare Synonyme verwendet. Wenn Übersetzen im Grunde immer auch
kulturelles Übersetzen ist, wäre „jedes Übersetzen per se interkulturell“ (Siever
2010: 223). Von dieser Sichtweise ausgehend wird interkulturelles Handeln
nicht selten auf einen Kulturvergleich reduziert. Natürlich ist eine gründliche
Kenntnis und kontrastive Analyse der betreffenden Kulturen wichtig für den
Translationsprozess, aber erscheint uns dann doch nicht hinreichend für die
Beantwortung der Frage, wie man beim Übersetzen zwischen zwei Kulturen
angemessen vorgeht.
    Im Folgenden wird nicht weiter auf die diversen theoretischen Modelle ein-
gegangen, sondern auf einige altbekannte Fragen der Übersetzungsforschung
und -praxis zurückgegriffen,2 über die aus interkultureller Sicht neu nachgedacht
werden soll. Wir möchten dabei exemplarisch-erkundend vorgehen, und zwar
anhand einiger Fallbeispiele aus der fernen und jüngeren Vergangenheit, in der

1 Einen Überblick über die Entwicklung der modernen Übersetzungswissenschaft liefert Siever
(2010). Zu bemerken ist, dass sich viele dieser Theorien, insbesondere in der deutschen Überset-
zungswissenschaft, nicht gerade durch einen wechselseitigen Austausch, sondern eher durch
ein Nebeneinander auszeichnen und sich deren Vertreterinnen und Vertreter zum Teil heftig und
unversöhnlich befehden. Vgl. dazu Kautz (2002: 30).
2 Gemeint sind Fragen wie wörtliches oder sinngemäßes, originalgetreues oder freies, verfrem-
dendes oder einbürgerndes Übersetzen etc., über die seit Jahrhunderten diskutiert und gestritten
wird. Im Kontext der Zielsprache Chinesisch zeigen diese Fragen allerdings zum Teil eine andere
Gewichtung und Qualität.
                      Übersetzen als interkulturelles Handeln   43

Hoffnung, auf diese Weise neue Anregungen und Erkenntnisse für eine weitere
Auseinandersetzung mit dem hier zu diskutierenden Forschungsthema zu gewin-
nen, id est was ein interkulturell qualifiziertes Übersetzen auszeichnet.
     Die Fallbeispiele stammen alle aus Übersetzungen geisteswissenschaftlicher
Texte. Das Übersetzen in diesem Bereich stellt auf der einen Seite eine Art fach-
bezogene Kommunikation dar, die einen hohen Grad an terminologischer Genau-
igkeit verlangt; auf der anderen Seite sind geisteswissenschaftliche Texte von
ihren Forschungsthemen her häufig besonders geschichtlich, kultur- und kon-
textabhängig sowie in ihrer stilistischen Gestaltung nicht immer neutral. Geistes-
wissenschaftliches Übersetzen unterscheidet sich damit grundlegend sowohl
von naturwissenschaftlich-technischem als auch von literarischem Übersetzen,
wobei es zugleich eine Reihe von Merkmalen der beiden anderen Gattungen
integriert. Es ist daher meiner Ansicht nach vortrefflich zur Erörterung translato-
risch-interkultureller Fragestellungen geeignet.
     Die folgende Diskussion beschränkt sich auf die Untersuchung von bestimm-
ten übersetzten Schlüsselwörtern. Damit sind diejenigen Wörter gemeint, die in
der kommunikativen Praxis eines definierten Bereichs zentrale Spracheinheiten
darstellen, eine hohe Verwendungsfrequenz aufweisen, in der Regel diskurs-
bestimmend bzw. -erschließend sind und uns daher Aufschluss über wichtige
Spezifika des Übersetzens geben können.3 Es ist sicher richtig und sinnvoll, den
Übersetzungshorizont auch über das Wort hinaus auf den Satz, den Text und
schließlich auf den gesamten Diskurs auszuweiten. Aber trotz aller berechtigten
Betonung einer Orientierung am sprachlichen Ganzen stellen bestimmte ein-
zelne Wörter in der Übersetzungspraxis häufig immer noch die größten Probleme
dar. Dessen ungeachtet möchten wir die hier zu untersuchenden Schlüsselwörter
natürlich nicht nur rein lexikalisch betrachten, sondern stets in ihrem histori-
schen, sozialen und sprachlich-kulturellen Kontext sowie im Hinblick auf ihre
Verwendung und Wirkung hin analysieren und diskutieren.

2 L autliche Übersetzung: Gezwungene oder
  erhoffte Fremdheit?
Zur Übersetzung lexikalischer Einheiten weist die chinesische Sprache im Grunde
zwei Möglichkeiten auf: die lautliche und die inhaltliche. Es gibt zwar noch einige
weitere Varianten – wie etwa die Hybridbildung – aber diese basieren letztendlich

3 Zum Konzept Schlüsselwörter siehe u. a. Hermanns (1994).
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alle mehr oder weniger auf den beiden zuvor genannten Grundmustern. Während
die lautliche Übersetzung in der europäischen Übersetzungsforschung verhält-
nismäßig selten Gegenstand der Diskussion ist, spielt sie bei der Übertragung ins
Chinesische eine ausgesprochen wichtige Rolle.
     Bei der lautlichen Übersetzung geht es um eine Art modifizierte phonetische
Wiedergabe der fremdsprachlichen Wörter mit chinesischen Schriftzeichen, das
heißt, dass dabei nur die jeweilige Lautform, nicht aber der Inhalt übersetzt
wird.4 Die lautlich übersetzten Wörter, um sie mit einem linguistischen Begriff zu
charakterisieren, sind in der Regel semantisch unmotiviert. Die Bedeutung eines
lautlich übersetzten Wortes ist für chinesische Muttersprachler mithin weder
aus den Bedeutungen der beteiligten Komponenten noch aus der Bedeutung der
gesamten Wortverbindung verstehbar.5 Deshalb fallen derartige Zeichenzusam-
mensetzungen in der chinesischen Sprache am stärksten als fremde Wörter auf.6
Nehmen wir zwei Beispiele aus der jüngeren Geschichte:

Saiyinsi (‌赛因斯)                           für science
Demokelaxi (‌德谟克拉西)7                      für democracy

Es waren diese beiden Schlüsselwörter, welche die Neue Kultur-Bewegung
(1915–1923) sowie die 4. Mai-Bewegung (1919) von Anbeginn prägten. Allerdings
erschienen sie den Aktivisten dann doch etwas zu lang und schwerfällig, wes-
wegen wurden sie schließlich durch zwei einprägsame und ungewöhnliche Kurz-
formen ersetzt, im Konkreten Mister Sai (‌赛先生) für Wissenschaft und Mister De
(‌德先生) für Demokratie,8 wobei der Ausdruck Xiansheng (‌先生 Herr) – bevor er zu

4 Da sich nicht für jede Silbe aus den europäischen Sprachen ein lautliches Pendant im Chine-
sischen, d. h. ein chinesisches Schriftzeichen mit dem gleichen Lautwert, finden lässt, ist in der
Regel keine vollständige, sondern nur eine annähernde Wiedergabe der Lautung möglich.
5 Zur Definition und Beschreibung der Motiviertheit (vs. Unmotiviertheit) der Lexik, insbeson-
dere im Bereich der Phraseologie, vgl. u. a. Burger (2003: 66).
6 Abgesehen davon tauchen seit einigen Jahren in chinesischsprachigen Texten vermehrt Buch-
stabenwörter auf. Dabei handelt es sich in erster Linie um englische Wörter, die ohne Über-
setzung direkt in den chinesischen Text eingefügt werden. Bis dahin waren, nach führenden
Sprachwissenschaftlern wie Wang Li (1958: 516), nur die lautlich übersetzten Lexeme den
Fremdwörtern zuzuordnen, während die inhaltlich übersetzten als in die chinesische Sprache
integrierte Worteinheiten betrachtet werden.
7 Die Schriftzeichen des ersten Wortes (‌赛因斯) haben u. a. die Bedeutungen Wettkampf – Ursa-
che – dies, die des zweiten (‌德谟克拉西) Tugend – Plan – überwältigen – ziehen – Westen, erge-
ben also in dieser Zusammenstellung semantisch gelesen überhaupt keinen Sinn.
8 Siehe den Artikel von Chen Duxiu (‌陈独秀 1879–1942), dem Hauptherausgeber der Zeitschrift
Neue Jugend (‌新青年) 6 (1).
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einer allgemeinen Anredeform wurde – ursprünglich Lehrer bedeutete und damit
besonders geschickt gewählt war.
     Aus interkultureller Sicht sind diese beiden Wortschöpfungen deshalb so
interessant, weil hier eine Kombination von linguistisch-semantischer Unmoti-
viertheit und soziokultureller Motiviertheit vorliegt. Der Indikator der Fremd-
heit – erkennbar an den ungewöhnlichen Schriftzeichenkombinationen – war
hier offenbar willkommen, und der Verfremdungseffekt hatte Vorrang gegen-
über der Semantik. Denn auch wenn zu jener Zeit die inhaltlichen Übersetzun-
gen der beiden Begriffe, id est Kexue (‌科学) für Wissenschaft und Minzhu (‌民主)
für Demokratie, längst verbreitet waren, sollte der Einsatz der besonders fremd
erscheinenden lautlichen Wiedergabe offenbar eine Hinwendung zu neuen, aus
Europa eingeführten und als fortschrittlich angesehenen Ideen symbolisieren,
mit deren Hilfe die alte, etablierte und vor allem konfuzianisch geprägte Kultur
grundlegend erneuert werden sollte. Inzwischen sind diese beiden rein phone-
tisch übersetzten Fremdwörter freilich längst in Vergessenheit geraten, und auch
ihre Kurzformen – Mr. Sai und Mr. De – sind nur noch in Geschichtsbüchern und
-filmen anzutreffen, wohingegen sich ihre inhaltlich übersetzten Pendants weit-
gehend durchgesetzt und etabliert haben.
     Tatsächlich hat die lautliche Übersetzung im Chinesischen eine lange
Tradition und wurde schon zur Zeit der alten Seidenstraße – also vor mehr als
2000 Jahren – praktiziert. Damals brachte der aufblühende Fernhandel nicht
nur Konsum- und Kulturgüter, sondern auch die ersten Fremdwörter in das
Reich der Mitte.9 Diese lautlich übersetzten Begriffe waren zumeist Konkreta
und sind im Laufe der Zeit vollständig in die chinesische Sprache integriert
worden, sodass ihr fremdsprachlicher Ursprung heute kaum mehr zu erkennen
ist.
     Dabei liegt – damals wie heute – ein wichtiger Vorteil dieses Überset-
zungsmusters klar auf der Hand: seine einfache Realisierbarkeit. Schließlich
muss man nur eine Reihe von chinesischen Schriftzeichen finden, deren hin-
tereinander gelesene Lautwerte ungefähr mit der Aussprache des Fremdwor-
tes übereinstimmen, und braucht sich – anders als bei einer inhaltlichen
Übersetzung – über die jeweilige Semantik nicht groß den Kopf zu zerbrechen.
Es sollte lediglich darauf geachtet werden, dass die beteiligten Schriftzeichen

9 Wir kennen in der chinesischen Gegenwartssprache eine Reihe von Wörtern, die nachweislich
aus dieser Zeit stammen, wie z. B. Putao (‌葡萄 Weintraube), luotuo (‌骆驼 Kamel), Liuli (‌琉璃
Farbglasur), Hupo (‌琥珀 Bernstein) u. v. m. Alle diese Wörter, die inzwischen vollständig ins
Chinesische integriert sind, waren ursprünglich lautliche Übersetzungen.
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nicht negativ konnotiert sind.10 Daher wird bei der Einführung von neuen Begrif-
fen und Konzepten, deren sprachliche Benennungen im Chinesischen bis dato
nicht existieren, im ersten Schritt oft die lautliche Übersetzung verwendet, wie
z. B.:

Wutuobang (‌乌托邦)                        für englisch utopia
Feiluosuofeiya (‌斐洛索费亚)                 für griechisch philosophía

Außerdem hat diese Methode den Vorzug, dass sich mit ihr unangemessene bzw.
unzulässige Interpretationen, die im Rahmen einer inhaltlichen Übersetzung
entstehen können, vermeiden lassen. So hat z. B. Xuanzang (‌玄奘 602–664), der
Pilgermönch aus der Tang-Zeit und der wohl wichtigste Vermittler buddhistischer
Schriften in China, fünf Grundprinzipien für das Nicht-Übersetzen formuliert.
Gemeint sind damit fünf Situationen, in denen die buddhistischen Begriffe aus
dem Sanskrit nicht inhaltlich, sondern nur lautlich übersetzt werden dürfen (vgl.
Feng 2004: 108–109). Die Mehrzahl der buddhistischen Begriffe wurde dann
tatsächlich im Sinne einer unverfälschten Originaltreue lautlich ins Chinesische
übertragen, so z. B.

Pusa (‌菩萨)                              für bodhisattva
Shamen (‌沙门)                            für śramaṇa
Sheli (‌舍利)                             für śarīra
Boluomiduo (‌波罗蜜多)                      für pāramitā

Die intellektuelle Auseinandersetzung mit den buddhistischen Schriften und vor
allem deren Übersetzung ins Chinesische ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. haben
einen großen Einfluss auf die chinesische Sprache ausgeübt, sowohl gramma-
tisch als auch stilistisch und lexikalisch (Wang 1958: 477). Zahlreiche buddhisti-
sche Fachausdrücke haben seitdem Eingang in die chinesische Gemeinsprache
gefunden, und letztendlich war es diese umfangreiche Übersetzungstätigkeit,
welche die bis heute gültigen Entlehnungsmuster geprägt hat.
     Über die Frage, welche Übersetzungsmethode – d. h. die lautliche oder
inhaltliche – besser ist, wurde unter chinesischen Intellektuellen gleichwohl
lebhaft gestritten, so auch in den 1920er Jahren, als die oben genannten Mr. Sai
und Mr. De aufkamen. Diejenigen, die strikt gegen jede Art von rein phoneti-
scher Entlehnung waren, sahen in der übermäßigen Verwendung von lautlichen

10 Das gilt auch für die Übersetzung von Orts-, Personen- und sonstigen Eigennamen, die in den
meisten Fällen nur phonetisch wiedergegeben werden, z. B. Bolin (‌柏林) für Berlin, Hongbaote
(‌洪堡特) für Humboldt.
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Fremdwörtern vor allem die Gefahr einer Untergrabung des Nationalstolzes. Ihre
Kontrahenten hingegen wiesen darauf hin, dass bei einer inhaltlichen Überset-
zung die eigentliche Bedeutung des Originalwortes durch die Aktivierung nahezu
beliebiger Interpretationen verloren gehen könnte.11 Diese Debatte wurde in der
Folgezeit, praktisch bis heute, immer wieder neu aufgewärmt.
    Um den Lesern eine gewisse semantische Orientierung zu geben und das Ver-
ständnis ein wenig zu erleichtern, hat man im Chinesischen frühzeitig eine Kom-
promisslösung entwickelt, die zuweilen auch als Hybridbildung bezeichnet wird.
Hier zwei Beispiele aus der Übersetzung buddhistischer Schriften:

Lengqiejing (‌楞伽经)                        für lankāvatāra-sūtra
Lengyanjing (‌楞严经)                        für śūraṅgama-sūtra

Hier wird der eigentliche Titel lautlich, die Textsortenbezeichnung Sutra hin-
gegen mit Jing (‌经 kanonische Schrift) inhaltlich übersetzt (Qian 2011: 7–8).
Diese Methode ist bis heute ausgesprochen produktiv.12 Auf diese Weise wird
das Unbekannte, also das phonetisch übersetzte Fremdwort, mit dem Bekann-
ten, d. h. einem chinesischen Schriftzeichen, das die Grundeigenschaft bzw. die
Zugehörigkeit des zu bezeichnenden Gegenstandes oder Sachverhaltes aufweist,
kombiniert, um so die Verstehbarkeit des entsprechenden Wortes zu fördern. In
diesem Sinne ist auch die folgende Fachbezeichnung aufzufassen:

Geshita lilun (‌格式塔理论)                    für Gestalttheorie

Der Terminus Geshita (‌格式塔) ist eine lautliche Übertragung des deutschen
Wortes Gestalt, das zwar jedem in China, der Psychologie studiert hat, bestens
bekannt sein dürfte, Laien jedoch einigermaßen nebulös erscheint. Die Zeichen-
kombination sagt uns semantisch zunächst einmal gar nichts. Erst mit der Zusatz-
angabe Lilun (‌理论 Theorie) lässt sich ungefähr erschließen, worum es dabei
gehen könnte. Die Frage, warum das gesamte Fachwort nicht gleich inhaltlich
übersetzt worden ist, was durchaus denkbar wäre, ist schwer zu beantworten.
Möglicherweise war auch hier der Wunsch nach einem sprachlich-kulturellen
Verfremdungseffekt im Spiel.
    Die Relevanz des lautlichen Übersetzungsmusters ist, wie wir gesehen haben,
nicht eindimensional zu bewerten. Auf der einen Seite sind die dadurch entstan-

11 Ein guter Überblick über diese Debatte findet sich bei Pan/Ye/Han (2004: 312–326).
12 Vor allem in der modernen chinesischen Alltagssprache finden sich zahlreiche Fremdwörter
dieser Art. So z. B. Pijiu (‌啤酒:pi + jiu = pi + Alkohol) für Bier, Jipuche (‌吉普车: jipu + che = jipu
+ Wagen) für Jeep, Gaoerfuqiu (‌高尔夫球: gao’erfu + qiu = gao’erfu + Ball) für Golf.
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denen Neubildungen semantisch erklärungsbedürftig und wegen ihrer bleibenden
fremdsprachlichen Spuren nicht immer durchsetzbar. Auf der anderen Seite kann
gerade die sprachliche Fremdheit als etwas Attraktives empfunden werden, das zu
einer näheren Beschäftigung mit dem Inhalt des Wortes anspornt. Dieses Überset-
zungsmuster ist in gewissem Sinne auch eine Art verfremdende Übersetzung, die
sonst vorrangig in Bezug auf literarische Übersetzungen thematisiert wird. Es geht
hierbei allerdings weniger darum, die Leser in die fremde Ausgangskultur zu ver-
setzen, sondern vielmehr um die Betonung der ausländischen Quelle. Diese blei-
bende Fremdheit, ob gewollt oder gezwungenermaßen, wird oft sehr unterschied-
lich erlebt und interpretiert, zum einen bedingt durch den aktuellen Kontext, zum
anderen aber auch, wie wir gesehen haben, durch den jeweiligen Zeitgeist.
     Bei der Entscheidung, ob fremdsprachliches Wortgut lautlich oder inhalt-
lich übersetzt werden soll, stellt sich neben allen sprachlichen Einflussfaktoren
immer auch die Frage, wie mit kulturell Fremdem und Neuem umgegangen
werden sollte. Die Dimension des Fremden steht in ihrer Wahrnehmung und
Interpretation auch stets in engem Zusammenhang mit der des Eigenen. In der
praktischen Übersetzungsarbeit ist zudem eine Vermischung von Fremdem und
Eigenem, ausgedrückt durch eine Kombination von verschiedenen Übersetzungs-
möglichkeiten, anders als manche Theoretiker denken, durchaus denkbar und
wird nicht selten auch gezielt realisiert.
     Schließlich ist Übersetzen als ein dynamischer Prozess zu verstehen, und in
diesem Prozess sind viele einst lautlich ins Chinesische übertragene Fremdwörter
zu inhaltlichen Lehnübersetzungen geworden. Neben den erwähnten Beispielen
aus Politik und Philosophie ist dies auch in der fachsprachlichen Terminolo-
gie und in der Alltagskommunikation zu beobachten. Es wäre daher durchaus
interessant zu untersuchen, warum manche von den einst lautlich übersetzten
Wörtern verschwanden bzw. ersetzt wurden, andere wiederum erhalten geblie-
ben sind.

3 I nhaltliche Übersetzung: Fremdentlehnung
  oder Eigenbildung?
Die inhaltliche Übersetzung ist bei der Einführung fremdsprachlicher Begriffe
inzwischen eindeutig dominant. Sie war und ist allerdings mit einer Reihe wich-
tiger Fragen konfrontiert, deren Beantwortung ebenfalls nicht allein linguistisch
bzw. translatorisch, sondern auch interkulturell von großer Bedeutung ist.
     Am Beispiel der Übersetzung von Philosophie möchte ich nun versuchen,
diesen interkulturellen Prozess etwas näher zu beleuchten. Das Wort Philosophie
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wurde zunächst, wie schon gezeigt, lautlich übersetzt. Es folgten verschiedene
inhaltliche Übersetzungsversuche, bis sich schließlich diejenige Variante durch-
gesetzt hat, welche bis heute in Gebrauch ist:

Feiluosuofeiya (‌菲洛索费亚)               →            philosophía
Aizhixue (‌爱知学)                                    Lehre von der Liebe zur Weisheit
Lixue (‌理学)                                        Lehre vom Prinzip
Xinzhi zhi xue (‌心智之学)                             Lehre von der geistigen Befähigung
Siwei zhi xue (‌思维之学)                              Lehre vom Denken
Zhexue (‌哲学)                                       Weisheitslehre

Die Ideen der europäischen Philosophie wurden im 17. Jahrhundert, nicht zuletzt
dank der Bemühungen jesuitischer Missionare, sukzessive in China bekannt.
Nach der anfänglichen Lautübersetzung wurde von verschiedenen Gelehrten
versucht, den Terminus inhaltlich ins Chinesische zu übertragen. Dabei kann
man zu einem gewissen Grad erkennen, wie verschieden der importierte Begriff
verstanden und interpretiert wurde sowie welche Rolle die eigene kulturelle Tra-
dition dabei spielte. Mit Aizhixue wurde z. B. die Bedeutung des griechischen Ori-
ginallexems philosophía mehr oder weniger wörtlich ins Chinesische übertragen.
Die Übersetzung Lixue wiederum bezeichnete eigentlich die Schulen des Neokon-
fuzianismus aus der Song- und Ming-Zeit. Philosophie wurde nämlich lange Zeit
als eine rein westliche Lehre angesehen.
     Dass sich schließlich das Wort Zhexue (‌哲学) als bis heute gebräuchlicher
Terminus durchgesetzt hat, ist einem japanischen Gelehrten im Rahmen eines
europäisch-japanisch-chinesischen Wissenschaftsaustausches zu verdanken.
Auch Japan war im Laufe des 19. Jahrhunderts mit einer Vielzahl westlicher Ideen
und Konzepte konfrontiert, die wie in China zu unterschiedlichen, zum Teil mitei-
nander konkurrierenden Übersetzungen führten. Die neuen Begriffe aus Europa
wurden in den meisten Fällen mithilfe von Ausdrücken aus dem klassischen
Chinesisch ins Japanische übertragen. Es war Nishi Amane (1829–1897), einer
der berühmtesten Gelehrten und Übersetzer seinerzeit,13 der Philosophie im Jahre
1874 zum ersten Mal mit Zhexue (chinesisch: 哲学; japanisch: tetsugaku) wieder-
gab. Das neue Wort war dabei ein Kompositum aus Zhe (‌哲/tetsu Weisheit) und
Xue (‌学/gaku Lehre), wobei das Bestimmungswort Zhe (‌哲) bereits in den kon-
fuzianischen Klassikern auftrat, u. a. im Buch der Lieder, wo das Schriftzeichen

13 Nishi Amane (‌西周) hatte, wie Tsuda Mamichi (‌津田真道 1829–1903), in Europa studiert
und nach seiner Rückkehr nach Japan umfangreiche europäische Fachliteratur ins Japanische
übersetzt. Die Übersetzungen dieser beiden Gelehrten haben die Wissenschaften in Japan und
darüber hinaus nachhaltig beeinflusst.
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mehrfach in der Bedeutung von Weisheit und Klugheit verwendet wird.14 Nishi
Amane war der Meinung, dass die westliche Philosophie eine Art europäischer
Konfuzianismus sei und sich mit grundlegenden Fragen der Welt und Menschheit
befasse (Nie 2007: 344). Seine Übersetzung etablierte sich in der Folgezeit nach
und nach – begleitet von zahlreichen Diskussionen und weiteren Translations-
versuchen – und fand Ende des 19. Jahrhunderts schließlich Eingang in die chine-
sische Sprache.15 Der Erfolg seines Vorschlags ist u. a. auch dadurch zu erklären,
dass mit ihm eine Brücke zwischen der Kernbedeutung des europäischen Aus-
gangswortes und der asiatischen Tradition der Zielsprache geschlagen wurde.
    Bemerkenswert ist, dass die Etablierung des Terminus Philosophie in China,
wie auch in Japan, gleichsam eine Horizonterweiterung bedeutete, und zwar
nicht nur im Hinblick auf die Erschließung einer fremden Lehre, sondern auch
auf die Reflexion der eigenen Geistesgeschichte. Nach der anfänglichen Debatte,
ob es in Ostasien auch so etwas wie eine Philosophie gebe, wurde der Terminus
längst nicht mehr nur für die abendländisch-europäische Tradition, sondern
auch für die entsprechenden östlichen Denkansätze verwendet. In chinesischen
Diskursen spricht man mittlerweile ganz selbstverständlich von konfuzianischer
Philosophie oder daoistischer Philosophie, wohingegen dies für den einen oder
anderen europäischen Philosophen noch keine Selbstverständlichkeit zu sein
scheint. So schreibt z. B. Otfried Höffe, „Was manche die östliche Philosophie
nennen, heißt aber besser östliches Denken.“16 Demnach erscheint die östliche
Philosophie von ihren Themen, Interessen und Gestaltungen her wesentlich
anders als die europäische. Auf der Basis eines derartigen Alteritätsbewusst-
seins ist ein interkultureller Austausch natürlich nur schwer möglich. Es zeigt
sich hierin aber auch ganz deutlich, wie wichtig eine Übersetzung ist, die einen
solchen Austausch zugleich fördert und herausfordert.
    Aufschlussreich ist zudem, dass die gelungene Übersetzung Zhexue (‌哲学)
zwar auf einen ganz bestimmten Gelehrten zurückgeht, letztlich aber erst durch
ein Zusammenwirken diverser Deutungs- und Interpretationsbemühungen

14 Im Buch der Lieder ist u. a. von klugen Menschen (‌哲人 Zheren) und weisen Königen (‌哲王
Zhewang) die Rede, z. B. in den Liedern Nr. 243 und 256. Siehe die deutsche Übersetzung von
Rainald Simon (2015).
15 Seit dem Beginn der Meiji-Zeit im Jahr 1868 wurden zahlreiche wissenschaftliche Werke samt
ihren Begriffssystemen mit chinesischen Schriftzeichen ins Japanische übersetzt. Da in China
seinerzeit ebenfalls ein immens großer terminologischer Rückstand bzw. Bedarf an Neubildun-
gen bestand, wurde dieses Problem häufig angegangen, indem die im Zuge des japanischen
Modernisierungsprozesses entstandenen Wortneubildungen übernommen wurden. Vgl. dazu
Heuser (2002: 200).
16 Für ihn sind „der Daoismus, Konfuzianismus und Legismus, […] teils kultisch-religiöse, teils
lebenspraktisch bestimmte Schulen.“ Siehe Höffe (2001: 7).
                      Übersetzen als interkulturelles Handeln      51

zustande kam, an denen zahlreiche Wissenschaftler aus verschiedenen asiati-
schen und europäischen Ländern beteiligt waren. Somit stellt sie de facto das
Ergebnis eines wahrlich interkulturell geprägten Austausch- und Erkenntnis-
prozesses dar.
      Ferner stellt sich im Rahmen eines am lexikalischen Inhalt orientierten
Translationsprozesses immer wieder die Frage, ob man bei einer semantischen
(Teil-)Entsprechung des zu übersetzenden Begriffs mit einem im Chinesischen
bereits vorhandenen Wort einfach den letzteren verwenden oder vielleicht doch
besser einen völlig neuen prägen sollte. Der berühmte und folgenschwere Riten-
streit, welcher im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zwischen dem chinesischen
Kaiserhof und Vatikan stattfand, wurde mehr oder weniger durch die Kontroverse
ausgelöst, wie man das Wort Gott adäquat ins Chinesische übersetzen sollte. Vor
allem gab es eine Auseinandersetzung darüber, ob es angemessen bzw. zuläs-
sig sei, die monotheistische Vorstellung von Gott (die der ostasiatischen Theo-
logie eher fremd ist) mit den bereits im klassischen Chinesisch belegten Wörtern
Tianzhu (‌天主) bzw. Shangdi (‌上帝) wiederzugeben. Dies war nicht nur unter den
in China ansässigen Missionaren, sondern auch den chinesischen Intellektuel-
len höchst umstritten.17 Schlussendlich haben sich dann aber doch die beiden
bereits etablierten Begriffe durchgesetzt, was nicht zuletzt mit der Überzeugung
der Jesuiten zusammenhing, dass die Verbreitung des Christentums in einem
fremden Land wie China nur unter Anerkennung der dortigen Kulturtradition
möglich ist und erfolgreich sein kann.
      Diese Auseinandersetzung wurde im 19. Jahrhundert und in den ersten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auf anderen Gebieten weitergeführt. Die chi-
nesischen Reform- und Modernisierungsbestrebungen jener Zeit, die in allen
gesellschaftlichen und intellektuellen Bereichen tiefgreifende Veränderungen
auslösten, waren auch von den materiellen und geistigen Kulturen des Westens
beeinflusst. Dies führte zu einer weiteren massenhaften Einführung neuer
Begriffe und Konzepte aus dem europäischen Sprachraum und damit auch zu
einer umfangreichen Übersetzung fremdsprachlicher Wörter ins Chinesische.18 In
den meisten Fällen wurde auf die Möglichkeit zurückgegriffen, die neuen Termini
mit im Chinesischen bereits vorhandenen Ausdrücken, welche um diverse neue
Bedeutungskomponenten bereichert wurden, wiederzugeben. Zahlreiche heute
gebräuchliche Wörter, die erst durch diese Art der Lehnübersetzung zustande
kamen, sind von ihrer Form her bereits für das klassische Chinesisch belegt, so
z. B.

17 Eine ausführliche Diskussion dieses Themas findet sich bei Feng (2004: 169–184).
18 Zu diesem Thema sei auf zwei groß angelegte Forschungsprojekte hingewiesen, deren Ergeb-
nisse bei Lackner/Amelung/Kurtz (2001) und Feng/Liu/Nie (2007) publiziert wurden.
52       Yong Liang

Wenxue (‌文学)                      für Literatur
Jihe (‌几何)                        für Geometrie
Xing er shang xue (‌形而上学)         für Metaphysik

Als Lehnübersetzung bekamen sie dann entweder eine völlig neue Begriffsbedeu-
tung, oder die alte Bedeutung wurde erweitert bzw. verengt. Auch hier handelt
es sich keineswegs um eine einfache Übernahme fremdsprachlichen Wortguts,
sondern im Grunde genommen um eine kreative Auseinandersetzung mit dem
Fremden und dem Eigenen. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass für einen neu
eingeführten Begriff oftmals mehrere Übersetzungen bzw. Lehnwörter für eine
gewisse Zeit miteinander konkurrierten, z. B.:

Wissenschaft (science):           Gezhi Xue (‌格致学)、Zhixue (‌知学)、Saiyinsi
                                  (‌赛因斯) u.a.m. → Kexue (‌科学)
Wirtschaft (economy):             Fuguoce (‌富国策)、Jixue (‌计学)、Licai Xue
                                  (‌理财学) u.a.m. → Jingji (‌经济)

Ein weiteres wichtiges Problem bei der inhaltlichen Wortübersetzung stellt somit
die Auswahl der besten Alternative dar, denn die verschiedenen Übersetzungs-
versuche sind letztendlich immer auch ein Spiegel des Erkenntnisprozesses,
welcher in der Auseinandersetzung mit der eigenkulturellen Geisteswelt statt-
findet, sowie eines dynamischen interkulturellen Verstehens und Interpretierens
(Liang 2014: 184).
    Zu diesen vor mehr als hundert Jahren entstandenen Lehnwörtern sei noch
abschließend anzumerken, dass immer zwischen dem wort- und dem konzept-
geschichtlichen Aspekt unterschieden werden muss. Wenn z. B. der Ausdruck
Duihua (‌对话), welcher in der Gegenwartssprache als Entsprechung für Dialog
verwendet wird, erst jüngeren Datums ist, so hat natürlich das Konzept bzw. die
Idee des Gesprächs sowie der besonderen Kommunikationsform des Dialogs in
China eine lange Tradition (Liang 2017: 223). Dies gilt im Übrigen auch für viele
weitere durch Übersetzung entstandene Lehnwörter.

4 K
   onzeptuelle Übersetzung: Gewinn oder
  Verlust?
Das nächste Fallbeispiel, das unsere besondere Aufmerksamkeit verdient, zeigt
eine Übersetzung, die zunächst wie selbstverständlich und problemlos erscheint,
aber bei näherer Überprüfung viele Fragen aufwirft. Gemeint ist der Ausdruck die
                       Übersetzen als interkulturelles Handeln          53

Weltansicht der Sprache, einer der Schlüsselbegriffe in den sprachwissenschaftli-
chen Schriften von Wilhelm von Humboldt, den er an verschiedenen Stellen dis-
kutiert hat. Im nachfolgenden eine der am meisten zitierten Textstellen:

    Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes voneinander leuchtet
    es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit dar-
    zustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit
    ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten
    selbst. (Humboldt 1905: 27)

Nach Humboldts Auffassung kommt die Verschiedenheit der Sprachen also
keineswegs nur in ihren äußeren Formen zum Ausdruck, sondern auch in ihren
jeweiligen Weltansichten, da letztendlich jede Sprache die Welt auf eine ganz
eigene Art und Weise in Gedanken fasst. In den Worten von Helmut Gipper (1992:
28): „Wer in eine Sprache hineinwächst, übernimmt unbewusst diese Sehweisen,
er sieht die Welt gleichsam durch die Brille seiner Muttersprache, […].“
     Humboldts Schriften zur Sprache wurden in den 1990er Jahren umfang-
reich ins Chinesische übersetzt. Vor allem der Text Über die Verschiedenheit des
menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des
Menschengeschlechts, in dem die oben genannte berühmte These enthalten ist,
weckte nach Erscheinen der ersten Übersetzung ein großes und breites Interesse
unter chinesischen Sprachforschern und Philosophen und wird bis heute lebhaft
rezipiert und diskutiert.19 Dabei wurde der Begriff sprachliche Weltansicht mit
Yuyan shijieguan (‌语言世界观) ins Chinesische übertragen, was in gewisser Weise
nicht ganz unproblematisch war, da dem Ausdruck Shijieguan (‌世界观) eine poli-
tische und ideologische Weltanschauung innewohnt.
     Es handelt sich bei diesen beiden Wörtern im Deutschen keineswegs um
Synonyme. Eine Weltanschauung beruht, wie Gipper (1992: 63) formuliert, „auf
religiösen oder politischen Überzeugungen, sie hat ideologischen Charakter.“ Mit
dem Begriff der sprachlichen Weltansicht soll hingegen „vielmehr auf den ratio-
nal nachprüfbaren Tatbestand hingewiesen werden, dass in jeder Sprache die
von den Angehörigen der Sprachgemeinschaft erfahrbare und denkbare Welt –
im weitesten Sinne – in den semantischen Gliederungen des Wortschatzes und
den grammatischen Strukturen in einer bestimmten Weise in Sprache überführt
worden ist.“ (Gipper 1992: 63) Man kann über diese Auslegung sicherlich streiten.
Festzuhalten ist jedoch, dass Weltansicht und Weltanschauung im Deutschen
semantisch wie pragmatisch nicht gleichzusetzen und gerade hinsichtlich der
Humboldt‘schen Sprachauffassung nicht zu verwechseln sind.

19 Die chinesische Übersetzung dieses Textes: Yao (1997).
54        Yong Liang

     Es mag sein, dass der Unterschied zwischen Weltansicht und Weltanschau-
ung im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch nicht immer beachtet wird.
Dessen ungeachtet haben wir es hier mit einem Terminus zu tun, der immerhin
ein ganzes Forschungskonzept geprägt hat, und daher eine besonders sorgfältige
Übersetzung verdient. Man darf schließlich nicht vergessen, dass es sich dabei
um einen von Humboldts Kerngedanken handelt, der auch in der deutschen
Sprachwissenschaft bzw. -philosophie immer wieder für heftige Diskussionen
gesorgt hat, von Begeisterung über Skepsis bis hin zu strikter Ablehnung.
     Bei der Übersetzung eines so brisanten Begriffs sollte außerdem berück-
sichtigt werden, dass die Humboldt‘sche sprachliche Weltansicht zwischenzeit-
lich sogar politisch missbraucht wurde, und dies war, wie Böhler (1985: 238) es
einmal treffend formulierte, „eine enorme Verfälschung eines durch und durch
kosmopolitischen Geistes, wie es Humboldt war“. Wegen dieser Historie kann das
Wort Weltanschauung denn auch im heutigen deutschen Sprachgebrauch kaum
mehr neutral verwendet werden, und dieser Umstand hätte eigentlich in die Über-
legungen eines verantwortungsbewussten Übersetzers mit einfließen müssen.
     Es könnte nun eingewendet werden, dass die Auseinandersetzung um diese
Sprachauffassung Humboldts vor einem bestimmten historischen Hintergrund
in Deutschland stattgefunden hat, welcher den meisten chinesischen Lesern
unbekannt sein dürfte und daher für eine Übersetzung irrelevant ist. Trotzdem
ist durchaus fraglich, ob die Weltansicht von Humboldt einfach mit dem chine-
sischen Ausdruck für Weltanschauung in einen Topf geworfen werden sollte,
denn schließlich ist Shijieguan (‌世界观) in chinesischen Diskursen nach wie vor
ein häufig verwendeter Ausdruck, allerdings, wie schon erwähnt, fast immer in
einem politischen bzw. ideologischen Kontext.
     Ferner sind mit dieser Übersetzung Missverständnisse von vornherein unver-
meidlich. Der Terminus Shijieguan (‌世界观) scheint sich in den entsprechenden
akademischen Kreisen Chinas derart etabliert zu haben, dass nicht wenige
Sprachforscher wie selbstverständlich davon ausgehen, Humboldt habe tatsäch-
lich von einer sprachlichen Weltanschauung gesprochen. Daher lesen wir z. B. in
einer chinesischen Monographie den Satz:20

     维特根斯坦曾经把 „语言“ 作为 „世界观“ (Weltanschauung) 来看待, 而这恰与洪堡的思想
     相吻合[Wittgenstein hat die „Sprache“ einst als eine „Weltanschauung“ angesehen, und
     dies stimmt genau mit der Auffassung Humboldts überein]。(Chan 2007: 15)

Leider habe ich bis jetzt keine Gelegenheit, mich mit dem Übersetzer über die
oben genannte translatorische Frage auszutauschen. Ich weiß daher nicht, ob er

20 Das ist nur einer der vielen Belege, die das genannte Problem aufweisen.
                    Übersetzen als interkulturelles Handeln   55

den Hintergrund der in Deutschland geführten Debatten kannte und diese bei
seiner Übersetzung berücksichtigt hat. Es könnte natürlich sein – vorausgesetzt,
dem Übersetzer war das Problem tatsächlich bewusst –, dass die semantische
Differenz zwischen Weltansicht und Weltanschauung vorsätzlich unbeachtet
blieb, da der Ausdruck Shijieguan (‌世界观) im Chinesischen besonders populär,
prägnant und wirkungsvoll ist. Aber sollte wirklich einzig und allein des Effekts
wegen auf eine präzise Übersetzung des Originals verzichtet werden?
     Der Kerngedanke der Humboldt‘schen Auffassung von einer sprachlichen
Weltansicht wurde in den 1950er und 1960er Jahren von der inhaltlich orien-
tierten Sprachwissenschaft weiterverfolgt. Dabei hat Leo Weisgerber (1953), der
Hauptvertreter der Sprachinhaltsforschung, einen quasi neohumboldtischen Aus-
druck namens sprachliches Weltbild geprägt, der im Gegensatz zur Weltansicht
der Sprache weitaus einfacher ins Chinesische zu übertragen ist. In der einschlä-
gigen Fachliteratur findet sich die Entsprechung Yuyan Tujing (‌语言图景), wobei
die Wortbildungskonstituente -bild mehr oder weniger wörtlich übersetzt wurde.
Dieses Kompositum hat den Vorteil, in der chinesischen Sprache verhältnismäßig
unüblich zu sein, sodass es kaum mit anderen Wörtern verwechselt werden kann.
Es ist allerdings auch weniger eindrücklich.
     Natürlich geht es mir hier nicht alleine um die Übersetzung dieses einen,
obgleich durchaus wichtigen Terminus. Mit obiger Diskussion möchte ich nur
deutlich machen, dass es für eine interkulturell qualifizierte Übersetzung nicht
ausreicht, einfach nur einen Dialog mit sich selbst und dem Ausgangstext zu
führen, sondern dass darüber hinaus der Blick auf den historischen Kontext und
die aktuelle Situation in der ausgangs- bzw. zielsprachlichen Kultur gerichtet
werden muss.
     Leider ist das oben genannte Problem – nicht zuletzt wegen der vielen neuen
Übersetzungen von geisteswissenschaftlichen Texten aus europäischen Spra-
chen – heute allenthalben anzutreffen. So wird z. B. der Terminus Hermeneutik
mit so unterschiedlichen Begriffen wie Jieshi Xue (‌解释学), Quanshi Xue (‌诠释学)
und Chanshi Xue (‌阐释学) ins Chinesische übertragen, von denen jeder auf eine
andere historische Quelle zurückgeht und die in der Gegenwartssprache weder
semantisch noch pragmatisch gleichbedeutend bzw. -wertig sind. Ähnliches
gilt für das Wort Kommunikation, für das in wissenschaftlichen Werken Überset-
zungen wie Goutong (‌沟通), Jiaoji (‌交际) und Jiaowang (‌交往), um nur einige zu
nennen, vorzufinden sind. Die Liste solcher Fälle ließe sich praktisch endlos fort-
führen.
     Nun soll es an dieser Stelle freilich nicht darum gehen, für eine künstliche
Vereinheitlichung aller Übersetzungen zu plädieren: Vielmehr möchte ich ver-
deutlichen, dass sich jede begriffliche Übertragung, vor allem, wenn es sich um
wichtige Schlüsselwörter handelt, nicht allein auf einen muttersprachlichen
56         Yong Liang

Reflex stützen darf, sondern im Sinne der Interkulturalität stets genau überprüft
und begründet werden muss. Es sollte sich daher tatsächlich die Mühe gemacht
werden, jeden Text und jedes Wort gründlich „durchzukauen“ (‌咬文嚼字 yaowen
jiaozi). So hat z. B. der Übersetzer des zentralen Habermas’schen Werks Theorie
des kommunikativen Handelns seine Entscheidung, das Wort Kommunikation mit
Jiaowang (‌交往) zu übersetzen, explizit angesprochen und begründet (Cao 2004).
Diese Übertragung muss selbstverständlich nicht die einzig richtige sein. Aber
zumindest sehen wir hier den Versuch, ein ganz bestimmtes Translationsproblem
bewusst zu reflektieren, und zwar sowohl im Hinblick auf die ausgangssprach-
liche wie auch auf die zielsprachliche Kultur.

5 Schlussdiskussion
Vor knapp dreißig Jahren hat der japanische Rechtswissenschaftler Masanori
Shiyake in einem Beitrag zur Rezeption der europäischen Rechtskultur durch Über-
setzungen Folgendes geschrieben:

     Freilich ist der Weg des Rechtskulturaustausches zwischen Deutschland und Japan bis heute
     gewissermaßen eine „Einbahnstraße“ geblieben. Nunmehr ist aber die Zeit zu Ende, in der
     Japan die europäischen Staats-, Rechts- und Politikwissenschaften und deren Anwendung
     lediglich nur „rezeptiv“ annimmt. Langsam müssen wir anfangen, das Niveau der japani-
     schen Wissenschaften durch Übersetzungen aus dem Japanischen ins Englische, Deutsche,
     Französische oder in andere Sprachen bekanntzumachen, damit in unserer „internationali-
     sierten Zeit“ ein fruchtbarer Kulturaustausch möglich ist. (Shiyake 1993: 382–383)

Diesen Appell dürften auch viele chinesische Geisteswissenschaftler im Hinblick
auf ihr eigenes Land unterschreiben, denn zwischen Europa und China herrscht
ebenfalls ein auffallendes Missverhältnis im Wissens- und Kulturtransfer, welches
Stephan Schmidt einmal mit folgenden Worten treffend beschrieben hat:

     Während jeder einschlägig gebildete Chinese die Namen Habermas, Rorty und Derrida
     kennt und bei Bedarf fast deren vollständige Werke in seiner eigenen Sprache lesen kann,
     dürften nur wenige westliche Akademiker in der Lage sein, den Namen eines einzigen zeit-
     genössischen chinesischen Gelehrten zu nennen, […]. (Schmidt 2009: 9–10)

Das besagte Ungleichgewicht im Kulturtransfer hat sicherlich mehrere Gründe,
ist aber wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die westlichen Kulturen
lange Zeit von beiden Seiten als Vorbild der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen
und zivilisatorischen Entwicklung gesehen wurden. Lange Zeit war in China eine
weit verbreitete Tendenz zu beobachten, dass gewissermaßen an die im euro-
                      Übersetzen als interkulturelles Handeln       57

päischen und nordamerikanischen Kontext entworfenen und geprüften Theorien
und Methoden angelehnt wurde, um die Entwicklung der eigenen Kultur und
Zivilisation zu erklären (Liang 2020: 409). Hier besteht ein großer Nachholbedarf
für einen echten interkulturellen Austausch. Die Übersetzung geistes- und kultur-
wissenschaftlicher Werke in beide Richtungen könnte hier einen signifikanten
Beitrag leisten.
     Nun hört man, dass in China großangelegte Translationsprojekte geplant
bzw. bereits in Gang gesetzt worden sind, die darauf abzielen, wichtige chinesi-
sche Texte aus den verschiedensten Disziplinen ins Englische, Deutsche, Fran-
zösische und in weitere Fremdsprachen zu übersetzen. Aus interkultureller Sicht
wäre es sinnvoll, nicht nur daran zu denken, was im eigenen Land als kulturelle
Quintessenz gilt, sondern bei der Auswahl der Werke auch immer die Lebens-
situationen, Forschungskontexte und Interessen auswärtiger Leser im Blick zu
haben. Außerdem müssen die in China entstandenen und entwickelten Ideen,
Konzepte und Methoden sprachlich so übertragen werden, dass diese in der
jeweiligen Fremdsprache bzw. -kultur auch verständlich sind. Die in dem vor-
liegenden Beitrag diskutierten Problemfelder und Fragestellungen mögen auch
in dieser Hinsicht eine Anregung sein.
     Wie wir gesehen haben, darf interkulturell motiviertes Übersetzen niemals
eine Einbahn-Straße sein. Vielmehr ist es ein dynamischer Prozess, in dem jede
translatorische Entscheidung interkulturell genau abgewogen werden muss. In
diesem Sinne muss der Übersetzer seinen Blick abwechselnd und wiederholt auf
beide Seiten richten, einerseits auf den zu übersetzenden Ausgangstext und seine
kulturelle Einbettung, andererseits auf die potentiellen Leser des Zielsprach-
textes und ihren sozialen Bezugsrahmen. Von dieser Zwischenposition aus muss
sich das Übersetzen solange zwischen der Ausgangs- und der Zielkultur hin und
her bewegen, bis ein ausgeglichenes Resultat erzielt worden ist (vgl. House 2004:
107).
     Für das adäquate Verstehen und Übersetzen des Ausgangstextes spielt das in
beide Richtungen gehende Sprach- bzw. Kulturwissen des Übersetzers naturgemäß
eine große Rolle. Es bestimmt im hermeneutischen Sinne das Vorverständnis des
Textes und beeinflusst die translatorischen Einzelentscheidungen. Aber gerade
aus diesem Grunde brauchen wir in einem interkulturellen Übersetzungsprozess
auch solche Momente, in denen, wie der altchinesische Philosoph Zhuangzi
es nennt, eine gewisse Leere (Xu 虚) angesammelt und das Fasten des Herzens
(Xinzhai 心斋) praktiziert wird.21 Leere bedeutet bei Zhuangzi ohne Selbst sein,

21 Zhuangzi (Kap. 4.1), übersetzt von Mair/Schuhmacher 2008. Eine genauere Diskussion dieser
philosophischen Idee findet sich bei Liang (2015: 103).
58       Yong Liang

und Herz so viel wie Geist und Verstand. In Bezug auf unsere Thematik können
wir diese Idee so verstehen: Wenn ein Übersetzer mit zahlreichen eigenkulturellen
Vorurteilen und Stereotypen angefüllt ist, dann kann er sich nur schwer auf eine
fremdkulturelle Erfahrung und Sichtweise einlassen. Nur wenn es (zumindest
teilweise) geschafft wird, den eigenen Geist zu leeren und dadurch einen offenen
mentalen Raum zu generieren, in den das Fremde zunächst einmal ungehindert
und ungefiltert einströmen kann, können die Spezifika der anderen Sprache bzw.
Kultur hinreichend erschlossen und damit auch angemessen übersetzt werden.
     Gefragt sind also die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und eine gewisse
Perspektivenreflexivität. Perspektivenwechsel bedeutet, dass der Übersetzer ver-
suchen sollte, den Text nicht nur aus der eigenkulturellen Sicht, sondern auch
aus der Sicht der ursprünglichen Verfasser bzw. Adressaten zu lesen, zu verste-
hen und zu interpretieren. Perspektivenreflexivität wiederum meint die ständige
Überprüfung der eigenen Sichtweise, und das schließt die Berücksichtigung der
Bedingungen und Interessen der Leser mit ein.
     Bei einem reflektierten Übersetzen zwischen zwei so distanten Sprachen wie
dem Deutschen und dem Chinesischen ist es der Normalfall, wenn die Ausgangs-
sprache in Wort und Text den sprachlichen Normen und kulturellen Bedingun-
gen der Zielsprache angepasst wird. Der Übersetzer muss stets Zugeständnisse
machen, auch wenn ihm bewusst ist, dass dadurch immer etwas, sei es nun
strukturell, semantisch, pragmatisch oder diskursiv, verloren geht. Die Frage ist
jedes Mal, worauf verzichtet werden darf und was erhalten bleiben muss. Der
entsprechende Spielraum ist in der Regel unterschiedlich groß und schwankt mit
der jeweiligen Textgattung bzw. Textsorte. Auch der Zeitgeist spielt eine nicht zu
unterschätzende Rolle, geht es hierbei doch immer auch um die Frage, wie viel
sprachliche und kulturelle Fremdheit für die Rezipienten in der zielsprachlichen
Gemeinschaft akzeptabel ist.
     Der Übersetzungsprozess wird in diesem Sinne nicht selten als ein Dialog
bezeichnet, mal als ein Dialog mit dem zu verstehenden Ausgangstext, mal als
ein kritischer innerer Dialog des Übersetzers mit sich selbst, oder auch ganz
generell als ein Dialog zwischen der fremden und der eigenen Kultur. Wichtiger
erscheint mir in diesem Kontext jedoch der Dialog bzw. Austausch zwischen
den Menschen. Die aus den europäischen Geisteswissenschaften entlehnten
Schlüsselwörter, die sich mittlerweile in China etabliert haben, sind in vielen
Fällen Ergebnisse von Austausch- und Diskussionsprozessen, an denen nicht nur
chinesische Gelehrte, sondern auch Wissenschaftler aus anderen Ländern betei-
ligt waren, d. h., ihre Bildung erfolgte fürwahr interkulturell. Das sollte uns auch
heutzutage zum Vorbild gereichen.
     Generell ist eine enge, intensive Zusammenarbeit zwischen europäischen
und chinesischen Wissenschaftlern sowie Übersetzern, auch und vor allem für
                      Übersetzen als interkulturelles Handeln       59

die oben erwähnten großangelegten Übersetzungsprojekte, sinnvoll und wün-
schenswert. Ein Rückgriff auf die in früheren Jahrhunderten gemachten Erfahrun-
gen dürfte dabei, wie ich mit diesem Beitrag hoffentlich zeigen konnte, überaus
aufschlussreich sein.

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Angaben zur Person
Prof. Dr. Yong Liang, Professor für Sinologie an der Universität Trier. Zurzeit: Ocean University
of China, College of Foreign Languages. Forschungsschwerpunkte: Moderne Sprachwissen-
schaft, Wirtschafts- und Wissenschaftskommunikation, interkulturelle Beziehungen und
Fachsprachenlinguistik.
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