Bibel und Qur'an im Dialog - Christian W. Troll

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BULLETIN DEI VERBUM 79/80
THEMA

                              Bibel und Qur’an im Dialog
                              Christian W. Troll

                    Professor Christian W. Troll, der dem Jesuiten-   Sowohl Christen als auch Muslime glauben, dass Gott in
                    orden angehört, unterrichtete Islamwissenschaft   der Geschichte die Initiative ergriffen hat, um zu den
                    in Neu-Delhi, Birmingham und am Päpstlichen
                    Orientalischen Institut in Rom. 1999 übernahm
                                                                      Menschen zu sprechen. Die Gläubigen beider Religio-
                    er die Leitung des christlich-islamischen         nen betrachten sich als glückliche Empfänger der „Gabe
                    Forums der Katholischen Akademie in Berlin.       des Wortes“. Für Muslime ist der Qur’an die endgültige,
                    Seit 2001 ist er Honorarprofessor an der          einzigartige und uneingeschränkt authentische Manifes-
                    Philosophisch-Theologischen Hochschule
                    St. Georgen in Frankfurt a. M.                    tation des Wortes Gottes, gerichtet an die Menschheit
                                                                      durch Vermittlung Muhammads (vgl. z.B. Sure 42,52).
                                                                      Christen ihrerseits sind überzeugt: „Viele Male und auf
Einführung                                                            vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen
                                                                      durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns
Der Dialog mit dem Islam ist immer ein Dialog mit einer               gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls
(oder mehreren) möglichen Auffassungen des Islam. Der                 eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen
Glaube an den Qur’an als geoffenbartes Wort Gottes, an                hat.“ (Hebr 1,1f.)
Muhammad als dem Siegel der Propheten und an das
„schöne Beispiel“ (Sure 33,21) eines gottgefälligen                   Bei dem Versuch, einander zu erklären, wie Christentum
Lebens, sowie der Glaube, dass bestimmte grundlegen-                  und Islam das Wort Gottes je empfangen und verstehen,
de religiöse Praktiken von Gott vorgeschrieben sind,                  werden Christen und Muslime die verschiedene Art und
sind allen Muslimen gemeinsam. Doch kennt die Welt                    Weise unterstreichen, in der die beiden Religionen das
der Muslime, und noch weniger deren sunnitischer Teil,                von Gott an sie gerichtete Wort definieren. Für Muslime
kein Magisterium oder Lehramt, das den Anspruch erhe-                 ist dieses Wort der Qur’an selbst, „vom Herrn ... in aller
ben würde oder könnte, die alleingültige Interpretation               Welt (als Offenbarung) herabgesandt“ und „in deutlicher
des Qur’an und der Sunna zu lehren und das von einer                  arabischer Sprache (geoffenbart)“ (Sure 26,192.195),
breiten Mehrheit von Muslimen anerkannt würde. Die                    und sie werden hervorheben, welche Bedeutung der
unterschiedlichen Auffassungen des Islam ergeben sich                 Qur’an für sie als Diskurs über Gott und als Gesetz für
aus unterschiedlichen „Lesungen“ seiner normativen                    die Menschheit hat. Nach christlicher Sicht kam das Wort
Texte (besonders des Qur’ans) und divergierenden Aus-                 Gottes in die Welt in der „Fülle der Zeit“ (vgl. Mk 1,15),
legungen seiner zentral gründenden Ereignisse und                     nicht in Form einer Schrift, sondern in der Person Jesu
Symbole. Ich werde mich hier auf das übliche sunniti-                 Christi, Offenbarung des Vaters und Anwesenheit Gottes
sche Verständnis des Islam beschränken, wie es z.B. an                in der Welt der Menschen. Für Christen gilt: „Die Heilige
der Al-Azhar Universität in Kairo und unzähligen eng mit              Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen
ihr verbundenen Einrichtungen gelehrt und praktiziert                 der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes
wird. Darüber hinaus beschränke ich mich auf einige                   Gottes“ (Dei Verbum 10), denn „die Heilige Überliefe-
wenige Anmerkungen, die von unmittelbarer Bedeutung                   rung und die Heilige Schrift sind eng miteinander ver-
für den christlich-muslimischen Dialog scheinen: (1) Das              bunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttli-
„Wort Gottes“ nach christlicher und muslimischer                      chen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen
Auffassung; (2) Muslimische Überzeugungen betreffend                  in eins zusammen und streben demselben Ziel zu“ (DV
den Qur’an und die Bibel und deren Relevanz für die                   9). Daher sind nach christlicher Lehre die heiligen
Begegnung zwischen Christen und Muslimen; (3) Bibel                   Bücher des Alten und des Neuen Testaments, gleicher-
und Qur’an in ihrer jeweiligen spirituellen Bedeutung für             maßen das Werk Gottes und der von Gott inspirierten
Christen und Muslime; (4) Initiativen zum gemeinsamen                 Verfasser, nur ein – wenn auch außergewöhnliches und
Studium von Bibel und Qur’an.                                         normatives – Mittel unter mehreren, um dem Wort Gottes
                                                                      in der eigenen Lebenserfahrung zu begegnen.

1. Das „Wort Gottes“ nach christlicher und                            Um einen echten Dialog zu führen, so Borrmans in den
   muslimischer Auffassung                                            Guidelines, müssen beide Partner die tiefgreifende
In enger Anlehnung an die Guidelines for Dialogue bet-                Differenz in den Glaubensüberzeugungen von Christen
ween Christians and Muslims (Richtlinien für den Dialog               und Muslimen im Hinblick auf Wesen und Botschaft der
zwischen Christen und Muslimen)1 können wir sagen:                    jeweiligen Heiligen Schrift berücksichtigen, wollen sie

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WORT GOTTES IM CHRISTLICH-ISLAMISCHEN DIALOG

     sinnlose Verwirrung und nutzlose Kritik vermeiden. In der      herabgesandt hat, und folge nicht (in Abweichung) von
     religiösen Erfahrung der Muslime wurde das Wort Gottes         dem, was von der Wahrheit zu dir gekommen ist ...)“.
     zur „Schrift, an der nicht zu zweifeln ist“ (Sure 2,2), zur    Christinnen und Christen mögen ihrem Gewissen folgen
     „Schrift ... mit der Wahrheit“ (5,48 u.ö.), zur „Schrift, um   und dem Wort Gottes gehorchen, wie sie es verstehen.
     alles ... klarzulegen“ (16,89), nämlich zum Qur’an,            Ein Muslim jedoch wird alles in der Bibel, das nicht mit
     während Christen glauben, dass das Wort Gottes                 dem Qur’an übereinstimmt, entweder als überholt oder
     „Fleisch geworden“ ist in der Person Jesu Christi, des         als verfälscht ansehen.
     gekreuzigten und auferstandenen Herrn.
                                                                    Wir müssen die im gleichen Vers 5,48 ausgedrückte
     2. Muslimische Überzeugungen zu Qur’an                         Meinung beachten, dass der religiöse Pluralismus ein
        und Bibel und deren Relevanz für die                        Faktum ist, dass dieses Faktum bis zum Ende der Zeit
        Begegnung von Christen und Muslimen                         bestehen wird und dass das Vorhandensein anderer
                                                                    Religionen neben dem Islam eine von Gott auferlegte
     2.1 Der Qur’an und der christlich-islamische Dialog            Prüfung für die Treue der Muslime darstellt: „Für jeden
     Von den zahlreichen Passagen des Qur’an, die von den           von euch (die ihr verschiedenen Bekenntnissen ange-
     Christen und dem Verhältnis zu ihnen sprechen, wollen          hört) haben wir ein (eigenes) Brauchtum (?) und einen
     wir hier nur Verse aus der fünften und neunten Sure in         (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Gott gewollt hätte,
     Betracht ziehen. Diese Suren gelten als Teil der letzten       hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht.
     Phase der koranischen Offenbarung. Der muslimische             Aber er (teilte euch in verschiedene Gemeinschaften auf
     Glaube sieht sie als „das letzte Wort“ des Qur’an zu dem       und) wollte euch (so) in dem, was er euch (d.h. jeder
     Thema, welches alle früheren diesbezüglichen                   Gruppe von euch) (von der Offenbarung) gegeben hat,
     Aussagen des Buches ersetzt und eventuell wider-               auf die Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten
     sprüchliche Aussagen korrigiert.                               Dingen! Zu Gott werdet ihr (dereinst) allesamt zurück-
                                                                    kehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das,
     Christen und Juden werden im Qur’an gemeinsam als              worüber ihr (im Diesseits) uneins waret.“
     „Leute der Schrift“, bisweilen auch als „Leute des
     Evangeliums“ bezeichnet (z.B. Sure 5,47). Der Qur’an           In Sure 5,82 finden wir die berühmte Stelle, an der in ein
     fordert die Christen also gewissermaßen auf, ihr               und demselben Vers Juden und Heiden als diejenigen
     Verhalten und ihre Praxis im Lichte des Evangeliums zu         Menschen beschrieben werden, „die sich den Gläubigen
     überdenken. Hinter der häufig, explizit oder implizit          gegenüber am meisten feindlich zeigen“ und dann wie-
     gestellten Frage von Muslimen an Christen, warum sie           der als „diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am
     denn die klaren Vorschriften der Torah nicht beachten          Nächsten stehen, die sind, welche sagen: ‚Wir sind
     würden (z.B. Beschneidung oder Ernährungsvorschrif-            Nasara (d.h. Christen)‘“. Der Vers schließt mit der
     ten) steht die eigentliche Frage: „Gehorchst du dem            Bemerkung: „Dies deshalb, weil es unter ihnen Priester
     Wort Gottes?“ Nun mag ein solches isoliertes, von einem        und Mönche gibt, und weil sie nicht hochmütig sind.“
     muslimischen Gesprächspartner an einen Christen                Aus dem darauffolgenden Vers wird klar, dass man von
     gerichtetes Zitat ein zu eng gefasstes Kriterium schei-        Christen nicht nur Liebe und Demut erwartet, sondern
     nen, und ist es in der Tat auch. Doch im Dialog müssen         auch ein tiefes Gefühl für Gottes überwältigende Größe.
     sich Christen tatsächlichen Fragen stellen und sie so          Nun mag sich der fragliche Text sehr gut auf eine
     beantworten, dass die Antworten für einen Muslim ver-          Gruppe von Christen bezogen haben, die dem Islam
     ständlich sind. Außerdem kann es für Christen unter            positiver gegenüber standen. Wie dem auch immer sei,
     Umständen durchaus hilfreich sein sich bewusst zu wer-         diese Passage bildet jedenfalls einen Teil des Qur’an-
     den, dass die eine oder andere ihrer Verhaltensweisen in       Texts und wird daher von Muslimen als Wort Gottes
     einem Spannungsverhältnis, wenn nicht in offenem               akzeptiert.
     Widerspruch zur biblischen Lehre steht.
                                                                    Neben solchen Texten finden wir auch andere, restrikti-
     Für einen Muslim/eine Muslimin besteht jedenfalls kein         ve Passagen, die dem Dialog bestimmt nicht förderlich
     Zweifel daran, dass er/sie alles anhand der Lehren des         sind. Als Beispiel sei angeführt: „Ihr Gläubigen! Nehmt
     Qur’ans beurteilen muss. Muslime sehen keine                   euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden!“
     Notwendigkeit, die Bibel zu lesen, ist doch der Qur’an         (Sure 5,51) Oder der bekannte Appell, die Christen zu
     nach muslimischem Glauben das letzte Wort Gottes. Er           bekämpfen und sie auf einen untergeordneten politi-
     wurde in seiner authentischen Form bewahrt; damit              schen Status unter islamischem Recht zu reduzieren
     bestätigt oder hebt er alles auf, was vorher war (vgl. Sure    (Sure 9,29). Obwohl dieser Vers klar unterscheidet zwi-
     5,48: „Und wir haben (schließlich) die Schrift (d.h. den       schen manchen Leuten des Buches, die an Gott glau-
     Koran) mit der Wahrheit zu dir herabgesandt, damit sie         ben, und anderen, die nicht an ihn glauben, wurde
     bestätige, was von der Schrift vor ihr da war, und darü-       diese Unterscheidung in der Praxis nicht vorgenom-
     ber Gewissheit gebe. Entscheide nun zwischen ihnen             men, sondern der Vers auf alle Christen als solche
     (d.h. den Juden und Christen?) nach dem, was Gott (dir)        gemünzt.

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BULLETIN DEI VERBUM 79/80

Nach der Untersuchung aller Aussagen im Qur’an, die            unseren Glauben an Gottes Führung und Inspiration
von den Christen und dem Verhältnis zu ihnen handeln,          ausdrücken, Sätze, wie wir sie in der Bibel selbst finden:
kommt J.-M. Gaudeul zu folgendem Schluss:                      „David selbst hat, vom Heiligen Geist erfüllt, gesagt ...“
  Es scheint möglich, im Qur’an Texte zu finden, die Muslime
                                                               (Mk 12,36) oder einfach: „Denn es steht in der Schrift ...“
  dazu bringen könnten, einen fruchtbaren Dialog mit           (Gal 4,27).
  Christen zu akzeptieren. Natürlich steht es uns nicht zu,
  Muslimen vorzuschreiben, wie sie den Qur’an auffassen        Der muslimische Glaube an die Offenbarung als Diktat
  sollen, das ist ihre Angelegenheit. Aber wir könnten unse-   eines Texts führt zu einer weiteren Konsequenz. Sowohl
  re Ängste ablegen und auf die Muslime zugehen, wie dies      die Bibel als auch der Qur’an enthalten eine große
  von uns erwartet wird, nicht nur aufgrund des                Anzahl literarischer Formen, doch der Qur’an präsentiert
  Evangeliums, sondern sogar aufgrund bestimmter Verse         die Gesamtheit seines Texts als eine einzige, umfassen-
  im Qur’an.2                                                  de literarische Gattung: die „prophetische“. Die ver-
                                                               schiedenen Stile oder Themen des Qur’an (Gebete,
Wenn sich Christen wirklich und wahrhaftig als „Leute          Vorschriften, Ermahnungen, Erzählungen usw.) werden
der Schrift“ erweisen, d.h. als Menschen, die dem Wort         diesem großen Rahmen des „Prophetischen“ einge-
Gottes gehorchen, erfüllt von einem Gefühl von Gottes          passt. Der Qur’an als Ganzes kann zu Recht als eine Art
Herrlichkeit, dann, davon ist Gaudeul überzeugt, wird          lange Predigt oder Ermahnung betrachtet werden, die
Gott aufgrund dieser Haltung ganz bestimmt die                 von Gott (oder Engeln) an Muhammad, an die Gläubigen
Muslime an jene Texte erinnern, die Christen besser            oder an alle Menschen gerichtet ist.
gesonnen sind. Das wiederum kann die Begegnung zwi-
schen Christen and Muslimen erleichtern, als Partner           Aus der Überzeugung, dass der Qur’an direkt von Gott
und nicht als Rivalen oder Gegner, die sich in nutzlosen       diktiert wurde, schließt der Muslim, dass der Qur’an voll-
Kontroversen verzetteln.                                       kommen ist, göttlich in Inhalt und Stil. Die Schönheit des
                                                               Arabischen und die Klarheit der Botschaft (mit den
2.2 Unterschiede zwischen christlichen und muslimi-            Schwerpunkten Einheit Gottes und Geschwisterlichkeit
    schen Ansichten über die Schrift                           der Menschheit) wird als ein Wunder von letztlich unwider-
Die christliche Lehre von der Inspiration der biblischen       stehlicher Überzeugungskraft empfunden und geglaubt.
Schriften impliziert die Behauptung, dass Gott Menschen
– einzeln und in Gruppen – derart zu seinen Instrumenten       Ein weiterer wesentlicher
erwählte, dass er ihre Freiheit, ihre Denkprozesse,            Unterschied im Inhalt von
Temperamente, Fähigkeiten und Traditionen respektier-          Bibel und Qur’an führt
te. Für den christlichen Glauben ist der biblische Text        Christen und Muslime in
stets gleichermaßen ganz das Wort des Verfassers und           jeweils ganz unterschiedli-
das Wort Gottes. So kommt Gottes Wort in der Bibel zum         che Richtungen. Wenn wir
Hörer oder Leser in unterschiedlichen Stilen, Bildern und      die Botschaft der Bibel in
Ausdrucksformen, in dem Hörende oder Lesende die               wenigen Zeilen zusam-
Person bzw. Personengruppe(n) erkennen können, wel-            menfassen wollten, wür-
che den betreffenden Text formuliert und ihm seine Form        den wir sagen: Gott offen-
gegeben hat. Im Gegensatz dazu kam nach der vorherr-           bart sich im Lauf einer ein-
schenden muslimischen Überzeugung Gottes Wort zu               zelnen Heilsgeschichte.
Muhammad durch die Form des Diktats: Gott, oder des-           Diese     Geschichte      ist
sen Geist (= der Engel Jibril), gibt Muhammad Wort für         wesentlich gekennzeich-
Wort vor, was er zu sagen hat. Muhammad ist Gottes             net durch die Wahl eines
Sprachrohr in dem Sinne, dass er in keiner Weise Anteil        auserwählten Volkes, die
hat an der Wahl der Worte, Sätze etc., die zu verkünden        Verheißung des Messias und den Bund mit diesem Volk.
ihm aufgetragen ist.                                           Dieses Volk erweist sich jedoch immer wieder als untreu,
                                                               wird bestraft, doch nicht verstoßen, wird durch göttliche
Wenn Muslime den Qur’an zitieren, dann niemals:                Unterweisung zu einer immer höheren Vorstellung von
„Muhammad sagt das…“, sondern immer einfach nur:               Gott, gleichzeitig aber zu einem tieferen Verständnis der
„Gott sagt …“ Wenn Christen heute oft beim Zitieren der        Sünde und zu einer steigenden Erwartung der messiani-
Bibel nur das menschliche Werkzeug erwähnen, also:             schen Verheißungen geführt. Dann wurde, nach dem
„Jesaja lehrt …“, „Moses sagt…“ usw., dann kann das            christlichen Glauben, das „Neue Israel“ mit seiner
bei Muslimen den missverständlichen Eindruck erwecken,         schließlich „Neues Testament“ genannten Schrift, dem
Christen wollten damit leugnen, dass diese Texte von           lange Zeit verborgenen „geheimen“ Plan Gottes offen-
Gott stammen. Es ist deshalb durchaus berechtigt, sich         bart, und zwar durch den Sohn, Jesus von Nazaret.
mit Jean-Marie Gaudeul 3 zu fragen, ob Christen beim           Jesus ist der Brenn- und Mittelpunkt aller Geschichte. Er
Zitieren der Bibel – besonders im Dialog mit Muslimen –        stirbt, um die Menschheit durch seinen Tod und seine
nicht besser Formulierungen verwenden sollten, die             Auferstehung zu retten, und er gibt denen, die an ihn

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WORT GOTTES IM CHRISTLICH-ISLAMISCHEN DIALOG

     glauben, durch seinen Geist Anteil an seiner Herrlichkeit,   Begegnung eines Muslimen bzw. einer Muslimin mit der
     damit sie sich auf seine Wiederkunft vorbereiten. Es ist     Bibel. Die erste Reaktion eines Muslimen beim Kontakt
     ein einziger Plan, der sich vom Beginn bis zum Ende der      mit der Bibel wird Verständnislosigkeit und Verwirrung
     Zeiten entfaltet, streng auf Jesus konzentriert, den         sein. Gewöhnt an den literarischen Stil des Qur’an,
     Messias (Christus), in dem Gott in unsere Geschichte         sehen sich Muslime in der Bibel einer ganzen Sammlung
     eintritt und umgekehrt die Geschichte in seine eigenes       verschiedener Schriften gegenüber, die aus unter-
     Dasein aufnimmt.                                             schiedlichen Epochen und Kulturen stammen und ver-
                                                                  schiedene Stilrichtungen und Themenkreise vertreten.
     Der Islam dagegen kennt keine solche Heilsgeschichte
     im Sinne einer fortschreitenden Offenbarung von Gottes       Qur’an, Katechismus und die muslimische Predigertradi-
     Mysterium, die zu Fleischwerdung, Kreuz, Auferstehung        tion lehren, dass das Buch der Torah Mose anvertraut
     und Herabsendung des Heiligen Geistes führt. Der mus-        wurden, das Buch der Psalmen David und das
     limische Glaube akzentuiert das Verhältnis Gottes zu         Evangelium Jesus. Muslime werden Schwierigkeiten
     den Menschen deutlich anders:                                haben, die Torah mit den fünf unterschiedlichen Büchern
     n Von Zeit zu Zeit sendet Gott Propheten, um die             des Pentateuchs zu identifizieren. Außerdem werden sie
        Menschen an die eine, unveränderliche Religion zu         entdecken, dass die Psalmen keineswegs Worte sind,
        erinnern: eine Religion die auf der menschlichen Natur    die Gott zugeschrieben werden, sondern allesamt
        beruht, in die Gott eine Ausrichtung zum Monothe-         Gebete, die an Gott gerichtet sind.
        ismus eingepflanzt hat. Die Botschaft dieser einge-
        borenen Religion ist immer dieselbe: Gott ist einzig-     Angesichts dieser Situation fühlen sich Muslime in der
        artig. Betet nur ihn an! Übt Gerechtigkeit untereinan-    ganzen Welt oft in ihrem Glauben bestätigt, dass die
        der! Glaubt an den jüngsten Tag!                          Bibel von Juden und Christen entstellt wurde. Schon im
     n Diese Propheten werden zu verschiedenen Zeiten an          Qur’an werden die „Leute des Buches“ beschuldigt,
        verschiedene Orte und zu verschiedenen Gemeinden          neue Texte zu erfinden bzw. einzelne Wörter in der Bibel
        gesandt, die untereinander nicht in Verbindung            auszutauschen. Nachdem, wie wir gesehen haben, der
        stehen. Statt der einen, durchgehenden Geschichte         Qur’an und damit der Islam nicht mit der Möglichkeit
        Gottes mit seinem Volk (und dadurch mit der gesam-        einer eigentlichen Heilsgeschichte – im Sinne einer
        ten Menschheit) kennt die Sicht des Qur’an ein            Geschichte, die einen ständigen Prozess der
        Nebeneinander von unabhängigen Interventionen             Offenbarung bis zu einem unumkehrbaren Gipfelpunkt
        Gottes.                                                   darstellt – rechnen, wird der Muslim bzw. die Muslimin
     n Bei jeder dieser Interventionen wiederholt sich das-
                                                                  angesichts der Bibel folgendermaßen argumentieren:
        selbe Muster: der Prophet predigt, die Menschen
                                                                  „Sieh dir die Torah an: Wenn dieses Buch in seiner heu-
        lehnen sich gegen seine Botschaft auf, Gott zerstört
                                                                  tigen Form von Gott offenbart wurde, wie ist es dann
        diese Gemeinschaft, doch nicht seinen Boten. Das
                                                                  möglich, dass nirgendwo etwas über wesentliche
        Motiv der Bestrafung durch Gott, das sich in den Ge-
                                                                  Wahrheiten wie die Auferstehung der Toten oder die
        schichten des Alten Testaments findet – vgl. z.B. Noah
                                                                  Existenz von Himmel und Hölle steht? Jedes wahrhaft
        und die Flut, Lot und Sodom, Mose und die Ägypter,
                                                                  offenbarte Buch müsste diese Grundelemente enthalten;
        Jona und Ninive – wird vom Qur’an aufgenommen.
                                                                  und wenn die Torah sie nicht lehrt, dann deshalb, weil
        Diese Geschichten nehmen Muhammads Erfahrung
                                                                  die Juden alle Stellen mit diesen Wahrheiten unterdrückt
        vorweg.
     n Wenn die Menschheit schließlich erwachsen ist, wird
                                                                  haben. Und überhaupt, die echte Torah wurde von Gott
                                                                  an Mose selbst übergeben – wie kann dann das Buch
        Muhammad von Gott entsandt, als letzter und ent-          von Moses Tod berichten? Doch wohl deshalb, weil die
        scheidender Prophet, um die eine, selbe Botschaft         Juden dem Wort Gottes selbst verfertigte Texte hinzuge-
        aller echten Propheten zu verkünden; diese richtet        fügt haben.“
        sich nun jedoch an alle Menschen, mit unübertreff-
        licher Deutlichkeit und durch die siegreiche umma         Christen sollten sich bewusst machen, dass derartige
        muslima, die Gemeinschaft der Muslime. Ab Muham-          Fragen die logische Konsequenz sind, wenn man es
        mad, dem letzten Propheten, erhält die muslimische        als selbstverständlich betrachtet, dass die Offenbarung
        Gemeinde den Auftrag, den Islam als idealen Glauben       als fertiges Diktat vom Himmel kommt. So wird zum
        und perfekte Praxis nicht nur bekannt zu machen,          Beispiel auch die Frage verständlich, die mir vor kurzem
        sondern auch für die Herrschaft Gottes zu kämpfen,        ein muslimischer Leser auf meiner Homepage
        die sich durch den Islam und das göttliche Gesetz         www.antwortenanmuslime.com stellte: „Wenn das heuti-
        überall und in allen Bereichen des Lebens durchsetzt.     ge Christentum authentisch ist, warum gibt es dann ver-
                                                                  schiedene Evangelien?“ Der Muslim fragt sich, was mit
     2.3 Die muslimische Sicht der Bibel                          dem einzigen Evangelium, dem injil, passiert ist, das
     Was über den Qur’an und seine Sicht der Geschichte           Wort für Wort von Gott an „’Isa, Sohn Marias“ offenbart
     gesagt wurde, hat entscheidende Bedeutung für die            wurde. Im Neuen Testament findet er anstelle des einen

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BULLETIN DEI VERBUM 79/80

injil vier verschiedene. Und diese „Evangelien“ stellen                                                           „Korruption“ der Bibel in ihrer traditionellen Form
sich für ihn als eine Ansammlung von Überlieferungen                                                              tatsächlich ist.
über Jesus heraus, zusammengestellt von seinen
Jüngern, von denen einige Jesus niemals persönlich                                                                Es überrascht nicht, dass einige muslimische Gelehrte in
begegnet sind. Überdies zeigen diese „Evangelien“                                                                 Vergangenheit und Gegenwart den Text der Bibel in sei-
deutlich ihre rein menschliche Herkunft, sind sie doch                                                            ner heutigen Form immer schon akzeptiert haben. Ihrer
voller Ungereimtheiten und Widersprüche. Und schließ-                                                             Meinung nach bezieht sich die im Qur’an erwähnte
lich behauptet der Qur’an eindeutig – und für einen                                                               Verfälschung auf die fehlgeleitete Interpretation des
Muslim heißt dies: „Gott selbst behauptet“ –, dass Jesus                                                          Texts durch Juden und Christen seit frühesten Zeiten,
nie beansprucht hat, mehr als ein Prophet zu sein, dass                                                           und nicht so sehr auf eine tatsächliche Änderung des
er nicht am Kreuz gestorben ist und dass er ausdrücklich                                                          Texts. Andere zeitgenössische muslimische Wissen-
die Ankunft Muhammads angekündigt hat.                                                                            schaftler anerkennen, dass die Evangelien sich auf die
                                                                                                                  Kenntnis historischer Ereignisse stützen, fügen jedoch
                                        Die fünf Säulen des Islam                                                 hinzu, dass die christliche Interpretation dieser
                                                                                                                  Ereignisse andere (z.B. muslimische) Interpretationen
                                                                                                                  nicht ausschließen muss.5
        Glaubensbekenntnis (shahadah)

                                           Almosen (zakat)

                                                             Gebet (salat)

                                                                             Fasten (sawm)

                                                                                             Pilgerfahrt (hajj)

                                                                                                                  3. Bibel und Qur’an in ihrer spirituellen
                                                                                                                     Bedeutung für Christen und Muslime6
                                                                                                                  3.1 Die Heiligen Schriften kennen und wissen, was
                                                                                                                       sie den Gläubigen bedeuten
                                                                                                                  Das Zusammenleben (conviventia) von Christen und
                                                                                                                  Muslimen überall auf der Welt und in unterschiedlichen
                                                                                                                  Konstellationen ist eine Tatsache, der wir uns nicht ent-
                                                                                                                  ziehen können. Viele Christen ebenso wie viele Muslime
                                                                                                                  sind davon überzeugt, dass es Teil ihrer Berufung ist,
                                                                                                                  einander kennen zu lernen und, wo immer möglich, das
                                                                                                                  Gute gemeinsam zu fördern und das Böse gemeinsam
                                                                                                                  abzuwehren. Für muslimische Gläubige wäre die einfa-
                                                                                                                  che Missachtung der anderen „Bücher“ gleichbedeu-
                                                                                                                  tend mit einer Nichtbefolgung des Qur’an. Sogar
                                                                                                                  Muslime, die glauben, dass die „Leute des Buches“ den
Warum finden wir im Neuen Testament der Christen
                                                                                                                  Text ihrer eigenen Heiligen Schriften verfälscht haben
keine klare Vorhersage der Ankunft Muhammads? Die
                                                                                                                  und die an Juden und Christen vielleicht nur als potenzi-
muslimische Antwort darauf lautet: weil die Christen sie
                                                                                                                  elle Konvertiten interessiert sind, werden sich immer
aus dem Text entfernt haben. Nach Meinung eines
                                                                                                                  mehr der Notwendigkeit bewusst, von Christen etwas
Muslimen bleiben deshalb letztlich nur mehr ganz weni-
                                                                                                                  über deren Verständnis der Heiligen Schrift zu erfahren.
ge Spuren dieser Ankündigung Muhammads in der
                                                                                                                  Die positiven Aussagen des Qur’an über die „Leute des
Bibel, so zum Beispiel in Deuteronomium 18,18, wo Gott
                                                                                                                  Buches“, die freilich, wie wir gesehen haben, mit negati-
den Israeliten verspricht, dass er unter ihren Brüdern
                                                                                                                  ven Aussagen vermengt sind, müssen auf alle Fälle von
einen Propheten wie Moses erstehen lassen wird, und im
                                                                                                                  Muslimen ernst genommen werden, wenn auch sie den
Evangelium nach Johannes (Joh 14,26) mit seiner
                                                                                                                  Qur’an ernst nehmen wollen.
Verheißung des Parakleten oder Trösters. Während die
Christen diese Ankündigung des Parakleten auf den                                                                   Unter den Leuten der Schrift gibt es (auch) eine
Heiligen Geist beziehen, lesen Muslime periklytos                                                                   Gemeinschaft, die (andächtig im Gebet) steht, (Leute), die
(berühmt, preisenswert) statt parakletos und interpretie-                                                           zu (gewissen) Zeiten der Nacht die Verse (w. Zeichen)
                                                                                                                    Gottes verlesen und sich dabei niederwerfen. Sie glauben
ren dies als eine Verheißung Muhammads, dessen
                                                                                                                    an Gott und den jüngsten Tag, gebieten, was recht ist, ver-
Name „gepriesen“ bedeutet.4
                                                                                                                    bieten, was verwerflich ist, und wetteifern (im Streben)
                                                                                                                    nach den guten Dingen. Sie gehören (dereinst?) zu den
Christen sollten sich nicht entmutigen lassen, wenn sie                                                             Rechtschaffenen. Für das, was sie an Gutem tun, werden
wahrnehmen, dass man sie der Verfälschung der Bibel                                                                 sie (dereinst) nicht Undank ernten. Und Gott weiß
zeiht. Solche Einwände und Anklagen sind nicht persön-                                                              Bescheid über die, die (ihn) fürchten. (Sure 3,113-115)
lich gemeint. Sie sollten aber alle von der modernen
Wissenschaft und der Kommunikationstechnik – nicht                                                                Doch auch außerislamische Überlegungen werden
zuletzt den elektronischen Medien – bereitgestellten                                                              Muslime mehr und mehr davon überzeugen, dass sie die
Möglichkeiten nutzen, um gebildeten Muslimen klar zu                                                              Bibel ernst nehmen und sich ernsthaft mit ihr vertraut
machen, wie unhaltbar die islamische Doktrin der                                                                  machen müssen, genauso wie heute immer mehr Nicht-

                                                                                                                                                                                  35
WORT GOTTES IM CHRISTLICH-ISLAMISCHEN DIALOG

     Muslime den Wunsch verspüren, sich mit dem Text des          Bibeltexte sind eine vielstimmige Reaktion auf die
     Qur’an vertraut zu machen. Es ist unvermeidlich, dass        Begegnung mit den „Großtaten Gottes“, den magnalia
     Muslimen in modernen Gesellschaften eine kritische           Dei. Das Wort, das Gott selbst in Jesus Christus ist, ruft
     Herangehensweise an spirituell relevante Texte begeg-        ständig neue Antworten hervor, und diese sind Worte
     net, eine Herangehensweise, die sie bisher nicht             des Zeugnisses, der Verkündigung und der frohen
     gekannt hatten. In einer ersten Reaktion auf die moder-      Botschaft. Christen leben in dem dankbaren Wissen,
     ne kritische Bibelwissenschaft haben Muslime vielleicht      dass der immer größere Gott ihnen in dem gekreuzigten
     etwas triumphierend verkündet, dass eine solche kriti-       und auferweckten Jesus von Nazaret begegnen möchte,
     sche Wissenschaft die traditionellen Behauptungen des        der sein Leben mit uns am „Tisch des Brotes“ und am
     Islam über die Verfälschung der Bibeltexte bestätigt.        „Tisch seines Wortes“ teilt.
     Doch mit der Zeit werden sie sich fragen müssen, warum
     der historisch-kritische Zugang zur Bibel nicht etwa das     Hingegen scheint das muslimische Glaubensverständ-
     Ende des christlichen Glaubens bedeutete, sondern sich       nis den Qur’an nicht als Antwort des Propheten
     im Großen und Ganzen als Faktor erwiesen hat, der eine       Muhammad oder anderer Glaubenszeugen aufzufassen.
     sinnvolle Interpretation des christlichen Glaubens für den   Vielmehr ist der Qur’an für Muslime nichts weniger als
     modernen Menschen fördert. In diesem Sinn hat die            der Text des Wortes Gottes, der seit Ewigkeit besteht
     historisch-kritische Exegese zweifelsohne zu einer           und im Himmel „auf einer wohlverwahrten Tafel“
     neuen Anerkennung der spirituellen und theologischen         (Sure 85,22) aufgeschrieben ist. Dieser Text wurde
     Relevanz der Schrift beigetragen.                            Muhammad überliefert und von ihm in absoluter Treue
                                                                  an seine Hörer weitergegeben, welche ihn in seiner
     Auch in christlichen Kreisen sind neue Impulse spürbar,      Gesamtheit im Gedächtnis bewahrten und später schrift-
     sich dem Qur’an anzunähern. Denkende Christen fragen         lich niederlegten. Der Gläubige ist aufgefordert, auf die
     sich, wie es möglich ist, dass der Qur’an bis heute          offenbarte Führung des Schöpfers und Richters durch
     beträchtliche spirituelle Energie zu verbreiten vermag.      die gläubige Praxis der „fünf Säulen“ des Islam zu ant-
     Wie eh und je scheinen Muslime spirituelle Kraft aus dem     worten. Aus den Vorschriften des Qur’an kann das
     Qur’an zu beziehen. Nicht so sehr der muslimische            Gesetz als klare Orientierung für den Einzelnen und die
     Vorwurf der Bibelverfälschung ist eine Herausforderung       Gemeinschaft abgeleitet werden. Auch wenn der Qur’an
     für Christen, als vielmehr der Umstand, dass ein Buch wie    Gegenstand mystischer Liebe und quasi-sakramentale
     der Qur’an, das etwa sechshundert Jahre nach der             Quelle von Energie sein kann, so ist er doch vorwiegend
     Geburt Christi die Bühne der Geschichte betrat, nach wie     und in erster Linie Anleitung, als klare Willensäußerung
     vor eine dynamische Weltreligion mit mehr als einer          des barmherzigen Gottes.
     Milliarde Anhängern am Leben hält. Was bedeutet es –
     werden sich diese Christen zu Recht fragen –, dass der
     Gott Jesu Christi dies zugelassen oder sogar herbeige-       4. Initiativen zum gemeinsamen Studium
     führt hat?                                                      von Bibel und Qur’an
                                                                  Erst vor kurzem organisierte Michael Ipgrave im Auftrag
     3.2 Spirituelles Wachstum durch gegenseitige Auf-            des Erzbischofs von Canterbury ein bahnbrechendes
          merksamkeit für die Heiligen Schriften                  christlich-muslimisches Seminar in Doha unter der
     Wie schwierig es auch erscheinen mag, Bibel und              Schirmherrschaft des Emirs von Qatar. Unter dem Titel
     Qur’an in ihrer spirituellen Relevanz miteinander in         Scriptures in Dialogue (Schriften im Dialog) wurden die
     Beziehung zu setzen, so ist diese Aufgabe doch unum-         Ergebnisse des Seminars veröffentlicht, dessen wesent-
     gänglich, außer man beschlösse mutwillig, sich spirituell    liche Inhalte in vier kleinen Arbeitsgruppen mit christli-
     voneinander abzuschotten. Christen und Muslime kön-          chen und muslimischen Wissenschaftern behandelt wur-
     nen einander zumindest ein Stück weit vermitteln, was        den. Diese Gruppen trafen sich insgesamt sechs Mal zu
     ihre innerste Haltung ausmacht, was religiös für sie rele-   einer intensiven Lesung von aufeinander abgestimmten
     vant ist und aus welcher spirituellen Perspektive heraus     Stellen aus Qur’an und Bibel. In einem Postskriptum
     sie versuchen, ihr Leben zu gestalten. Zwar sind Bibel       merkt Ipgrave an:
     und Qur’an für Christen und Muslime nur ein möglicher          Sowohl Christentum als auch Islam haben eine lange
     Schwerpunkt unter vielen, doch stellen sie mit Sicherheit      Tradition der Schriftinterpretation und zahlreiche
     einen maßgeblichen Schwerpunkt für den Glauben jener           Methoden, diese Tradition weiter zu entwickeln, um sie
     dar, die ihren Glauben in diese Bücher setzen. Wie rele-       neuen Situationen und Fragen anzupassen. Doch es gibt
                                                                    kaum Räume und Anlässe, wo Christen und Muslime von-
     vant ist es für Muslime, sich der spirituellen Bedeutung
                                                                    einander lernen und in einen Dialog über die Schriften ein-
     bewusst zu werden, die die Bibel für jeden Christen und        treten können. … Jeder Fortschritt in Richtung eines tiefe-
     für die christliche Kirche hat? Was lernen Christen, wenn      ren Verständnisses und einer Versöhnung zwischen den
     ihnen bewusst wird, wie das Leben des einzelnen                beiden Glaubensrichtungen setzt daher das Ernstnehmen
     Muslimen und der einzelnen Muslimin und in gewissem            dieser Schriften voraus, weil sie mit dem Besten und dem
     Sinn auch der gesamten umma muslima durch den und              Schlechtesten in Geschichte und aktueller Situation ver-
     mit dem Qur’an gestaltet wird?                                 bunden sind.7

36                                                                                                                                36
BULLETIN DEI VERBUM 79/80

Seit einiger Zeit kommen da und dort regelmäßig kleine          Christen sind Christen und Muslime sind Muslime, weil
Gruppen gebildeter Christen und Muslime zusammen,               ihnen die Wahrheit ein Anliegen ist und weil sie glauben,
um gemeinsam Bibel- und Qur’an-Texte zu lesen. Diese            dass nur die Wahrheit allein Leben spendet. Über das
Studiengruppen sind ein Zeichen der Hoffnung. Schon             Wesen dieser absoluten, Leben spendenden Wahrheit
                                                                sind sich Christen und Muslime nicht völlig einig. Sie sind
Mitte der 1980er-Jahre hatte Br. Jacques Jomier äußerst
                                                                jedoch fähig, Worte zu finden, um diese Uneinigkeit zu
nützliches Material für derartige Studienzirkel publiziert.
                                                                erklären und zu ergründen, weil sie auch eine Geschichte
Angespornt durch Jomiers Initiativen und Publikationen          und eine Praxis gemeinsam haben, die Teile ihrer
trafen sich in den letzten Jahren religiös gebildete Juden,     Glaubenssysteme gegenseitig erkennbar machen – eine
Muslime und Christen in regelmäßigen Abständen,                 Geschichte, die bis zur Erschaffung der Welt durch Gott
zuerst in Berlin, dann auch in Frankfurt, um zusammen           und Gottes Ruf an Abraham zurück reicht; eine Praxis der
Qur’an-Texte und damit verwandte Bibelstellen zu lesen.         Lektüre und des In-Sich-Aufnehmens der Schrift und der
Mit diesem Austausch und Gespräch über die Texte ver-           Lebensgestaltung als Antwort auf das Wort, das Gott zur
sucht jede Seite die Gründe noch tiefer zu verstehen und        Schöpfung spricht. Wir sind hier, um zusammen mehr dar-
wertzuschätzen, aus denen biblische und Qur’an-Texte            über zu erfahren, wie jede Gemeinschaft glaubt, auf Gott
jene Menschen immer noch faszinieren und inspirieren,           hören zu müssen, im Bewusstsein, wie sehr verschieden
                                                                wir Gottes Offenbarung erkennen und von ihr sprechen. …
die sie mit einem offenen Herzen hören oder lesen.
                                                                Das Hören auf Gott und das Hören aufeinander als
Nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche gemein-
                                                                Nationen, Kulturen und Religionen hatten nicht immer jene
same spirituelle Lesung die Domäne einer relativ kleinen        Priorität, die sie so notwendig brauchen. Umso wichtiger
Zahl bleiben wird, ihr etwas von ihrem inneren Wert?            daher dieser Freiraum der Reflexion; er ist sowohl Symbol
                                                                als auch Beispiel für diese Art des Engagements.9
Gleichzeitig müssten Christen alles in ihrer Macht
Stehende tun, um junge muslimische Experten zur               Jeder Christ, der an einer solchen gemeinsamen Lesung
Teilnahme an Studium und Erforschung der Bibel einzu-         von Bibel und Qur’an oder, ganz allgemein, an einem
laden, und umgekehrt. Wenn ein echter theologischer           dialogischen Austausch zwischen Muslimen und
Dialog zwischen Christen und Muslimen gelingen soll,          Christen zu theologischen Themen teilgenommen hat,
braucht es wohl muslimische „Christianologen“ und             weiß, dass er in einem solchen Prozess neben der
Bibelwissenschaftler. Die Lehrmeinungen und Veröffent-        Entdeckung substantieller Gemeinsamkeiten des
lichungen solcher Experten und der wisenschaftliche           Glaubens auch zunehmend intensiv die ebenso imma-
Dialog zwischen ihnen und ihren christlichen (und natür-      nenten Unterschiede zwischen den beiden Glaubens-
lich auch jüdischen) Kollegen würde viel dazu beitragen,      visionen kennen lernt; Unterschiede, die wirklich alle
die Konturen der beiden Religionen und ihrer jeweiligen       Bereiche der beiden Religionen und deren Theologie
Wissenschaft heraus zu arbeiten und zu vertiefen.             durchdringen. Im letzten hängen sie immer mit der
                                                              Einzigartigkeit des grundlegenden Faktums und des
In diesem Zusammenhang verdient das einzigartige
                                                              absoluten Mittelpunkts des christlichen Glaubens
Langzeitprojekt der Islamisch-Christlichen Forschungs-
                                                              zusammen: Jesus als Sohn Israels und Sohn Gottes.
gruppe GRIC (Groupe de Recherches Islamo-Chrétien)8
                                                              Jede tiefere Begegnung mit Muslimen und dem Islam
besondere Erwähnung. Hier treffen sich regelmäßig
                                                              konfrontiert Christen bzw. christliche Theologen immer
muslimische und christliche Wissenschafter aus Europa
                                                              wieder mit Fragen wie: Können und sollen Christen
und Nordafrika in mehreren lokalen Gruppen zu
                                                              Muhammad theologisch als Propheten einstufen?
Forschung und Diskussion – als unabhängige und indi-
                                                              Können oder müssen Christen zugeben, dass der Qur’an
viduelle Vertreter ihrer Glaubenstraditionen und als
                                                              „Träger des Wortes Gottes“ ist, wie es Robert Caspar for-
Freunde, ohne politische oder religiöse Agenda. Seit
                                                              muliert hat? Welchen Status, welche Heilsbedeutung soll
1987 veröffentlicht diese Gruppe die Ergebnisse ihrer
                                                              die christliche Theologie dem Islam zuschreiben?
Arbeit in Französisch und in Englisch.

Die Arbeit umfasste mehrere Stufen. Zuerst wurde die          Es war nicht Ziel dieses Beitrags, diese Fragen, die ich
Schrift und ihre Rolle und Bedeutung in Islam und             an anderer Stelle bereits behandelt habe, ausführlich zu
Christentum definiert und beschrieben. Daran schloss          diskutieren. Abschließend sollten wir jedoch in aller
sich eine Diskussion über die Methoden und Gründe für         gebotenen Kürze unsere Position zu dieser zentralen
die Lektüre und das Studium der Schrift, ihre Weitergabe      Frage klar machen. Auf der einen Seite verdienen
an den Einzelnen und die Gemeinschaft, und über               Muhammad und der Qur’an die größtmögliche
Rezeption und Reaktionen. Das Buch endet mit einer            Aufmerksamkeit von Seiten der christlichen Gläubigen
zweifachen „Inventur“: Islamische Gelehrte kommentie-         und Theologen. Denn Muhammad und die von ihm im
ren die Bibel, christliche Gelehrte den Qur’an.               Namen Gottes verkündete Schrift sind zweifellos von
                                                              echter religiöser Erfahrung und folglich von religiösen
In seiner Eröffnungsrede vor dem Seminar in Doha              und ethischen Prinzipien geprägt, die zum Teil als Frucht
erklärte der Erzbischof von Canterbury die logische           des Heiligen Geistes betrachtet werden müssen.
Grundlage für die gemeinsame Beschäftigung mit den            Andererseits jedoch kann vor der in Jesus vollendeten
beiden Schrifttraditionen mit folgenden Worten:               Offenbarung der Anspruch des Propheten des Islam und

                                                                                                                              37
WORT GOTTES IM CHRISTLICH-ISLAMISCHEN DIALOG

     des Qur’an, die vollkommene und letzte Offenbarung zu       Botschaft, die Heilige Schrift, die unser Glaube bewahrt
     sein, die alle früheren Offenbarungen bewertet und          und verkündet.
     außer Kraft setzt, von gläubigen Christen nur zurückge-

                                                                                                                                        n
     wiesen werden. Darüber hinaus zeigt die Lehre des
     Qur’an Aspekte und Meinungen, die nicht mit den von         (Übers.: X. Remsing)
     Jesus Christus repräsentierten und gesetzten
     Maßstäben übereinstimmen und sogar der von ihm ver-         Eine ausführlichere Bibliographie kann über das General-
     körperten und verkündeten Lehre widersprechen:              sekretariat der KBF bezogen werden.
     Selbstaufgabe und gewaltlose Selbsthingabe einschließ-      1
                                                                      Maurice Borrmans, Guidelines for Dialogue between Christians and
     lich der Feindesliebe. Mit anderen Worten, vom                   Muslims, New York/Mahwah 1990, 104f.
     Standpunkt des christlichen Glaubens aus betrachtet         2
                                                                      Jean-Marie Gaudeul, Bible and Qur’an, in: Encounter. Documents for
     enthält der Qur’an eine zumindest teilweise Ablehnung            Muslim-Christian Understanding (Pontifical Institute of Arabic and
     des Evangeliums mit seinem Aufruf zu Vollkommenheit              Islamic Studies 13), Rom 1975, 5.
     und Heiligung nach dem Vorbild Jesu, des gekreuzigten       3
                                                                      Gaudeul, Bible and Qur’an (s. Anm. 2), 7.
     und auferweckten Herrn, und er weist deutlich die christ-   4
                                                                      Vgl. William Montgomery Watt, Muslim-Christian Encounters.
     liche Frohbotschaft zurück, dass sich Gott selbst in             Perceptions and Misperceptions, London 1991, 33ff.
                                                                 5
     Jesus Christus der Menschheit schenkt.                           Vgl. Hava Lazarus-Yafeh, Art. Tahrif, in: Encyclopédie Islamique, 2.
                                                                      Aufl., Bd. X (2000), 111f.; Christian W. Troll, Sayyid Ahmad Khan on
                                                                      Matthew 5,17-20, in: Islamochristiana, Bd. 3 (1977), 99-105.
     Für uns gehört die Lektüre und das Studium des Qur’an       6
                                                                      Dieser Teil meines Aufsatzes folgt dem richtungsweisenden Essay
     und der Austausch darüber mit Muslimen zur größeren              von Hans-Martin Barth, „Nimm und lies!“ Die spirituelle Bedeutung
     christlichen und theologischen Aufgabe, die Früchte              von Bibel und Koran, in: Hans-Martin Barth / Christoph Elsas (Hrsg.),
     des Geistes in den Gründungstexten wie auch im realen            Hermeneutik in Islam und Christentum. Beiträge zum interreligiösen
                                                                      Dialog (Rudolf-Otto-Symposion 1996), Hamburg 1997, 9-23.
     Leben der Religionen und ihrer Anhänger wahrzuneh-          7
                                                                      Michael Ipgrave (Hrsg.), Scriptures in Dialogue. Christians and
     men. Christen sollen in der Kirche immer wirksamer               Muslims studying the Bible and the Qur’an together, London 2004,
     ihrer Berufung nacheifern, Licht, Salz und Hefeteig der          144.
     Welt zu sein. Sie erfüllen diese Berufung in der Teilhabe   8
                                                                      Vgl. Groupe de Recherches Islamo-Chrétien (Hrsg.), Ces Écritures
     am Ereignis der universellen Geschichte, in dem                  qui nous questionnent. La Bible & le Coran, Paris 1987.
     Kulturen und Religionen durch einen Prozess des             9
                                                                      Ipgrave, Scriptures in Dialogue (s. Anm. 7), xi-xii.
     Lernens, der kritischen Unterscheidung und des gegen-       10
                                                                      Christian W. Troll, Der Islam im Verständnis der katholischen
     seitigen „Reinigens“ von Erinnerung und Herz verwan-             Theologie. Überblick und neuere Ansätze, in: Marianne Heimbach-
                                                                      Steins / Heinz-Günther Schöttler / Heimo Ertl (Hrsg.), Religionen im
     delt werden, unter der Anleitung des Heiligen Geistes.           Dialog. Christentum, Judentum und Islam, Münster 2003, 51-67 (hier:
     Alle sind eingeladen, sich immer tiefer in die Fülle des         58ff.); ders., Prüfet alles! Der Dienst der Unterscheidung als unab-
     dreieinigen Leben Gottes mit hinein nehmen zu lassen –           dingbares Element dialogischer Beziehungen von Christen mit
                                                                      Muslimen, in: Andreas Renz, / Hansjörg Schmid / Jutta Sperber
     des Gottes, der sich selbst in Jesus Christus als bedin-         (Hrsg.), Herausforderung Islam. Anfragen an das christliche Selbst-
     gungslose Liebe offenbart hat. Das ist die Frohe                 verständnis (Hohenheimer Protokolle 60), Stuttgart 2003, 69-82.
     THEMA

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