Bibel und Qur'an im Dialog - Christian W. Troll
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BULLETIN DEI VERBUM 79/80 THEMA Bibel und Qur’an im Dialog Christian W. Troll Professor Christian W. Troll, der dem Jesuiten- Sowohl Christen als auch Muslime glauben, dass Gott in orden angehört, unterrichtete Islamwissenschaft der Geschichte die Initiative ergriffen hat, um zu den in Neu-Delhi, Birmingham und am Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom. 1999 übernahm Menschen zu sprechen. Die Gläubigen beider Religio- er die Leitung des christlich-islamischen nen betrachten sich als glückliche Empfänger der „Gabe Forums der Katholischen Akademie in Berlin. des Wortes“. Für Muslime ist der Qur’an die endgültige, Seit 2001 ist er Honorarprofessor an der einzigartige und uneingeschränkt authentische Manifes- Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt a. M. tation des Wortes Gottes, gerichtet an die Menschheit durch Vermittlung Muhammads (vgl. z.B. Sure 42,52). Christen ihrerseits sind überzeugt: „Viele Male und auf Einführung vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns Der Dialog mit dem Islam ist immer ein Dialog mit einer gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls (oder mehreren) möglichen Auffassungen des Islam. Der eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen Glaube an den Qur’an als geoffenbartes Wort Gottes, an hat.“ (Hebr 1,1f.) Muhammad als dem Siegel der Propheten und an das „schöne Beispiel“ (Sure 33,21) eines gottgefälligen Bei dem Versuch, einander zu erklären, wie Christentum Lebens, sowie der Glaube, dass bestimmte grundlegen- und Islam das Wort Gottes je empfangen und verstehen, de religiöse Praktiken von Gott vorgeschrieben sind, werden Christen und Muslime die verschiedene Art und sind allen Muslimen gemeinsam. Doch kennt die Welt Weise unterstreichen, in der die beiden Religionen das der Muslime, und noch weniger deren sunnitischer Teil, von Gott an sie gerichtete Wort definieren. Für Muslime kein Magisterium oder Lehramt, das den Anspruch erhe- ist dieses Wort der Qur’an selbst, „vom Herrn ... in aller ben würde oder könnte, die alleingültige Interpretation Welt (als Offenbarung) herabgesandt“ und „in deutlicher des Qur’an und der Sunna zu lehren und das von einer arabischer Sprache (geoffenbart)“ (Sure 26,192.195), breiten Mehrheit von Muslimen anerkannt würde. Die und sie werden hervorheben, welche Bedeutung der unterschiedlichen Auffassungen des Islam ergeben sich Qur’an für sie als Diskurs über Gott und als Gesetz für aus unterschiedlichen „Lesungen“ seiner normativen die Menschheit hat. Nach christlicher Sicht kam das Wort Texte (besonders des Qur’ans) und divergierenden Aus- Gottes in die Welt in der „Fülle der Zeit“ (vgl. Mk 1,15), legungen seiner zentral gründenden Ereignisse und nicht in Form einer Schrift, sondern in der Person Jesu Symbole. Ich werde mich hier auf das übliche sunniti- Christi, Offenbarung des Vaters und Anwesenheit Gottes sche Verständnis des Islam beschränken, wie es z.B. an in der Welt der Menschen. Für Christen gilt: „Die Heilige der Al-Azhar Universität in Kairo und unzähligen eng mit Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen ihr verbundenen Einrichtungen gelehrt und praktiziert der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes wird. Darüber hinaus beschränke ich mich auf einige Gottes“ (Dei Verbum 10), denn „die Heilige Überliefe- wenige Anmerkungen, die von unmittelbarer Bedeutung rung und die Heilige Schrift sind eng miteinander ver- für den christlich-muslimischen Dialog scheinen: (1) Das bunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttli- „Wort Gottes“ nach christlicher und muslimischer chen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen Auffassung; (2) Muslimische Überzeugungen betreffend in eins zusammen und streben demselben Ziel zu“ (DV den Qur’an und die Bibel und deren Relevanz für die 9). Daher sind nach christlicher Lehre die heiligen Begegnung zwischen Christen und Muslimen; (3) Bibel Bücher des Alten und des Neuen Testaments, gleicher- und Qur’an in ihrer jeweiligen spirituellen Bedeutung für maßen das Werk Gottes und der von Gott inspirierten Christen und Muslime; (4) Initiativen zum gemeinsamen Verfasser, nur ein – wenn auch außergewöhnliches und Studium von Bibel und Qur’an. normatives – Mittel unter mehreren, um dem Wort Gottes in der eigenen Lebenserfahrung zu begegnen. 1. Das „Wort Gottes“ nach christlicher und Um einen echten Dialog zu führen, so Borrmans in den muslimischer Auffassung Guidelines, müssen beide Partner die tiefgreifende In enger Anlehnung an die Guidelines for Dialogue bet- Differenz in den Glaubensüberzeugungen von Christen ween Christians and Muslims (Richtlinien für den Dialog und Muslimen im Hinblick auf Wesen und Botschaft der zwischen Christen und Muslimen)1 können wir sagen: jeweiligen Heiligen Schrift berücksichtigen, wollen sie 31
WORT GOTTES IM CHRISTLICH-ISLAMISCHEN DIALOG sinnlose Verwirrung und nutzlose Kritik vermeiden. In der herabgesandt hat, und folge nicht (in Abweichung) von religiösen Erfahrung der Muslime wurde das Wort Gottes dem, was von der Wahrheit zu dir gekommen ist ...)“. zur „Schrift, an der nicht zu zweifeln ist“ (Sure 2,2), zur Christinnen und Christen mögen ihrem Gewissen folgen „Schrift ... mit der Wahrheit“ (5,48 u.ö.), zur „Schrift, um und dem Wort Gottes gehorchen, wie sie es verstehen. alles ... klarzulegen“ (16,89), nämlich zum Qur’an, Ein Muslim jedoch wird alles in der Bibel, das nicht mit während Christen glauben, dass das Wort Gottes dem Qur’an übereinstimmt, entweder als überholt oder „Fleisch geworden“ ist in der Person Jesu Christi, des als verfälscht ansehen. gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Wir müssen die im gleichen Vers 5,48 ausgedrückte 2. Muslimische Überzeugungen zu Qur’an Meinung beachten, dass der religiöse Pluralismus ein und Bibel und deren Relevanz für die Faktum ist, dass dieses Faktum bis zum Ende der Zeit Begegnung von Christen und Muslimen bestehen wird und dass das Vorhandensein anderer Religionen neben dem Islam eine von Gott auferlegte 2.1 Der Qur’an und der christlich-islamische Dialog Prüfung für die Treue der Muslime darstellt: „Für jeden Von den zahlreichen Passagen des Qur’an, die von den von euch (die ihr verschiedenen Bekenntnissen ange- Christen und dem Verhältnis zu ihnen sprechen, wollen hört) haben wir ein (eigenes) Brauchtum (?) und einen wir hier nur Verse aus der fünften und neunten Sure in (eigenen) Weg bestimmt. Und wenn Gott gewollt hätte, Betracht ziehen. Diese Suren gelten als Teil der letzten hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Phase der koranischen Offenbarung. Der muslimische Aber er (teilte euch in verschiedene Gemeinschaften auf Glaube sieht sie als „das letzte Wort“ des Qur’an zu dem und) wollte euch (so) in dem, was er euch (d.h. jeder Thema, welches alle früheren diesbezüglichen Gruppe von euch) (von der Offenbarung) gegeben hat, Aussagen des Buches ersetzt und eventuell wider- auf die Probe stellen. Wetteifert nun nach den guten sprüchliche Aussagen korrigiert. Dingen! Zu Gott werdet ihr (dereinst) allesamt zurück- kehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, Christen und Juden werden im Qur’an gemeinsam als worüber ihr (im Diesseits) uneins waret.“ „Leute der Schrift“, bisweilen auch als „Leute des Evangeliums“ bezeichnet (z.B. Sure 5,47). Der Qur’an In Sure 5,82 finden wir die berühmte Stelle, an der in ein fordert die Christen also gewissermaßen auf, ihr und demselben Vers Juden und Heiden als diejenigen Verhalten und ihre Praxis im Lichte des Evangeliums zu Menschen beschrieben werden, „die sich den Gläubigen überdenken. Hinter der häufig, explizit oder implizit gegenüber am meisten feindlich zeigen“ und dann wie- gestellten Frage von Muslimen an Christen, warum sie der als „diejenigen, die den Gläubigen in Liebe am denn die klaren Vorschriften der Torah nicht beachten Nächsten stehen, die sind, welche sagen: ‚Wir sind würden (z.B. Beschneidung oder Ernährungsvorschrif- Nasara (d.h. Christen)‘“. Der Vers schließt mit der ten) steht die eigentliche Frage: „Gehorchst du dem Bemerkung: „Dies deshalb, weil es unter ihnen Priester Wort Gottes?“ Nun mag ein solches isoliertes, von einem und Mönche gibt, und weil sie nicht hochmütig sind.“ muslimischen Gesprächspartner an einen Christen Aus dem darauffolgenden Vers wird klar, dass man von gerichtetes Zitat ein zu eng gefasstes Kriterium schei- Christen nicht nur Liebe und Demut erwartet, sondern nen, und ist es in der Tat auch. Doch im Dialog müssen auch ein tiefes Gefühl für Gottes überwältigende Größe. sich Christen tatsächlichen Fragen stellen und sie so Nun mag sich der fragliche Text sehr gut auf eine beantworten, dass die Antworten für einen Muslim ver- Gruppe von Christen bezogen haben, die dem Islam ständlich sind. Außerdem kann es für Christen unter positiver gegenüber standen. Wie dem auch immer sei, Umständen durchaus hilfreich sein sich bewusst zu wer- diese Passage bildet jedenfalls einen Teil des Qur’an- den, dass die eine oder andere ihrer Verhaltensweisen in Texts und wird daher von Muslimen als Wort Gottes einem Spannungsverhältnis, wenn nicht in offenem akzeptiert. Widerspruch zur biblischen Lehre steht. Neben solchen Texten finden wir auch andere, restrikti- Für einen Muslim/eine Muslimin besteht jedenfalls kein ve Passagen, die dem Dialog bestimmt nicht förderlich Zweifel daran, dass er/sie alles anhand der Lehren des sind. Als Beispiel sei angeführt: „Ihr Gläubigen! Nehmt Qur’ans beurteilen muss. Muslime sehen keine euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden!“ Notwendigkeit, die Bibel zu lesen, ist doch der Qur’an (Sure 5,51) Oder der bekannte Appell, die Christen zu nach muslimischem Glauben das letzte Wort Gottes. Er bekämpfen und sie auf einen untergeordneten politi- wurde in seiner authentischen Form bewahrt; damit schen Status unter islamischem Recht zu reduzieren bestätigt oder hebt er alles auf, was vorher war (vgl. Sure (Sure 9,29). Obwohl dieser Vers klar unterscheidet zwi- 5,48: „Und wir haben (schließlich) die Schrift (d.h. den schen manchen Leuten des Buches, die an Gott glau- Koran) mit der Wahrheit zu dir herabgesandt, damit sie ben, und anderen, die nicht an ihn glauben, wurde bestätige, was von der Schrift vor ihr da war, und darü- diese Unterscheidung in der Praxis nicht vorgenom- ber Gewissheit gebe. Entscheide nun zwischen ihnen men, sondern der Vers auf alle Christen als solche (d.h. den Juden und Christen?) nach dem, was Gott (dir) gemünzt. 32 32
BULLETIN DEI VERBUM 79/80 Nach der Untersuchung aller Aussagen im Qur’an, die unseren Glauben an Gottes Führung und Inspiration von den Christen und dem Verhältnis zu ihnen handeln, ausdrücken, Sätze, wie wir sie in der Bibel selbst finden: kommt J.-M. Gaudeul zu folgendem Schluss: „David selbst hat, vom Heiligen Geist erfüllt, gesagt ...“ Es scheint möglich, im Qur’an Texte zu finden, die Muslime (Mk 12,36) oder einfach: „Denn es steht in der Schrift ...“ dazu bringen könnten, einen fruchtbaren Dialog mit (Gal 4,27). Christen zu akzeptieren. Natürlich steht es uns nicht zu, Muslimen vorzuschreiben, wie sie den Qur’an auffassen Der muslimische Glaube an die Offenbarung als Diktat sollen, das ist ihre Angelegenheit. Aber wir könnten unse- eines Texts führt zu einer weiteren Konsequenz. Sowohl re Ängste ablegen und auf die Muslime zugehen, wie dies die Bibel als auch der Qur’an enthalten eine große von uns erwartet wird, nicht nur aufgrund des Anzahl literarischer Formen, doch der Qur’an präsentiert Evangeliums, sondern sogar aufgrund bestimmter Verse die Gesamtheit seines Texts als eine einzige, umfassen- im Qur’an.2 de literarische Gattung: die „prophetische“. Die ver- schiedenen Stile oder Themen des Qur’an (Gebete, Wenn sich Christen wirklich und wahrhaftig als „Leute Vorschriften, Ermahnungen, Erzählungen usw.) werden der Schrift“ erweisen, d.h. als Menschen, die dem Wort diesem großen Rahmen des „Prophetischen“ einge- Gottes gehorchen, erfüllt von einem Gefühl von Gottes passt. Der Qur’an als Ganzes kann zu Recht als eine Art Herrlichkeit, dann, davon ist Gaudeul überzeugt, wird lange Predigt oder Ermahnung betrachtet werden, die Gott aufgrund dieser Haltung ganz bestimmt die von Gott (oder Engeln) an Muhammad, an die Gläubigen Muslime an jene Texte erinnern, die Christen besser oder an alle Menschen gerichtet ist. gesonnen sind. Das wiederum kann die Begegnung zwi- schen Christen and Muslimen erleichtern, als Partner Aus der Überzeugung, dass der Qur’an direkt von Gott und nicht als Rivalen oder Gegner, die sich in nutzlosen diktiert wurde, schließt der Muslim, dass der Qur’an voll- Kontroversen verzetteln. kommen ist, göttlich in Inhalt und Stil. Die Schönheit des Arabischen und die Klarheit der Botschaft (mit den 2.2 Unterschiede zwischen christlichen und muslimi- Schwerpunkten Einheit Gottes und Geschwisterlichkeit schen Ansichten über die Schrift der Menschheit) wird als ein Wunder von letztlich unwider- Die christliche Lehre von der Inspiration der biblischen stehlicher Überzeugungskraft empfunden und geglaubt. Schriften impliziert die Behauptung, dass Gott Menschen – einzeln und in Gruppen – derart zu seinen Instrumenten Ein weiterer wesentlicher erwählte, dass er ihre Freiheit, ihre Denkprozesse, Unterschied im Inhalt von Temperamente, Fähigkeiten und Traditionen respektier- Bibel und Qur’an führt te. Für den christlichen Glauben ist der biblische Text Christen und Muslime in stets gleichermaßen ganz das Wort des Verfassers und jeweils ganz unterschiedli- das Wort Gottes. So kommt Gottes Wort in der Bibel zum che Richtungen. Wenn wir Hörer oder Leser in unterschiedlichen Stilen, Bildern und die Botschaft der Bibel in Ausdrucksformen, in dem Hörende oder Lesende die wenigen Zeilen zusam- Person bzw. Personengruppe(n) erkennen können, wel- menfassen wollten, wür- che den betreffenden Text formuliert und ihm seine Form den wir sagen: Gott offen- gegeben hat. Im Gegensatz dazu kam nach der vorherr- bart sich im Lauf einer ein- schenden muslimischen Überzeugung Gottes Wort zu zelnen Heilsgeschichte. Muhammad durch die Form des Diktats: Gott, oder des- Diese Geschichte ist sen Geist (= der Engel Jibril), gibt Muhammad Wort für wesentlich gekennzeich- Wort vor, was er zu sagen hat. Muhammad ist Gottes net durch die Wahl eines Sprachrohr in dem Sinne, dass er in keiner Weise Anteil auserwählten Volkes, die hat an der Wahl der Worte, Sätze etc., die zu verkünden Verheißung des Messias und den Bund mit diesem Volk. ihm aufgetragen ist. Dieses Volk erweist sich jedoch immer wieder als untreu, wird bestraft, doch nicht verstoßen, wird durch göttliche Wenn Muslime den Qur’an zitieren, dann niemals: Unterweisung zu einer immer höheren Vorstellung von „Muhammad sagt das…“, sondern immer einfach nur: Gott, gleichzeitig aber zu einem tieferen Verständnis der „Gott sagt …“ Wenn Christen heute oft beim Zitieren der Sünde und zu einer steigenden Erwartung der messiani- Bibel nur das menschliche Werkzeug erwähnen, also: schen Verheißungen geführt. Dann wurde, nach dem „Jesaja lehrt …“, „Moses sagt…“ usw., dann kann das christlichen Glauben, das „Neue Israel“ mit seiner bei Muslimen den missverständlichen Eindruck erwecken, schließlich „Neues Testament“ genannten Schrift, dem Christen wollten damit leugnen, dass diese Texte von lange Zeit verborgenen „geheimen“ Plan Gottes offen- Gott stammen. Es ist deshalb durchaus berechtigt, sich bart, und zwar durch den Sohn, Jesus von Nazaret. mit Jean-Marie Gaudeul 3 zu fragen, ob Christen beim Jesus ist der Brenn- und Mittelpunkt aller Geschichte. Er Zitieren der Bibel – besonders im Dialog mit Muslimen – stirbt, um die Menschheit durch seinen Tod und seine nicht besser Formulierungen verwenden sollten, die Auferstehung zu retten, und er gibt denen, die an ihn 33
WORT GOTTES IM CHRISTLICH-ISLAMISCHEN DIALOG glauben, durch seinen Geist Anteil an seiner Herrlichkeit, Begegnung eines Muslimen bzw. einer Muslimin mit der damit sie sich auf seine Wiederkunft vorbereiten. Es ist Bibel. Die erste Reaktion eines Muslimen beim Kontakt ein einziger Plan, der sich vom Beginn bis zum Ende der mit der Bibel wird Verständnislosigkeit und Verwirrung Zeiten entfaltet, streng auf Jesus konzentriert, den sein. Gewöhnt an den literarischen Stil des Qur’an, Messias (Christus), in dem Gott in unsere Geschichte sehen sich Muslime in der Bibel einer ganzen Sammlung eintritt und umgekehrt die Geschichte in seine eigenes verschiedener Schriften gegenüber, die aus unter- Dasein aufnimmt. schiedlichen Epochen und Kulturen stammen und ver- schiedene Stilrichtungen und Themenkreise vertreten. Der Islam dagegen kennt keine solche Heilsgeschichte im Sinne einer fortschreitenden Offenbarung von Gottes Qur’an, Katechismus und die muslimische Predigertradi- Mysterium, die zu Fleischwerdung, Kreuz, Auferstehung tion lehren, dass das Buch der Torah Mose anvertraut und Herabsendung des Heiligen Geistes führt. Der mus- wurden, das Buch der Psalmen David und das limische Glaube akzentuiert das Verhältnis Gottes zu Evangelium Jesus. Muslime werden Schwierigkeiten den Menschen deutlich anders: haben, die Torah mit den fünf unterschiedlichen Büchern n Von Zeit zu Zeit sendet Gott Propheten, um die des Pentateuchs zu identifizieren. Außerdem werden sie Menschen an die eine, unveränderliche Religion zu entdecken, dass die Psalmen keineswegs Worte sind, erinnern: eine Religion die auf der menschlichen Natur die Gott zugeschrieben werden, sondern allesamt beruht, in die Gott eine Ausrichtung zum Monothe- Gebete, die an Gott gerichtet sind. ismus eingepflanzt hat. Die Botschaft dieser einge- borenen Religion ist immer dieselbe: Gott ist einzig- Angesichts dieser Situation fühlen sich Muslime in der artig. Betet nur ihn an! Übt Gerechtigkeit untereinan- ganzen Welt oft in ihrem Glauben bestätigt, dass die der! Glaubt an den jüngsten Tag! Bibel von Juden und Christen entstellt wurde. Schon im n Diese Propheten werden zu verschiedenen Zeiten an Qur’an werden die „Leute des Buches“ beschuldigt, verschiedene Orte und zu verschiedenen Gemeinden neue Texte zu erfinden bzw. einzelne Wörter in der Bibel gesandt, die untereinander nicht in Verbindung auszutauschen. Nachdem, wie wir gesehen haben, der stehen. Statt der einen, durchgehenden Geschichte Qur’an und damit der Islam nicht mit der Möglichkeit Gottes mit seinem Volk (und dadurch mit der gesam- einer eigentlichen Heilsgeschichte – im Sinne einer ten Menschheit) kennt die Sicht des Qur’an ein Geschichte, die einen ständigen Prozess der Nebeneinander von unabhängigen Interventionen Offenbarung bis zu einem unumkehrbaren Gipfelpunkt Gottes. darstellt – rechnen, wird der Muslim bzw. die Muslimin n Bei jeder dieser Interventionen wiederholt sich das- angesichts der Bibel folgendermaßen argumentieren: selbe Muster: der Prophet predigt, die Menschen „Sieh dir die Torah an: Wenn dieses Buch in seiner heu- lehnen sich gegen seine Botschaft auf, Gott zerstört tigen Form von Gott offenbart wurde, wie ist es dann diese Gemeinschaft, doch nicht seinen Boten. Das möglich, dass nirgendwo etwas über wesentliche Motiv der Bestrafung durch Gott, das sich in den Ge- Wahrheiten wie die Auferstehung der Toten oder die schichten des Alten Testaments findet – vgl. z.B. Noah Existenz von Himmel und Hölle steht? Jedes wahrhaft und die Flut, Lot und Sodom, Mose und die Ägypter, offenbarte Buch müsste diese Grundelemente enthalten; Jona und Ninive – wird vom Qur’an aufgenommen. und wenn die Torah sie nicht lehrt, dann deshalb, weil Diese Geschichten nehmen Muhammads Erfahrung die Juden alle Stellen mit diesen Wahrheiten unterdrückt vorweg. n Wenn die Menschheit schließlich erwachsen ist, wird haben. Und überhaupt, die echte Torah wurde von Gott an Mose selbst übergeben – wie kann dann das Buch Muhammad von Gott entsandt, als letzter und ent- von Moses Tod berichten? Doch wohl deshalb, weil die scheidender Prophet, um die eine, selbe Botschaft Juden dem Wort Gottes selbst verfertigte Texte hinzuge- aller echten Propheten zu verkünden; diese richtet fügt haben.“ sich nun jedoch an alle Menschen, mit unübertreff- licher Deutlichkeit und durch die siegreiche umma Christen sollten sich bewusst machen, dass derartige muslima, die Gemeinschaft der Muslime. Ab Muham- Fragen die logische Konsequenz sind, wenn man es mad, dem letzten Propheten, erhält die muslimische als selbstverständlich betrachtet, dass die Offenbarung Gemeinde den Auftrag, den Islam als idealen Glauben als fertiges Diktat vom Himmel kommt. So wird zum und perfekte Praxis nicht nur bekannt zu machen, Beispiel auch die Frage verständlich, die mir vor kurzem sondern auch für die Herrschaft Gottes zu kämpfen, ein muslimischer Leser auf meiner Homepage die sich durch den Islam und das göttliche Gesetz www.antwortenanmuslime.com stellte: „Wenn das heuti- überall und in allen Bereichen des Lebens durchsetzt. ge Christentum authentisch ist, warum gibt es dann ver- schiedene Evangelien?“ Der Muslim fragt sich, was mit 2.3 Die muslimische Sicht der Bibel dem einzigen Evangelium, dem injil, passiert ist, das Was über den Qur’an und seine Sicht der Geschichte Wort für Wort von Gott an „’Isa, Sohn Marias“ offenbart gesagt wurde, hat entscheidende Bedeutung für die wurde. Im Neuen Testament findet er anstelle des einen 34 34
BULLETIN DEI VERBUM 79/80 injil vier verschiedene. Und diese „Evangelien“ stellen „Korruption“ der Bibel in ihrer traditionellen Form sich für ihn als eine Ansammlung von Überlieferungen tatsächlich ist. über Jesus heraus, zusammengestellt von seinen Jüngern, von denen einige Jesus niemals persönlich Es überrascht nicht, dass einige muslimische Gelehrte in begegnet sind. Überdies zeigen diese „Evangelien“ Vergangenheit und Gegenwart den Text der Bibel in sei- deutlich ihre rein menschliche Herkunft, sind sie doch ner heutigen Form immer schon akzeptiert haben. Ihrer voller Ungereimtheiten und Widersprüche. Und schließ- Meinung nach bezieht sich die im Qur’an erwähnte lich behauptet der Qur’an eindeutig – und für einen Verfälschung auf die fehlgeleitete Interpretation des Muslim heißt dies: „Gott selbst behauptet“ –, dass Jesus Texts durch Juden und Christen seit frühesten Zeiten, nie beansprucht hat, mehr als ein Prophet zu sein, dass und nicht so sehr auf eine tatsächliche Änderung des er nicht am Kreuz gestorben ist und dass er ausdrücklich Texts. Andere zeitgenössische muslimische Wissen- die Ankunft Muhammads angekündigt hat. schaftler anerkennen, dass die Evangelien sich auf die Kenntnis historischer Ereignisse stützen, fügen jedoch Die fünf Säulen des Islam hinzu, dass die christliche Interpretation dieser Ereignisse andere (z.B. muslimische) Interpretationen nicht ausschließen muss.5 Glaubensbekenntnis (shahadah) Almosen (zakat) Gebet (salat) Fasten (sawm) Pilgerfahrt (hajj) 3. Bibel und Qur’an in ihrer spirituellen Bedeutung für Christen und Muslime6 3.1 Die Heiligen Schriften kennen und wissen, was sie den Gläubigen bedeuten Das Zusammenleben (conviventia) von Christen und Muslimen überall auf der Welt und in unterschiedlichen Konstellationen ist eine Tatsache, der wir uns nicht ent- ziehen können. Viele Christen ebenso wie viele Muslime sind davon überzeugt, dass es Teil ihrer Berufung ist, einander kennen zu lernen und, wo immer möglich, das Gute gemeinsam zu fördern und das Böse gemeinsam abzuwehren. Für muslimische Gläubige wäre die einfa- che Missachtung der anderen „Bücher“ gleichbedeu- tend mit einer Nichtbefolgung des Qur’an. Sogar Muslime, die glauben, dass die „Leute des Buches“ den Warum finden wir im Neuen Testament der Christen Text ihrer eigenen Heiligen Schriften verfälscht haben keine klare Vorhersage der Ankunft Muhammads? Die und die an Juden und Christen vielleicht nur als potenzi- muslimische Antwort darauf lautet: weil die Christen sie elle Konvertiten interessiert sind, werden sich immer aus dem Text entfernt haben. Nach Meinung eines mehr der Notwendigkeit bewusst, von Christen etwas Muslimen bleiben deshalb letztlich nur mehr ganz weni- über deren Verständnis der Heiligen Schrift zu erfahren. ge Spuren dieser Ankündigung Muhammads in der Die positiven Aussagen des Qur’an über die „Leute des Bibel, so zum Beispiel in Deuteronomium 18,18, wo Gott Buches“, die freilich, wie wir gesehen haben, mit negati- den Israeliten verspricht, dass er unter ihren Brüdern ven Aussagen vermengt sind, müssen auf alle Fälle von einen Propheten wie Moses erstehen lassen wird, und im Muslimen ernst genommen werden, wenn auch sie den Evangelium nach Johannes (Joh 14,26) mit seiner Qur’an ernst nehmen wollen. Verheißung des Parakleten oder Trösters. Während die Christen diese Ankündigung des Parakleten auf den Unter den Leuten der Schrift gibt es (auch) eine Heiligen Geist beziehen, lesen Muslime periklytos Gemeinschaft, die (andächtig im Gebet) steht, (Leute), die (berühmt, preisenswert) statt parakletos und interpretie- zu (gewissen) Zeiten der Nacht die Verse (w. Zeichen) Gottes verlesen und sich dabei niederwerfen. Sie glauben ren dies als eine Verheißung Muhammads, dessen an Gott und den jüngsten Tag, gebieten, was recht ist, ver- Name „gepriesen“ bedeutet.4 bieten, was verwerflich ist, und wetteifern (im Streben) nach den guten Dingen. Sie gehören (dereinst?) zu den Christen sollten sich nicht entmutigen lassen, wenn sie Rechtschaffenen. Für das, was sie an Gutem tun, werden wahrnehmen, dass man sie der Verfälschung der Bibel sie (dereinst) nicht Undank ernten. Und Gott weiß zeiht. Solche Einwände und Anklagen sind nicht persön- Bescheid über die, die (ihn) fürchten. (Sure 3,113-115) lich gemeint. Sie sollten aber alle von der modernen Wissenschaft und der Kommunikationstechnik – nicht Doch auch außerislamische Überlegungen werden zuletzt den elektronischen Medien – bereitgestellten Muslime mehr und mehr davon überzeugen, dass sie die Möglichkeiten nutzen, um gebildeten Muslimen klar zu Bibel ernst nehmen und sich ernsthaft mit ihr vertraut machen, wie unhaltbar die islamische Doktrin der machen müssen, genauso wie heute immer mehr Nicht- 35
WORT GOTTES IM CHRISTLICH-ISLAMISCHEN DIALOG Muslime den Wunsch verspüren, sich mit dem Text des Bibeltexte sind eine vielstimmige Reaktion auf die Qur’an vertraut zu machen. Es ist unvermeidlich, dass Begegnung mit den „Großtaten Gottes“, den magnalia Muslimen in modernen Gesellschaften eine kritische Dei. Das Wort, das Gott selbst in Jesus Christus ist, ruft Herangehensweise an spirituell relevante Texte begeg- ständig neue Antworten hervor, und diese sind Worte net, eine Herangehensweise, die sie bisher nicht des Zeugnisses, der Verkündigung und der frohen gekannt hatten. In einer ersten Reaktion auf die moder- Botschaft. Christen leben in dem dankbaren Wissen, ne kritische Bibelwissenschaft haben Muslime vielleicht dass der immer größere Gott ihnen in dem gekreuzigten etwas triumphierend verkündet, dass eine solche kriti- und auferweckten Jesus von Nazaret begegnen möchte, sche Wissenschaft die traditionellen Behauptungen des der sein Leben mit uns am „Tisch des Brotes“ und am Islam über die Verfälschung der Bibeltexte bestätigt. „Tisch seines Wortes“ teilt. Doch mit der Zeit werden sie sich fragen müssen, warum der historisch-kritische Zugang zur Bibel nicht etwa das Hingegen scheint das muslimische Glaubensverständ- Ende des christlichen Glaubens bedeutete, sondern sich nis den Qur’an nicht als Antwort des Propheten im Großen und Ganzen als Faktor erwiesen hat, der eine Muhammad oder anderer Glaubenszeugen aufzufassen. sinnvolle Interpretation des christlichen Glaubens für den Vielmehr ist der Qur’an für Muslime nichts weniger als modernen Menschen fördert. In diesem Sinn hat die der Text des Wortes Gottes, der seit Ewigkeit besteht historisch-kritische Exegese zweifelsohne zu einer und im Himmel „auf einer wohlverwahrten Tafel“ neuen Anerkennung der spirituellen und theologischen (Sure 85,22) aufgeschrieben ist. Dieser Text wurde Relevanz der Schrift beigetragen. Muhammad überliefert und von ihm in absoluter Treue an seine Hörer weitergegeben, welche ihn in seiner Auch in christlichen Kreisen sind neue Impulse spürbar, Gesamtheit im Gedächtnis bewahrten und später schrift- sich dem Qur’an anzunähern. Denkende Christen fragen lich niederlegten. Der Gläubige ist aufgefordert, auf die sich, wie es möglich ist, dass der Qur’an bis heute offenbarte Führung des Schöpfers und Richters durch beträchtliche spirituelle Energie zu verbreiten vermag. die gläubige Praxis der „fünf Säulen“ des Islam zu ant- Wie eh und je scheinen Muslime spirituelle Kraft aus dem worten. Aus den Vorschriften des Qur’an kann das Qur’an zu beziehen. Nicht so sehr der muslimische Gesetz als klare Orientierung für den Einzelnen und die Vorwurf der Bibelverfälschung ist eine Herausforderung Gemeinschaft abgeleitet werden. Auch wenn der Qur’an für Christen, als vielmehr der Umstand, dass ein Buch wie Gegenstand mystischer Liebe und quasi-sakramentale der Qur’an, das etwa sechshundert Jahre nach der Quelle von Energie sein kann, so ist er doch vorwiegend Geburt Christi die Bühne der Geschichte betrat, nach wie und in erster Linie Anleitung, als klare Willensäußerung vor eine dynamische Weltreligion mit mehr als einer des barmherzigen Gottes. Milliarde Anhängern am Leben hält. Was bedeutet es – werden sich diese Christen zu Recht fragen –, dass der Gott Jesu Christi dies zugelassen oder sogar herbeige- 4. Initiativen zum gemeinsamen Studium führt hat? von Bibel und Qur’an Erst vor kurzem organisierte Michael Ipgrave im Auftrag 3.2 Spirituelles Wachstum durch gegenseitige Auf- des Erzbischofs von Canterbury ein bahnbrechendes merksamkeit für die Heiligen Schriften christlich-muslimisches Seminar in Doha unter der Wie schwierig es auch erscheinen mag, Bibel und Schirmherrschaft des Emirs von Qatar. Unter dem Titel Qur’an in ihrer spirituellen Relevanz miteinander in Scriptures in Dialogue (Schriften im Dialog) wurden die Beziehung zu setzen, so ist diese Aufgabe doch unum- Ergebnisse des Seminars veröffentlicht, dessen wesent- gänglich, außer man beschlösse mutwillig, sich spirituell liche Inhalte in vier kleinen Arbeitsgruppen mit christli- voneinander abzuschotten. Christen und Muslime kön- chen und muslimischen Wissenschaftern behandelt wur- nen einander zumindest ein Stück weit vermitteln, was den. Diese Gruppen trafen sich insgesamt sechs Mal zu ihre innerste Haltung ausmacht, was religiös für sie rele- einer intensiven Lesung von aufeinander abgestimmten vant ist und aus welcher spirituellen Perspektive heraus Stellen aus Qur’an und Bibel. In einem Postskriptum sie versuchen, ihr Leben zu gestalten. Zwar sind Bibel merkt Ipgrave an: und Qur’an für Christen und Muslime nur ein möglicher Sowohl Christentum als auch Islam haben eine lange Schwerpunkt unter vielen, doch stellen sie mit Sicherheit Tradition der Schriftinterpretation und zahlreiche einen maßgeblichen Schwerpunkt für den Glauben jener Methoden, diese Tradition weiter zu entwickeln, um sie dar, die ihren Glauben in diese Bücher setzen. Wie rele- neuen Situationen und Fragen anzupassen. Doch es gibt kaum Räume und Anlässe, wo Christen und Muslime von- vant ist es für Muslime, sich der spirituellen Bedeutung einander lernen und in einen Dialog über die Schriften ein- bewusst zu werden, die die Bibel für jeden Christen und treten können. … Jeder Fortschritt in Richtung eines tiefe- für die christliche Kirche hat? Was lernen Christen, wenn ren Verständnisses und einer Versöhnung zwischen den ihnen bewusst wird, wie das Leben des einzelnen beiden Glaubensrichtungen setzt daher das Ernstnehmen Muslimen und der einzelnen Muslimin und in gewissem dieser Schriften voraus, weil sie mit dem Besten und dem Sinn auch der gesamten umma muslima durch den und Schlechtesten in Geschichte und aktueller Situation ver- mit dem Qur’an gestaltet wird? bunden sind.7 36 36
BULLETIN DEI VERBUM 79/80 Seit einiger Zeit kommen da und dort regelmäßig kleine Christen sind Christen und Muslime sind Muslime, weil Gruppen gebildeter Christen und Muslime zusammen, ihnen die Wahrheit ein Anliegen ist und weil sie glauben, um gemeinsam Bibel- und Qur’an-Texte zu lesen. Diese dass nur die Wahrheit allein Leben spendet. Über das Studiengruppen sind ein Zeichen der Hoffnung. Schon Wesen dieser absoluten, Leben spendenden Wahrheit sind sich Christen und Muslime nicht völlig einig. Sie sind Mitte der 1980er-Jahre hatte Br. Jacques Jomier äußerst jedoch fähig, Worte zu finden, um diese Uneinigkeit zu nützliches Material für derartige Studienzirkel publiziert. erklären und zu ergründen, weil sie auch eine Geschichte Angespornt durch Jomiers Initiativen und Publikationen und eine Praxis gemeinsam haben, die Teile ihrer trafen sich in den letzten Jahren religiös gebildete Juden, Glaubenssysteme gegenseitig erkennbar machen – eine Muslime und Christen in regelmäßigen Abständen, Geschichte, die bis zur Erschaffung der Welt durch Gott zuerst in Berlin, dann auch in Frankfurt, um zusammen und Gottes Ruf an Abraham zurück reicht; eine Praxis der Qur’an-Texte und damit verwandte Bibelstellen zu lesen. Lektüre und des In-Sich-Aufnehmens der Schrift und der Mit diesem Austausch und Gespräch über die Texte ver- Lebensgestaltung als Antwort auf das Wort, das Gott zur sucht jede Seite die Gründe noch tiefer zu verstehen und Schöpfung spricht. Wir sind hier, um zusammen mehr dar- wertzuschätzen, aus denen biblische und Qur’an-Texte über zu erfahren, wie jede Gemeinschaft glaubt, auf Gott jene Menschen immer noch faszinieren und inspirieren, hören zu müssen, im Bewusstsein, wie sehr verschieden wir Gottes Offenbarung erkennen und von ihr sprechen. … die sie mit einem offenen Herzen hören oder lesen. Das Hören auf Gott und das Hören aufeinander als Nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche gemein- Nationen, Kulturen und Religionen hatten nicht immer jene same spirituelle Lesung die Domäne einer relativ kleinen Priorität, die sie so notwendig brauchen. Umso wichtiger Zahl bleiben wird, ihr etwas von ihrem inneren Wert? daher dieser Freiraum der Reflexion; er ist sowohl Symbol als auch Beispiel für diese Art des Engagements.9 Gleichzeitig müssten Christen alles in ihrer Macht Stehende tun, um junge muslimische Experten zur Jeder Christ, der an einer solchen gemeinsamen Lesung Teilnahme an Studium und Erforschung der Bibel einzu- von Bibel und Qur’an oder, ganz allgemein, an einem laden, und umgekehrt. Wenn ein echter theologischer dialogischen Austausch zwischen Muslimen und Dialog zwischen Christen und Muslimen gelingen soll, Christen zu theologischen Themen teilgenommen hat, braucht es wohl muslimische „Christianologen“ und weiß, dass er in einem solchen Prozess neben der Bibelwissenschaftler. Die Lehrmeinungen und Veröffent- Entdeckung substantieller Gemeinsamkeiten des lichungen solcher Experten und der wisenschaftliche Glaubens auch zunehmend intensiv die ebenso imma- Dialog zwischen ihnen und ihren christlichen (und natür- nenten Unterschiede zwischen den beiden Glaubens- lich auch jüdischen) Kollegen würde viel dazu beitragen, visionen kennen lernt; Unterschiede, die wirklich alle die Konturen der beiden Religionen und ihrer jeweiligen Bereiche der beiden Religionen und deren Theologie Wissenschaft heraus zu arbeiten und zu vertiefen. durchdringen. Im letzten hängen sie immer mit der Einzigartigkeit des grundlegenden Faktums und des In diesem Zusammenhang verdient das einzigartige absoluten Mittelpunkts des christlichen Glaubens Langzeitprojekt der Islamisch-Christlichen Forschungs- zusammen: Jesus als Sohn Israels und Sohn Gottes. gruppe GRIC (Groupe de Recherches Islamo-Chrétien)8 Jede tiefere Begegnung mit Muslimen und dem Islam besondere Erwähnung. Hier treffen sich regelmäßig konfrontiert Christen bzw. christliche Theologen immer muslimische und christliche Wissenschafter aus Europa wieder mit Fragen wie: Können und sollen Christen und Nordafrika in mehreren lokalen Gruppen zu Muhammad theologisch als Propheten einstufen? Forschung und Diskussion – als unabhängige und indi- Können oder müssen Christen zugeben, dass der Qur’an viduelle Vertreter ihrer Glaubenstraditionen und als „Träger des Wortes Gottes“ ist, wie es Robert Caspar for- Freunde, ohne politische oder religiöse Agenda. Seit muliert hat? Welchen Status, welche Heilsbedeutung soll 1987 veröffentlicht diese Gruppe die Ergebnisse ihrer die christliche Theologie dem Islam zuschreiben? Arbeit in Französisch und in Englisch. Die Arbeit umfasste mehrere Stufen. Zuerst wurde die Es war nicht Ziel dieses Beitrags, diese Fragen, die ich Schrift und ihre Rolle und Bedeutung in Islam und an anderer Stelle bereits behandelt habe, ausführlich zu Christentum definiert und beschrieben. Daran schloss diskutieren. Abschließend sollten wir jedoch in aller sich eine Diskussion über die Methoden und Gründe für gebotenen Kürze unsere Position zu dieser zentralen die Lektüre und das Studium der Schrift, ihre Weitergabe Frage klar machen. Auf der einen Seite verdienen an den Einzelnen und die Gemeinschaft, und über Muhammad und der Qur’an die größtmögliche Rezeption und Reaktionen. Das Buch endet mit einer Aufmerksamkeit von Seiten der christlichen Gläubigen zweifachen „Inventur“: Islamische Gelehrte kommentie- und Theologen. Denn Muhammad und die von ihm im ren die Bibel, christliche Gelehrte den Qur’an. Namen Gottes verkündete Schrift sind zweifellos von echter religiöser Erfahrung und folglich von religiösen In seiner Eröffnungsrede vor dem Seminar in Doha und ethischen Prinzipien geprägt, die zum Teil als Frucht erklärte der Erzbischof von Canterbury die logische des Heiligen Geistes betrachtet werden müssen. Grundlage für die gemeinsame Beschäftigung mit den Andererseits jedoch kann vor der in Jesus vollendeten beiden Schrifttraditionen mit folgenden Worten: Offenbarung der Anspruch des Propheten des Islam und 37
WORT GOTTES IM CHRISTLICH-ISLAMISCHEN DIALOG des Qur’an, die vollkommene und letzte Offenbarung zu Botschaft, die Heilige Schrift, die unser Glaube bewahrt sein, die alle früheren Offenbarungen bewertet und und verkündet. außer Kraft setzt, von gläubigen Christen nur zurückge- n wiesen werden. Darüber hinaus zeigt die Lehre des Qur’an Aspekte und Meinungen, die nicht mit den von (Übers.: X. Remsing) Jesus Christus repräsentierten und gesetzten Maßstäben übereinstimmen und sogar der von ihm ver- Eine ausführlichere Bibliographie kann über das General- körperten und verkündeten Lehre widersprechen: sekretariat der KBF bezogen werden. Selbstaufgabe und gewaltlose Selbsthingabe einschließ- 1 Maurice Borrmans, Guidelines for Dialogue between Christians and lich der Feindesliebe. Mit anderen Worten, vom Muslims, New York/Mahwah 1990, 104f. Standpunkt des christlichen Glaubens aus betrachtet 2 Jean-Marie Gaudeul, Bible and Qur’an, in: Encounter. Documents for enthält der Qur’an eine zumindest teilweise Ablehnung Muslim-Christian Understanding (Pontifical Institute of Arabic and des Evangeliums mit seinem Aufruf zu Vollkommenheit Islamic Studies 13), Rom 1975, 5. und Heiligung nach dem Vorbild Jesu, des gekreuzigten 3 Gaudeul, Bible and Qur’an (s. Anm. 2), 7. und auferweckten Herrn, und er weist deutlich die christ- 4 Vgl. William Montgomery Watt, Muslim-Christian Encounters. liche Frohbotschaft zurück, dass sich Gott selbst in Perceptions and Misperceptions, London 1991, 33ff. 5 Jesus Christus der Menschheit schenkt. Vgl. Hava Lazarus-Yafeh, Art. Tahrif, in: Encyclopédie Islamique, 2. Aufl., Bd. X (2000), 111f.; Christian W. Troll, Sayyid Ahmad Khan on Matthew 5,17-20, in: Islamochristiana, Bd. 3 (1977), 99-105. Für uns gehört die Lektüre und das Studium des Qur’an 6 Dieser Teil meines Aufsatzes folgt dem richtungsweisenden Essay und der Austausch darüber mit Muslimen zur größeren von Hans-Martin Barth, „Nimm und lies!“ Die spirituelle Bedeutung christlichen und theologischen Aufgabe, die Früchte von Bibel und Koran, in: Hans-Martin Barth / Christoph Elsas (Hrsg.), des Geistes in den Gründungstexten wie auch im realen Hermeneutik in Islam und Christentum. Beiträge zum interreligiösen Dialog (Rudolf-Otto-Symposion 1996), Hamburg 1997, 9-23. Leben der Religionen und ihrer Anhänger wahrzuneh- 7 Michael Ipgrave (Hrsg.), Scriptures in Dialogue. Christians and men. Christen sollen in der Kirche immer wirksamer Muslims studying the Bible and the Qur’an together, London 2004, ihrer Berufung nacheifern, Licht, Salz und Hefeteig der 144. Welt zu sein. Sie erfüllen diese Berufung in der Teilhabe 8 Vgl. Groupe de Recherches Islamo-Chrétien (Hrsg.), Ces Écritures am Ereignis der universellen Geschichte, in dem qui nous questionnent. La Bible & le Coran, Paris 1987. Kulturen und Religionen durch einen Prozess des 9 Ipgrave, Scriptures in Dialogue (s. Anm. 7), xi-xii. Lernens, der kritischen Unterscheidung und des gegen- 10 Christian W. Troll, Der Islam im Verständnis der katholischen seitigen „Reinigens“ von Erinnerung und Herz verwan- Theologie. Überblick und neuere Ansätze, in: Marianne Heimbach- Steins / Heinz-Günther Schöttler / Heimo Ertl (Hrsg.), Religionen im delt werden, unter der Anleitung des Heiligen Geistes. Dialog. Christentum, Judentum und Islam, Münster 2003, 51-67 (hier: Alle sind eingeladen, sich immer tiefer in die Fülle des 58ff.); ders., Prüfet alles! Der Dienst der Unterscheidung als unab- dreieinigen Leben Gottes mit hinein nehmen zu lassen – dingbares Element dialogischer Beziehungen von Christen mit Muslimen, in: Andreas Renz, / Hansjörg Schmid / Jutta Sperber des Gottes, der sich selbst in Jesus Christus als bedin- (Hrsg.), Herausforderung Islam. Anfragen an das christliche Selbst- gungslose Liebe offenbart hat. Das ist die Frohe verständnis (Hohenheimer Protokolle 60), Stuttgart 2003, 69-82. THEMA 38 38
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