Blickpunkt Wirtschaft - BayernLB

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Blickpunkt Wirtschaft - BayernLB
BayernLB Research | 15.04.2019

      Blickpunkt Wirtschaft
      Dr. Alexander Kalb

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                             Europas Schicksalswahl
                              Kurz & klar
                               Vom 23. bis 26. Mai finden die Europawahlen statt, bei denen eine starke Polarisie-
                                rung zwischen europafreundlichen und -skeptischen Kräften erwartet wird.
                               Die EU-Skeptiker sind Umfragen zufolge noch weit von einer Vetomacht entfernt. Für
                                die etablierten Kräfte wird es aber schwieriger, Mehrheiten zu finden; erste Herausfor-
                                derung wird die Wahl des Kommissionspräsidenten.
                               Die Einwanderung bleibt die dringlichste Sorge der EU-Bürger. Terrorismus und öf-
                                fentliche Finanzen folgen auf den Plätzen zwei und drei.
                               Der Einfluss auf die Finanzmärkte ist begrenzt, ein Scheitern des EVP-Spitzenkandi-
                                daten Weber könnte jedoch zu einer Ausweitung der Peripherie-Spreads führen. Im
                                Risiko-Szenario „Vetomacht EU-Skeptiker“ würde der Stillstand im Integrationspro-
                                zess die Unsicherheit für Investoren deutlich erhöhen.

                             Herbe Rückschläge in den vergangenen Jahren

 Die Europawahlen           Europa steht vor einer Schicksalswahl. Vom 23. bis 26. Mai entscheiden die EU-Bürger
  finden alle 5 Jahre        zum neunten Mal über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Die Ge-
  statt                      schichte des europäischen Projekts war zwar schon seit jeher von Rückschlägen und nati-
                             onalen Reflexen geprägt. In den vergangenen zehn Jahren kamen diese aber geballt und
                             heftig – angefangen bei der Wirtschafts- und Währungskrise über den Streit um die Flücht-
                             lingspolitik bis hin zum Brexit – und haben die EU laut Aussagen von Spitzenrepräsentan-
                             ten bis an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Wie schon bei der letzten Wahl dürf-
                             ten sich diese Krisen erneut in deutlichen Zugewinnen populistischer und antieuropäischer
                             Parteien niederschlagen und die Stoßrichtung für die gemeinsame europäische Zukunft
                             maßgeblich beeinflussen. Für die Pro-Europäer ist der Wahlkampf eine große Herausfor-
                             derung, da teils abstruse Parolen und vermeintlich „einfache“ Lösungen der Populisten bei
                             breiten Bevölkerungsschichten verfangen oder rationale Argumente einfach ausgeblendet
                             werden. Dementsprechend wird es für die pro-europäischen Kräfte darum gehen, das eu-
                             ropäische Projekt als Werteunion für Frieden, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit wieder zu
                             stärken und seiner Aushöhlung entgegenzutreten.

                             Teilnahme der Briten an Europawahl so gut wie sicher

 Brexit-Aufschub bis        Ein großer Unsicherheitsfaktor für die Europawahl bleibt UK. Auch wenn die britische Pre-
  Ende Oktober               mierministerin Theresa May auf dem jüngsten EU-Gipfel beteuerte, die „Scheidung“ mit der
                             EU noch vor dem 22. Mai zu vollziehen, muss UK die Wahl in jedem Fall vorbereiten. Die
                             Verschiebung des Austrittsdatums auf den 31. Oktober hat allerdings den für das Austritts-
                             abkommen notwendigen Druck auf das britische Unterhaus genommen, so dass eine Eini-
                             gung noch vor der Wahl sehr unwahrscheinlich geworden ist. Daher ist zu erwarten, dass
                             UK an der Wahl (am 23. Mai) teilnehmen wird. Die bereits vorgesehene Verkleinerung des
                             EU-Parlaments von 751 auf 705 Sitze sowie die Umverteilung von 27 der insgesamt 73
                             britischen Sitze (siehe Tabellen unten) würde damit erst einmal auf Eis gelegt. Es käme
                             damit zu der skurrilen Situation, dass im neu gewählten EU-Parlament in alter Zusammen-
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                      setzung zunächst 73 britische Abgeordnete auf Abruf sitzen, diese nach Vollzug des
                      Brexits bis spätestens 31. Oktober wieder ausscheiden, und das Parlament danach in
                      neuer Zusammensetzung – die 27 zur Umverteilung anstehenden Sitze würden ebenfalls
                      auf Abruf mitgewählt werden – seine Arbeit fortsetzen würde. Es bleibt abzuwarten, ob die
                      britischen Abgeordneten sich an das Versprechen gebunden fühlen, dass die britische
                      Regierung im Gegenzug für die Verlängerung der Brexit-Verhandlungen bis zum 31. Okto-
                      ber gegeben hat, nämlich sich an den im EU-Vertrag verankerten Grundsatz der „loyalen
                      Zusammenarbeit“ zu halten. Es ist nicht auszuschließen, dass einige britische (Pro-Brexit-)
                      Abgeordnete versuchen werden, die Parlamentsarbeit zu sabotieren (z.B. Blockade bei
                      Entscheidungen über Zukunftsfragen, etwa den nächsten Haushalt).

                      Aktuelle Fraktionen und Sitzverteilung im Europäischen Parlament (Stand: 9. April 2019)

                      Quelle: Europäisches Parlament, BayernLB Research

                      Nach dem Austritt UK´s wird das Europaparlament verkleinert, 27 Sitze werden neu verteilt

                      Quelle: Europäisches Parlament, BayernLB Research

 Europawahlkampf     Der Wahlkampf in UK hat bereits begonnen – wenn auch zögerlich, denn es könnte ja alles
  beginnt in UK zö-   umsonst gewesen sein. Das Wahlverhalten der Briten ist schwer zu prognostizieren; eines
  gerlich             dürfte aber klar sein: Sollte die Wahl durchgeführt werden, wird sie zweifellos als Abstim-

                                                                                                                 BayernLB
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                       mung für oder gegen den Brexit gesehen werden, was zu einer hohen Mobilisierung der
                       Wählerschaft führen könnte. Dementsprechend würden die Pro-EU-Parteien (Liberaldemo-
                       kraten, Grüne, SNP, jüngst gegründete „Independent Group“) und Pro-Brexit-Parteien (U-
                       KIP und Nigel Farages neu gegründete Brexit Party) profitieren. Andererseits könnte sich
                       in der Wahl auch die tiefe Frustration der Bevölkerung über ihre politischen Repräsentan-
                       ten widerspiegeln, was für eine geringe Wahlbeteiligung sprechen und vermutlich ebenfalls
                       die Ränder (Hard-Brexiteers vs. Remainers) stärken würde. In jedem Fall dürfte die regie-
                       rende konservative Partei um Premierministerin May für ihr Versagen bei den Brexit-
                       Verhandlungen abgestraft werden. Da in UK bei der Europawahl – anders als bei nationa-
                       len Wahlen – nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wird, würden kleinere Parteien ent-
                       sprechend ihrem Stimmenanteil mit Sitzen im Europaparlament entlohnt. Dies wird aller-
                       dings dadurch relativiert, dass die Sitzvergabe nach dem D`Hondt-Verfahren erfolgt,
                       welches große Parteien (je nach Wahlzuschnitt) bevorzugt.

                       EU-Skeptiker auf dem Vormarsch

 Herbe Verluste für   Einer aktuellen Umfrage von „Poll of Polls“ zufolge kann unter Einbezug von UK die Frakti-
  EVP und Sozialde-    on der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der CDU und CSU gehören, mit 175 Sitzen
  mokraten             zwar wieder stärkste Kraft werden. Im Vergleich zu 2014 wäre sie aber mit Einbußen von
                       mehr als 6 Prozentpunkten gleichzeitig der größte Wahlverlierer (siehe Grafik (1) unten).
                       Verantwortlich hierfür sind vor allem hohe Verluste in den bevölkerungsstarken Ländern
                       (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien). Diese Staaten sind auch für die Einbußen der
                       Sozialdemokraten verantwortlich, die nur noch mit knapp 160 Sitzen rechnen können (-4½
                       Prozentpunkte). Eine deutliche Verschiebung ergäbe sich nach dem Austritt von UK (siehe
                       Grafik (2) unten). Denn dann wären die Sozialdemokraten der größte Wahlverlierer und
                       kämen nur noch auf ca. 140 Sitze, da über ihre Stimmenverluste hinaus auch die britischen
                       Labour-Mandate wegfallen würden. Der Projektion von „Poll of Polls“ zufolge könnte La-
                       bour die Anzahl seiner Sitze im Vergleich zu 2014 sogar leicht ausbauen, wovon die zuletzt
                       arg gebeutelten Sozialdemokraten im Falle einer Teilnahme UK´s an der Wahl enorm profi-
                       tieren würden. Die EVP würde mit knapp 180 Sitzen stärkste Kraft bleiben. Die traditionelle
                       „Große Koalition“ von Konservativen und Sozialdemokraten hätte aber mit und ohne UK in
                       der Legislaturperiode 2019 bis 2024 erstmals keine Mehrheit mehr und müsste sich auf
                       weitere Partner stützen. Anbieten würde sich die Allianz der Liberalen und Demokraten
                       (ALDE), denn unter den etablierten Parteien gibt es nicht nur Verlierer. So darf ALDE in
                       beiden Szenarien auf einen Zuwachs von jeweils ca. 4 Prozentpunkten hoffen – allerdings
                       nur unter Einbezug der „En Marche“-Bewegung des französischen Präsidenten Macron.

                       (1) Projektionen für das Europaparlament unter Einbezug von UK mit 751 Abgeordneten
                       Sitzverteilung (absolut)                                   Gewinne und Verluste (in Prozentpunkten)

                       Anmerkungen: ALDE beinhaltet "En Marche" (REM) aus Frankreich; M5S aus Italien wird noch der EFDD zugerechnet; die ENF
                       wurde erst 2015 gegründet, viele dieser Fraktion zugehörigen Parteien waren davor fraktionslos
                       Quelle: pollofpolls.eu (abgerufen am 12.04.19), Europäisches Parlament, BayernLB Research

                                                                                                                                  BayernLB
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                          (2) Projektionen für das Europäische Parlament ohne UK mit 705 Abgeordneten
                          Sitzverteilung (absolut)                                   Gewinne und Verluste (in Prozentpunkten)

                          Anmerkungen: ALDE beinhaltet "En Marche" (REM) aus Frankreich; M5S aus Italien wird noch der EFDD zugerechnet; die ENF
                          wurde erst 2015 gegründet, viele dieser Fraktion zugehörigen Parteien waren davor fraktionslos
                          Quelle: pollofpolls.eu (abgerufen am 9.04.19), Europäisches Parlament, BayernLB Research

 Mehrheitsfindung        Größter Gewinner wird aller Voraussicht nach die rechte und EU-skeptische Fraktion „Eu-
  für etablierte Kräfte   ropa der Nationen und Freiheit“ (ENF). In beiden Szenarien könnte sie ihre Präsenz auf
  wird schwieriger        jeweils ca. 60 Sitze ausbauen, was im Wesentlichen auf Zugewinne der italienischen Lega
                          von Matteo Salvini und des französischen Rassemblement National (vormals Front Natio-
                          nale) von Marine Le Pen zurückzuführen ist. Unter Einbezug der Fraktion „Europa der
                          Freiheit und der direkten Demokratie“ (EFDD), der die italienische Anti-Establishment-
                          Bewegung M5S und die deutsche AfD angehören, sowie der neu hinzukommenden Partei-
                          en und Fraktionslosen – bei beiden Gruppierungen handelt es sich in der Regel um
                          Rechts- oder Linkspopulisten bzw. –extremisten (wie z.B. die Ende 2013 neu gegründete
                          ultra-konservative und rechtspopulistische VOX-Partei in Spanien) – kämen die EU-
                          skeptischen bzw. -feindlichen Kräfte sowohl unter Einbezug als auch unter Ausschluss von
                          UK auf ca. ein Fünftel der Sitze im Parlament. Schließt man die „gemäßigten“ EU-Kritiker
                          der Fraktion der „Europäischen Konservativen und Reformer“ (EKR) mit ein, steigt der
                          Anteil auf jeweils ca. 30%. Zur EKR gehören u.a. die rechtspopulistischen Parteien der
                          nordischen Länder, die italienischen „Brüder Italiens“ (Fratelli d’Italia) sowie die in Polen
                          amtierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) um Jarosław Kaczyński. Auch die briti-
                          schen Konservativen („Tories“) gehören dieser Fraktion an, was die (leichten) Verluste der
                          EKR im Wahlszenario ohne UK erklärt.

 Manfred Weber ist       Obwohl die EU-Kritiker damit noch weit von einer Vetomacht bzw. absoluten Mehrheit ent-
  Favorit für Posten      fernt sind, wird es für die etablierten Kräfte deutlich schwieriger werden, Mehrheiten zu
  des Kommissions-        finden, denn auch unter den etablierten Kräften herrscht oftmals Uneinigkeit. Eine erste
  präsidenten
                          Herausforderung dürfte die Bestimmung des neuen Kommissionspräsidenten werden, der
                          nach der Europawahl vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit vorgeschlagen und
                          anschließend vom Europäischen Parlament mit absoluter Mehrheit gewählt wird. Als Favo-
                          rit für die Nachfolge von Jean-Claude Juncker gilt der Spitzenkandidat der EVP, der deut-
                          sche CSU-Politiker Manfred Weber. Er hat auch darauf hingewirkt, dass die Fidesz-Partei
                          um den ungarischen Ministerpräsident Viktor Orbán von der EVP „lediglich“ suspendiert
                          und nicht ausgeschlossen wurde. Die Partei darf nicht mehr abstimmen und keine Vertreter
                          zu EVP-Treffen mehr schicken. Dass die Fidesz-Abgeordneten tatsächlich Weber wählen,
                          ist noch keine ausgemachte Sache. Wegen einer polemischen Plakataktion gegen Kom-
                          missionspräsident Juncker hatte Fidesz der Ausschluss aus der EVP gedroht. Sollten die
                          Briten auch nach dem 31. Oktober noch Teil der EU sein, wird die Wahl Webers zum
                          Kommissionspräsidenten, die am 1. November stattfindet, zusätzlich erschwert, da die
                          Sozialdemokraten dann mehr Stimmen haben.

                                                                                                                                     BayernLB
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                        Vetomacht der Populisten ist nicht zwangsläufig das Ende der EU

 Ordentliches Ge-      Eine grundlegende Veränderung der Stoßrichtung für die gemeinsame europäische Zu-
  setzgebungsverfah-    kunft dürfte es geben, wenn der Anteil der EU-Skeptiker und -Feinde im Europaparlament
  ren ist die Regel     auf über 50% anschwillt. Denn nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren – rund
                        80% aller EU-Rechtsvorschriften werden nach diesem Verfahren erlassen – können Ge-
                        setze nur mit absoluter Mehrheit des Parlaments und qualifizierter Mehrheit des Rats (55%
                        der Mitgliederstaaten, die zusammen mindestens 65% der Bevölkerung der EU ausma-
                        chen) verabschiedet bzw. geändert werden. Damit könnten die Populisten sämtliche Ge-
                        setze zur weiteren Integration der EU blockieren bzw. den „Rückbau“ der EU, d.h. die oft-
                        mals geforderte Rückgabe von EU-Kompetenzen an die Nationalstaaten forcieren. Dies
                        würde aber voraussetzen, dass sie auch über eine qualifizierte Mehrheit im Rat verfügen
                        und sich auf eine gemeinsame Linie einigen können. Letzteres ist wenig wahrscheinlich, da
                        das Spektrum der EU-Kritiker breit ist und von moderaten EU-Skeptikern, die nur die weite-
                        re Integration ablehnen, über harte EU-Gegner bis hin zu offen nationalistischen und
                        rechts- bzw. linksextremen Parteien reicht. So haben die Populisten in Italien und Grie-
                        chenland beispielsweise in puncto Finanzhilfen diametral gegensätzliche Positionen. Im
                        Falle einer erneuten Finanzkrise wäre dann nicht mehr gesichert, dass sich die EU auf
                        gemeinsame Hilfs- und Rettungsfonds, wie seinerzeit den ESFS oder ESM, einigen könn-
                        ten. Ein weiteres Beispiel ist die Flüchtlingspolitik (Italien und Griechenland vs. osteuropäi-
                        sche Staaten). Letztlich würde eine Veto-Macht der EU-Skeptiker und -Feinde im Parla-
                        ment mittelfristig zunächst auf einen Stillstand im Integrationsprozess und deutlich mehr
                        Unberechenbarkeit (z.B. bei der gegenseitigen finanziellen Unterstützung im Krisenfall),
                        aber nicht auf einen „Rückbau“ oder gar Zusammenbruch der EU hinauslaufen.

                        Die EU wird wieder positiver gesehen

 Eurobarometer         Es besteht jedoch Hoffnung, dass sich der in den Umfragen abzeichnende Erfolgstrend der
  erreicht höchstes     EU-Skeptiker bei der Wahl nicht bestätigt. Denn die Ergebnisse des Eurobarometers, eine
  Zustimmungsni-        in regelmäßigen Abständen von der EU-Kommission in Auftrag gegebene öffentliche Mei-
  veau seit 2009
                        nungsumfrage in den Mitgliedsländern, deuten darauf hin, dass die EU von den Europäern
                        wieder zunehmend positiver gesehen wird (siehe linke Grafik auf der nächsten Seite). In
                        der letzten Umfrage vom vergangenen Herbst gaben 43% der Befragten an, ein positives
                        Bild von der EU zu haben. Seit Ende 2015/Anfang 2016, dem Höhepunkt der Flüchtlings-
                        krise, ist der Anteil derjenigen, die mit der EU ein positives Bild verbinden, damit um knapp
                        10 Prozentpunkte gestiegen und erreicht sein höchstes Niveau seit Herbst 2009. Dieser
                        positive Trend ist sicherlich der zuletzt wieder rückläufigen Asylmigration sowie der im Jahr
                        2018 günstigen konjunkturellen Entwicklung in zahlreichen Mitgliedsstaaten geschuldet. Im
                        Falle einer Rezession oder erneuter Flüchtlingswellen Richtung Europa dürfte sich das Bild
                        aber wieder eintrüben – gerade vor dem Hintergrund, dass der Umgang mit Flüchtlin-
                        gen/Asylsuchenden alles andere als geklärt ist. Mehr als ein Drittel der Befragten assoziiert
                        mit der EU ein neutrales, d.h. weder ein positives noch ein negatives Bild, und ein Fünftel
                        bewertet die EU negativ.

 EU-Skepsis ist sehr   Ein Blick auf die nationale Ebene zeigt, dass die EU-Skepsis unter den Ländern sehr stark
  unterschiedlich       divergiert (siehe rechte Tabelle auf der nächsten Seite). In Ländern, die von der Flücht-
  ausgeprägt            lingskrise und/oder wirtschaftlichem Stillstand in den vergangenen Jahren besonders be-
                        troffen waren (und sind), fallen die Anteile der Befragten, die ein negatives Bild von der EU
                        haben, am größten aus (Ausnahme: einige osteuropäische Länder) – so etwa Griechen-
                        land und Italien. In UK prägt die Binnenmigration vor allem aus den ost- und südosteuropä-
                        ischen Ländern das negative Bild. Umgekehrt haben die Länder mit (wieder) prosperieren-
                        der Wirtschaft, wie etwa Irland, Luxemburg und Schweden, ein sehr positives Bild von der

                                                                                                                BayernLB
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                      EU. Auch die Deutschen, die von der Flüchtlingskrise überproportional betroffen waren,
                      sehen die EU überwiegend positiv.

                      Die EU wird wieder zunehmend positiver gesehen: Antworten auf die Frage: Ruft die EU bei Ihnen
                      ein positives, neutrales oder negatives Bild hervor?
                      Anteil in % (Gesamte EU)                                     Anteil in % für „positives Bild“ nach Ländern

                      Anmerkungen: Grüner (roter) Pfeil: Verbesserung ggü. der Umfrage vom Frühjahr 2018; =: gleichbleibend ggü. Frühjahr 2018
                      Quelle: EU-Kommission (Eurobarometer Herbst 2018), BayernLB Research

                      Die dringlichsten Sorgen der EU-Bürger sind…
                      …auf europäischer Ebene die Einwanderung (Anteil in %)…      …und auf nationaler Ebene die Arbeitslosigkeit (Anteil in %)

                      Anmerkungen: Es wurde die Frage: Was sind die beiden wichtigsten Probleme, denen die EU (linke Grafik) bzw. Ihr Land (rechte
                      Grafik) derzeit gegenübersteht? Maximal zwei Nennungen waren pro Befragten möglich.
                      Quelle: EU-Kommission (Eurobarometer Herbst 2018), BayernLB Research

                      Einwanderung bleibt dringlichste Sorge der EU-Bürger

 Wirtschaftliche     Im Eurobarometer vom Herbst 2018 wurde die Einwanderung (aus Drittstaaten) zum drit-
  Entwicklung nicht   ten Mal in Folge als dringlichste Sorge der EU-Bürger genannt. Mit einem Anteil von 40%
  mehr unter den      der Befragten wurde sie doppelt so häufig genannt wie der Terrorismus (siehe Grafik oben
  Top-3-Sorgen
                      links). Die Lage der öffentlichen Finanzen der Mitgliedsstaaten steht an dritter Stelle, dicht
                      gefolgt von der wirtschaftlichen Lage. Diese zählt bei den Befragten erstmals seit 2010
                      nicht zu den drei wichtigsten Problemen, was dem wirtschaftlichen Aufschwung vieler EU-
                      Staaten in den vergangenen Jahren geschuldet sein dürfte. Noch deutlicher wird dies auf
                      aggregierter nationaler Ebene (siehe Grafik oben rechts): Dort liegt die wirtschaftliche Ent-
                      wicklung mit 15% auf Rang fünf. Auf nationaler Ebene ganz vorn steht mit einem Anteil von
                      23% die Arbeitslosigkeit. Wie erwartet erreicht diese die höchsten Werte in denjenigen
                      Ländern, die seit der internationalen Finanzkrise nicht wieder richtig auf die Beine gekom-
                      men sind, etwa Griechenland, Italien und Frankreich. Auch in Spanien nannten 52% der
                      Bevölkerung die Arbeitslosigkeit als dringlichstes Problem, was trotz des Wachstums-

                                                                                                                                       BayernLB
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Blickpunkt Wirtschaft vom 15.04.2019    7

                       booms und dem Abbau der Arbeitslosenquote der vergangenen Jahre wohl der nach wie
                       vor hohen Anzahl an Erwerbslosen – insbesondere unter den Jugendlichen – geschuldet
                       ist. Erst an zweiter Stelle folgt die Einwanderung, die in Malta am häufigsten genannt wur-
                       de und auch in Deutschland, Belgien und Österreich die Rangfolge anführt.

                       Begrenzte Auswirkungen sowohl auf den Renten-…

 Wahl von Manfred     Solange EU-Skeptiker und -Gegner zu keiner Vetomacht werden, sollte das Ergebnis der
  Weber für Renten-    Europawahl an den Staatsanleihemärkten des Euro-Raums keine unmittelbaren Auswir-
  märkte entschei-     kungen haben. Dennoch sind sowohl in der kürzeren als auch in der mittleren Frist mittel-
  dend
                       bare Auswirkungen möglich. In der kürzeren Frist dürfte die Bestimmung des neuen Kom-
                       missionspräsidenten in den Fokus geraten. Sollte der EVP-Spitzenkandidat Manfred
                       Weber scheitern, könnte im Gegenzug von deutscher Seite Jens Weidmann ins Rennen
                       um den Chefposten der EZB geschickt werden. Unter Weidmann würden die Marktteil-
                       nehmer die Wahrscheinlichkeit für die Bereitschaft der EZB im Fall einer möglichen Zuspit-
                       zung der Entwicklungen in Italien und/oder im Falle eines „No-Deal-Brexit“ erneut ultra-
                       expansive Maßnahmen zu ergreifen (neues und erweitertes QE-Programm), neu taxieren.
                       Dies hätte vor allem Implikationen für die Peripherie-Spreads. Mittelfristig könnte ange-
                       sichts des Fehlens klarer Mehrheiten im Europäischen Rat insbesondere seitens internati-
                       onaler Investoren die Handlungsfähigkeit Europas stärker beeinträchtigt gesehen werden.
                       In möglichen Krisenphasen sollte dies in Form einer relativ stärkeren Verkaufsbereitschaft
                       dieser Investorengruppe spürbar werden. Auf der anderen Seite könnte das „europäische
                       Projekt“ aus europäischer Sicht aber auch als stabiler wahrgenommen werden, wenn di-
                       vergierende politische Positionen besser zum Ausdruck kommen und Berücksichtigung
                       finden. Eine solche, unter Umständen zunehmende, Identifikation mit Europa wäre aber ein
                       sehr langfristiger Prozess, der marktseitig nicht spürbar würde, bevor Europa nicht auch
                       auf Gesamtebene eine höhere Stabilität erreicht hätte. Ein bedeutender Prüfstein auf dem
                       Weg zu höherer Stabilität und mehr gelebter Demokratie dürfte dabei der Umgang mit und
                       die Bewältigung des Problems der „Vergemeinschaftung von Schulden“ sein.

 Deutlich erhöhte     Im Risiko-Szenario „Vetomacht EU-Skeptiker“ würde der Stillstand im Integrationsprozess
  Unsicherheit bei     die Unsicherheit für Investoren deutlich erhöhen. Bunds sollten in diesem Fall von einer
  Vetomacht der Po-    steigenden Safe-Haven-Prämie profitieren. Die Cross-Market-Spreads, vor allem der Peri-
  pulisten
                       pherie, dürften auf deutlich höheren Niveaus starker Spread-Volatilität ausgesetzt sein. Die
                       teils diametral gegensätzlichen Interessen der verschiedenen populistischen Gruppierun-
                       gen sprechen marktseitig aber gegen ein frühzeitiges „Spielen“ des extrapolierten Extrem-
                       risikos „Zusammenbruch der EU“. Denn gerade im Krisenfall werden interessenbedingt
                       neue Allianzen – nämlich zwischen Populisten der Peripherie und konservativen Kräften
                       Kern-Europas – wahrscheinlicher.

                       …als auch auf den Aktienmärkten

 Keine größeren       An den Aktienmärkten sind die politische Instabilität und die sich daraus ergebenden Risi-
  Turbulenzen an Ak-   ken ein Grund für einen anhaltenden Bewertungsabschlag europäischer Aktien gegenüber
  tienmärkten erwar-   ihren US-Pendants. Im letzten Jahr hat neben den Brexit-Risiken und den politischen Tur-
  tet
                       bulenzen in Italien jedoch vor allem die konjunkturelle Abkühlung in Europa zu überdurch-
                       schnittlichen Kursverlusten geführt. Dabei spielt der Handelsstreit eine wichtige Rolle. US-
                       Aktien wurden zudem durch die dortige Unternehmenssteuerreform unterstützt und zeigen
                       sich daher stabiler. Die zu Jahresbeginn 2018 bei Investoren bestehenden Hoffnungen auf
                       einen Aufholprozess europäischer Aktien haben sich seitdem in Luft aufgelöst. Waren nach
                       der internationalen Fondsmanagerumfrage von Bank of America Merrill Lynch im Januar
                       2018 noch netto 45% der Fondsmanager (Saldo aus positiven und negativen Antworten)
                       bei der regionalen Allokation in Euro-Raum-Aktien übergewichtet, sind nach der jüngsten

                                                                                                              BayernLB
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                      Umfrage von März 2019 netto nur noch 8% der Befragten untergewichtet. Die Aktienmärk-
                      te blicken vor dem Hintergrund der ernüchternden Konjunkturentwicklung und der politi-
                      schen Risiken derzeit also schon mit großer Skepsis auf europäische Aktien. Ein starkes
                      Abschneiden populistischer Parteien bei der Europawahl sollte an den Aktienmärkten da-
                      her gut verkraftet werden und keine größeren Turbulenzen auslösen.

 Bankaktien im       Bei einem überraschend hohen Stimmenanteil EU-feindlicher Kräfte dürften die Sorgen
  Risiko-Szenario     über ein Auseinanderbrechen der EU zunehmen. Damit würde sich der Bewertungsab-
  überdurchschnitt-   schlag europäischer Aktien tendenziell noch ausweiten und zu einer fortgesetzten Under-
  lich belastet
                      performance gegenüber US-Aktien führen. Ähnliches war Mitte 2012 bei der Eskalation der
                      Staatsschuldenkrise im Euro-Raum zu beobachten, als der Bewertungsabschlag europäi-
                      scher Aktien gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis einen Höchststand erreichte. Stark
                      erhöhte Cross-Market-Spreads der Euro-Peripherie an den Bondmärkten im Risiko-
                      Szenario würden dabei vor allem Bankaktien unter Druck setzen.

                      Fazit: Polarisierung zwischen europafreundlichen und -skeptischen Kräften

                      Bei der Europawahl im Mai 2019 wird eine Polarisierung zwischen europafreundlichen und
                      europaskeptischen bzw. -feindlichen Kräften erwartet. Nach derzeitigem Stand legt der
                      Anteil der Anti-Europäer im künftigen Parlament kräftig zu, mit maximal 30% bleiben sie
                      aber weit davon entfernt, Entscheidungen zu blockieren (Vetomacht). Dennoch dürfte der
                      Wind für die europafreundlichen Fraktionen rauer werden. Entscheidend für den Ausgang
                      der Wahl wird auch die Wahlbeteiligung sein. 2014 lag sie in Deutschland bei 47,9%, EU-
                      weit sogar nur bei 42,5%. Es dürfte klar sein, dass eine geringe Beteiligung wie ein Kataly-
                      sator für die EU-Gegner wirkt; umgekehrt stärkt eine hohe Beteiligung die integrativen Kräf-
                      te. Ein großer Unsicherheitsfaktor bleibt der Brexit, denn die Teilnahme der Briten, die in-
                      zwischen als so gut wie sicher gilt, könnte für erhebliche Verschiebungen sowohl bei den
                      Anti-Europäern, als auch bei den etablierten Parteien sorgen und die Wahl des EVP-
                      Spitzenkandidaten Weber in Frage stellen.

                                                                                                            BayernLB
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              Dr. Alexander Kalb                                Redaktion:
              Senior Economist                                  Bayerische Landesbank
                                                                Unternehmensbereich 5700
              Telefon: 089 2171-22858                           80277 München (=Briefadresse)
              alexander.kalb@bayernlb.de                        research@bayernlb.de

              Dr. Norbert Wuthe                                 Geschäftsgebäude:
              Senior Analyst Zinsstrategie / SSAs               Bayerische Landesbank
                                                                Brienner Straße 18
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              Manfred Bucher, CFA
              Senior Analyst Aktienstrategie

              Telefon: 089 2171-21713
              manfred.bucher@bayernlb.de

                                                                                                BayernLB
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