Blogistan Politik und Internet im Iran - Annabelle Sreberny Gholam Khiabany

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Blogistan Politik und Internet im Iran - Annabelle Sreberny Gholam Khiabany
Annabelle Sreberny · Gholam Khiabany

     Blogistan
     Politik und Internet im Iran
                                    Hamburger
                                                           Edition.

                                         Sozialforschung
                                         Institut für

on                                    Hamburger
                                                                    Edition
                                                  Sozialforschung
                                                  Institut für
Inhalt

  Vorwort (Jan-Hinrik Schmidt)                              7

  Einleitung                                               13

1 Das Internet im Iran: Entwicklung und Reglementierung    23

2 Die politische Dimension des Bloggens                    67

3 Das Netz der Kontrolle und der Zensur:
  Staat und Blogosphäre im Iran                           101

4 Gender, Sexualität und Bloggen                          137

5 Wie wird man zum Intellektuellen?
  Blogistan und der öffentliche politische Raum in
  der Islamischen Republik                                201

6 Blogs in englischer Sprache und aus der Diaspora:
  Der Innen- und der Außenansicht eine Stimme geben       235

7 Journalismus, Blogs und Bürgerjournalismus              247

8 Der Sommer 2009                                         255

  Bibliographie                                           277
1 Das Internet im Iran:
    Entwicklung und Reglementierung

Jede kritische Analyse des Internets im Iran muss sich mit zwei theo-
retischen Positionen auseinandersetzen, denen gemeinsam ist, dass
ihnen ein historischer Fatalismus innewohnt. Die eine Sichtweise be-
tont die »Einzigartigkeit des Internets«, überschätzt die Auswirkun-
gen der neuen Technologien auf Wirtschaft und Gesellschaft und
spricht von einem eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit. Das In-
ternet, so die zentrale Prämisse dieses Szenarios, bringt die grundle-
gende Veränderung aller sozialen Beziehungen mit sich und verheißt
eine von demokratischer Partizipation geprägte Zukunft. Wird in die-
ser Darstellung die Technik als treibende Kraft der gesellschaftlichen
Entwicklung betrachtet, so geht die »Gegenposition« von der »Ein-
zigartigkeit des Islam« aus. Dieser Sichtweise zufolge ist der allein
entscheidende Faktor im Bereich der iranischen Kultur und Kom-
munikation der Islam. In diesem Szenario werden die Totalität der
Produktion und die der sozialen Beziehungen zu untauglichen Aus-
gangspunkten für die Medienanalyse erklärt, was den Weg für einen
epistemologischen Nativismus frei macht, der einen einförmigen, all-
umfassenden, unveränderlichen »Islam« als Grundlage für die reale
Kommunikation in der Region beschreibt.1
   Die Islamische Republik Iran entstand 1979 aus einer plötzlichen
Mobilisierung des Volkes heraus, die in eine Revolution mündete.
Alle Entwicklungen im Bereich von Internet und Cyberspace fanden
daher in einem politisch stark aufgeladenen postrevolutionären Um-
feld statt, wobei die Ideologie des theokratischen Staates der schiiti-
sche Islam war. Die zentrale Frage in Bezug auf die Entwicklung der
neuen Medien im Iran ist jedoch nicht der offensichtliche, krasse Ge-
gensatz zwischen einem »konservativen« Staat und »moderner«
Technik, denn der Staat und viele einflussreiche Kleriker haben sich
die neue Informationstechnologie sehr schnell zu eigen gemacht.

1 Khiabany, Iranian Media, 2010.

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Kennzeichnend für die Entwicklung des Internets im Iran sind zwei
subtilere Konfliktlinien. Die erste markiert der Versuch des zentralis-
tischen Staates, in einem von »neuen Technologien« geprägten Um-
feld, das die Partizipation breiter Bevölkerungsschichten außeror-
dentlich fördert, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken. Mit
diesem Problem befasst sich der iranische Staat seit mehr als hundert
Jahren. Das Internet ist lediglich der neueste Schauplatz dieser Aus-
einandersetzung und die neueste Technologie, die den unmittelbar
vom Staat Überwachten alternative Kommunikationswege eröffnet
hat.
   Die zweite Konfliktlinie markiert der Versuch des zentralistischen
Staates, die Entwicklung des privaten Sektors und unternehmeri-
sche Aktivitäten auf dem Gebiet der Informations- und Kommuni-
kationstechnologie zu behindern, einem Gebiet, das in anderen Län-
dern Millionäre hervorgebracht hat. Die Schnelligkeit, mit der sich
die neuen Technologien im Iran ausbreiten, illustriert die heterogene
Entwicklung dieses Landes ebenso wie die widersprüchliche Rolle
des Staates.
   Ungeachtet dieser beiden Konfliktlinien hat sich im Iran innerhalb
kürzester Zeit eine Kommunikationsindustrie etabliert, die heute
einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige ist. Die
»Neuen Medien« stellen einen der dynamischsten und lebendigsten
politisch-kulturellen Räume dar. Der verbreitete Wunsch nach Zu-
gang zu informellen Kommunikationswegen und verstärktem Kultur-
konsum zeigt sich nicht nur in der wachsenden Zahl der iranischen
Medienkanäle, sondern auch in der steigenden Zahl der Nutzer von
Mobilfunk und Internet sowie im erstaunlichen Wachstum und der
Popularität von Weblogs, die sich zu einem besonders umkämpften
Terrain entwickelt haben.
   Dieses Kapitel bettet die Ausbreitung des Internets im Iran in
den größeren gesellschaftlichen Kontext ein und beleuchtet die real
vorhandene digitale Kluft, also die Tatsache, dass der Iran einigen
seiner reicheren Nachbarländer deutlich hinterherhinkt. Indem es
den Ausbau der Telekommunikationsinfrastruktur beleuchtet, zeich-
net es die Modernisierungspolitik des iranischen Staates und die im
Rahmen dieses Entwicklungsprozesses auftretenden Widersprüche
nach. Unserer Auffassung nach sind begrenzter Zugang und be-
grenzte Nutzung nur ein Teilaspekt einer sehr viel komplexeren Ge-
schichte, die Kommunikationserfahrungen im Iran erzählen. Das In-
ternet stellt die Monopolstellung des Staates zusehends in Frage,

24
Zeitungskiosk, Teheran

nicht nur als Kommunikationskanal für Ferngespräche, sondern
auch als Medium der politischen und kulturellen Kommunikation.
Das private Kapital rüttelt am staatlichen Monopol, während die Po-
litik der Regierung sich allmählich auf die Ökonomisierung und Pri-
vatisierung des Kommunikationssektors einstellt. All das vollzieht
sich in einem nationalen und internationalen Kontext, der von faszi-
nierenden Entwicklungen im Bereich der Medien und des Internets
gekennzeichnet ist.
    Zwar sind die Werkzeuge und Technologien universell, und die all-
gemeine Entwicklung des Internets lässt sich nicht getrennt von der
Funktionsweise von Staat und Kapital beschreiben. Ebenso wenig
kann man das Internet als Ganzes jedoch verstehen, ohne die ört-
lichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Im Zeitalter der »Globali-
sierung« und des »Transnationalismus« lohnt es sich in Erinnerung
zu rufen, dass Politik und politisches Handeln nach wie vor an kon-
kreten »Orten« stattfindet. Damit soll das große Ganze keineswegs
ausgeblendet werden, doch kann man das Geschehen vor Ort nur be-
greifen, wenn man den größeren Rahmen ebenso berücksichtigt wie
die Art und Weise, in der gemeinsame Geschichte, Interessen und

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Sprache die Menschen eint. Masserat Amir-Ebrahimi2 stellt daher zu
Recht fest:
   Trotz des Anspruchs, eine »universelle« Sprache zu sein, stellt
   das Internet einen neuen öffentlichen Raum beziehungsweise eine
   neue öffentliche Sphäre dar, die in ganz bestimmten soziokultu-
   rellen Aspekten des Alltagslebens wurzelt. Seine kulturelle Be-
   deutung schwankt von Ort zu Ort beträchtlich, je nach den
   unterschiedlichen Erfahrungen, Bedürfnissen und Zielen der Men-
   schen. In demokratischen Gesellschaften wird der Cyberspace oft
   als »alternativer« Informations-, Forschungs- und Freizeitraum be-
   trachtet, der neben oder komplementär zu den realen öffentlichen
   Räumen und Institutionen besteht. In Ländern jedoch, in denen
   öffentliche Räume von konservativen beziehungsweise restrikti-
   ven kulturellen Kräften kontrolliert werden, kommt dem Internet
   bisweilen eine ganz andere Bedeutung zu. Im Iran, wo die öffent-
   liche Sphäre von konservativen und staatlichen Kräften streng
   überwacht und reguliert wird, ist das Internet zu einer Möglichkeit
   geworden, sich gegen diesen Räumen auferlegte Restriktionen zur
   Wehr zu setzen. Für die Menschen in solchen Ländern, vor allem
   für marginalisierte Gruppen wie Jugendliche und Frauen, ist das
   Internet unter Umständen ein Raum, der »realer« ist als ihr All-
   tagsleben.
Der erste Abschnitt dieses Kapitels untersucht Aspekte der digitalen
Kluft in Bezug auf aktuelle Diskussionen über die Internationalisie-
rung der Medien- und Internetforschung. Anschließend werden ver-
schiedene Aspekte des Wachstums der iranischen Kommunikations-
industrie und ihrer raschen Modernisierung in den letzten Jahren
behandelt. Schließlich werden Widersprüche in der Entwicklung des
Internets im Iran thematisiert, die sich aus rivalisierenden wirtschaft-
lichen und politischen Interessen ergeben.

Zunächst gilt es jedoch, den Kontext etwas näher zu beleuchten.

2 Amir-Ebrahimi, Performance in everyday life.

26
Eine kurze Rekapitulation der jüngeren
iranischen Geschichte:
Die Entfesselung einer islamischen Revolution

Die Islamische Republik Iran war und ist ein Konstrukt voller Wi-
dersprüche. Nachdem sie 1979 aus einer unterschiedliche Klassen
und ideologische Komponenten umfassenden Volksrevolution heraus
entstanden war, wurden die Institutionen der Staatsmacht rasch isla-
misiert. Das Ergebnis war die weltweit einzige Theokratie. Dem Kon-
zept des Velayat-e Faqih entsprechend war das religiöse Oberhaupt
des islamischen Staates der Oberste Rechtsgelehrte. Der erste war
natürlich Khomeini, gefolgt von Khamenei, dem derzeitigen (2010)
ungewählten Führer.
   Parallel zu diesem System der religiösen Führung, das auf der Zu-
stimmung des Klerus basiert, existiert jedoch ein modernes politi-
sches System mit Wahlen und offiziellen politischen Ämtern. Alle Ira-
ner über 18, auch Frauen, denen das Wahlrecht 1963 zugestanden
wurde, wählen den Präsidenten und die Abgeordneten der Majles, des
Parlaments. Überwacht wird dieser politische Prozess vom darüber-
stehenden Wächterrat, der politische Gruppierungen und Kandidaten
überprüft, wobei die Kenntnis des Islam ein wichtiges Kriterium ist.
Aufgrund des allgemeinen Wahlrechts, der wachsenden Bedeutung
von Wahlkämpfen, lebhafter politischer Diskussionen und dem ver-
breiteten Interesse an Partizipation sprechen viele Beobachter3 des
Iran von einem zweigeteilten politischen System mit demokratischen
Elementen. Die Bandbreite der politischen Partizipation und Mei-
nungsäußerung ist im Iran zweifellos größer als unter den meisten an-
deren Regimes in der Region, ein Argument, das angesichts eines
möglichen Einmarschs der USA immer wieder vorgebracht wird. Der
eindrucksvolle Film »Roozegar-e Ma, Our Time« (2002) von Rakshan
Bani-Etemad gibt anschauliche Einblicke in die politischen Sehn-
süchte und Phantasien in einer Zeit, in der selbst Frauen sich nicht
scheuen, sich um das Amt der Präsidentin zu bewerben (obwohl es ih-
nen offiziell nicht erlaubt ist). Seit Langem gibt es im Inneren heftige
Machtkämpfe zwischen den »liberalen Reformern« und den »Konser-
vativen«, sowie zwischen den ernannten und den gewählten Gremien,

3 Ashraf/Banuazizi, Iran’s tortuous path; Arjomand, Civil Society; Kurzman,
  Critics within; Ansari, Iran, Islam & Democracy.

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