Bradfords "Brussels-Effect" als Gedankenstütze in der Diskussion um ein institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Euro...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
sui generis Raphael Dummermuth Bradfords «Brussels-Effect» als Gedankenstütze in der Diskussion um ein institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Euro- päischen Union Anu Bradfords These von der Existenz eines Brussels- Effect prägt im angelsächsischen Raum den wissenschaft- lichen Diskurs über die geopolitische Rolle der Europäi- schen Union. Danach übt die EU einen überproportional grossen Teil an extraterritorialer Macht via marktzu- gangsbezogene Regulatorien aus. In der Schweiz ist der Effekt nicht unbekannt, denn ein Diskurs über die Markt- macht der Union ist für die Schweiz unumgänglich. Das liegt insbesondere an der Struktur der schweizerischen Volkswirtschaft, die stark durch Handel mit Unterneh- men aus der EU geprägt ist und in faktischer Abhängig- keit vom Zugang zum europäischen Markt funktioniert. Den Brussels-Effect in Bradfords Form aber expliziter miteinzubeziehen, könnte für die (politische) Diskussi- on gerade jetzt Mehrwerte liefern, wo der Bundesrat ent- schieden hat, das institutionelle Abkommen zwischen der Schweiz und der EU nicht zu unterzeichnen. Der vorliegende Beitrag erörtert, um dies zu verdeutlichen, verschiedene Aspekte des Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU im Licht von Bradfords Theorie. I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 II. Bradfords These vom Brussels-Effect . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 III. Das institutionelle Rahmenabkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Zitiervorschlag: Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» als Gedankenstütze in der Diskussion um ein insti tutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union, sui generis 2021, S. 245 MLaw Raphael Dummermuth, Diplomassistent am Lehrstuhl für Zivilrecht I an der Universität Freiburg. Der Autor dankt Prof. Dr. iur. Alexandra Jungo, ordentliche Professorin für Zivilrecht an der Uni- versität Freiburg, MLaw Sofie Steller, Diplomassistentin am Lehrstuhl für Europarecht und europäisches Migrationsrecht an der Universität Freiburg, und BLaw Dominic von Moos. URL: sui-generis.ch/188 DOI: https://doi.org/10.21257/sg.188 Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namens nennung — Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz. 245
hält dieser Ansicht die faktische Fähigkeit der EU entge- I. Einleitung gen, globale Märkte zu regulieren, indem sie über das 1 Anu Bradfords1 These von der Existenz eines Brussels- unionsrechtliche Sekundärrecht10 Vorschriften über die Effect2 prägt im angelsächsischen Raum den wissen- Herstellung, den Anbau, den Vertrieb und die Anpreisung schaftlichen Diskurs über die geopolitische Rolle der Eu- von Produkten aufstellt oder beispielsweise wettbewerbs- ropäischen Union.3 Danach übt die EU einen überpropor- rechtliche und datenschutzrechtliche Bestimmungen tional grossen Teil an extraterritorialer Macht via markt- über das Handeln Privater erlässt.11 Dies ruft nach Brad- zugangsbezogene Regulatorien aus. In der Schweiz ist fords Einordnung einen «involuntary incentive» her- der Effekt nicht unbekannt,4 denn ein Diskurs über die vor: Im Rahmen einer regulatorischen Vereinheitlichung Marktmacht der Union ist für die Schweiz unumgänglich. passen Unternehmen ihr gesamtes Markthandeln den Das liegt insbesondere an der Struktur der schweizeri- Vorgaben des unionsrechtlichen Sekundärrechts an, und schen Volkswirtschaft, die stark durch Handel mit Unter- zwar auch in Staaten, die nicht im territorialen Geltungs- nehmen aus der EU geprägt ist und in faktischer Abhängig- bereich des Unionsrechts liegen. Entsprechend verhal- keit vom Zugang zum europäischen Markt funktioniert.5 ten sich multinationale Unternehmen auch ausserhalb Den Brussels-Effect in Bradfords Form aber expliziter der EU unionsrechtskonform.12 miteinzubeziehen, könnte für die (politische) Diskussi- on gerade jetzt Mehrwerte liefern, wo der Bundesrat ent- Nach Bradford übt die Union damit eine Form der extra- 3 schieden hat, das institutionelle Abkommen zwischen territorialen Macht aus, ohne hierfür jedoch auf das Tä- der Schweiz und der EU nicht zu unterzeichnen.6 Der tigwerden von internationalen Institutionen angewiesen vorliegende Beitrag deutet, um dies zu verdeutlichen, zu sein oder sich internationaler Kooperation mit ande- verschiedene Aspekte des Verhältnisses zwischen der ren geopolitischen Entitäten zu bedienen.13 Schweiz und der EU im Licht von Bradfords Theorie. Zur Verdeutlichung dieser Theorie sind sowohl Abgren- 4 zungen als auch Unterscheidungen vorzunehmen. Ers- II. Bradfords These vom tens kann abgrenzend festgehalten werden: Der hier beschriebene Regulierungseffekt durch das sekundäre Brussels-Effect Unionsrecht muss von anderen globalen Vereinheitli- 2 Die Diskussion über den geopolitischen Einfluss der Uni- chungstendenzen unterschieden werden, die auf bi- oder on konzentriert sich ausserhalb des europäischen Kon- multilateralen Übereinkommen basieren. Ebenso ist fest- tinents nicht selten auf deren militärische Schwäche, das zuhalten, dass ein Wille der regulierenden Behörden bzw. schwerfällige Handeln der europäischen Institutionen, Akteure kein Tatbestandsmerkmal bzw. keine Vorausset- sowie die scheinbare Unmöglichkeit der EU-Mitglied- zung für die Verwirklichung des Brussels-Effect darstellt. staaten, international als geeinte Kraft aufzutreten und mit «einer Stimme» zu sprechen.7 Europa wird nicht sel- Zweitens ist eine Grundunterscheidung elementar für die 5 ten als «aging and declining power»8 gesehen.9 Bradford Effect-Theorie: Der Brussels-Effect de facto tritt dann auf, wenn global agierende Unternehmen bzw. Unterneh- 1 Prof. Dr. Anu Bradford, LL.M., Henry L. Moses Professor of Law mensgruppen ihr Handeln auf europäische Regulierun- and International Organization, Columbia Law School. 2 Anu Bradford, The Brussels Effect: How the European Union Rules gen bzw. europäische Standards ausrichten. Vom Brus- the World, New York 2020 (zit. Bradford 2020); Anu Bradford, sels-Effect de jure hingegen spricht Bradford dann, wenn The Brussels Effect, Northwestern University Law Review 107/2012, Unternehmen bzw. unternehmensnahe Interessengrup- S. 1 ff. (zit. Bradford 2012). pen in ihren Sitzstaaten für die Europäisierung der dort 3 Vgl. Susan Emmenegger, Extraterritoriality in Financial Regula- tion, in: Weber/Stoffel/Chenaux/Sethe (Hrsg.), Aktuelle Herausfor- geltenden Rechtsordnung Lobbying betreiben oder auf derungen des Gesellschafts- und Finanzmarktrechts, Festschrift andere Weise politischen Druck ausüben. Dieser «Euro- für Hans Caspar von der Crone zum 60. Geburtstag, Zürich 2017, päisierungsdruck» ist hierbei typischerweise mit der S. 391 ff.; vgl. weiter Orla Lynskey, The Foundations of EU Data Pro- tection Law, Oxford 2015, S. 42; Paul M. Schwarz, The EU-U.S. Pri- vacy Collision: A Turn to Institutions and Procedures, Harvard Law is Fading, Wall Street Journal vom 12. Februar 2019; Walter Russel Review 2012/2013, S. 1967. Mead, Europe’s Challenge is Decline, not Trump, Wall Street Jour- 4 Als eine der wenigen Emmenegger (Fn. 3), S. 392. nal vom 18. Februar 2019; Stephen Walt, The Coming Erosion of the 5 Vgl. hierzu die Darstellung von Michael Hahn, Je t’aime…Moi non European Union, Foreign Policy vom 18. August 2014; Tony Barber, plus : Rechtsfragen des Verhältnisses Schweiz-EU, ZBJV 157/2021, The Decline of Europe is a Global Concern, The Financial Times S. 77 ff. vom 21. Dezember 2015. 6 Medienmitteilung des Bundesrates vom 26. Mai 2021 (Das Institutio- 10 Zum Begriff des europarechtlichen Sekundärrechts Matthias nelle Abkommen Schweiz-EU wird nicht abgeschlossen). Oesch, Europarecht, Band I, Grundlagen, Institutionen, Verhältnis 7 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 2. Schweiz — EU, Bern 2015, N 415. 8 Bradford 2020 (Fn. 2), Introduction, S. XII. 11 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 2. 9 So etwa aus dem angelsächsischen Raum Walter Russel Mead, The 12 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 2; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 2. incredible Shrinking Europe: The Continents Grand Union Project 13 Bradford 2020 (Fn. 2), Introduction, S. XII. Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» und institutionelles Rahmenabkommen CH-EU, sui generis 2021 246
Motivation verknüpft, gegenüber Unternehmen mit Sitz Bradfords Ansatz unterscheidet sich von herkömmli- in einem Mitgliedstaat der Union keinen Nachteil zu er- chen Analysen des geopolitischen Einflusses16 von domi- leiden. Das beabsichtigte Resultat des Brussels-Effect de nanten Märkten dadurch, dass sie die schiere Grösse ei- jure ist in der Schweiz gemeinhin als «autonomer Nach- ner Volkswirtschaft als wichtig, aber nicht als ausschliess- vollzug» bekannt und wird verschiedentlich auch der lichen Faktor darstellt. Während die EU einen Binnen- wissenschaftlichen Untersuchung zugeführt.14 Im Kon- markt mit mehr als 448 Millionen im globalen Vergleich text dieses Artikels wird zwischen den Effekten de facto überdurchschnittlich kaufkräftigen Konsument:innen und de jure nicht von zwei Seiten derselben Medaille darstellt und ein BIP von rund 17 Milliarden Euro auf- ausgegangen; der Brussels-Effect de jure ist m.E. geson- weist,17 ist für den geopolitischen Erfolg der EU nach der dert zu behandeln. Die folgenden Ausführungen bezie- Brussels-Effect-Theorie nicht dies der ausschlaggebende hen sich deshalb ausschliesslich auf den Brussels-Effect Faktor. Den Unterschied machen vielmehr weitere struk- de facto (fortan schlicht Brussels-Effect). turelle Faktoren bzw. institutionelle Grundfunktionen der EU18 sowie der Wohlstand und die Konsumfreudigkeit 6 Für die Lesenden weiter klärend wirken wohl die Voraus- der Konsument:innen im Europäischen Binnenmarkt.19 setzungen, die Bradford für das Eintreten des Effekts formuliert: Eine genügende Grösse des durch die Regu- Da der Markt in der EU nicht nur einen zahlenmässig ver- 8 lierungen kontrollierten Marktes (nachfolgend a); eine gleichsweise grossen Binnenmarkt darstellt,20 sondern genügende «institutionelle Kapazität» zur Regulierung auch einen überdurchschnittlich hohen Anteil an sehr (b); ein unelastisches bzw. immobiles Ziel der Regulie- kaufkräftigen Konsument:innen bietet,21 werden sich rung (c); eine fehlende ökonomische Rentabilität der jene multinationalen Unternehmen, welche die oben zu- Differenzierung bzw. «Aufsplittung» der Produktion der sammengefasste Abwägung vornehmen, mit grosser vom Unternehmen angebotenen Güter oder Dienstleis- Wahrscheinlichkeit für den Eintritt in den EU-Markt ent- tungen (d); und schliesslich die Tatsache, dass die unter- scheiden,22 was Bradford als eine Form regulatorischer suchten Regulierungen strikter sind als die Regelungen Gravitation beschreibt. Ein Unternehmen aus einem anderer vergleichbar attraktiver Märkte (e). Sind diese Drittstaat wird zur Frage, ob es sich wirtschaftlich lohnt, Voraussetzungen erfüllt, so die Theorie Bradfords, mit Marktteilnehmer:innen aus der EU Geschäftsbezie- stellt sich auf globaler Ebene der dargelegte Brussels-Ef- hungen einzugehen, eine Abwägung vornehmen zwi- fect ein: Private Unternehmen halten sich in ihrem Markt- schen den Kosten, die eine Anpassung an das Unionsrecht verhalten global an die Normen des unionsrechtlichen mit sich bringt, und dem durch den Marktzugang prog- Sekundärrechts. Das Unionsrecht erhält damit durch rein nostizierbaren Mehrwert.23 unilaterales Vorgehen eine extraterritoriale Wirkung von einer gewissen Tragweite. b) Institutionelle Kapazität zur Durchsetzung strikter Regulatorien Nach Bradford hat zu den beschriebenen zahlenmäs- 9 1. Voraussetzung für das Eintreten sigen Faktoren ein zentrales Element dazuzutreten: die des Brussels-Effect institutionelle Kapazität, Regulatorien zu implementie- a) Grösse des kontrollierten Martkes ren und, wo nötig, durch Zwang durchzusetzen.24 Damit 7 Zur Ausübung geopolitischer Macht im Bereich des inter- der Brussels-Effect seine Wirkung entfaltet, ist es entspre- nationalen Handels wird die Grösse des kontrollierten chend notwendig, dass die EU einerseits Regelungen von Markts gemeinhin als zentrales Erfordernis genannt.15 Drezner, All Politics is Global: Explaining International Regulato- 14 Vgl. etwa Astrid Epiney, 20 Jahre Institut für Europarecht der Uni- ry Regimes, Princeton NJ 2008. versität Freiburg, Ein Beitrag zu Forschung, Lehre und Weiterbil- 16 Vgl. Drezner, Globalization (Fn. 15), S. 841. dung im Europarecht in der Schweiz, in: Forum Europarecht (Hrsg.), 17 Vgl. Internationaler Währungsfonds (IWF), Jahresbericht 2019: Die Schweiz und die europäische Integration: 20 Jahre Institut für Unsere vernetze Welt. Europarecht / La Suisse et l‘intégration européenne: 20 ans de l‘In- stitut de droit européen, Freiburg 2015, S. 11 ff.; Matthias Oesch, Die 18 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 11 ff.; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 27 f. Europäisierung des schweizerischen Rechts, in: Cottier (Hrsg.), Die 19 Bradford 2020 (Fn. 2), S. 27. Europakompatibilität des schweizerischen Wirtschaftsrechts: Kon- 20 Central Intelligence Ageny (CIA), The World Factbook, European vergenz und Divergenz, ZSR-Beiheft 50 2012, S. 13 ff.; Francesco Union, Economy. Maiani, Lost in translation: euro-compatibility, legal security, and 21 Zur zentralen Rolle der Kaufkraft der Konsument:innen David the autonomous implementation of EU law in Switzerland, ELR Vogel / Robert A. Kagan, Dynamics of Regulatory Change: How 2013, S. 29 ff.; Marc Amstutz, Normative Kompatibilitäten: Zum Be- Globalization Affects National Regulatory Policy. An Introduction, griff der Europakompatibilität und seiner Funktion im Schweizer Berkley 2004, S. 6; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 27. Privatrecht, SJER 2004/2005, S. 235; Thomas Cottier, Zwischen Skylla und Charybdis: Die Rezeption des europäischen Wirtschafts- 22 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 12; mit aktualisierten Zahlen Bradford rechts in der Schweiz, EuZW 2012, S. 849. 2020 (Fn. 2), S. 27 f. 15 Vgl. umfassend Daniel W. Drezner, Globalization, Harmoniza- 23 Bradford 2020 (Fn. 2), S. 26. tion, and Competition: The Different Pathways to Policy Conver- 24 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 12; vgl. Raya Kardasheva, Package Deals gence, Journal of European Public Policy 2005, S. 841 ff.; Daniel W. in EU Politics, American Journal of Political Science 2013, S. 858 ff. Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» und institutionelles Rahmenabkommen CH-EU, sui generis 2021 247
einer genügenden Normendichte in Kraft setzt. Die Nicht- Vorschriften unter ökonomischen Aspekten dem Auf- beachtung dieser Regelungen muss jedoch im territoria- bau eines zweiten Produktionsprozesses vorzuziehen len Anwendungsbereich des Unionsrechts für Private ist.30 In gleicher Weise als unteilbar haben Produktions- spürbare Konsequenzen haben; Marktteilnehmende, die prozesse zu gelten, welche aus rechtlichen oder techni- sich (im Fall der EU) sekundärrechtswidrig verhalten, schen Gründen nicht in zwei (oder mehr) Prozesse auf- müssen vom gemeinsamen Markt ausgeschlossen wer- teilbar sind. den können. Diesen regulatorisch-institutionellen Druck nennt Bradford Regulatory Capacity.25 Neben dieser e) Striktere Regulierung als die Regulierungen regulatorischen «Infrastruktur» ist für die Wirkung strik- anderer attraktiver Märkte ter Regelungen für den Marktzugang auch der politische Die Ausführungen über die rechtliche sowie die techni- 13 Wille notwendig, solche Regelungen zu schaffen, in Kraft sche Unmöglichkeit der «Aufsplittung» von Produktions- zu setzen und in der Folge durchzusetzen. prozessen machen deutlich, dass ein Phänomen wie der Brussels-Effect so lange virulent bleibt, wie keine andere c) Unelastisches Ziel der Regulatorien geopolitische Entität von gleichem ökonomischem Ein- 10 Voraussetzung für die effektive Wirkung des Brussels-Ef- fluss strengere Regulatorien erlässt. So sind etwa Szenarien fect ist weiter, dass das Objekt dieser Regelungen bis zu denkbar, in welchen sich Unternehmen zugunsten strik- einem gewissen Grad immobil ist. Die verbraucherrecht- ter regulierender Staaten und gegen EU-Regulatorien ent- lichen Regulierungen der EU, seien sie datenschutzrecht- scheiden würden. Damit würde sich der Brussels-Effect liche Bestimmungen, Minimalstandards für die Produk- abschwächen. Dies würde sich mit grosser Wahrschein- tesicherheit oder Vorschriften aus dem Bereich des Le- lichkeit schleichend und branchenspezifisch ankündigen. bensmittelmarkts, beziehen sich auf ein «regulatory tar- get», das, anders etwa als Kapital,26 in einem hohen Grad 2. Notwendigkeit einer Diskussion immobil ist.27 Damit verstärkt nach der Analyse Brad- fords der Fokus der regulatorischen Tätigkeit der Union Obgleich Bradford selbst die nun folgende Unterschei- 14 auf den Bereich des Konsumentenschutzes entsprechend dung nicht macht, darf nach der hier vertretenen Auf- den Brussels-Effect.28 fassung nicht übersehen werden, dass sich durchaus ein Kreis von Staaten bzw. Weltregionen identifizieren lässt, d) Fehlende Rentabilität der Differenzierung die vom beschriebenen Effekt stärker betroffen bzw. be- der Produktion einflusst werden als andere. Zur Kategorisierung von in- 11 Damit unionsrechtliche Regulatorien aber auch im Han- tensiver beeinflussten und weniger stark beeinflussten del zwischen Unternehmen mit Sitz in Drittstaaten und Staaten ist primär auf die Struktur einer Volkswirtschaft Konsument:innen bzw. anderen Unternehmen in Dritt- abzustellen; eine Volkswirtschaft mit einer hohen Dichte staaten faktische Geltung erlangen, also wirklich «globale an Unternehmen, deren Produkte bzw. Dienstleistungen Wirkung» entfalten, ist ein weiterer Schritt notwendig: hauptsächlich Absatz im territorialen Geltungsbereich Die Unternehmen passen nicht nur ihr Verhalten gegen- des europäischen Sekundärrechts finden, wird den Brus- über Konsument:innen oder Unternehmen innerhalb der sels-Effect stärker zu spüren bekommen als eine Volks- EU dem Unionsrecht an, sondern ihre gesamte, globale wirtschaft, die weniger Handelsbeziehungen mit Markt- Unternehmenstätigkeit. teilnehmenden aus dem EU-Raum unterhält. 12 Die dafür notwendige Unteilbarkeit des Produktionspro- Die schweizerische Volkswirtschaft wird vom Handel mit 15 zesses («non-divisibility»29) eines Unternehmens kann der EU entscheidend geprägt. 52 % der Exporte schwei- verschiedene Gründe haben. Im Vordergrund steht eine zerischer Unternehmen gehen in die EU; kein Markt ist mangelnde ökonomische Rentabilität der Aufteilung von für die schweizerische Industrie gleich wichtig wie der Produktionsprozessen. Regelmässig werden Unterneh- EU-Markt. Pro Arbeitstag werden zwischen der Union men bei einer entsprechenden Abwägung zum Schluss und der Schweiz Waren im Wert von einer Milliarde Fran- kommen, dass die Aufrechterhaltung eines einzigen Pro- ken ausgetauscht.31 Gewisse Wirtschaftszweige sind vom duktionsprozesses unter Einhaltung unionsrechtlicher EU-Markt jedoch deutlich stärker abhängig, so liegt beim Schweizer Käse der Exportanteil in die EU bei 80 %.32 25 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 12; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 31; weiter- gehend Manuele Citi / Morgens Justensen, Measuring and Ex- plaining Regulatory Reform in the EU: A Time-Series Analysis of 30 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 17 f.; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 54. Eight Sectors, 1984-2012, SSRN 2013, S. 1984 ff. 31 Mission der Schweiz bei der Europäischen Union, Wirtschaft und 26 Bradford 2020 (Fn. 2), S. 49. Handel — eine wichtige Partnerschaft. 27 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 17; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 48 ff. 32 Economiesuisse, Annahme der Kündigungsinitiative bedeutet das 28 Bradford 2012 (Fn. 2), S. 17; Bradford 2020 (Fn. 2), S. 53. Ende des bilateralen Wegs. Jedes einzelne bilaterale Abkommen 29 Bradford 2020 (Fn. 2), S. 53. bringt der Schweiz Vorteile, 13. September 2019. Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» und institutionelles Rahmenabkommen CH-EU, sui generis 2021 248
16 Ausgehend von diesen Zahlen und der These Bradfords schieden werden hierbei gemeinhin zwei «Pakete» von scheint es nun angebracht, die Schweiz als eines, wenn Verträgen, die durch eine «Guillotineklausel»36 verbun- nicht das Paradebeispiel für eine vom Brussels-Effect ge- denen «Bilateralen I» aus dem Jahr 1999 und die (voral- prägte Volkswirtschaft zu bezeichnen. Damit wird klar, lem politisch eine Gruppe bildenden) «Bilateralen II», dass der extraterritoriale Einfluss des europäischen wobei «Schengen» und «Dublin» verknüpft sind, die üb- Sekundärrechts auf die Schweiz — abgebildet im Kon- rigen Abkommen jedoch nicht.37 Die Bilateralen Abkom- zept des Brussels-Effect — ein undiskutabler Fakt ist. Für men stellen in Bezug auf ihren materiellen Regelungs- Rechtsunterworfene in der Schweiz besteht mit anderen bereich sektoriell eng begrenzte völkerrechtliche Ver- Worten ein Bereich, in welchem EU-Recht weder via träge dar, die eine Integration der schweizerischen Volks- Staatsvertrag, noch via autonomen Nachvollzug gilt, wirtschaft in den europäischen Binnenmarkt zum Ziel sondern ausschliesslich aufgrund von ökonomischem haben.38 Diese «Teilintegration» geschieht durch unter- Druck.33 Dass dieser ökonomische Druck jedoch signi- schiedliche Herangehensweisen: Erstens stellen einige fikanten Einfluss auf die nationale schweizerische Ge- der bilateralen Abkommen Kooperationsverträge dar, setzgebung sowie auf das schweizerische Staatsvertrags- die in Bezug auf gewisse EU-Programme die Teilnahme recht zeitigt, soll in der Folge näher dargestellt werden. und die Zusammenarbeit der Schweiz garantieren. Zwei- tens existieren, was etwa den Personen- und den Land- verkehr betrifft, Harmonisierungs- und Liberalisierungs- verträge, die eine Angleichung der geltenden Regula III. Das institutionelle torien festlegen. Drittens wird in Bezug auf eine Reihe Rahmenabkommen der bilateralen Verträge (etwa die Abkommen über die schweizerische Teilnahme am Schengen/Dublin-System) 1. Bilateralismus als Ausgangslage von Integrationsverträgen gesprochen.39 17 Im Licht der nun dargelegten Theorie und den dazuge- hörigen Anwendungsfällen aus der schweizerischen 2. Konzept eines institutionellen Rechtsordnung kann die Erkenntnis gewonnen werden, Rahmenabkommens dass die Effect-Theorie für die Schweiz im Grunde genom- men eine alltägliche Lebensrealität abbildet.34 Gleich- Das Anliegen, einen Teil der völkerrechtlichen Verträge 19 zeitig kann aber gerade die Systematisierung, die Brad- zwischen der Europäischen Union und der Schweiz ford vornimmt, für die hierzulange herrschende Dis- durch einen Rahmenvertrag zu verknüpfen, findet sich kussionslage einordnend bzw. strukturierend wirken. bereits im Integrationsbericht des Bundesrates von So kann der Effect, angewandt auf spezifische rechtliche 1988.40 Bereits in Anbetracht der damaligen politischen oder politische Fragen, als Gedankenstütze dienen, in- Lage wünschte sich der Bundesrat eine «Schaffung von dem er in die Analyse der Europäisierung der schweize- Strukturen und organisatorischen Vorkehrungen für rischen Rechtsordnung miteinbezogen wird. Zu diesem eine privilegierte sektorielle Zusammenarbeit».41 Damit Zweck drängt es sich auf, im Folgenden die relevanten staatsvertraglichen Rahmenbedingungen stark zusam- Umsetzung und Durchführung des Rechts der Bilateralen Verträge in der Schweiz, in: Glaser/Langer (Hrsg.), Die Verfassungsdynamik mengefasst wiederzugeben. der europäischen Integration und demokratische Partizipation, Zürich et al. 2015, S. 133; Hansjörg Seiler, Einfluss des europäischen 18 Zunächst zu nennen sind die bilateralen Markzugangs- Rechts und der europäischen Rechtsprechung auf die schweizeri- sche Rechtspflege, ZBJV 2014, S. 265; Hansjörg Seiler, Dynamik abkommen zwischen der EU und der Schweiz, die für und Statik in der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum EU- Marktteilnehmer:innen aus der Schweiz und der EU den Recht?, in: Glaser/Langer (Hrsg.), Die Verfassungsdynamik der eu- Zugang zum jeweils anderen Markt garantieren.35 Unter- ropäischen Integration und demokratische Partizipation, Zürich et al. 2015, S. 77; Christine Kaddous, Die Zusammenarbeit zwischen der EU und der Schweiz, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Die Verfas- 33 Im Lichte dessen unklar erscheint die Aussage von Hansjörg Seiler, sungsdynamik der europäischen Integration und demokratische Auswirkungen des EU-Rechts auf Nicht-EU-Mitglieder («de facto Partizipation, Erfahrungen und Perspektiven in Österreich und der Mitgliedschaft» der Schweiz und Liechtensteins?), XVI. Treffen der Schweiz, Zürich et al. 2015, S. 21. obersten Verwaltungsgerichtshöfe Österreichs, Deutschlands, des 36 Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 899. Fürstentums Liechtenstein und der Schweiz vom 18./19. September 37 Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 901; zum Ganzen weiter Paul- 2008, S. 12. Lukas Good, Die Schengen-Assoziierung der Schweiz, St. Gallen 34 Zu den «Grundstrukturen» der Europäisierung des schweizeri- 2010. schen Rechts vgl. Andreas Heinemann, Rechtliche Transplantate 38 Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 894. zwischen Europäischer Union und der Schweiz, in: Fahrländer/ Heinzmann (Hrsg.), Europäisierung der schweizerischen Rechts- 39 Epiney/Metz/Pirker, Parallelität der Rechtsentwicklung (Fn. 35), ordnung, Zürich 2013, S. 13 ff. S. 98. 35 Weitergehend Astrid Epiney / Beate Metz / Benedikt Pirker, Zur 40 Bericht vom 24. August 1988 über die Stellung der Schweiz im euro- Parallelität der Rechtsentwicklung in der EU und in der Schweiz: päischen Integrationsprozess (BBl 1988 III 249), S. 347 f. (zit. Integra- ein Beitrag zur rechtlichen Tragweite der «Bilateralen Abkommen», tionsbericht). Forum Europarecht Band 24, Zürich 2012, S. 98 f.; Andreas Glaser, 41 Integrationsbericht (Fn. 40), S. 347 f. Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» und institutionelles Rahmenabkommen CH-EU, sui generis 2021 249
sollte eine grösstmögliche Mitwirkung der Schweiz am Aktualisierungen» der Marktzugangsabkommen ermög- europäischen Integrationsprozess in einem sektoriellen licht würden.46 Was dies im Detail zu bedeuten hat, kann Modus sichergestellt werden. Insbesondere genannt wird bis zu einem gewissen Grad wiederum der verworfene dabei die Idee des Aufbaus eines Systems «frühzeitiger Entwurf aufzeigen. Information und Abstimmung».42 Die politischen Aus- sichten auf den Abschluss eines solchen vertiefenden, Zunächst gilt das verworfene Abkommen gem. Art. 2 E- 22 institutionalisierenden Vertragssystems bewertet der InstA für fünf sektorielle Bereiche: freier Personenver- Bundesrat damals als «günstig».43 kehr, Luftverkehr, Schienen- und Strassenverkehr, tech- nische Handelshemmnisse und landwirtschaftliche Er- 20 Dass die EU im Grundsatz eine vertiefte institutionali- zeugnisse. Hernach ist das Abkommen als Rahmenord- sierte Zusammenarbeit mit der Schweiz ebenso als wün- nung nach Art. 2 E-InstA auf sämtliche neu abzuschlies- schenswert erachtet, zeigen verschiedene Schlussfolge- sende Marktzugangsübereinkommen anwendbar. Eine rungen bzw. Erklärungen des Rates sowie des Europäi- automatische Rechtsübernahme sieht das Abkommen schen Parlamentes, gemäss welchen eine Weiterführung dabei aber nicht vor; die Schweiz hätte nach Art. 10 bzw. und Vertiefung des bilateralen Weges auch eine Institu- Art. 14 EInstA die Möglichkeit gehabt, gewisse Regelun- tionalisierung der Beziehungen zwischen der Schweiz gen nicht zu übernehmen, wobei allerdings Ausgleichs- und der EU anvisiert werden müsse. Mit Blick auf den massnahmen möglich geblieben wären. Der Umfang bzw. Abschluss weiterer Abkommen herrscht in den europäi- der Inhalt der Ausgleichsmassnahmen würden jedoch, schen Institutionen die Ansicht, weitere bilaterale Ver- anders als unter der gegenwärtigen Rechtslage, nicht träge seien ohne den Abschluss und das Inkrafttreten einseitig durch die EU bestimmt, sondern durch ein un- eines institutionellen Abkommens nicht denkbar.44 abhängiges Schiedsgericht festgelegt (Art. 10 Abs. 6 E- InstA) und wären auch nach ihrem Inkrafttreten noch 21 Wie die Weiterführung dieser Entwicklung angesichts gerichtlich überprüfbar (Art. 10 Abs. 7 E-InstA).47 des jüngst gefällten bundesrätlichen Entscheides aus- sehen wird, ist nicht absehbar. Wird vom verworfenen Ebenso wird in Art. 9 E-InstA ein Streitbeilegungsverfah- 23 Entwurf ausgegangen, wäre ein institutionelles Abkom- ren bei unterschiedlichen Rechtsauffassungen zwischen men als Weiterführung des bilateralen Wegs zu sehen.45 den Parteien in Bezug auf die Auslegung der Verträge und Ein Abkommen dieser Art würde sodann eine institutio- des InstA selbst vereinbart.48 Hierfür wurde ein System nell-konzeptionelle «Klammer» um einige der sektorspe- erdacht, welches weiterhin ohne jede Form eines «Vor- zifischen Abkommen bilden, indem für eine Reihe der abentscheidungsverfahrens» über die Auslegung der Ab- geltenden Marktzugangsabkommen übergreifend ge- kommensinhalte auskommt. Dem Bundesgericht kommt meinsame Fragen geklärt würden. Ebenso würde ein Rah- in diesem Konzept seine herkömmliche Rolle als letzt- menabkommen die konzeptuelle Basis für weitere bila- instanzliches Gericht zu. Hierbei werden die schweizeri terale Übereinkommen zwischen denselben Parteien schen Gerichte dazu verpflichtet, die Rechtsprechung des bilden und stellte damit das Fundament für die Weiter- EuGH zur Auslegung der Abkommen «laufend» zu über- führung des bilateralen Wegs dar, indem «dynamische nehmen, was jedoch keiner Zeitenwende in der Rechts- anwendung gleichkäme, sondern im Gegenteil weitest- gehend der bundesgerichtlichen Praxis entspricht.49 Bei 42 Integrationsbericht (Fn. 40), S. 347. Streitigkeiten über die Auslegung der Verträge kommt es 43 Integrationsbericht (Fn. 40), S. 349. gemäss Protokoll 3 zum E-InstA zu einem Verfahren vor 44 Zum Ganzen: Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerung des Rates zu einem homogenen erweiterten Binnenmarkt und den Be- einem Schiedsgericht, falls Verhandlungen über die Aus- ziehungen der EU zu nicht der EU angehörenden westeuropäischen legung im Gemischten Ausschuss scheitern. Das Schieds- Ländern vom 16. Dezember 2014 (16583/14), Rz. 44; Entschliessung gericht ist nach Art. 10 Abs. 3 EInstA und Protokoll 3 des Europäischen Parlamentes vom 9. September 2015 zu dem The- ma EWR-Schweiz: Hindernisse bei der umfassenden Verwirkli- Art. III 9 dazu verpflichtet, Auslegungsfragen, die sich chung des Binnenmarktes (2017/C 316/19), S. 16; vgl. Oesch, Europa- recht Band I (Fn. 10), N 956 ff. 45 Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), Entwurf vom 23. November 2018 für ein Institutionelles Rah- 46 Vgl. EDA, Institutionelles Abkommen Schweiz-EU: Das Wichtigste menabkommen (Abkommen zur Erleichterung der bilateralen Be- in Kürze, 7. Dezember 2018. ziehungen zwischen der Europäischen Union und der Schweizeri- 47 Thomas Cottier, Die Souveränität und das institutionelle Rah- schen Eidgenossenschaft in den Bereichen des Binnenmarkts, an menabkommen, SJZ 2019, S. 345. denen die Schweiz teilnimmt; fortan E-InstA); vgl. zur Notwendig- keit der institutionellen Reform und der Dynamisierung der Ver- 48 Astrid Epiney / Sian Affolter, das Institutionelle Abkommen und träge Thomas Cottier et al., Die Rechtsbeziehungen der Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie, Jusletter vom 11. März 2019, S. 30; Tho- und der Europäischen Union, Bern 2014, S. 576; Matthias Oesch / mas Cottier, Der Rechtsschutz im Rahmenabkommen Schweiz — Gabriel Speck, Das geplante institutionelle Abkommen Schweiz- EU, in: Epiney /Hehemann/Zlatescu (Hrsg.), Jahrbuch Europarecht EU und der EuGH, in: Epiney/Hehemann (Hrsg.), Schweizerisches 2018/2019, Bern et al. 2019, S. 362. Jahrbuch für Europarecht 2016/2017, Bern et al. 2017, S. 252 ff. 49 Cottier, Souveränität (Fn. 47), S. 352. Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» und institutionelles Rahmenabkommen CH-EU, sui generis 2021 250
auf binnenmarktrechtliche Begriffe des europäischen gewissermassen non sequitur, durch die Überzeugung Rechts beziehen, dem EuGH vorzulegen.50 von der Existenz eines Brussels-Effect geleitet. Eine kon- sequent verfolgte Angleichung der schweizerischen Rechts- ordnung an das Unionsrecht sollte die voraussehbaren 3. Einordnung des E-InstA unter Zuhilfenahme Marktnachteile für private Akteure wo immer möglich des Brussels-Effect vorbeugen.53 Die Europakompatibilität wird aus dieser a) Ausgangslage: Theoretische Einordnung der Erkenntnis heraus zu einem Grundsatz der Rechtset- Bilateralen Verträge zung erhoben, welcher «die schweizerische Rechtsord- 24 Der Bundesrat spricht sich bereits in seinem Integrati- nung als politisches Leitmotiv in ihrer ganzen Breite onsbericht aus dem Jahr 1988 aus Gründen der volks- durchdringt».54 Bestärkt wurde die Schweiz in ihrer Poli- wirtschaftlichen Notwendigkeit für eine weitergehende tik der Europakompatibilität «faute de mieux»55 durch Kooperation mit der Union aus und hält fest, dass das EWR-Nein der schweizerischen Stimmbevölkerung «die Qualität des Produktionsstandorts und Arbeitsplat- im Dezember 1992.56 zes Schweiz [...] massgeblich davon abhängen [wird], wie weit es uns gelingt, unsere Rechtssetzung europafreund- Die eben dargelegte grundsätzliche Erkenntnis schlägt 26 lich zu gestalten […]. Unser Ziel muss sein, in Bereichen sich auch nach dem Integrationsbericht von 1988 und von grenzüberschreitender Bedeutung (und nur dort) dem EWR-Nein von 1992 in verschiedenen Formen des eine grösstmögliche Vereinbarkeit unserer Rechtsvor- politischen Handelns der Schweiz nieder; einerseits schriften mit denjenigen unserer europäischen Partner durch den sog. autonomen Nachvollzug,57 wo die Pro- zu sichern.»51 gramme SWISSLEX und EUROLEX entworfen wurden, andererseits in völkerrechtlichen Verträgen mit der Uni- 25 Die schweizerische Politik der Europakompatibilität, wie on, in denen eine sektorielle Integration der Schweiz in sie der Integrationsbericht 1988 propagiert, nimmt damit den europäischen Binnenmarkt ermöglicht wurde.58 Bradfords Analyse in ihren Auswirkungen bereits vor- neweg, da sie u.A.52 auf der Erkenntnis beruht, dass für Als gezielter Ausgleich der «Nachteile des Abseitsste- 27 die schweizerische Volkswirtschaft eine unterbleibende hens»59 und damit als Resultat einer schweizerischen oder mangelhafte Angleichung an das Unionsrecht in ver- Reaktion auf den festgestellten Brussels-Effect sind also schiedenen Bereichen zu markanten Wettbewerbsnach- auch die verschiedenen aussenpolitischen europapoliti- teilen für private Marktteilnehmer:innen führen würde. schen Massnahmen der Schweiz ab 1988 zu lesen. Dies Das Bestreben zur Europäisierung entspricht als schwei- zerische Rechtssetzungsmaxime damit einer zutreffen- 53 Oesch, Working Paper (Fn. 52), S. 29. den Analyse des Einflusses des Brussels-Effect auf die 54 Oesch, Working Paper (Fn. 52), S. 29; mit Verweis auf Daniel Schweiz, bevor diese Theorie überhaupt abstrakt formu- Thürer, Europaverträglichkeit als Rechtsargument. Zu den Wegen und Möglichkeiten schweizerischer Rechtsanpassung an die neue liert wurde. Die schweizerischen Institutionen werden Integrationsdynamik der Europäischen Gemeinschaft in: Haller/ insofern in der Europapolitik also bereits seit längerem, Müller/Kölz/Thürer (Hrsg.), Im Dienst an der Gesellschaft, Fest- schrift für Dietrich Schindler zum 65. Geburtstag, Basel et al. 1989, S. 561. 50 Zum Ganzen Stephan Breitenmoser / Simon Hirsbrunner, Der 55 Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 892. Entwurf für ein Institutionelles Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU: offene Fragen im Schnittpunkt zwischen Euro- 56 Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 892; vgl. zur historischen Auf- pa- und Völkerrecht, in: Epiney/Zlatescu (Hrsg.), Schweizerisches arbeitung Urs Altermatt, Die Schweiz in Europa: Antithese, Mo- Jahrbuch für Europarecht 2019/2020, Bern et al. 2020; Cottier, dell oder Biotop?, Frauenfeld et al. 2011; Justynia Bronska, Die Souveränität (Fn. 47), S. 352; Cottier, Rechtsschutz (Fn. 48), S. 362; Schweiz in Europa: Mittendrin, doch aussen vor? Auswirkungen kritisch zur Funktion dieses Schiedsgerichts Carl Baudenba- eines EU-Beitritts im Kontext der Erfahrungen Österreichs, Mar- cher, Rechtsgutachten zur Streitentscheidungsregelung des InstA burg 2009; Fritz Breuss / Thomas Cottier / Peter-Christian zu Handen der Kommssion des Nationalrates für Wirtschaft und Müller-Graff, Die Schweiz im europäischen Integrationsprozess, Abgaben (WAK) vom 6. Februar 2019, sowie Hansueli Schöchli, Basel 2008; Thomas Cottier, Die Schweiz und Europa: Herausfor- Dient das Schiedsgericht nur der Schweizer Psychohygiene?, NZZ derungen im Vierten Kreis der Integration, in: Neuhaus (Hrsg.), Eu- vom 13. Dezember 2018, S. 25. ropa zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Erlangen 2014, S. 141 ff.; Jakob Kellenberger, Wo liegt die Schweiz?, Zürich 2014. 51 Integrationsbericht (Fn. 40), S. 380; vgl. weiter Bericht vom 29. No- vember 1993 über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren 57 Zum Begriff etwa Epiney (Fn. 14), S. 11 ff.; Oesch (Fn. 14), S. 13 ff.; (BBl 1994 I 153); eingehend Philipp Wyss, Europakompatibilität und Maiani (Fn. 14), S. 29 ff.; Amstutz (Fn. 14), S. 235; Cottier (Fn. 14), Gesetzgebungsverfahren im Bund, AJP 2001, S. 717 ff. S. 849; Botschaft vom 24. Februar 1993 über das Folgeprogramm nach der Ablehnung des EWR-Abkommens (BBl 1993 I 805); Heinrich 52 Neben einem präventiven Ausgleich der marktbezogenen Nachtei- Koller, Der Schweizerische Gesetzgeber vor der internationalen le ist ausdrücklich zu erwähnen, dass die Politik der Europaver- Herausforderung: Erfahrungen mit «EUROLEX» — «SWISSLEX» — träglichkeit zumindest zu Beginn der Neunzigerjahre auch das Ziel «GATTLEX», ZBI 1994, S. 250 ff.; Roger Mallepell, Der Einfluss verfolgte, eine möglichst europakompatible Ausrichtung der des Gemeinschaftsrechts auf die schweizerische Gesetzgebung schweizerischen Rechtsordnung zu bewahren, um für die Schweiz 1993 — 1995, Bern 1999, S. 18 ff.; vgl. zum Ganzen Oesch, Working alle «integrationspolitischen Optionen, insb. ein möglicher EWR- Paper (Fn. 52), S. 14. oder EG-Beitritt», offenzuhalten; vgl. Matthias Oesch, Die Euro- päisierung des schweizerischen Rechts, Working Paper No 2011/05| 58 Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 935. Oktober 2011/70, S. 29. 59 Oesch, Working Paper (Fn. 52), S. 29. Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» und institutionelles Rahmenabkommen CH-EU, sui generis 2021 251
betrifft insbesondere den Abschluss der Bilateralen Ver- Zweitens: Der Brussels-Effect führt nach der Deutung 29 träge. Diese sind vor dem Hintergrund der Theorie des Bradfords gemeinhin unilaterale Änderungen des Ver- Brussels-Effect auf zwei verschiedene Weisen zu lesen: haltens privater Marktteilnehmer:innen herbei, wobei eine Angleichung an EU-Regulatorien beabsichtigt wird. 28 Erstens: Die Verträge garantieren für die Unternehmen Die Bilateralen Abkommen zeigen jedoch, dass dies in der Schweiz eine — jeweils sektoriell abgesicherte — nicht die einzige Form ist, in welcher der Brussels-Effect Teilnahme an jenem Markt, von dem der beschriebene zum Tragen kommen kann: Auch klassische völkerrecht- Effekt ausgeht. Damit verändert sich auch die Rolle der liche Verträge können Ausdruck eines extraterritorialen schweizerischen Volkswirtschaft als Objekt des Brus- Drucks des EU-Rechts sein. Bezeichnet werden kann dies, sels-Effect. Der bilaterale Weg verhindert einen unge- gerade im Zusammenhang mit den Bilateralen Abkom- bremsten, rohen Brussels-Effect, indem er die Schweiz in men, als «Brussels-Effect sui generis» oder «Brussels-Effect den europäischen Markt integriert und damit die pas- via Staatsvertrag». Wie dargelegt basiert der Abschluss sive Ausgangslage der Schweiz in Bezug auf den Effect der verschiedenen Bilateralen Abkommen einerseits auf möglichst zugunsten der schweizerischen Marktteilneh- der Überzeugung, eine bilaterale Annäherung an die EU mer:innen ausgestaltet. Dies geschieht durch den Abbau sei unter dem Eindruck einer bereits tiefgehend euro- von Handelshemmnissen und durch geregelte Verhält- päisierten Rechtsordnung eher möglich. Andererseits nisse mit der EU, welche für die schweizerische Volks- dient die bilaterale Kooperation mit der EU auch aus- wirtschaft ein hohes Mass an Rechts- und Planungssi- drücklich dem Ausgleich von Nachteilen, die schweize- cherheit gewährleisten.60 Die Bilateralen Verträge wirken rische Unternehmen in ihrer Marktposition erleiden, unter dieser Sicht kanalisierend. So ist der volkswirt- weil die Schweiz nicht Teil des EU-Markts ist (bzw. war). schaftliche Effekt einer bilateralen Kooperation mit dem Die Schweiz geht also auch völkerrechtliche Verpflich- EU-Markt in der Praxis beträchtlich. Einer Studie des BAK tungen mit der EU ein, weil die wirtschaftliche Realität Economics zufolge würde sich das BIP ohne die bilatera- diesen Schritt nahelegt. Die Bilateralen Abkommen sind len Verträge jedes Jahr graduell verringern und bis zum also selbst sowohl Instrument zur Kontrolle bzw. Ab- Jahr 2035 um 7,1 % sinken, was einer entgangenen Wirt- schwächung des Brussels-Effect (wie unter 1. dargelegt), schaftsleistung von 630 Milliarden Franken entsprechen andererseits aber auch selbst das Resultat der Wirkung würde. In derselben Studie wird auch errechnet, welche des gleichen Effekts. individuellen ökonomischen Vorteile die bilateralen Ver- träge pro Kopf einbringen: Ohne die Bilateralen I würde Die Bilateralen I beabsichtigen wie dargelegt eine «schritt- 30 das persönliche Einkommen in der Schweiz im Jahr 2025 weise und kontrollierte gegenseitige Marktöffnung» zwi- um CHF 3400 tiefer liegen als unter einer Beibehaltung schen der Schweiz und der Europäischen Union. Auch der Verträge.61 Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung wie- die Bilateralen II sind auf die «fortschreitende Integrati- derum befasst sich mit der Frage, welche Regionen bzw. on der Schweiz in den Binnenmarkt unter Schaffung ei- Staaten innerhalb des europäischen Binnenmarkts am ner möglichst parallelen Rechtslage»63 ausgerichtet; ihre meisten vom Modell des Binnenmarkts profitieren. Auch Regelungsgegenstände sind jedoch stets sektorieller Na- hier liegt die Schweiz als «teilintegrierte» Nation an der tur; die Schweiz ist in bestimmten Bereichen in den eu- Spitze (und damit vor sämtlichen Mitgliedstaaten der ropäischen Binnenmarkt integriert. Im Bereich der vier Union); der Zugang zum Binnenmarkt sorgt gemäss dem Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts besteht eine weit- Modell dieser Studie für eine Erhöhung des jährlichen gehende Liberalisierung; die Schweiz ist weitgehend in Einkommens um 2914 Euro.62 Wie die dargelegten Zah- den freien Warenverkehr mit Industrieprodukten integ- len klar ausdrücken, gelingt es der Schweiz unter «Zu- riert. Im Bereich der Dienstleistungen bestehen (trotz hilfenahme» der Bilateralen Verträge weitgehend, den dem Fehlen eines umfassenden Dienstleistungsabkom- Brussels-Effect damit für schweizerische Unternehmen mens64) verschiedene Erleichterungen im grenzüber- zu verringern, indem für diese Unternehmen geringere schreitenden Bereich (insb. was kurzzeitige Erbringun- Handelshemmnisse bestehen. Das System der Bilatera- gen von Dienstleistungen angeht) im Freizügigkeitsab- len Verträge vermag es sogar, die «passive Ausgangslage» kommen vom 21. Juni 1999 (FZA).65 Das FZA erfasst auch der schweizerischen Unternehmen ökonomisch in einen eine weitgehende Niederlassungs- und die Arbeitneh- Mehrwert umzumünzen. merfreizügigkeit für natürliche Personen. Für juristische Personen bestehen im Versicherungsabkommen und dem 63 Oesch, Working Paper (Fn. 52), S. 16. 64 Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 904. 65 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einer- 60 Vgl. EDA, Das Wichtigste in Kürze (Fn. 46). seits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten 61 Analyse Economiesuisse (Fn. 32). andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (Freizügigkeits- 62 Analyse Economiesuisse (Fn. 32). abkommen, FZA; SR 0.142.112.681). Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» und institutionelles Rahmenabkommen CH-EU, sui generis 2021 252
Luftverkehrsabkommen weitere Erleichterungen. Damit b) Theoretische Einordnung des InstA unterscheidet sich die Rechtsposition der Schweiz mar- kant von verschiedenen Drittstaaten und den Marktpo- Die Idee eines institutionellen Abkommens ist mit Blick 32 sitionen der dort domizilierten Staaten. In anderen Be- auf die Ausführungen zu den Bilateralen Abkommen als reichen, die durch keines der sektoriellen Abkommen Fortbildung eines sektoriellen Integrationsvorgangs zu erfasst sind, unterscheidet sich die Rechtsstellung der sehen. Der auf den Brussels-Effect ausgleichend wirken- Schweiz jedoch kaum von derjenigen von Drittstaaten, de bilaterale Weg wird einerseits gesichert, andererseits etwa im Bereich der Agrarprodukte oder des Wettbe- aber auch vertieft, indem die Schweiz sich etwa stärker in werbsrechts. Mit dieser sich sektoriell von der Rechts- den Gesetzgebungsprozess der Union einbringen könn- position anderer Drittstaaten abhebenden Situation der te68 oder die Anordnung von wirtschaftlichen Sanktionen Schweiz geht auch eine bloss insular kanalisierte Wir- gegen die Schweiz unabhängig beurteilt werden würde.69 kung des Brussels-Effect einher.66 Die Schweiz nimmt in begrenzten Bereichen an jenem Markt teil, von welchem Ein InstA, so weiterhin die Idee, würde verschiedene 33 die Impulse für den Brussels-Effect ausgehen. In dieser Aspekte des sektoriellen Marktzugangs der Schweiz zu vertraglich garantierten sektoriellen Marktöffnung zum jenem Markt regeln, der als Instrument zur Ausübung ex- (im Sinn des Brussels-Effect) wirkenden Markt liegt nun traterritorialer Macht im Sinn des Brussels-Effect agiert. auch die Hauptunterscheidung der Rechtsstellung der Der beschriebene extraterritoriale Druck des EU-Rechts Schweiz nach Abschluss der Bilateralen von der Rechtsstel- bliebe damit in einen Rahmen eingebunden, welcher lung von Drittstaaten. Rechtssicherheit und Überschaubarkeit bietet. Ein solches Abkommen schafft für die Verträge, welche die schweize- 31 Während sich die Position der Schweiz gegenüber der rische Volkswirtschaft in den europäischen Binnenmarkt Europäischen Union unter Zuhilfenahme der Brussels- integrieren, einheitliche Regelungen in Bezug auf anwen- Effect-Theorie also so deuten lässt, stellt sich weiter die dungsbezogene Fragen, sichert eine unabhängige Über- Frage, wie die Schweiz gegenüber Drittstaaten am Brus- prüfung von Sanktionen und beteiligt die Schweiz stär- sels-Effect teilnimmt. Beantworten lässt sich dies unter ker am Zustandekommen des unionsrechtlichen Sekun- Zuhilfenahme der dargestellten Parameter des Brussels- därrechts.70 Ebenso legt es verbindliche Regelungen für Effect. Nach Bradford kommt der Brussels-Effect unter die Weiterführung und den allfälligen Ausbau des bilate- der Voraussetzung des Eintritts verschiedener Faktoren ralen Wegs fest. Damit würde der beschriebene ausglei- zustande: der Grösse des kontrollierten Marktes, der in- chende Effekt, welchen bereits die Bilateralen Verträge auf stitutionellen Kapazität zur Durchsetzung strikterer Re- die Auswirkungen des Brussels-Effect haben, verstetigt. gulatorien, einem unelastischen Ziel der Regulatorien und einer fehlenden Rentabilität der Differenzierung der Nur ein vertraglich garantierter Marktzugang sichert ab, 34 Produktion. Ebenso haben die Regulatorien inhaltlich dass die wirtschaftlichen Folgen des auf die schweizeri- dichter bzw. strikter zu sein als die Regulierungen ande- sche Volkswirtschaft ausgeübten ökonomischen Drucks rer vergleichbar attraktiver Märkte.67 Die Schweiz greift verkraftbar bleiben. Ein Rahmenabkommen verstetigt mit ihrer sektoriellen Teilnahme am EU-Binnenmarkt damit einen ökonomischen Effekt, welcher sich aus der nun verschiedentlich in diese Faktoren ein und verstärkt beschriebenen sektoriellen Marktintegration ergibt. sie: Einerseits vergrössert die sektorielle Integration der Schweiz den EU-Binnenmarkt um mehrere Millionen IV. Fazit überdurchschnittlich kaufkräftiger Konsument:innen. Die in den Bilateralen Abkommen festgehaltenen Pflich- Für Drittstaaten stellt sich die Frage, wie mit dem Brussels- 35 ten zur Durchsetzung des übernommenen EU-Besitz- Effect umzugehen ist. Je stärker die Volkswirtschaft eines standes (etwa im Bereich des Schengen-Acquis) erweitern Drittstaates mit dem europäischen Binnenmarkt verbun- zudem die institutionelle Kapazität der EU zur Regulie- den ist, desto drängender muss diese Frage erscheinen. rung via Staatsvertrag sektoriell auf den schweizerischen Wie dargelegt ist das politische Handeln der Schweiz in Markt. Die institutionelle Kapazität der EU zur Durch- verschiedenerlei Hinsicht geprägt von der Grundüber- setzung strikter Regulatorien wird in eine staatsvertrag- zeugung, eine regulierungsbezogene Anbindung an die liche Pflicht «übersetzt». Die Integration der Schweiz in Union stelle eine wirtschaftliche Notwendigkeit dar.71 den europäischen Binnenmarkt durch die Bilateralen Verträge verstärkt mit anderen Worten aus der Sicht von 68 Vgl. hierzu Cottier, Souveränität (Fn. 47), S. 345. Drittstaaten entsprechend den Brussels-Effect. 69 Vgl. Rz. 23. 70 Cottier, Souveränität (Fn. 47), S. 367. 71 Integrationsbericht (Fn. 40); Aussenpolitischer Bericht 2000, Prä- 66 Vgl. zum Ganzen auch Heinemann (Fn. 34), S. 15. senz und Kooperation. Interessenwahrung in einer zusammen- 67 Vgl. Rz. 7 ff. wachsenden Welt vom 15. November 2000 (BBl 2001 261). Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» und institutionelles Rahmenabkommen CH-EU, sui generis 2021 253
Mit Blick auf die Mittel, mit denen gemäss Bradfords Gesetzgebungsprozess gesichert. Eine Stärkung der Po- Theorie geopolitischer Einfluss ausgeübt wird, sind denn sition der Schweiz angesichts der unweigerlichen extra- auch Ansätze zum Abbau ökonomischer, rechtlicher und territorialen Wirkung des Unionsrechts lässt sich daraus technischer Hürden via Staatsverträge und damit ver- ableiten. Das gilt trotz der offenen Rechtsfragen, die sich bundene Harmonisierungsbemühungen für den Handel in Bezug auf das E-InstA stellen, etwa die fragliche Wei- mit Marktteilnehmer:innen aus dem europäischen Bin- tergeltung der Guillotineklausel aus den Bilateralen-I- nenmarkt denkbar. Der in seiner Intensität ungewöhn- Verträgen von 1999, oder die schwerliche Voraussehbar- liche extraterritoriale Einfluss, welchen die Union auf die keit der möglichen Sanktionen, falls die Schweiz sich im Schweiz ausübt, tritt die Schweiz mit einem klassischen Einzelfall gegen die Übernahme von EU-Recht ausspre- Handlungsinstrument der internationalen Zusammen- chen würde. Ebenso in die Kategorie der offenen Rechts- arbeit gegenüber: dem völkerrechtlichen Vertrag. fragen fällt die Unklarheit, nach welchen Massstäben die in Art. 10 Abs. 7 E-InstA festgehaltene Verhältnismässig- 36 Angesichts der aktuellen Diskussion um ein InstA macht keit bei Ausgleichsmassnahmen beurteilen lässt, die so- jedoch eine explizite Einordnung mithilfe von Bradfords wohl durch die EU als auch durch die Schweiz ergriffen Brussels-Effect-Theorie den politischen Handlungsbedarf werden können, falls den vertraglichen Verpflichtungen noch ein wenig deutlicher. Es lässt sich mit Blick auf das nicht nachgekommen wird.74 Gesagte festhalten, dass die Weiterführung des bilatera- len Wegs unter Klärung institutioneller und rechtsan- Letztlich muss nach einer Analyse der Auswirkungen des 37 wendungsbezogener Fragen die beste Lösung ist, die Brussels-Effect auf die Schweiz sowie der tiefgreifenden faktische wie die rechtliche Position der Schweiz im Ver- Folgen der schweizerischen Reaktion auf den Brussels- gleich zu anderen Drittstaaten zu stärken,72 da der «bi- Effect jedoch auch festgehalten werden, dass die Schweiz laterale Weg» eine wirtschaftliche Teilintegration zulässt, ihre Rolle im europäischen Binnenmarkt und in Europa ohne gleichzeitig «Abstriche an den Grundprinzipien des längerfristig grundsätzlich zu überdenken hat.75 Das Rah- schweizerischen Staatsverständnisses»73 zu erfordern. menabkommen, so zeigt die bundesrätliche Entschei- So hätte das E-InstA die Position gegenüber der EU unter dung,76 kann hierzu nach der Ansicht der politischen Ent- Beibehaltung der Integrationstiefe der schweizerischen scheidungsträger:innen keinen Abschluss bilden. Auch Volkswirtschaft durch ein vereinheitlichtes Streitbei- in dieser Frage wird Bradfords Theorie als Orientie- legungsverfahren gestärkt, sowie einen formalisierten rungshilfe dienen können. Prozess zur Anordnung von Ausgleichsmassnahmen und 74 Breitenmoser/Hirsbrunner (Fn. 50), S. 519. eine vertiefte Teilnahme der Schweiz am europäischen 75 Gl.M. ohne Erwähnung des Brussels-Effect Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 975. 72 Vgl. Rz. 33. 76 Vgl. Medienmitteilung des Bundesrates vom 26. Mai 2021 (Das Insti- 73 Oesch, Europarecht Band I (Fn. 10), N 974. tutionelle Abkommen Schweiz-EU wird nicht abgeschlossen). Raphael Dummermuth, Bradfords «Brussels-Effect» und institutionelles Rahmenabkommen CH-EU, sui generis 2021 254
Sie können auch lesen