EU-Verfassung reloaded: Wie Europa weiterdenken?
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Khleslplatz 12 A - 1120 Wien T +43-1-804 65 01 F +43-1-8040874 EU-Verfassung reloaded: Wie Europa weiterdenken? Resümee Politikberatung Europapolitik Freitag, 11. Mai 2007 Diplomatische Akademie Wien verfasst von DR. SUSAN MILFORD herausgegeben von DR. BRIGITTE MARCHER Für die EuropäerInnen sind vergleichbare Lebensverhältnisse mit Abstand der bedeutendste Faktor für die Zukunft Europas, gefolgt von der Einführung des Euro in allen Mitgliedstaaten und einer gemeinsamen Verfassung. Die Faktoren, die das Gefühl EuropäerIn zu sein, vermeintlich am meisten stärken, sind ein europäisches soziales Sicherungssystem, eine europäische Verfassung oder das Recht der BürgerInnen, an allen Wahlen des jeweiligen Mitgliedstaates, in dem sie leben, teilnehmen zu können. Im Raum steht die These, dass die Zukunft Europas abhängt von der Fähigkeit, auf diese Erwartungen einzugehen und die EuropäerInnen auf zukünftige Entwicklungen vorzubereiten. Daran knüpfen sich die Kernfragen des europäischen Projekts, zu deren Diskussion das Seminar einlädt: Welche Rolle kann der Verfassungsvertrag (noch) spielen? Welche Weichenstellungen erscheinen 50 Jahre nach den Römischen Verträgen und 2 Jahre nach der Verfassungskrise geboten und machbar? Was ist das Ziel der europäischen Integration aus heutiger Sicht? Welche Rolle sollte Europa in der Welt spielen? Wie sieht angesichts der Globalisierung die Zukunft des europäischen Sozial- und Wirtschaftsmodells aus? Wie definieren wir die Grenzen der Europäischen Union? Wie stärken wir Freiheit, Sicherheit und Recht? Wie finanzieren wir die Union? Referenten: JOACHIM FRITZ-VANNAHME, Leiter der Europa-Arbeit der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh; davor Korrespondent der ZEIT in Brüssel JOHANNES VOGGENHUBER, MEP seit 1995, Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz, Ko-Berichterstatter der Grundrechtscharta der EU, Mitglied im Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtscharta, Mitglied im Verfassungskonvent, stv. Vorsitzender im Ausschuss für konstitutionelle Fragen CHRISTINE STIX-HACKEL, Diplomatin im Außenministerium Wien (Expertin des Völkerrechtsbüros, Leiterin des EU- Rechtsdienstes, Mitwirkung bei den Verhandlungen über den EWR und EU Beitritt Österreichs, Prozessvertreterin der Republik Österreich vor dem EUGH), Mitglied des EUGH als Generalanwältin in Luxemburg (Okt. 2000 – Sept. 2006) OLIVER RATHKOLB, Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit; Kultur-, Demokratie- und Medien-Studien und Zeitprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien (2005 – 2007) ALBRECHT ROTHACHER, Botschaftsrat an der Delegation der Europäischen Kommission bei den Internationalen Behörden in Wien, Buchautor u.a. „Mythos Asien? Licht- und Schattenseiten einer Region im Aufbruch“ (November 2006), „Die Rückkehr der Samurai. Japans Wirtschaft nach der Krise“ (Jänner 2007) FRIEDL WEISS, Professor an der Universität Wien, Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung, davor Universität Amsterdam (1992 – 2006), London School of Economics (1979–1992); Rechtsberater und Konsulent von EFTA und GATT (Genf) CASPAR EINEM, NR, Europasprecher der SPÖ, vom Nationalrat delegiertes Mitglied zu beiden EU-Konventen (Grundrechte; Vertrag für eine europäische Verfassung); Präsident des Europäischen Zentralverbandes der öffentlichen Wirtschaft (CEEP); Buchautor u.a. „Die Quadratur der Sterne. So schrieben wir Europas Verfassung und was daraus geworden ist.“(2006) Moderatoren: HEINRICH NEISSER, Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, davor über vier Jahrzehnte aktiver Politiker (ÖVP) – zuletzt in der Funktion des Zweiten Nationalratspräsidenten; Präsident der österreichischen Forschungsgemeinschaft MANFRED SCHEICH, Botschafter i.R., 1993/94 Chefverhandler für Österreichs Beitritt zur EU auf Botschafterebene; 1995 bis 1999 Ständiger Vertreter Österreichs bei der EU in Brüssel; Mitglied der Reflexionsgruppe im Vorfeld des Amsterdamer Vertrags und Chefverhandler dieses Vertrags sowie der Agenda 2000; im Jahre 1999 Mitglied der "Independent Commission for the Review of the Institutions and Procedures of the EU". Seit 2000 Lektor für Europapolitik an der Universität Innsbruck. Aktuelle Publikation: Tabubruch. Österreichs Entscheidung für die Europäische Union (Böhlau, Wien 2005) RÜCKMELDUNGEN/ NÄHERE INFORMATION: Dr. Brigitte Marcher, Renner-Institut, Bereich Europa (EU) T 01-804 65 01 DW 24; F 01-804 08 74; marcher@renner-institut.at 1
EU-Verfassung reloaded: Wie Europa weiterdenken? Für die EuropäerInnen sind vergleichbare Lebensverhältnisse mit Abstand der bedeutendste Faktor für die Zukunft Europas, gefolgt von der Einführung des Euro in allen Mitgliedstaaten und einer gemeinsamen Verfassung. Die Faktoren, die das Gefühl EuropäerIn zu sein, vermeintlich am meisten stärken, sind ein europäisches soziales Sicherungssystem, eine europäische Verfassung oder das Recht der BürgerInnen, an allen Wahlen des jeweiligen Mitgliedstaates, in dem sie leben, teilnehmen zu können. Im Raum steht die These, dass die Zukunft Europas abhängt von der Fähigkeit, auf diese Erwartungen einzugehen und die EuropäerInnen auf zukünftige Entwicklungen vorzubereiten. Daran knüpfen sich die Kernfragen des europäischen Projekts, zu deren Diskussion das Seminar einlädt: Welche Rolle kann der Verfassungsvertrag (noch) spielen? Welche Weichenstellungen erscheinen 50 Jahre nach den Römischen Verträgen und 2 Jahre nach der Verfassungskrise geboten und machbar? Was ist das Ziel der europäischen Integration aus heutiger Sicht? Welche Rolle sollte Europa in der Welt spielen? Wie sieht angesichts der Globalisierung die Zukunft des europäischen Sozial- und Wirtschaftsmodells aus? Wie definieren wir die Grenzen der Europäischen Union? Wie stärken wir Freiheit, Sicherheit und Recht? Wie finanzieren wir die Union? EUropa in guter Verfassung? HEINRICH NEISSER (Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, davor über vier Jahrzehnte aktiver Politiker (ÖVP) – zuletzt in der Funktion des Zweiten Nationalratspräsidenten; Präsident der österreichischen Forschungsgemeinschaft) unterstrich in den einleitenden Worten seiner Moderation, dass die „Nachdenkpause viel mehr durch ein Schweigen charakterisiert“ sei. Vor allem stelle sich laut Neisser derzeit die Frage, wie man den Karren wieder flott machen könne. Angela Merkels Bemühungen seien bemerkenswert und es sei zu hoffen, dass der Fahrplan bis Ende Juni eingehalten werden könne. Die Diskussion über die Bezeichnung „Verfassung“ (- in der „Berliner Erklärung“ kommt das Wort Verfassung nicht mehr vor -) sei legitim, aber die Diskussion über Inhalte und die institutionelle Struktur sei ebenfalls wichtig, gab Neisser eingangs der Veranstaltung zu bedenken. „Es ist wichtig und richtig, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen“, so Neisser. 2
JOACHIM FRITZ VANNAHME (Leiter der Europa-Arbeit der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh; davor Korrespondent der ZEIT in Brüssel) bezeichnete sich selbst eher als „resignativ“, doch sei Bertelsmann ein entschiedener Verfechter der Verfassung. Es handle sich weniger um einen Verfassungsvertrag als um eine Bastlerarbeit. Der Begriff werde verschwinden, ebenso der Paragraph über die Symbole. Ziele der Regierungskonferenz seien folgende: 1. Möglichkeit des Minimalkonsens, 2. Handlungsfähigkeit der EU-27, 3. eine Runde weiter zu kommen, 4. Vermeidung der Finalitätsdebatte; Man werde bei der Regierungskonferenz im Sinne der Fehler- und Konfliktvermeidung agieren. Dies sei kein Schaden, aber ob das im Sinne des Fortschritts sei, lasse Vannahme lieber dahingestellt. JOHANNES VOGGENHUBER (MEP seit 1995, Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz, Ko-Berichterstatter der Grundrechtscharta der EU, Mitglied im Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtscharta, Mitglied im Verfassungskonvent, stv. Vorsitzender im Ausschuss für konstitutionelle Fragen) kritisierte, dass das Feilschen im Vordergrund stünde. Man balge um Begriffe und es sei ein Krieg um die Inhalte entbrannt. Es habe eine „Pause vom Nachdenken“ stattgefunden, ein Versuch um Distanzgewinnung von den Referenden in den Niederlanden und in Frankreich. Angela Merkel und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sei ein Glücksfall. Merkel sei „eine Europäerin auf der Bühne Europas“, so Voggenhuber. Es werden die Ergebnisse von Amsterdam und Nizza aus der Taufe gehoben, das Versagen vergessen, das Parlament an der Debatte nicht beteiligt. Alle Elemente der Staatlichkeit und Supranationalität könnten nicht beseitigt werden. Man wolle die Macht der Regierungen aufrecht erhalten und den Ruf nach Demokratie unterbinden. Die Staatlichkeit sollte nicht abgeschafft, aber gezähmt und zivilisiert werden. Wenn die Macht auftritt, müsse auf die Begriffe sehr wohl geachtet werden. Es müsse auf eine Klarheit der Begriffe bestanden werden. CHRISTINE STIX-HACKEL (Diplomatin im Außenministerium Wien, Expertin des Völkerrechtsbüros, Leiterin des EU-Rechtsdienstes, Mitwirkung bei den Verhandlungen über den EWR- und EU-Beitritt Österreichs, Prozessvertreterin der 3
Republik Österreich vor dem EUGH, Mitglied des EUGH als Generalanwältin in Luxemburg, Okt. 2000 – Sept. 2006) weiß als Juristin um die Exaktheit von Begrifflichkeiten. Als Diplomatin sei ihr die Konsensfindung, die an Begrifflichkeiten hänge, die wiederum Erfolg und Scheitern nach sich ziehen würden, sehr wohl bekannt. Der Krieg um die Begrifflichkeit und Worte sei oft eine Tätigkeit, um dem Ziel zu entkommen. Je heterogener die Mitgliedstaaten seien, umso problematischer sei die Übereinstimmung. Der Begriff der Verfassung sei nicht so wichtig. Der Vertrag bedeute eine Konsolidierung vorhandener Verträge mit Neuerungen. Die Erhaltung der Charta der Grundrechte sei besonders wichtig, auch die Frage der Subsidiarität. OLIVER RATHKOLB, Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit; Kultur-, Demokratie- und Medien-Studien und Zeitprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien (2005 – 2007), verwies auf die Perspektive der Symbole, die zu heftigen Auseinandersetzungen im europäischen Raum führten. Es handle sich dabei um eine zentrale Frage in Richtung europäischer Identität. Der Europatag sei kein nationaler Erinnerungstag. Europa habe kaum Symbole. Im kollektiven Gedächtnis des Nationalstaates habe sich nichts bewegt, das sei ein Faszinosum. Die nationalstaatlichen Regierungen hätten kein Interesse an Änderungen in den Köpfen der Menschen. Interessant sei die Statistik der öffentlichen Debatte um die Verfassung in den Leitmedien und die Frage nach den christlich-jüdischen und arabischen Wurzeln der Geschichte Europas – als Abgrenzung gegen den Islam, die Türkei oder die USA. Die Tendenzen in Europa gingen in die Richtung, sich g e g e n etwas zu definieren. Die Verfassung könne dem entgegen wirken. Es gebe eine „Suche nach einer national aufgeladenen europäischen Sinnformel“. Dies sei eine „komplexe Situation in Europa“. Die Erinnerungen an den II. Weltkrieg seien abhanden gekommen (Versuch, Lehren zu ziehen), ebenso der Kalte Krieg. Es gebe eine „Suche nach einem Identitätsanker“. Die österreichische Identität basiere vor allem auf dem Neutralitätsgesetz. Rathkolb ortet eine Motivation, die Verfassung zu marginalisieren. Die Diskussion über Symbole stuft er als lächerlich ein. Abschließend bemerkte der Historiker, dass die Nationalstaaten von der europäischen Integration bisher profitiert hätten. NEISSER merkte an, dass das „Europa der Werte zu einem Europa der Wörter“ geworden sei. Die Suche nach Symbolen sei charakteristisch für den Versuch, aus 4
der Wirtschaftsunion eine geistige Einheit zu machen. VANNAHME hält die Diskussion über die Symbole für unterfüttert. Der Kalte Krieg sei noch nicht so lange her. Merkel, Barroso oder Solana hätten diesbezüglich spannende Geschichten zu erzählen. Vannahme zitierte Merkel, die sagte: „Ich bin zwar in Europa geboren worden, aber in der EU bin ich eine Jugendliche.“ VOGGENHUBER merkte an, dass der Nationalstaat in vielen Bereichen bereits aufgehört habe Staat zu sein, aber die EU in vielen Bereichen begonnen habe, Staat zu sein. Das wolle man nicht sehen. Es sei eine extreme Verwahrlosung von Demokratie und Rechtsstaat zu befürchten. Es gebe einen „Tanz wischen Diplomatie und Recht“. Einem Rechtstext solle nicht mit Konsens und Package-Deals entgegnet werden. An Rechtstexte werde ein Anspruch gestellt. Es brauche einen großen Sprung, um die Kluft zu den Bürgern zu überwinden. STIX-HACKL verwies darauf, dass nicht jeder diversen Begriffen dieselbe Bedeutung zuweise (z.B. nationale Identität). VOGGENHUBER unterstrich, dass ein „Mini-Treaty“ zwar das Problem der Effizienz lösen könne, aber nicht die Legitimation. Sarkozy werde auf dem internationalen bzw. europäischen Parkett anders agieren als im Wahlkampf, nicht so populistisch. Man könne und solle Politiker nicht an ihren Wahlkampfreden messen, so Voggenhuber. VANNAHME zog im Vergleich zwischen Europa und den USA eine positive Bilanz: „Europa ist enorm schnell“. NEISSER verwies abschließend auf den Kampf zwischen Supranationalismus und Intergouvernementalismus. Die Zielvorstellung sei es, eine europäische Demokratie zu schaffen. Der Weg dorthin sei prioritär. Man brauche Patriotismus und Identität (Habermas). Die EU zwischen Kontinentalisierung, Lokalisierung und Globalisierung Die Kernaussage ALBRECHT ROTHACHERS (Botschaftsrat an der Delegation der Europäischen Kommission bei den Internationalen Behörden in Wien, Buchautor u.a. „Mythos Asien? Licht- und Schattenseiten einer Region im Aufbruch“, November 2006, „Die Rückkehr der Samurai. Japans Wirtschaft nach der Krise“, Jänner 2007) lautete in seinem Statement, dass die Mittel bzw. Instrumente der Europäischen 5
Union auf den gemeinsamen Werten und den „soft skills“ beruhten. Die Lösung des Dilemmas liege in der Kerngemeinschaft. Rothlacher zeigte sich optimistisch, dass die Beistandspflicht im Verfassungsvertrag bleiben werde. FRIEDL WEISS, Professor an der Universität Wien, Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung, davor Universität Amsterdam (1992– 2006), London School of Economics (1979–1992); Rechtsberater und Konsulent von EFTA und GATT (Genf), hielt einen hochinteressanten Kurzvortrag, der in fünf Abschnitte bzw. Teile gegliedert war und hier im Originalwortlaut nachzulesen ist: I. DIE BEGRIFFE Meine sehr verehrten Damen und Herren. Nach meiner Auffassung und für Zwecke meines Kurzvortrages liegen den drei im reizvollen Titel dieses Themenblocks verknüpften Raumgestaltungsprinzipien zwei grundsätzlich verschiedene Konzepte zugrunde. Unter „Kontinentalisierung“ verstehe ich die Tatsache einer fortschreitenden Ausbreitung des „acquis communautaire“, also des gemeinsamen Rechtsbestands der Gemeinschaft, auf dem gesamten wie auch immer zu definierenden Kontinent Europa. In den Begriffen „Lokalisierung“ und „Globalisierung“ sehe ich zwei gegensätzliche Modelle der „public choice“ für die sozio-ökonomische und kulturelle Gestaltung unserer Gesellschaft. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an ein Dokument Romano Prodis, des früheren Präsidenten der Europäischen Kommission, das den Titel trug „Europe – the dream, the choices“, ein Titel, der das Lebenswerk Jean Monnets des Gründungsvaters der Europäischen Gemeinschaft präzise umreißt, war er doch zugleich Visionär und Praktiker der politischen Vernunft. II. INTEGRATION ALS DE-LOKALISIERUNG UND GLOBALISIERUNG Am Anfang stand Jean Monnet, der „fin de siecle“ Mensch, dem es vorbehalten blieb, aus seinem persönlichen Erleben beider Weltkriege die sprichwörtlichen Lehren der Geschichte zu ziehen und eine Neuordnung anzustreben, in der die geschlossene Ideologie durch eine offene ersetzt werden sollte und in der gemeinsame Institutionen Ausgleich und Kompromiss zwischen nationalen Egoismen erarbeiten müssten. Jean Monnet erdachte eine neue friedliche politische Wirklichkeit für Europa, durch geregelte Entschärfung der andauernd virulenten und potentiell destruktiven Ideen von 'Volk' und 'Nation'. Diese stellen auf „Lokalisierung“ ab, auf eine relativ geschlossene, introspektive, auf dem Prinzip der Abschottung hinter Festungsmauern und Zugbrücken eingerichtete Konzeption des Wirtschafts- und Soziallebens. Mit der europäischen Integration wurde ein neuer Versuch der „De- Lokalisierung“ und schrittweise Kontinentalisierung begonnen. „Globalisierung“ bedeutet, vereinfachend dargestellt, die Wahl einer säkularisiert offene, rezeptive, auf dem Grundprinzip der Nichtdiskriminierung beruhende 6
Konzeption des Wirtschafts- und Soziallebens. Im interkontinentalen Vergleich der „Governance“-Systeme, scheint sich paradoxerweise Europa, also die alte Welt, wenn auch unstet und zögerlich, prinzipiell dem Modell der Globalisierung anzunähern, während die neue Welt, Amerika, auf traditionelle kräftige Nationalstaatlichkeit zu setzen scheint. Ja, es ist unbestritten, es gab und gibt sie, die Globalisierung als sozio- ökonomisches Phänomen, vor uns, um uns, in uns, manchmal verherrlicht, meistens gefürchtet, jedenfalls ubiquitär, wie den Weltklimawandel, auf und ab in Dorf, Stadt, Land, Kontinent, und rund um die Weltkugel, seit ihrer Entstehung. Flora, Fauna und wir Menschen haben unseren Planeten als globales Habitat besiedelt, uns von einem zum anderen Ort ausbreitend, als Händler auf der Seidenstrasse, als seefahrende Entdecker, als kriegerische Eroberer, missionierende Heils- und Zivilisationsbringer, habgierige Sklavenhalter, universalistische Ideologen, internationale Handelsfirmen, multinationale Gesellschaften. Auch das regelmäßige Wechselspiel von Dominanz, Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und integrativen politischen Konzepten friedlichen Interessensausgleichs hat eindeutig globale Verbreitung gefunden. Den ersten „global market“ von Handel und Investitionen, ein Vorbild friedlicher wirtschaftlicher Globalisierung, wie uns der prominente Ökonom Paul Krugman in Erinnerung gerufen hat, gab es bis zu seiner Zerstörung durch die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts. Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk sieht die Wurzeln der Globalisierung schon in den großen Entdeckungen am Ende des 15. Jh. in der durch die Expansion der Europäer ausgelösten weltweiten Vernetzung. Sie begannen die Welt ernst zu nehmen – zunächst als ein Objekt, auf dem man sich frei bewegen und das man erforschen kann, aber zugleich als ein Objekt, das sich erobern und ausbeuten lässt. Europa war also der Ausgangspunkt dieser „Eroberung der Welt“, was durch das Wechselspiel von Aktion und Reaktion zu einer Welt geführt hat, wie wir sie heute kennen: ein Universum, in dem das Gesetz des „Handelns aus der Distanz“ regiert, ermöglicht durch die modernen „Raumvernichtungstechniken“ der schnellen Transportmittel und ultraschnellen Nachrichtentechniken – Telekommunikation, Telekonflikt, Telegewalt, etc. III. AM PULS DER UNIONSBÜRGER Was will die EU, was der „Unionsbürger“, wenn es ihn gibt? In Wahrheit gibt es, abgesehen von den fast täglich veröffentlichten Zerrbildern statistisch erhobener Banalitäten im Leben und Verhalten von Unionsbürgern – wer sind die Dicksten, wo ist der Bierkonsum am höchsten, und der Kirchenbesuch am niedrigsten – nur die Gewissheit, dass technokratisch von oben herab verordnete Entwürfe für die künftige EU Gestaltung mit tiefer Skepsis, oder bestenfalls mit gelangweilter Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen werden. Wie wir alle wissen, ist die Beteiligung bei Europawahlen ein Witz. Liegt darin ein Grund dafür, dass „Europa“ im französischen Präsidentschaftswahlkampf überhaupt nicht thematisiert, ja kaum erwähnt wurde, zum Unterschied von der mit Verve behandelten nationalen Identität? Unterblieb dies aus Sorge, dass Ideen oder Entwürfe für europäische zum Unterschied von französischen Lösungsansätzen, der Wählerschaft nicht glaubhaft vermittelt werden könnten, 7
oder aus Scham vor der Phantasie, bzw. Harmlosigkeit eigener Vorstellungen? Für Olivier Galland, einem französischen Soziologen, zeigt das nur, dass die nationale Identität sehr geschwächt ist, dass die Franzosen heute vor allem negative Gefühle verbinden, insbesondere in Hinsicht auf die Marktwirtschaft und die Globalisierung, und dass das Nein im Referendum zur EU-Verfassung das Ergebnis dieses kollektiven Seelenzustands ist. Auch die Niederlande werden aus der Sackgasse ihrer viel diskutierten Identitätskrise nur durch kluge, risikobereite Politiker geführt werden können, die sich nicht scheuen, einen authentischen europäischen Traum zu vertreten, und den Bürgern offen zu erklären, dass sie keine andere Wahl haben, als den geordneten Rückzug und die Bedingungen der Erweiterung (Verlust der Unabhängigkeit, Teilung der Macht unter knapp 30 Mitgliedstaaten) zu akzeptieren. So verwundert es nicht, dass die Ideen von 'Volk' und 'Nation' selbst von den Zivilingenieuren des Hauses 'Europa' ernst genommen, und daher schon in den 'Maastrichter' Bauplänen für ein politisch integriertes Europa berücksichtigt wurden. Später, im Vertrag von Amsterdam 1997, wurde der allgemeine Grundsatz der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten durch die Union sogar noch lapidar bekräftigt1 und im 3. Absatz der Präambel zum EU- Verfassungsvertrag auf die Gewissheit verwiesen, dass die Völker Europas „stolz [sind] auf ihre nationale Identität und Geschichte.“ Also doch kein hinreichend starkes Vertrauen, aus dem „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ zu schöpfen (Abs.1 der Präambel) ? Demaskiert sich die EU-Verfassung nicht selbst mit dieser regressiven Beschwörung potentiell schädlicher Ballaststoffe als ungeeignet, ein kontinentales, vom Mief unbelüfteter Stammeshütten befreites künftiges Europa zu tragen? Zeigt dies nicht auch, dass der richtige Verfassungsmoment zur Konsolidierung gemeinsamer Grundwerte und Ziele eben noch nicht herangereift ist? Gemeinsames muss gelebt, zumindest vermittelt und gepflegt, nicht nur mit stereotypischen Platituden behauptet werden. Aber wie kann Gemeinsames entstehen? In einer instinktiv politisch feinfühligen Glosse über das österreichische Volksschullesebuch zum Ende der Monarchie ätzte Anton Kuh, dass die darin vorrangig gepriesenen Tugenden der Gottes- und Herrscherfürchtigkeit nur gehorsame Untertanen und Duckmäuser hervorbrächten, aber kaum unabhängig denkende, kritische Bürger einer neuen Republik. Was die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachtende fieberhafte neue Geschichtsbeflissenheit, inklusive Geschichtsrevisionismus, betrifft, so ist auch diese überwiegend nationalstaatliche, oft oberflächlich rekonstruierte Geschichtsschreibung. Auch Gedenk- und Gedenkstättenkultur und die Gründung von Museen dienen der Identitätsstiftung und politisch verordneter Geschichtsaufarbeitung bzw. -interpretation. Man weiß natürlich, dass die Feindseligkeiten zwischen den Ländern Europas darauf zurückzuführen waren, dass die Menschen die Geschichte und Kultur ihrer Nachbarn nicht kannten. Auch der manchenorts wieder aufgeflammte Kulturkampf bzw. neue kalte Krieg gegen die gemeinsame Geschichte ist nationalstaatlich geprägt. So meint eine Mehrheit der Ungarn, dass die ungarische Kultur nur teilweise dem europäischen Kulturerbe zugehört, vermutlich aus Unsicherheit über das Wesen 1 Siehe Absatz 3 des geänderten Artikels F des EUV. 8
der eigenen Kultur. Vielleicht sieht diese Mehrheit ihre Identität deshalb durch die Zuwanderung der Piresen bedroht, eines Volkes, welches ein findiger Journalist für Zwecke seiner Umfrage erfunden hatte. Die Tschechen bemühen sich, mit ihrer jüngeren Geschichte ins Reine zu kommen, u.a. auch, weil noch angeblich 70% von ihnen im Grundsatz mit der Vertreibung der Sudetendeutschen einverstanden sind. Die Esten lassen aufhorchen mit ihrer Demontage eines russisches Kriegerdenkmals und der Annahme eines Gesetzes über die pensionsrelevante Anerkennung von Dienstzeiten in der Waffen SS im Kampf um Estlands Befreiung, nicht aber von Dienstzeiten in der roten Armee als Teil der Anti-Hitler-Koalition. Auch Polens Rückfall in vormoderne Zeiten national-katholischer Werte des 19. Jahrhunderts ist katastrophal, und Rumäniens teilweise gerichtliche Rehabilitierung des 1946 hingerichteten faschistischen Militärdiktators Ion Antonescu nicht weniger problematisch. Auch der Streit zwischen dem griechischen Erziehungsministerium und der Orthodoxen Kirche über ein neues Geschichtsbuch, das deren behauptete einzigartige Rolle bei der Rettung der griechischen Sprache und Kultur unter osmanischer Herrschaft angeblich verkennt, ist wenig erbaulich, zumal griechische Schulen im Osmanischen Reich nicht verboten waren. Und die bevorstehenden Wahlen der Europaabgeordneten in Bulgarien (am 20. Mai 2007) werden zeigen, inwiefern die Bulgaren an den europäischen Angelegenheiten und Problemen überhaupt Anteil nehmen als historischer Kompensation für die Zwangszugehörigkeit zum Osmanischen Reich und Sowjetischen Imperium. So scheinen alle mit sich selbst, mit ihrer eigenen Identität und Geschichte beschäftigt zu sein. Auch heute gibt es meines Wissens noch kein gemeinsames Geschichtsbuch Europas oder zumindest Mitteleuropas, werden immer noch staatliche Geschichtsbücher geschrieben oder umgeschrieben, aus nationaler Sicht. Es müsste ein Buch über Intoleranz gegenüber der Intoleranz sein, ein Buch gegen Unterwürfigkeit und moralische Feigheit, die sich bei den ersten Anzeichen von Nationalsozialismus und Faschismus bemerkbar machte und den Anfang des Unterwerfungsprozesses markierte, der letztlich zum totalitären Schrecken geführt hat. Ein Buch auch im Sinne des kürzlich von den europäischen Justizministern angenommenen gemeinsamen Rahmen- beschlusses zur Bekämpfung und Strafverfolgung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, eine unverzichtbare Maßnahme der Vorbeugung, wenn sich die Europäer treu bleiben wollen. Erwägenswert wäre auch die Gründung von europäischen „Ecoles Globales“, statt „Normales“. IV. QUE FAIRE ? Da die großen zentralen Themen der „Globalisierung“ – Identität und Einwanderung, Wirtschaftsliberalismus und seine demokratische Regulierung – sowie auch der „Kontinentalisierung“ – Türkei „et aprés“ - vorgegeben sind, stellt sich die Frage, ob man sie, wie unbezähmbare Naturgewalten, resigniert ängstlich fürchten muss oder durch wissenschaftlich fundierte Maßnahmen gestalten will. Was das erste Thema betrifft, Identität und Einwanderung, so wird man dem berühmten Politologen Fukuyama zustimmen, der meint, dass die modernen, liberalen Gesellschaften „schwache kollektive Identitäten“ anzubieten hätten angesichts von Ultra-Rechten und religiösen Fundamentalisten, „Menschen, die 9
sich sicher sind, wer sie sind“. „Das Dilemma von Einwanderung und Identität entspricht letztlich dem größeren Problem der post-modernen Wertelosigkeit. Die Verbreitung des Relativismus macht es dem postmodernen Menschen schwerer, positive Werte zu behaupten und gemeinsame Überzeugungen vorzuschlagen, wie er sie von Migranten als Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft fordert. Die post-modernen Eliten, vor allem in Europa, fühlen, dass sie eine von Religion und Nation geprägte Identität hinter sich gelassen haben und auf einer höheren Ebene angekommen sind. Aber neben ihrem Lob der unendlichen Vielfalt und Toleranz finden es postmoderne Menschen schwierig, sich über das Wesen des guten Lebens zu einigen, das sie gemeinsam anstreben. Was den Wirtschaftsliberalismus betrifft, so hat der Wirtschaftswissenschaftler Marc Fleurbaey aufgezeigt, warum es schwer ist, Kapitalismus und Demokratie in Einklang zu bringen. Wiewohl er anerkennt, dass die Marktwirtschaft unsere Zukunft ist, weil wohlstandsfördernd effizient, in gewisser Hinsicht auch gerecht, und der Autonomie des Individuums bekömmlich, so hält er sie doch in ihrer derzeitigen Form für nicht überlebensfähig. Er begründet dies mit der riesigen Kluft zwischen unserer Kultur, die von demokratischen Werten geprägt ist, und der Funktionsweise der Wirtschaft, die an sich und in den Unternehmen selbst wenig demokratisch ist. Zu groß sei die Kluft zwischen der Sphäre demokratischen Handelns – egal ob sozial oder politisch – und dem Handeln der Wirtschaftsbosse, besonders der Investoren, die sich von den Nationalstaaten und vom Dialog mit den Sozialpartnern längst verabschiedet haben. Was den künftigen Status – Beitritt oder privilegierte Assoziation – der Türkei betrifft, wird mit selektiven und oft falschen geschichtlichen Daten politisches Schindluder betrieben. Der bislang vom laizistisch unbeirrbaren Frankreich blockierte Versuch mancher Mitgliedstaaten, die europäische Tradition als eine rein christliche zu definieren, ist natürlich Humbug. Wie jeder weiß, war der westlichste Teil Europas, nämlich Spanien, 800 Jahre lang nicht nur islamisch geprägt, sondern von einer ganz außergewöhnlichen Multikulturalität im positiven Sinne und von einer religiösen Toleranz, von der man heute nur träumen kann. Europa ist von seiner Identität her erheblich vielfältiger und komplexer als die jetzige politische Diskussion es zulässt. Wie soll es nun weiter gehen ? Man kann sich natürlich, wie der spanische Politologe José Ignacio Torreblanca, fragen, ob die Entwicklung Europas heute nach dem gleichen Muster verlaufen würde, wenn wir noch einmal bei Null anfangen könnten. Wir würden zuerst die Ziele Europas definieren und nicht seine Mittel. Das heißt, wir würden uns zunächst fragen, was wir machen wollen (die politischen Entscheidungen), danach wie das umgesetzt werden soll (die Institutionen) und schließlich wie das finanziert werden soll (die Steuern). Man würde also zunächst die Prioritäten und Ziele identifizieren. Diese würden dann in der Öffentlichkeit und in den nationalen Parlamenten diskutiert, die man danach beauftragen würde, einen kurzen, eindeutigen und verständlichen Text zu verfassen, der die Kompetenzen der Union, ihre institutionellen Spielregeln und ihre finanziellen Ressourcen auflistet. Man hätte damit die aktuelle Falle umgangen: Wir wissen, was wir wollen, aber wir können es nicht umsetzen, weil uns die entsprechenden Institutionen und ausreichende Finanzen fehlen. Würden wir Europa heute wieder aufbauen? Ja, aber andersherum. 10
Zurück zur Realität, in der sich scheinbar zwei Tendenzen unter den Mitgliedstaaten inklusive den Freunden der EU-Verfassung herauskristallisiert haben: die Vertrags-Minimalisten wie das (noch) Vereinigte Königreich, Dänemark, Holland, die Tschechische Republik, und Polen, die nur einen geringfügig modifizierenden Vertrag wünschen, beschränkt auf neue Abstimmungsregeln, eine neu gestaltete EU Präsidentschaft (ein für 2 ½ Jahre vom Europäischen Rat gewählter Präsident des Europäischen Rates, zum Unterschied des derzeit alle sechs Monate rotierenden Vorsitzes durch ein Mitgliedsland), einen Außenminister statt des Generalsekretärs und Hohen Vertreters für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 26 EUV), und möglicherweise mehr Rechte für das Europäische Parlament. Und die Mehrheit der anderen Mitgliedstaaten, die nur minimale Änderungen am bestehenden EU Verfassungsvertrag befürworten. Das Merkel-Paket zur Rettung weiter Teile der EU-Verfassung wird nur dann auch bei den Minimalisten der ersten Tendenz ankommen, wenn jene Regelungen aus ihm entfernt werden, die der EU mehr Macht zusprechen, da sonst das Vereinigte Königreich ein Referendum abhalten müsste. V. SCHLUSSWORT Vor die oben erwähnte Wahl der „Governance“-Modelle gestellt glaube ich, dass die Europäische Union eher dem entspricht, wie die Welt am Ende der Geschichte aussehen wird und weniger den Vereinigten Staaten von heute. Die Bemühungen der EU, Souveränität und traditionelle Machtpolitik durch die Schaffung grenzüberschreitender Rechtsstaatlichkeit zu überwinden, stehen eher im Einklang mit einer „postgeschichtlichen“ Welt, als der fortgesetzte Glaube der Amerikaner an Gott, nationale Souveränität und ihr Militär. Aber eine Politik europäischer und nicht-eurozentrischer Prägung muss zur Kenntnis nehmen, dass Europa nicht mehr der Kontinent ist, der den Lauf der Welt bestimmt. Die Europäisierung der Welt ist beendet, vielleicht gerade weil sie so erfolgreich war und nun überall anzutreffen ist. Sie kann aber weiterwirken, wenn wir einsehen, dass es nun andere Zentren gibt und geben wird und dass es leichter sein wird, von der schneller und größer gewordenen Welt zu profitieren, wenn wir uns auch die Brillen anderer ausleihen. Es ist Zeit, dass Europa den Blick vermehrt nach außen richtet, und der Öffentlichkeit statt den Politikern die Macht gibt. Etablierte politische Eliten sind „out“. Engagement ist angesagt. Das muss Europa verstehen. Die Welt ist kosmopolitisch geworden und zwar in einer neuen und unwiderruflichen Art, begleitet von zahlreichen Konflikten. Trotz verbesserter Grenzkontrollen gibt es kein isoliertes Österreich, kein isoliertes Europa mehr. Es gibt auch keine Grenzen mehr für nationale und religiöse Verschiedenheiten, für den Fremden. Wer dennoch glaubt, sich einigeln zu können, lässt sich von seinen nationalen Reflexen täuschen. Eine solche Haltung lässt an etwas glauben, das es nicht gibt, das aber zur verbreiteten Illusion in der globalisierten Gegenwart geworden ist: die rückwärts gewandte Fiktion des Nationalen. CASPAR EINEM, NR, Europasprecher der SPÖ, vom Nationalrat delegiertes Mitglied zu beiden EU-Konventen (Grundrechte; Vertrag für eine europäische Verfassung); Präsident des Europäischen Zentralverbandes der öffentlichen Wirtschaft (CEEP); 11
Buchautor u.a. „Die Quadratur der Sterne. So schrieben wir Europas Verfassung und was daraus geworden ist.“(2006), sieht die Tragik der Entwicklung vor allem darin, dass die 27 Staatschefs die Macht nicht aus den Händen geben wollen. Die EU sei charakterisiert dadurch, dass jeder so bleiben dürfe, wie er sei. Die kulturelle Identität aller EU-Mitglieder müsse erhalten bleiben. Das führe beim Wunsch nach gemeinsamen Aktivitäten zu großen Problemen. Die Geschichte stecke in unseren Knochen und sei noch nicht bewältigt. Man müsse sich darüber im Klaren sein, welche Hindernisse man in sich trage. Wir würden zu oft nachgeben, die eigenen Werte und Grundsätze verraten. So wäre z.B. ein stärkeres Signal in Richtung Serbien bezüglich der Selbstständigkeit des Kosovo notwendig. Auch wären Visa- Erleichterungen wichtig. Falls sich Kosovo selbstständig erklären sollte und von Staaten anerkannt werden sollte, so würden wir hinterher hinken. Die EU habe dann versagt. Einem zeigte sich zuversichtlich, dass Merkel die wesentlichen Teile des Verfassungsvertrages retten könne. Wir seien allerdings tagtäglich gefragt. Die Grundprinzipien der EU müssten Ernst genommen und nicht verraten werden, um Vorteile zu nützen, so Einem. Moderiert sollte das zweite Panel des Nachmittages von MANFRED SCHEICH werden, Botschafter i.R., 1993/94 Chefverhandler für Österreichs Beitritt zur EU auf Botschafterebene; 1995 bis 1999 Ständiger Vertreter Österreichs bei der EU in Brüssel; Mitglied der Reflexionsgruppe im Vorfeld des Amsterdamer Vertrags und Chefverhandler dieses Vertrags sowie der Agenda 2000; im Jahre 1999 Mitglied der "Independent Commission for the Review of the Institutions and Procedures of the EU". Seit 2000 Lektor für Europapolitik an der Universität Innsbruck. Aktuelle Publikation: Tabubruch. Österreichs Entscheidung für die Europäische Union (Böhlau, Wien 2005). Weil er aus privaten Gründen kurzfristig verhindert war, sprang Brigitte Marcher (Renner-Institut, Bereich EU) für ihn ein. -o- 12
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