EU-Verfassung reloaded: Wie Europa weiterdenken?

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Khleslplatz 12
                                                                                                             A - 1120 Wien
                                                                                                          T +43-1-804 65 01
                                                                                                         F +43-1-8040874

                                       EU-Verfassung reloaded:
                                       Wie Europa weiterdenken?
                                                       Resümee
                                             Politikberatung Europapolitik

                                                 Freitag, 11. Mai 2007
                                            Diplomatische Akademie Wien

                                                     verfasst von
                                                  DR. SUSAN MILFORD

                                                  herausgegeben von
                                                 DR. BRIGITTE MARCHER

Für die EuropäerInnen sind vergleichbare Lebensverhältnisse mit Abstand der bedeutendste Faktor für die Zukunft Europas,
gefolgt von der Einführung des Euro in allen Mitgliedstaaten und einer gemeinsamen Verfassung. Die Faktoren, die das Gefühl
EuropäerIn zu sein, vermeintlich am meisten stärken, sind ein europäisches soziales Sicherungssystem, eine europäische
Verfassung oder das Recht der BürgerInnen, an allen Wahlen des jeweiligen Mitgliedstaates, in dem sie leben, teilnehmen zu
können. Im Raum steht die These, dass die Zukunft Europas abhängt von der Fähigkeit, auf diese Erwartungen einzugehen
und die EuropäerInnen auf zukünftige Entwicklungen vorzubereiten. Daran knüpfen sich die Kernfragen des europäischen
Projekts, zu deren Diskussion das Seminar einlädt: Welche Rolle kann der Verfassungsvertrag (noch) spielen? Welche
Weichenstellungen erscheinen 50 Jahre nach den Römischen Verträgen und 2 Jahre nach der Verfassungskrise geboten und
machbar? Was ist das Ziel der europäischen Integration aus heutiger Sicht? Welche Rolle sollte Europa in der Welt spielen?
Wie sieht angesichts der Globalisierung die Zukunft des europäischen Sozial- und Wirtschaftsmodells aus? Wie definieren wir
die Grenzen der Europäischen Union? Wie stärken wir Freiheit, Sicherheit und Recht? Wie finanzieren wir die Union?

Referenten:
JOACHIM FRITZ-VANNAHME, Leiter der Europa-Arbeit der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh; davor Korrespondent der ZEIT in
Brüssel
JOHANNES VOGGENHUBER, MEP seit 1995, Fraktion der Grünen / Freie Europäische Allianz, Ko-Berichterstatter der
Grundrechtscharta der EU, Mitglied im Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtscharta, Mitglied im Verfassungskonvent, stv.
Vorsitzender im Ausschuss für konstitutionelle Fragen
CHRISTINE STIX-HACKEL, Diplomatin im Außenministerium Wien (Expertin des Völkerrechtsbüros, Leiterin des EU-
Rechtsdienstes, Mitwirkung bei den Verhandlungen über den EWR und EU Beitritt Österreichs, Prozessvertreterin der Republik
Österreich vor dem EUGH), Mitglied des EUGH als Generalanwältin in Luxemburg (Okt. 2000 – Sept. 2006)
OLIVER RATHKOLB, Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit; Kultur-, Demokratie-
und Medien-Studien und Zeitprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien (2005 – 2007)
ALBRECHT ROTHACHER, Botschaftsrat an der Delegation der Europäischen Kommission bei den Internationalen Behörden in
Wien, Buchautor u.a. „Mythos Asien? Licht- und Schattenseiten einer Region im Aufbruch“ (November 2006), „Die Rückkehr der
Samurai. Japans Wirtschaft nach der Krise“ (Jänner 2007)
FRIEDL WEISS, Professor an der Universität Wien, Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung, davor
Universität Amsterdam (1992 – 2006), London School of Economics (1979–1992); Rechtsberater und Konsulent von EFTA und
GATT (Genf)
CASPAR EINEM, NR, Europasprecher der SPÖ, vom Nationalrat delegiertes Mitglied zu beiden EU-Konventen (Grundrechte;
Vertrag für eine europäische Verfassung); Präsident des Europäischen Zentralverbandes der öffentlichen Wirtschaft (CEEP);
Buchautor u.a. „Die Quadratur der Sterne. So schrieben wir Europas Verfassung und was daraus geworden ist.“(2006)

Moderatoren:
HEINRICH NEISSER, Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, davor über
vier Jahrzehnte aktiver Politiker (ÖVP) – zuletzt in der Funktion des Zweiten Nationalratspräsidenten; Präsident der
österreichischen Forschungsgemeinschaft
MANFRED SCHEICH, Botschafter i.R., 1993/94 Chefverhandler für Österreichs Beitritt zur EU auf Botschafterebene; 1995 bis
1999 Ständiger Vertreter Österreichs bei der EU in Brüssel; Mitglied der Reflexionsgruppe im Vorfeld des Amsterdamer
Vertrags und Chefverhandler dieses Vertrags sowie der Agenda 2000; im Jahre 1999 Mitglied der "Independent Commission for
the Review of the Institutions and Procedures of the EU". Seit 2000 Lektor für Europapolitik an der Universität Innsbruck.
Aktuelle Publikation: Tabubruch. Österreichs Entscheidung für die Europäische Union (Böhlau, Wien 2005)

RÜCKMELDUNGEN/ NÄHERE INFORMATION:
Dr. Brigitte Marcher, Renner-Institut, Bereich Europa (EU)
T 01-804 65 01 DW 24; F 01-804 08 74; marcher@renner-institut.at

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EU-Verfassung reloaded: Wie Europa weiterdenken?

Für die EuropäerInnen sind vergleichbare Lebensverhältnisse mit Abstand der
bedeutendste Faktor für die Zukunft Europas, gefolgt von der Einführung des Euro in
allen Mitgliedstaaten und einer gemeinsamen Verfassung. Die Faktoren, die das
Gefühl EuropäerIn zu sein, vermeintlich am meisten stärken, sind ein europäisches
soziales Sicherungssystem, eine europäische Verfassung oder das Recht der
BürgerInnen, an allen Wahlen des jeweiligen Mitgliedstaates, in dem sie leben,
teilnehmen zu können. Im Raum steht die These, dass die Zukunft Europas abhängt
von der Fähigkeit, auf diese Erwartungen einzugehen und die EuropäerInnen auf
zukünftige Entwicklungen vorzubereiten. Daran knüpfen sich die Kernfragen des
europäischen Projekts, zu deren Diskussion das Seminar einlädt: Welche Rolle kann
der Verfassungsvertrag (noch) spielen? Welche Weichenstellungen erscheinen 50
Jahre nach den Römischen Verträgen und 2 Jahre nach der Verfassungskrise
geboten und machbar? Was ist das Ziel der europäischen Integration aus heutiger
Sicht? Welche Rolle sollte Europa in der Welt spielen? Wie sieht angesichts der
Globalisierung die Zukunft des europäischen Sozial- und Wirtschaftsmodells aus?
Wie definieren wir die Grenzen der Europäischen Union? Wie stärken wir Freiheit,
Sicherheit und Recht? Wie finanzieren wir die Union?

EUropa in guter Verfassung?
HEINRICH NEISSER (Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls                  am Institut für
Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, davor über vier Jahrzehnte aktiver
Politiker (ÖVP) – zuletzt in der Funktion des Zweiten Nationalratspräsidenten;
Präsident   der   österreichischen   Forschungsgemeinschaft)      unterstrich   in   den
einleitenden Worten seiner Moderation, dass die „Nachdenkpause viel mehr durch
ein Schweigen charakterisiert“ sei. Vor allem stelle sich laut Neisser derzeit die
Frage, wie man den Karren wieder flott machen könne. Angela Merkels Bemühungen
seien bemerkenswert und es sei zu hoffen, dass der Fahrplan bis Ende Juni
eingehalten werden könne. Die Diskussion über die Bezeichnung „Verfassung“ (- in
der „Berliner Erklärung“ kommt das Wort Verfassung nicht mehr vor -) sei legitim,
aber die Diskussion über Inhalte und die institutionelle Struktur sei ebenfalls wichtig,
gab Neisser eingangs der Veranstaltung zu bedenken. „Es ist wichtig und richtig, das
Thema auf die Tagesordnung zu setzen“, so Neisser.

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JOACHIM FRITZ VANNAHME (Leiter der Europa-Arbeit der Bertelsmann Stiftung,
Gütersloh; davor Korrespondent der ZEIT in Brüssel) bezeichnete sich selbst eher
als „resignativ“, doch sei Bertelsmann ein entschiedener Verfechter der Verfassung.
Es handle sich weniger um einen Verfassungsvertrag als um eine Bastlerarbeit. Der
Begriff werde verschwinden, ebenso der Paragraph über die Symbole.
Ziele der Regierungskonferenz seien folgende:
   1. Möglichkeit des Minimalkonsens,
   2. Handlungsfähigkeit der EU-27,
   3. eine Runde weiter zu kommen,
   4. Vermeidung der Finalitätsdebatte;
Man    werde    bei   der   Regierungskonferenz      im   Sinne   der   Fehler-   und
Konfliktvermeidung agieren. Dies sei kein Schaden, aber ob das im Sinne des
Fortschritts sei, lasse Vannahme lieber dahingestellt.

JOHANNES VOGGENHUBER (MEP seit 1995, Fraktion der Grünen / Freie
Europäische Allianz, Ko-Berichterstatter der Grundrechtscharta der EU, Mitglied im
Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtscharta, Mitglied im Verfassungskonvent,
stv. Vorsitzender im Ausschuss für konstitutionelle Fragen) kritisierte, dass das
Feilschen im Vordergrund stünde. Man balge um Begriffe und es sei ein Krieg um die
Inhalte entbrannt. Es habe eine „Pause vom Nachdenken“ stattgefunden, ein
Versuch um Distanzgewinnung von den Referenden in den Niederlanden und in
Frankreich. Angela Merkel und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sei ein
Glücksfall. Merkel sei „eine Europäerin auf der Bühne Europas“, so Voggenhuber. Es
werden die Ergebnisse von Amsterdam und Nizza aus der Taufe gehoben, das
Versagen vergessen, das Parlament an der Debatte nicht beteiligt. Alle Elemente der
Staatlichkeit und Supranationalität könnten nicht beseitigt werden. Man wolle die
Macht der Regierungen aufrecht erhalten und den Ruf nach Demokratie unterbinden.
Die Staatlichkeit sollte nicht abgeschafft, aber gezähmt und zivilisiert werden. Wenn
die Macht auftritt, müsse auf die Begriffe sehr wohl geachtet werden. Es müsse auf
eine Klarheit der Begriffe bestanden werden.

CHRISTINE STIX-HACKEL (Diplomatin im Außenministerium Wien, Expertin des
Völkerrechtsbüros,    Leiterin   des   EU-Rechtsdienstes,     Mitwirkung   bei    den
Verhandlungen über den EWR- und EU-Beitritt Österreichs, Prozessvertreterin der

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Republik Österreich vor dem EUGH, Mitglied des EUGH als Generalanwältin in
Luxemburg, Okt. 2000 – Sept. 2006) weiß als Juristin um die Exaktheit von
Begrifflichkeiten. Als Diplomatin sei ihr die Konsensfindung, die an Begrifflichkeiten
hänge, die wiederum Erfolg und Scheitern nach sich ziehen würden, sehr wohl
bekannt. Der Krieg um die Begrifflichkeit und Worte sei oft eine Tätigkeit, um dem
Ziel zu entkommen. Je heterogener die Mitgliedstaaten seien, umso problematischer
sei die Übereinstimmung. Der Begriff der Verfassung sei nicht so wichtig. Der Vertrag
bedeute eine Konsolidierung vorhandener Verträge mit Neuerungen. Die Erhaltung
der Charta der Grundrechte sei besonders wichtig, auch die Frage der Subsidiarität.

OLIVER RATHKOLB, Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Europäische
Geschichte und Öffentlichkeit; Kultur-, Demokratie- und Medien-Studien und
Zeitprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien (2005 – 2007),
verwies auf die Perspektive der Symbole, die zu heftigen Auseinandersetzungen im
europäischen Raum führten. Es handle sich dabei um eine zentrale Frage in
Richtung europäischer Identität. Der Europatag sei kein nationaler Erinnerungstag.
Europa habe kaum Symbole. Im kollektiven Gedächtnis des Nationalstaates habe
sich nichts bewegt, das sei ein Faszinosum. Die nationalstaatlichen Regierungen
hätten kein Interesse an Änderungen in den Köpfen der Menschen. Interessant sei
die Statistik der öffentlichen Debatte um die Verfassung in den Leitmedien und die
Frage nach den christlich-jüdischen und arabischen Wurzeln der Geschichte Europas
– als Abgrenzung gegen den Islam, die Türkei oder die USA. Die Tendenzen in
Europa gingen in die Richtung, sich g e g e n etwas zu definieren. Die Verfassung
könne dem entgegen wirken. Es gebe eine „Suche nach einer national aufgeladenen
europäischen Sinnformel“. Dies sei eine „komplexe Situation in Europa“. Die
Erinnerungen an den II. Weltkrieg seien abhanden gekommen (Versuch, Lehren zu
ziehen), ebenso der Kalte Krieg. Es gebe eine „Suche nach einem Identitätsanker“.
Die österreichische Identität basiere vor allem auf dem Neutralitätsgesetz. Rathkolb
ortet eine Motivation, die Verfassung zu marginalisieren. Die Diskussion über
Symbole stuft er als lächerlich ein. Abschließend bemerkte der Historiker, dass die
Nationalstaaten von der europäischen Integration bisher profitiert hätten.

NEISSER merkte an, dass das „Europa der Werte zu einem Europa der Wörter“
geworden sei. Die Suche nach Symbolen sei charakteristisch für den Versuch, aus

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der Wirtschaftsunion eine geistige Einheit zu machen.
VANNAHME hält die Diskussion über die Symbole für unterfüttert. Der Kalte Krieg sei
noch nicht so lange her. Merkel, Barroso oder Solana hätten diesbezüglich
spannende Geschichten zu erzählen. Vannahme zitierte Merkel, die sagte: „Ich bin
zwar in Europa geboren worden, aber in der EU bin ich eine Jugendliche.“
VOGGENHUBER merkte an, dass der Nationalstaat in vielen Bereichen bereits
aufgehört habe Staat zu sein, aber die EU in vielen Bereichen begonnen habe, Staat
zu sein. Das wolle man nicht sehen. Es sei eine extreme Verwahrlosung von
Demokratie und Rechtsstaat zu befürchten. Es gebe einen „Tanz wischen Diplomatie
und Recht“. Einem Rechtstext solle nicht mit Konsens und Package-Deals entgegnet
werden. An Rechtstexte werde ein Anspruch gestellt. Es brauche einen großen
Sprung, um die Kluft zu den Bürgern zu überwinden.
STIX-HACKL verwies darauf, dass nicht jeder diversen Begriffen dieselbe Bedeutung
zuweise (z.B. nationale Identität).
VOGGENHUBER unterstrich, dass ein „Mini-Treaty“ zwar das Problem der Effizienz
lösen könne, aber nicht die Legitimation. Sarkozy werde auf dem internationalen
bzw. europäischen Parkett anders agieren als im Wahlkampf, nicht so populistisch.
Man könne und solle Politiker nicht an ihren Wahlkampfreden messen, so
Voggenhuber.
VANNAHME zog im Vergleich zwischen Europa und den USA eine positive Bilanz:
„Europa ist enorm schnell“.
NEISSER verwies abschließend auf den Kampf zwischen Supranationalismus und
Intergouvernementalismus. Die Zielvorstellung sei es, eine europäische Demokratie
zu schaffen. Der Weg dorthin sei prioritär. Man brauche Patriotismus und Identität
(Habermas).

Die EU zwischen Kontinentalisierung, Lokalisierung und Globalisierung

Die Kernaussage ALBRECHT ROTHACHERS (Botschaftsrat an der Delegation der
Europäischen Kommission bei den Internationalen Behörden in Wien, Buchautor u.a.
„Mythos Asien? Licht- und Schattenseiten einer Region im Aufbruch“, November
2006, „Die Rückkehr der Samurai. Japans Wirtschaft nach der Krise“, Jänner 2007)
lautete in seinem Statement, dass die Mittel bzw. Instrumente der Europäischen

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Union auf den gemeinsamen Werten und den „soft skills“ beruhten. Die Lösung des
Dilemmas liege in der Kerngemeinschaft. Rothlacher zeigte sich optimistisch, dass
die Beistandspflicht im Verfassungsvertrag bleiben werde.

FRIEDL WEISS, Professor an der Universität Wien, Institut für Europarecht,
Internationales Recht und Rechtsvergleichung, davor Universität Amsterdam (1992–
2006), London School of Economics (1979–1992); Rechtsberater und Konsulent von
EFTA und GATT (Genf), hielt einen hochinteressanten Kurzvortrag, der in fünf
Abschnitte bzw. Teile gegliedert war und hier im Originalwortlaut nachzulesen ist:

      I. DIE BEGRIFFE

      Meine sehr verehrten Damen und Herren. Nach meiner Auffassung und für
      Zwecke meines Kurzvortrages liegen den drei im reizvollen Titel dieses
      Themenblocks verknüpften Raumgestaltungsprinzipien zwei grundsätzlich
      verschiedene Konzepte zugrunde. Unter „Kontinentalisierung“ verstehe ich
      die Tatsache einer fortschreitenden Ausbreitung des „acquis communautaire“,
      also des gemeinsamen Rechtsbestands der Gemeinschaft, auf dem gesamten
      wie auch immer zu definierenden Kontinent Europa. In den Begriffen
      „Lokalisierung“ und „Globalisierung“ sehe ich zwei gegensätzliche Modelle
      der „public choice“ für die sozio-ökonomische und kulturelle Gestaltung
      unserer Gesellschaft. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an ein Dokument
      Romano Prodis, des früheren Präsidenten der Europäischen Kommission, das
      den Titel trug „Europe – the dream, the choices“, ein Titel, der das Lebenswerk
      Jean Monnets des Gründungsvaters der Europäischen Gemeinschaft präzise
      umreißt, war er doch zugleich Visionär und Praktiker der politischen Vernunft.

      II. INTEGRATION ALS DE-LOKALISIERUNG UND GLOBALISIERUNG

      Am Anfang stand Jean Monnet, der „fin de siecle“ Mensch, dem es vorbehalten
      blieb, aus seinem persönlichen Erleben beider Weltkriege die sprichwörtlichen
      Lehren der Geschichte zu ziehen und eine Neuordnung anzustreben, in der
      die geschlossene Ideologie durch eine offene ersetzt werden sollte und in der
      gemeinsame Institutionen Ausgleich und Kompromiss zwischen nationalen
      Egoismen erarbeiten müssten.
      Jean Monnet erdachte eine neue friedliche politische Wirklichkeit für Europa,
      durch geregelte Entschärfung der andauernd virulenten und potentiell
      destruktiven Ideen von 'Volk' und 'Nation'. Diese stellen auf „Lokalisierung“ ab,
      auf eine relativ geschlossene, introspektive, auf dem Prinzip der Abschottung
      hinter Festungsmauern und Zugbrücken eingerichtete Konzeption des
      Wirtschafts- und Soziallebens.

      Mit der europäischen Integration wurde ein neuer Versuch der „De-
      Lokalisierung“ und schrittweise Kontinentalisierung begonnen. „Globalisierung“
      bedeutet, vereinfachend dargestellt, die Wahl einer säkularisiert offene,
      rezeptive, auf dem Grundprinzip der Nichtdiskriminierung beruhende

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Konzeption des Wirtschafts- und Soziallebens.             Im interkontinentalen
Vergleich der „Governance“-Systeme, scheint sich paradoxerweise Europa,
also die alte Welt, wenn auch unstet und zögerlich, prinzipiell dem Modell der
Globalisierung anzunähern, während die neue Welt, Amerika, auf traditionelle
kräftige Nationalstaatlichkeit zu setzen scheint.
Ja, es ist unbestritten, es gab und gibt sie, die Globalisierung als sozio-
ökonomisches Phänomen, vor uns, um uns, in uns, manchmal verherrlicht,
meistens gefürchtet, jedenfalls ubiquitär, wie den Weltklimawandel, auf und ab
in Dorf, Stadt, Land, Kontinent, und rund um die Weltkugel, seit ihrer
Entstehung. Flora, Fauna und wir Menschen haben unseren Planeten als
globales Habitat besiedelt, uns von einem zum anderen Ort ausbreitend, als
Händler auf der Seidenstrasse, als seefahrende Entdecker, als kriegerische
Eroberer, missionierende Heils- und Zivilisationsbringer, habgierige
Sklavenhalter, universalistische Ideologen, internationale Handelsfirmen,
multinationale Gesellschaften. Auch das regelmäßige Wechselspiel von
Dominanz, Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und integrativen politischen
Konzepten friedlichen Interessensausgleichs hat eindeutig globale Verbreitung
gefunden. Den ersten „global market“ von Handel und Investitionen, ein
Vorbild friedlicher wirtschaftlicher Globalisierung, wie uns der prominente
Ökonom Paul Krugman in Erinnerung gerufen hat, gab es bis zu seiner
Zerstörung durch die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk sieht die Wurzeln der Globalisierung
schon in den großen Entdeckungen am Ende des 15. Jh. in der durch die
Expansion der Europäer ausgelösten weltweiten Vernetzung. Sie begannen
die Welt ernst zu nehmen – zunächst als ein Objekt, auf dem man sich frei
bewegen und das man erforschen kann, aber zugleich als ein Objekt, das sich
erobern und ausbeuten lässt. Europa war also der Ausgangspunkt dieser
„Eroberung der Welt“, was durch das Wechselspiel von Aktion und Reaktion
zu einer Welt geführt hat, wie wir sie heute kennen: ein Universum, in dem das
Gesetz des „Handelns aus der Distanz“ regiert, ermöglicht durch die
modernen „Raumvernichtungstechniken“ der schnellen Transportmittel und
ultraschnellen Nachrichtentechniken – Telekommunikation, Telekonflikt,
Telegewalt, etc.

III. AM PULS DER UNIONSBÜRGER

Was will die EU, was der „Unionsbürger“, wenn es ihn gibt?
In Wahrheit gibt es, abgesehen von den fast täglich veröffentlichten
Zerrbildern statistisch erhobener Banalitäten im Leben und Verhalten von
Unionsbürgern – wer sind die Dicksten, wo ist der Bierkonsum am höchsten,
und der Kirchenbesuch am niedrigsten – nur die Gewissheit, dass
technokratisch von oben herab verordnete Entwürfe für die künftige EU
Gestaltung mit tiefer Skepsis, oder bestenfalls mit gelangweilter
Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen werden. Wie wir alle wissen, ist die
Beteiligung bei Europawahlen ein Witz. Liegt darin ein Grund dafür, dass
„Europa“ im französischen Präsidentschaftswahlkampf          überhaupt nicht
thematisiert, ja kaum erwähnt wurde, zum Unterschied von der mit Verve
behandelten nationalen Identität? Unterblieb dies aus Sorge, dass Ideen oder
Entwürfe     für    europäische   zum    Unterschied    von    französischen
Lösungsansätzen, der Wählerschaft nicht glaubhaft vermittelt werden könnten,

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oder aus Scham vor der Phantasie, bzw. Harmlosigkeit eigener
           Vorstellungen? Für Olivier Galland, einem französischen Soziologen, zeigt das
           nur, dass die nationale Identität sehr geschwächt ist, dass die Franzosen
           heute vor allem negative Gefühle verbinden, insbesondere in Hinsicht auf die
           Marktwirtschaft und die Globalisierung, und dass das Nein im Referendum zur
           EU-Verfassung das Ergebnis dieses kollektiven Seelenzustands ist. Auch die
           Niederlande werden aus der Sackgasse ihrer viel diskutierten Identitätskrise
           nur durch kluge, risikobereite Politiker geführt werden können, die sich nicht
           scheuen, einen authentischen europäischen Traum zu vertreten, und den
           Bürgern offen zu erklären, dass sie keine andere Wahl haben, als den
           geordneten Rückzug und die Bedingungen der Erweiterung (Verlust der
           Unabhängigkeit, Teilung der Macht unter knapp 30 Mitgliedstaaten) zu
           akzeptieren.
           So verwundert es nicht, dass die Ideen von 'Volk' und 'Nation' selbst von den
           Zivilingenieuren des Hauses 'Europa' ernst genommen, und daher schon in den
           'Maastrichter' Bauplänen für ein politisch integriertes Europa berücksichtigt
           wurden. Später, im Vertrag von Amsterdam 1997, wurde der allgemeine
           Grundsatz der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten durch die
           Union sogar noch lapidar bekräftigt1 und im 3. Absatz der Präambel zum EU-
           Verfassungsvertrag auf die Gewissheit verwiesen, dass die Völker Europas
           „stolz [sind] auf ihre nationale Identität und Geschichte.“ Also doch kein
           hinreichend starkes Vertrauen, aus dem „kulturellen, religiösen und
           humanistischen Erbe Europas“ zu schöpfen (Abs.1 der Präambel) ?
           Demaskiert sich die EU-Verfassung nicht selbst mit dieser regressiven
           Beschwörung potentiell schädlicher Ballaststoffe als ungeeignet, ein
           kontinentales, vom Mief unbelüfteter Stammeshütten befreites künftiges Europa
           zu tragen? Zeigt dies nicht auch, dass der richtige Verfassungsmoment zur
           Konsolidierung gemeinsamer Grundwerte und Ziele eben noch nicht
           herangereift ist?
           Gemeinsames muss gelebt, zumindest vermittelt und gepflegt, nicht nur mit
           stereotypischen Platituden behauptet werden. Aber wie kann Gemeinsames
           entstehen?
           In einer instinktiv politisch feinfühligen Glosse über das österreichische
           Volksschullesebuch zum Ende der Monarchie ätzte Anton Kuh, dass die darin
           vorrangig gepriesenen Tugenden der Gottes- und Herrscherfürchtigkeit nur
           gehorsame Untertanen und Duckmäuser hervorbrächten, aber kaum
           unabhängig denkende, kritische Bürger einer neuen Republik. Was die seit den
           70er Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachtende fieberhafte neue
           Geschichtsbeflissenheit, inklusive Geschichtsrevisionismus, betrifft, so ist auch
           diese überwiegend nationalstaatliche, oft oberflächlich rekonstruierte
           Geschichtsschreibung. Auch Gedenk- und Gedenkstättenkultur und die
           Gründung von Museen dienen der Identitätsstiftung und politisch verordneter
           Geschichtsaufarbeitung bzw. -interpretation. Man weiß natürlich, dass die
           Feindseligkeiten zwischen den Ländern Europas darauf zurückzuführen waren,
           dass die Menschen die Geschichte und Kultur ihrer Nachbarn nicht kannten.
           Auch der manchenorts wieder aufgeflammte Kulturkampf bzw. neue kalte Krieg
           gegen die gemeinsame Geschichte ist nationalstaatlich geprägt. So meint eine
           Mehrheit der Ungarn, dass die ungarische Kultur nur teilweise dem
           europäischen Kulturerbe zugehört, vermutlich aus Unsicherheit über das Wesen

1
    Siehe Absatz 3 des geänderten Artikels F des EUV.

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der eigenen Kultur. Vielleicht sieht diese Mehrheit ihre Identität deshalb durch
die Zuwanderung der Piresen bedroht, eines Volkes, welches ein findiger
Journalist für Zwecke seiner Umfrage erfunden hatte. Die Tschechen bemühen
sich, mit ihrer jüngeren Geschichte ins Reine zu kommen, u.a. auch, weil noch
angeblich 70% von ihnen im Grundsatz mit der Vertreibung der
Sudetendeutschen einverstanden sind. Die Esten lassen aufhorchen mit ihrer
Demontage eines russisches Kriegerdenkmals und der Annahme eines
Gesetzes über die pensionsrelevante Anerkennung von Dienstzeiten in der
Waffen SS im Kampf um Estlands Befreiung, nicht aber von Dienstzeiten in der
roten Armee als Teil der Anti-Hitler-Koalition. Auch Polens Rückfall in
vormoderne Zeiten national-katholischer Werte des 19. Jahrhunderts ist
katastrophal, und Rumäniens teilweise gerichtliche Rehabilitierung des 1946
hingerichteten faschistischen Militärdiktators Ion Antonescu nicht weniger
problematisch.      Auch     der     Streit   zwischen     dem      griechischen
Erziehungsministerium und der Orthodoxen Kirche über ein neues
Geschichtsbuch, das deren behauptete einzigartige Rolle bei der Rettung der
griechischen Sprache und Kultur unter osmanischer Herrschaft angeblich
verkennt, ist wenig erbaulich, zumal griechische Schulen im Osmanischen Reich
nicht verboten waren.             Und die bevorstehenden Wahlen der
Europaabgeordneten in Bulgarien (am 20. Mai 2007) werden zeigen, inwiefern
die Bulgaren an den europäischen Angelegenheiten und Problemen überhaupt
Anteil nehmen als historischer Kompensation für die Zwangszugehörigkeit zum
Osmanischen Reich und Sowjetischen Imperium.
So scheinen alle mit sich selbst, mit ihrer eigenen Identität und Geschichte
beschäftigt zu sein. Auch heute gibt es meines Wissens noch kein gemeinsames
Geschichtsbuch Europas oder zumindest Mitteleuropas, werden immer noch
staatliche Geschichtsbücher geschrieben oder umgeschrieben, aus nationaler
Sicht. Es müsste ein Buch über Intoleranz gegenüber der Intoleranz sein, ein
Buch gegen Unterwürfigkeit und moralische Feigheit, die sich bei den ersten
Anzeichen von Nationalsozialismus und Faschismus bemerkbar machte und
den Anfang des Unterwerfungsprozesses markierte, der letztlich zum totalitären
Schrecken geführt hat. Ein Buch auch im Sinne des kürzlich von den
europäischen Justizministern angenommenen gemeinsamen Rahmen-
beschlusses zur Bekämpfung und Strafverfolgung von Rassismus und
Fremdenfeindlichkeit, eine unverzichtbare Maßnahme der Vorbeugung, wenn
sich die Europäer treu bleiben wollen. Erwägenswert wäre auch die Gründung
von europäischen „Ecoles Globales“, statt „Normales“.

IV. QUE FAIRE ?

Da die großen zentralen Themen der „Globalisierung“ – Identität und
Einwanderung, Wirtschaftsliberalismus und seine demokratische Regulierung –
sowie auch der „Kontinentalisierung“ – Türkei „et aprés“ - vorgegeben sind, stellt
sich die Frage, ob man sie, wie unbezähmbare Naturgewalten, resigniert
ängstlich fürchten muss oder durch wissenschaftlich fundierte Maßnahmen
gestalten will.

Was das erste Thema betrifft, Identität und Einwanderung, so wird man dem
berühmten Politologen Fukuyama zustimmen, der meint, dass die modernen,
liberalen Gesellschaften „schwache kollektive Identitäten“ anzubieten hätten
angesichts von Ultra-Rechten und religiösen Fundamentalisten, „Menschen, die

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sich sicher sind, wer sie sind“. „Das Dilemma von Einwanderung und Identität
entspricht letztlich dem größeren Problem der post-modernen Wertelosigkeit.
Die Verbreitung des Relativismus macht es dem postmodernen Menschen
schwerer, positive Werte zu behaupten und gemeinsame Überzeugungen
vorzuschlagen, wie er sie von Migranten als Voraussetzung für die
Staatsbürgerschaft fordert. Die post-modernen Eliten, vor allem in Europa,
fühlen, dass sie eine von Religion und Nation geprägte Identität hinter sich
gelassen haben und auf einer höheren Ebene angekommen sind. Aber neben
ihrem Lob der unendlichen Vielfalt und Toleranz finden es postmoderne
Menschen schwierig, sich über das Wesen des guten Lebens zu einigen, das sie
gemeinsam anstreben.
Was den Wirtschaftsliberalismus betrifft, so hat der Wirtschaftswissenschaftler
Marc Fleurbaey aufgezeigt, warum es schwer ist, Kapitalismus und Demokratie
in Einklang zu bringen. Wiewohl er anerkennt, dass die Marktwirtschaft unsere
Zukunft ist, weil wohlstandsfördernd effizient, in gewisser Hinsicht auch gerecht,
und der Autonomie des Individuums bekömmlich, so hält er sie doch in ihrer
derzeitigen Form für nicht überlebensfähig. Er begründet dies mit der riesigen
Kluft zwischen unserer Kultur, die von demokratischen Werten geprägt ist, und
der Funktionsweise der Wirtschaft, die an sich und in den Unternehmen selbst
wenig demokratisch ist. Zu groß sei die Kluft zwischen der Sphäre
demokratischen Handelns – egal ob sozial oder politisch – und dem Handeln der
Wirtschaftsbosse, besonders der Investoren, die sich von den Nationalstaaten
und vom Dialog mit den Sozialpartnern längst verabschiedet haben.
Was den künftigen Status – Beitritt oder privilegierte Assoziation – der Türkei
betrifft, wird mit selektiven und oft falschen geschichtlichen Daten politisches
Schindluder betrieben. Der bislang vom laizistisch unbeirrbaren Frankreich
blockierte Versuch mancher Mitgliedstaaten, die europäische Tradition als eine
rein christliche zu definieren, ist natürlich Humbug. Wie jeder weiß, war der
westlichste Teil Europas, nämlich Spanien, 800 Jahre lang nicht nur islamisch
geprägt, sondern von einer ganz außergewöhnlichen Multikulturalität im
positiven Sinne und von einer religiösen Toleranz, von der man heute nur
träumen kann. Europa ist von seiner Identität her erheblich vielfältiger und
komplexer als die jetzige politische Diskussion es zulässt.

Wie soll es nun weiter gehen ?
Man kann sich natürlich, wie der spanische Politologe José Ignacio
Torreblanca, fragen, ob die Entwicklung Europas heute nach dem gleichen
Muster verlaufen würde, wenn wir noch einmal bei Null anfangen könnten. Wir
würden zuerst die Ziele Europas definieren und nicht seine Mittel. Das heißt,
wir würden uns zunächst fragen, was wir machen wollen (die politischen
Entscheidungen), danach wie das umgesetzt werden soll (die Institutionen)
und schließlich wie das finanziert werden soll (die Steuern). Man würde also
zunächst die Prioritäten und Ziele identifizieren. Diese würden dann in der
Öffentlichkeit und in den nationalen Parlamenten diskutiert, die man danach
beauftragen würde, einen kurzen, eindeutigen und verständlichen Text zu
verfassen, der die Kompetenzen der Union, ihre institutionellen Spielregeln
und ihre finanziellen Ressourcen auflistet. Man hätte damit die aktuelle Falle
umgangen: Wir wissen, was wir wollen, aber wir können es nicht umsetzen,
weil uns die entsprechenden Institutionen und ausreichende Finanzen fehlen.
Würden wir Europa heute wieder aufbauen? Ja, aber andersherum.

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Zurück zur Realität, in der sich scheinbar zwei Tendenzen unter den
      Mitgliedstaaten inklusive den Freunden der EU-Verfassung herauskristallisiert
      haben: die Vertrags-Minimalisten wie das (noch) Vereinigte Königreich,
      Dänemark, Holland, die Tschechische Republik, und Polen, die nur einen
      geringfügig modifizierenden Vertrag wünschen, beschränkt auf neue
      Abstimmungsregeln, eine neu gestaltete EU Präsidentschaft (ein für 2 ½ Jahre
      vom Europäischen Rat gewählter Präsident des Europäischen Rates, zum
      Unterschied des derzeit alle sechs Monate rotierenden Vorsitzes durch ein
      Mitgliedsland), einen Außenminister statt des Generalsekretärs und Hohen
      Vertreters für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 26 EUV), und
      möglicherweise mehr Rechte für das Europäische Parlament. Und die Mehrheit
      der anderen Mitgliedstaaten, die nur minimale Änderungen am bestehenden EU
      Verfassungsvertrag befürworten.
      Das Merkel-Paket zur Rettung weiter Teile der EU-Verfassung wird nur dann
      auch bei den Minimalisten der ersten Tendenz ankommen, wenn jene
      Regelungen aus ihm entfernt werden, die der EU mehr Macht zusprechen, da
      sonst das Vereinigte Königreich ein Referendum abhalten müsste.

      V. SCHLUSSWORT

      Vor die oben erwähnte Wahl der „Governance“-Modelle gestellt glaube ich,
      dass die Europäische Union eher dem entspricht, wie die Welt am Ende der
      Geschichte aussehen wird und weniger den Vereinigten Staaten von heute.
      Die Bemühungen der EU, Souveränität und traditionelle Machtpolitik durch die
      Schaffung grenzüberschreitender Rechtsstaatlichkeit zu überwinden, stehen
      eher im Einklang mit einer „postgeschichtlichen“ Welt, als der fortgesetzte
      Glaube der Amerikaner an Gott, nationale Souveränität und ihr Militär. Aber
      eine Politik europäischer und nicht-eurozentrischer Prägung muss zur
      Kenntnis nehmen, dass Europa nicht mehr der Kontinent ist, der den Lauf der
      Welt bestimmt. Die Europäisierung der Welt ist beendet, vielleicht gerade weil
      sie so erfolgreich war und nun überall anzutreffen ist. Sie kann aber
      weiterwirken, wenn wir einsehen, dass es nun andere Zentren gibt und geben
      wird und dass es leichter sein wird, von der schneller und größer gewordenen
      Welt zu profitieren, wenn wir uns auch die Brillen anderer ausleihen. Es ist
      Zeit, dass Europa den Blick vermehrt nach außen richtet, und der
      Öffentlichkeit statt den Politikern die Macht gibt. Etablierte politische Eliten
      sind „out“. Engagement ist angesagt. Das muss Europa verstehen.
      Die Welt ist kosmopolitisch geworden und zwar in einer neuen und
      unwiderruflichen Art, begleitet von zahlreichen Konflikten. Trotz verbesserter
      Grenzkontrollen gibt es kein isoliertes Österreich, kein isoliertes Europa mehr.
      Es gibt auch keine Grenzen mehr für nationale und religiöse
      Verschiedenheiten, für den Fremden. Wer dennoch glaubt, sich einigeln zu
      können, lässt sich von seinen nationalen Reflexen täuschen. Eine solche
      Haltung lässt an etwas glauben, das es nicht gibt, das aber zur verbreiteten
      Illusion in der globalisierten Gegenwart geworden ist: die rückwärts gewandte
      Fiktion des Nationalen.

CASPAR EINEM, NR, Europasprecher der SPÖ, vom Nationalrat delegiertes Mitglied
zu beiden EU-Konventen (Grundrechte; Vertrag für eine europäische Verfassung);
Präsident des Europäischen Zentralverbandes der öffentlichen Wirtschaft (CEEP);

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Buchautor u.a. „Die Quadratur der Sterne. So schrieben wir Europas Verfassung und
was daraus geworden ist.“(2006), sieht die Tragik der Entwicklung vor allem darin,
dass die 27 Staatschefs die Macht nicht aus den Händen geben wollen. Die EU sei
charakterisiert dadurch, dass jeder so bleiben dürfe, wie er sei. Die kulturelle Identität
aller EU-Mitglieder müsse erhalten bleiben. Das führe beim Wunsch nach
gemeinsamen Aktivitäten zu großen Problemen. Die Geschichte stecke in unseren
Knochen und sei noch nicht bewältigt. Man müsse sich darüber im Klaren sein,
welche Hindernisse man in sich trage. Wir würden zu oft nachgeben, die eigenen
Werte und Grundsätze verraten. So wäre z.B. ein stärkeres Signal in Richtung
Serbien bezüglich der Selbstständigkeit des Kosovo notwendig. Auch wären Visa-
Erleichterungen wichtig. Falls sich Kosovo selbstständig erklären sollte und von
Staaten anerkannt werden sollte, so würden wir hinterher hinken. Die EU habe dann
versagt. Einem zeigte sich zuversichtlich, dass Merkel die wesentlichen Teile des
Verfassungsvertrages retten könne. Wir seien allerdings tagtäglich gefragt. Die
Grundprinzipien der EU müssten Ernst genommen und nicht verraten werden, um
Vorteile zu nützen, so Einem.

Moderiert sollte das zweite Panel des Nachmittages von MANFRED SCHEICH
werden, Botschafter i.R., 1993/94 Chefverhandler für Österreichs Beitritt zur EU auf
Botschafterebene; 1995 bis 1999 Ständiger Vertreter Österreichs bei der EU in
Brüssel; Mitglied der Reflexionsgruppe im Vorfeld des Amsterdamer Vertrags und
Chefverhandler dieses Vertrags sowie der Agenda 2000; im Jahre 1999 Mitglied der
"Independent Commission for the Review of the Institutions and Procedures of the
EU". Seit 2000 Lektor für Europapolitik an der Universität Innsbruck. Aktuelle
Publikation: Tabubruch. Österreichs Entscheidung für die Europäische Union
(Böhlau, Wien 2005). Weil er aus privaten Gründen kurzfristig verhindert war, sprang
Brigitte Marcher (Renner-Institut, Bereich EU) für ihn ein.

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