Bunter, besser, billiger? Zum Mehrwert digitaler Medien in der Bildung
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it + ti 4/2002 Bunter, besser, billiger? Zum Mehrwert digitaler Medien in der Bildung Why? On the Benefit of Digital Media in Education Michael Kerres, Universität Duisburg Mit den neuen Bildungsmedien werden große Erwartungen verknüpft. Doch bei genauerem Hinsehen erweisen sich manche der Hoffnungen als brüchig. Der Artikel stellt dagegen zwei Potenziale digitaler Medien beim Lernen heraus: Die Möglichkeit zu „anderen“ Lern- formen und zu einer flexibleren Organisation von Bildung in hybriden Lernarrangements. Die Potenziale kommen dabei nicht mit der Einführung der Technik als solches, sondern erst bei einer angemessenen mediendidaktischen Konzeption zum Tragen. The article discusses expectations associated with the use of computers in education. When confronted with results of scientific research many of those expectations are not reasonable, but there are two important impacts of educational technology: its potential for implementing alternative learning approaches and for organizing education in more flexible ways. It is argued that these potentials are not inherent in the technology itself but will only have an impact when appropriate didactical concepts are applied. 1 Warum Online-Lernen? Steigerung des Lernerfolges. Es existieren eine Fülle empirischer Studien zu der Frage, welche Variante In der ffentlichkeit gilt es als fast selbstverständlich, des Lehrens und Lernens die besten Resultate lie- von den neuen Medien und vom Online-Lernen tief fert. Seit der Einführung von computergestützten greifende Innovationen oder gar Revolutionen für den Lernmethoden wird darum gestritten, ob die neuen Bildungssektor zu erwarten. Die Forschungsergebnisse Darbietungsformen anderen (etwa dem konventio- hierzu sind jedoch keineswegs eindeutig und berechti- nellen Unterricht) überlegen sind. Die Antwort hie- gen nicht im Geringsten zu solcher Euphorie. Im Fol- rauf ist ernüchternd und kann mit folgender Erkennt- genden werden einige der vorgebrachten Argumente nis zusammengefasst werden: Der durchschnittliche aufgegriffen und mit (berlegungen aus mediendidak- Lernerfolg ist relativ unabhängig von dem gewählten tischer Sicht konfrontiert (ausführlich in [4]). Mediensystem und der eingesetzten Technologie. Das Steigerung der Lernmotivation. Tatsächlich können Lernen mit Medien schneidet im Durchschnitt nicht neue Medien zu einer Steigerung der Motivation bei besser, aber auch nicht schlechter ab als konventio- Lernenden beitragen. Diese Beobachtung beruht ins- neller Unterricht. besondere auf dem so genannten Neuigkeitseffekt, der Es ist vor allem eine Frage der didaktischen Methode, allerdings von eher kurzer Dauer ist und in der Regel mit der das Lernmaterial aufbereitet wird, die sich nicht die erheblichen Investitionen rechtfertigt, die auf den Lernerfolg niederschlägt (z. B. problemba- mit den neuen Lernverfahren verbunden sind. Hinzu siertes Lernen, expositiorische Verfahren, Rollen- kommt ein paradoxer Effekt beim Einsatz neuer spiel). Und die Wahl der didaktischen Methode ist in Lernmedien: Wird ein solches Lernangebot vorrangig weitem Maße von der Wahl des Mediums unabhän- als unterhaltsam und easy erlebt, kann das dazu füh- gig. Dabei gibt es auch hier nicht die eine beste di- ren, dass die mentale Anstrengung bei der Bearbei- daktische Methode, sondern die Wahl der Methode tung des Lernmaterials reduziert wird. Dies kann – ist von einer Reihe von Parametern des didaktischen wie zu erwarten – sogar zu einer geringeren Lern- Feldes (wie z. B. Zielgruppe, Lehrinhalte und Lehr- leistung führen als bei konventionellen Lernformen. ziel) abhängig zu machen. it + ti – Informationstechnik und Technische Informatik 44 (2002) 4 # Oldenbourg Verlag 187
it + ti 4/2002 Steigerung der Effizienz. Während die Lerneffektivi- hen und kooperativen Lernen entgegenkommen und tät nach den erzielten Lernerfolgen fragt, ist für die mit (berlegungen zu einem anderen Umgang mit Praxis vor allem die Effizienz von Bildungsangebo- Wissen in Organisationen (Wissensmanagement) ten von Relevanz, und damit das Verhältnis von Auf- konvergieren [1; 7]. wand und Ergebnissen unterschiedlicher Verfahren. Interessant sind vor allem kommunikative Lernszena- Zu dieser Frage liegen überraschend wenig Studien rien, die auf Diensten des Internets basieren. Das In- vor, die eindeutige Schlussfolgerungen erlauben wür- ternet kann nicht nur für den schnellen und kosten- den. Immerhin lässt sich festhalten, dass sich eine Ef- günstigen Versand von Lernmaterialien genutzt fizienzsteigerung nicht mit der einfachen Reduktion werden, sondern bekanntlich auch als Plattform für von Ausgaben für Bildungsangebote einstellt, bei der die Kommunikation zwischen Lernenden und Leh- unsicher ist, ob die Qualität der Lernergebnisse er- renden, zur Betreuung und Unterstützung der Betei- halten bleibt. Eine höhere Effizienz tritt nämlich nur ligten. Gerade diese kommunikative Komponente er- ein, wenn weist sich als wesentlicher Vorzug beim Online- (a) ein höherer Lernerfolg bei gleich bleibendem Lernen, ja sie macht den wohl entscheidenden Unter- Aufwand oder schied zu den bisherigen Szenarien des „einsamen“ (b) ein gleich bleibender Lernerfolg mit niedrigerem Lernens mit Medien aus. Aufwand erzielt wird. Unterschiedliche Einschätzungen existieren darüber, Tatsächlich kann durch den Einsatz von Medien eine wie weit diese mediengestützte Kommunikation in Effizienzsteigerung eintreten. Doch in einer Reihe Lernkontexten soziale Kontakte via face-to-face er- von Projekten konnte das Ziel, die Effizienz der Bil- setzen kann bzw. soll. Am weitesten reichen Kon- dungsarbeit zu steigern, nicht erreicht werden (z. B. zepte virtueller Lerngemeinschaften [2], die intensive, weil ein Angebot eine zu geringe Akzeptanz und menschliche Begegnungen im Internet ermöglichen, Nutzung durch Lernende erfährt, weil Lernende und die von pädagogischer ebenso wie von ökonomi- nicht genügend auf diese Art des Lernens vorbereitet scher Seite gerne aufgenommen worden sind [3]. An- waren oder nicht angemessen betreut wurden). gesichts teilweise enttäuschender Erfahrungen in der Immerhin kann von einer Reduktion der durch- Praxis bleibt die Frage, unter welchen Bedingungen schnittlichen Lerndauer bei mediengestützten Lern- sich solche Lerngemeinschaften tatsächlich bilden. formen ausgegangen werden. Gleichzeitig muss mit Auch hier ist es eine Frage der didaktischen Konzep- einer höheren Abbrecherquote bei mediengestützten tion, Rahmenbedingungen herzustellen, die die erfor- Verfahren gerechnet werden, vor allem bei Personen, derliche Kommunikation initiieren und unterstützen. die mit selbstgesteuertem Lernen nicht zurechtkom- Hybride Lernarrangements. Lernen mit digitalen Me- men, sodass innerhalb einer Gruppe jeweils die er- dien bietet gegenüber bisherigen Ansätzen eine hö- zielte Netto-Lernrate zu erfassen ist [4]. here Flexibilität im Hinblick auf Zeit, Ort und Ge- Realität des Online-Lernens. Die Erwartungen, die schwindigkeit des Lernens. Dieser Aspekt kommt den neuen Medien entgegen gebracht werden, sind vor allem dann zum Tragen, wenn die neuen medien- oft überzogen. So zeigt ein Blick in die Praxis des gestützten Verfahren nicht als Alternative zu konven- internetbasierten Lernens in verschiedenen Bildungs- tionellen Lehr-Lernformen betrachtet werden, son- sektoren ein ernüchterndes Bild. Die Nutzung tech- dern didaktisch begründet mit anderen Formen, wie nologiebasierter Lernszenarien schreitet zwar deut- Seminaren etc., kombiniert werden. Es wird in die- lich voran, doch auf der Basis bisheriger sem Zusammenhang vom blended learning oder von Erfahrungen muss eine Diskrepanz konstatiert wer- hybriden Lernarrangements gesprochen. Medienge- den zwischen stütztes Lernen sollte nicht als Ersatz von konventio- • einerseits den Erwartungen über die Möglichkeiten nellem Unterricht, aber auch nicht nur als add-on zu und Effekte der neuen Lernformen und üblichen Lernformen betrachtet werden. Die neuen • anderseits deren faktischen Nutzung sowie den er- Lernangebote implizieren Potenziale zu anderen zielten Nutzeffekten in der Bildungsarbeit [6]. Lernformen und machen damit auch ganz andere Formen der Lernorganisation und des Bildungsmana- gements notwendig. 2 Anderes Lernen Mediengestützte Lernangebote werden folglich im- mer weniger als Alternative zu konventionellen Prä- Selbst gesteuert und kommunikativ. Verbreitete An- senzveranstaltungen konzipiert, sondern es wird nach nahmen zum Lernen mit digitalen Medien sind in Möglichkeiten der Kombination unterschiedlicher mancher Hinsicht zu relativieren. Als wesentliches Varianten (offline oder online, personal- oder techno- Potenzial der digitalen Medien bleibt die Option für logiebasiert) gesucht. Es geht nicht (mehr) um die ein anderes Lernen: Der Einsatz digitaler Medien er- Bevorzugung bestimmter Neuer Medien, sondern um möglicht Lernszenarien, die heutigen Forderungen die nüchterne Auswahl verschiedener Alternativen nach einem stärker selbstgesteuerten, anwendungsna- unter Kosten-Nutzen-(berlegungen. Dabei kann ein 188
M. Kerres: Bunter, besser, billiger? Zum Mehrwert digitaler Medien in der Bildung it+ti 4/2002 Text in Printform oder per Internet distribuiert wer- könnten. Das Arrangement solcher Lernumgebungen den, persönliche Unterstützung kann punktuell oder ist ein gestalterisches Problem, das sich mit dem systematisch lokal in Bildungszentren oder telemedial Begriff didaktisches Design umreißen lässt. Die übers Internet erfolgen, Vorträge können als Videos Forschung zum didaktischen Design bemüht sich, die verschickt oder per Teleteaching realisiert werden. relevanten Entscheidungsdimensionen zu systemati- Der Ansatz der hybriden Lernarrangements [5] ver- sieren sowie mögliche Kriterien und Bedingungen für folgt diese (berlegung. Er wendet sich explizit gegen Entscheidungsvarianten aufzuzeigen. die Annahme, dass bestimmte Medien in sich irgend- Der Mediendidaktik geht es um das didaktische De- wie vorteilhaft gegenüber anderen seien. Der Ansatz sign solcher hybriden Lernarrangements. Mediale geht vielmehr davon aus, dass Lernangebote, die sich als didaktisch sinnvoll und in • die Bestandteile eines Lernangebotes immer von der Nutzung erfolgreich erwiesen haben, können den Rahmenbedingungen des sich jeweils stellen- z. B. durch folgende Charakteristika beschrieben den didaktischen Problems abhängen und werden: • die besondere Qualität eines Lernangebotes vor • Die Lernprozesse basieren in starkem Maße auf allem in der Kombination unterschiedlicher medi- Eigenaktivitäten der Lernenden. Die Lernenden aler und methodischer Aufbereitungen zum Tragen sollen in der Verfolgung ihrer (Lern-)Interessen kommt. durch die Umgebung unterstützt werden (z. B. Das Arrangieren von Elementen. Eine Lernumge- durch empfohlene Lernpfade, Hinweise oder bung besteht aus verschiedenen Lernangeboten und Rückmeldungen), aber gleichzeitig so wenig wie lernförderlichen Maßnahmen personeller, technolo- nötig bei ihren Lernaktivitäten eingeschränkt wer- giebasierter wie (infra-)struktureller Art. Diese soll- den. ten in ihrer Anlage unterschiedliche Lernerfahrungen • Die Medien sind so aufbereitet, dass sie das Ein- ermöglichen und unterschiedlichen Lernbedürfnissen tauchen in eine Umwelt, die Lernprozesse beson- entsprechen. Die Lernumgebung sollte insofern über- ders anregt, fördern: Die Beschäftigung mit dem determiniert sein, als verschiedene Elemente der Medium sollte in sich motivierend sein. Hierbei Lernumgebung das anzustrebende Lehrziel gleicher- helfen insbesondere Bezüge („Anker“) zu Ereig- maßen verfolgen, d. h. es liegen beispielsweise so- nissen oder Objekten der realen Welt, die Darstel- wohl Print- als auch AV-Medien zu einem bestimm- lung aus verschiedenen Sichtweisen und die di- ten Thema vor. Der einzelne Lerner kann dabei rekte Manipulierbarkeit der dargestellten Objekte seine Schwerpunkte setzen und die für seine Lernsi- durch die Lernenden. tuation günstigste Variante wählen. • Sie beinhalten unterschiedliche Arten von Medien (Einzel-, Multi- oder Telemedien), Hilfsmitteln Bestimmte Lernangebote können sich dabei entwe- (Geräte), Einrichtungen (Selbstlernzentrum, Lern- der inhaltlich überlappen, indem z. B. inseln usw.) und personalen Dienstleistungen • unterschiedliche Medien für die gleichen Inhalte (Medienberatung, tutorielle Betreuung usw.), die und methodische Aufbereitung präsentiert werden systematisch aufeinander bezogen sind. (Der Lerner kann z. B. bestimmte Inhalte in einer • Das mediale Lernangebot ist ggfs. Teil einer be- Präsenzveranstaltung hören oder als multimediales wusst gestalteten physikalisch-sozialen Umwelt, CBT bearbeiten.), z. B. eines Weiterbildungs- oder Fernstudiensys- • verschiedene oder gleiche Medien einen unter- tems, mit unterschiedlichen Arten personeller Be- schiedlichen methodischen Zugang bieten (Der treuung und Dienstleistungen. Lerner kann z. B. eine Aufgabe alleine oder in ei- • Digitale Multimediasysteme sind als Elemente sol- ner Lerngruppe bearbeiten.) cher Arrangements besonders interessant, weil sie oder inhaltlich ergänzen, indem z. B. didaktische Konzepte, wie die Forderung nach ei- • vertiefende Informationen angeboten werden oder ner anschaulichen Darstellung oder nach reaktiven fehlendes Wissen, das für das Verständnis wichtig oder gar interaktiven Systemen besonders gut ein- ist, nachgeholt werden kann. lösen. Es geht also um die Frage des Arrangements einer Damit wird deutlich, dass die Planung und Konzep- Lernumgebung mit unterschiedlichen didaktisch auf- tion solcher multimedialen Lernangebote über die bereiteten Lernangeboten. Die zentrale (medien-)di- Produktion etwa einer Anwendung (mit mehr oder daktische Entscheidung kreist um die Frage, wie und weniger multimedialen Bestandteilen) und deren welche didaktisch- methodischen Elemente so zu Einstellen auf einen Internet-Server hinausgeht. Im kombinieren sind, dass einerseits pädagogische Ziele Mittelpunkt steht die Lösung eines didaktischen Prob- und anderseits ein Kosten-Nutzen-Optimum (Effizi- lems und das mediale Lernangebot ist als (mögliches) enz) erreicht werden. Es wird deutlich, dass für diese Element der Problemlösung zu betrachten und zu prü- professionelle Aufgabe keine einfachen Algorithmen fen. Dieses Anliegen verfolgt das Modell der gestal- existieren, mit denen solche Probleme gelöst werden tungsorientierten Mediendidaktik [5], das konventio- 189
it + ti 4/2002 nelle Entscheidungsdimensionen der Allgemeinen Di- Bildungsangebot macht sich angreifbar, weil es eine daktik auf das mediengestützte Lernen überträgt und Ordnung des Wissens anbietet. (ber die Ordnung dazu das Vorgehen der mediendidaktischen Analyse des Wissens kann gestritten werden, denn mit jeder entwickelt. Ordnung sind Wertfragen verbunden – aber einer Die Bedeutung einer flexibleren Lernorganisation Ordnung unterliegt jedes Bildungsangebot. durch hybride Arrangements wird vielfach unter- Die skizzierten Merkmale eines Bildungsangebotes schätzt. Doch genau hier scheint ein tatsächlicher Zu- sind im Internet in Frage gestellt. Das Internet be- satznutzen der digitalen Medien möglich: In der Le- steht aus einem weltweiten Netz verbundener Rech- bensperspektive muss zunehmend mehr gelernt ner mit einem Geflecht von kaum mehr zu über- werden. Konventionelle Formen der Bildungsorgani- schauenden, verknüpften Informationen (Hypertexte), sation werden diesen – auch zunehmend kurzfristig das mit einer ungeheuren Dynamik wächst. Diese auftretenden – Bedarf kaum einlösen können. In ge- strukturellen Merkmale bringen für Personen, die nau diesem Aspekt können erfolgreiche Anbieter in- das Internet für Lernzwecke nutzen möchten, folgen- ternetbasierter Bildung sich profilieren: mit Lernan- de Konsequenz mit sich: geboten, die – neben inhaltlicher und didaktischer • Das Internet zerstört Struktur: Alle Informations- Qualität – vor allem ein größtmögliches Maß an zeit- seiten sind gleich; alle Informationen haben licher Flexibilität und Flexibilität bei der Belegung scheinbar den gleichen Rang und die gleiche Wer- unterschiedlicher, gestaffelter Zusatzdienstleistungen tigkeit. Man muss nicht A beherrschen, um Zu- vorhalten. gang zu B zu erhalten. • Das Internet zerstört Kohärenz: Die Masse und Beliebigkeit von Informationen und ihre wahllose Verknüpfung verhindert die Darstellung komple- 3 Mehrwert xerer, in sich schlüssiger Sachverhalte. von internetbasierten Lernangeboten • Das Internet zerstört Aufmerksamkeit: Die Viel- falt möglicher Verzweigungen verlockt den Ler- Die zeitweise besonders stark diskutierte Konzeption nenden, ständig auf andere Seiten zu springen. des auf sich alleine gestellten explorierenden Lerners Statt einem konzentrierten Bearbeiten systema- legt die Vorstellung nahe, als ob die instruierende tisch aufbereiteter Materialien verführt das Inter- Komponente von Bildungsangeboten weitgehend zu- net zum vagabundierenden Browsen. rückgedrängt werde: Der Lerner der Zukunft als im Internet vagabundierender Wissensmanager. Die di- Personen, die das Internet für Lernzwecke aufsu- daktische Aufbereitung von Lerninhalten würde hier- chen, wünschen sich in dem Chaos und der Beliebig- mit zugunsten authentischer, multimedialer Doku- keit des Internets kaum mehr als die Ordnung und mente aufgegeben werden können. Systematik eines auf ihre Lerninteressen und ihre Lernsituation ausgerichteten Angebotes: Materialien, Die kritische Diskussion dieses Konzeptes hat jedoch die eine zeitliche und inhaltliche Struktur anbieten deutlicher sichtbar werden lassen, was die eigentliche und dem Lernenden genügend Spielraum für eigene Qualität eines internetbasierten Bildungsangebotes Entscheidungen und selbstständige Exploration eben- im Internet ausmacht. Es ist weniger das Material, so wie eine angemessene Betreuung offerieren. das tatsächlich zunehmend im Internet verfügbar wird, sondern eine bestimmte Form der Strukturie- Das Paradox: Die Attraktivität des Internets liegt in rung von Inhalten, die didaktische Aufbereitung von dem ständig wachsenden Universum verknüpfter In- Inhalten, die den Mehrwert eines solchen Bildungs- formationen. Das Eintauchen in eine chaotische Viel- angebotes ausmacht. falt mit immer wieder überraschenden Funden ist es, Denn Lernen erfordert zumindest die Zuwendung was fasziniert. Die Dienstleistung, die ein Bildungs- von Aufmerksamkeit und die Mobilisierung von Kon- anbieter im Internet erbringt, besteht letztlich darin, zentration auf einen Gegenstand, sei er Element der dieses Chaos für einen Moment zu ordnen. So sehr natürlichen Umwelt oder Ergebnis einer didaktischen das Internet Kohärenz und Struktur etc. zerstört, so Aufbereitung. Ein Bildungsangebot schafft Unter- sehr werden wir die Aufmerksamkeit eines Benutzers scheidungen, es sortiert Wissen zeitlich und hierar- nur dann erzielen, wenn wir eine Ordnung anbieten chisch nach seiner Sachlogik und seiner Wertigkeit in und die Person überzeugen, dass das Verfolgen die- einer bestimmten Kultur. Es sagt, womit Lernende ser Ordnung für ihr Lernziel förderlich ist. am besten anfangen, sich zu beschäftigen und womit Die Gestaltung einer solchen „Ordnung“ ist das The- sie fortfahren sollten. Es sagt, womit es lohnt, sich zu ma einer mediendidaktischen Konzeption, deren Ab- beschäftigen und womit nicht. leitung genauer in [4] dargestellt ist. Im Folgenden Ein Bildungsangebot ist immer etwas anderes als soll ein Aspekt herausgegriffen werden, der dabei zu- eine Enzyklopädie, in der Breite, Detailreichtum und nehmend an Bedeutung gewinnt: Lernaufgaben als eher zurückhaltende Wertungen gefordert sind. Ein strukturierendes, didaktisches Element. 190
M. Kerres: Bunter, besser, billiger? Zum Mehrwert digitaler Medien in der Bildung it+ti 4/2002 4 Lernaufgaben Aus diesem Grund reduziert man bei computerba- als didaktisches Element sierten Auswertungen, die eine sofortige Rückmel- dung ermöglichen, die Aktivität der Lernenden auf Aus mediendidaktischer Sicht bleibt ein zentrales die Auswahl von Antwortalternativen. Mit intelli- Problem: Wie kann sichergestellt werden, dass ein – gent formulierten Multiple Choice – Tests kann optisch/ästhetisch noch so gut gestaltetes – Medium, eine durchaus intensive Auseinandersetzung mit die erforderlichen Lernprozesse tatsächlich anregt? Lerninhalten angeregt werden. Es ist also keines- Nicht selten werden Text, Materialien oder hochwer- wegs so, dass diese lediglich zum Raten animieren. tige Animationen und Simulationen „aufs“ Netz ge- Allerdings bleibt die Art der Lernaktivität einge- stellt, und vielleicht stellt man fest, dass hunderte schränkt. Die Motivation der Lernenden ist in vie- und tausende Abrufe der Seiten erfolgen, vielleicht len Fällen eine andere, wenn sie wissen, dass eine erhält man Mails, die einen zu den neuen Seiten be- andere Person und keine Maschine ihre Antworten glückwünschen. Doch findet tatsächlich Lernen statt? auswertet. Aus diesem Grund werden in den be- Zu bedenken ist: Auch begeistertes „Rezipieren“ reits beschriebenen hybriden Lernarrangements kann nicht mit Lernen gleich gesetzt werden. Lernaufgaben in der Regel durch Tele-Tutoren/in- nen ausgewertet. Diese können im Sinne von Ein- Es gehört zu den grundlegenden Erkenntnissen der sendeaufgaben nach richtig/falsch beurteilt werden, Lernpsychologie, dass ein Lernerfolg ganz wesentlich sie können aber auch übergreifende Anwendungs- davon abhängt, ob die Aktivierung bestimmter Lern- aufgaben oder komplexe Projektaufgaben beinhal- prozesse gelingt. Dabei kann das Medium diese ten, die individuell oder in Kleingruppen zu bear- Lernprozesse anregen, sie aber sicherzustellen ist die beiten sind. Forderung an eine Lernaufgabe. Viele „Hausaufga- ben“, die uns aus der Schulzeit bekannt sind, lösen In Bild 1 sind die beiden möglichen Funktionen von diese Forderung nicht ein. Im Rahmen des schuli- Aufgaben im Lernkontext nochmals gegenüber ge- schen Unterrichts dienen Hausaufgaben vor allem stellt: In ihrer konventionellen Form können diese der Einübung oder Anwendung von gelernten Proze- Lernprozesse sichern helfen, – wenn die Lernpro- duren: sie sollen der Sicherung von Lernprozessen zesse denn zuvor stattgefunden haben. Die hier ge- und -ergebnissen dienen. meinten Lernaufgaben dienen jedoch dazu, die für den Lernerfolg kritischen Lernprozesse überhaupt Lernaufgaben setzen dagegen früher an: Sie sollen eintreten zu lassen. Sie tragen auf diese Weise dazu die erforderlichen Lernprozesse überhaupt erst akti- bei, dass ein Rezipieren von (Multi-)Medien (Brow- vieren und die grundlegenden Zusammenhänge er- sing) ohne intensive kognitive und/oder emotionale fahrbar machen. Denn beim mediengestützten Ler- Beteiligung vermieden wird. nen ist immer damit zu rechnen, dass die Bearbeitung des Mediums oberflächlich bleibt. Leicht Wenn sich die Lernaufgabe unmittelbar in eine medi- stellt sich – auch bei einem bloß oberflächlichen ale Lernumgebung einbinden lässt, ist dies zweifels- Browsing über Lernmaterialien hinweg – bei Lernen- ohne eine attraktive Variante. Dies ist etwa bei den die Illusion ein, den Lernstoff bearbeitet zu ha- virtuellen Labors oder interaktiven Computersimula- ben. tionen der Fall, wo Lernende in eine virtuell nachge- bildete Handlungswelt eintauchen und mit nachgebil- Lernaufgaben dienen hier eben nicht der Lerner- deten Gegenständen operieren können. Immer noch folgskontrolle und Prüfung (wie in der Programmier- zu prüfen ist hierbei das Verhältnis von Aufwand ten Unterweisung), sondern ihr Vollzug soll einen (zur Entwicklung der Lösung) und Ertrag (erzielba- Lernprozess sicherstellen; zu einer ausführlicheren res Lernergebnis), d. h. ist die technische Lösung Diskussion vgl. [8]. Es wird davon ausgegangen, dass nicht letztlich doch unnötig aufwändig im Vergleich bestimmte kognitive und/oder emotionale Prozesse zu einer Variante einer persönlichen Betreuung, bei zwingend notwendig sind, damit Lernerfolge tatsäch- der der gleiche oder gar ein höherer Lernerfolg in lich eintreten. Ein didaktisch aufbereitetes Lernange- der Zielgruppe erzielt wird? bot zeichnet sich demnach durch solche Lernaufga- ben aus, wobei diese unterschiedlich gestaltet sein können. Konventionelle Lernaufgaben bestehen in der Regel aus textlich formulierten Anleitungen zu bestimmten Aktivitäten. Welche Aktivitäten dabei in- Aktivierung Sicherung frage kommen, hängt u. a. davon ab, welche Art von Anwendung kognitiv Auswertung der Aktivitäten vorgesehen ist, um da- raus gegebenenfalls eine Rückmeldung abzuleiten. emotional Übung Bei einer automatisierten Online-Auswertung muss motivational die Art der Eingaben so beschränkt werden, dass die Prüfung Bild 1: Funktion Auswertung mit vertretbarem Aufwand sinnvoll zu soziale Interaktion von Lernaufga- bewältigen ist. ben. 191
it + ti 4/2002 5 Nutzbarmachung [3] Hagel, J.; Armstrong, A. G.: Net Gain – Profit im Netz. Märkte erobern mit virtuellen Communities. Wiesbaden: neuer Lerntechnologien Gabler 1997. [4] Kerres, M.: Multimediale und telemediale Lernumgebun- Der Nutzen neuer Technologien für Bildung hängt gen. Konzeption und Entwicklung. (2. Aufl.). München: nicht von der Verfügbarkeit von Geräten und Tech- Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2001. nik in der (Hoch-)Schule, sondern von der gesamten [5] Kerres, M.: Online- und Präsenzelemente in hybriden Lernarrangements kombinieren. In: A. Hohenstein, Qualität der Prozesskette ihrer Nutzbarmachung ab, K. Wilbers (Hg.): Handbuch E-Learning. Köln: Fachver- d. h. von der Güte der Planung, Konzeption, Ent- lag Deutscher Wirtschaftsdienst 2001. wicklung, Einführung, Nutzung, Wartung, des Quali- [6] Kerres, M.; Gorhan, E.: Status und Potentiale multimedia- tätsmanagement etc. Ein Mehrwert entsteht erst, ler und telemedialer Lernangebote in der betrieblichen Bildung. In: R. Weiß, H. Geißler, M. Kerres, E. Gorhan wenn die Technologie zu einer Problemlösung für (Hg.): Kompetenzentwicklung für die Arbeitswelt der Zu- Bildungsanliegen transformiert wird. kunft – Forschungsstand und Forschungsperspektiven. Köln: Institut der deutschen Wirtschaft 1998. Mit dieser Aufgabe beschäftigt sich die mediendidak- [7] Mandl, H.; Reinmann-Rothmeier, G.: Wissensmanage- tische Konzeption technologiebasierter Lernszena- ment. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2000. rien, sie wird in der Praxis vielfach unterschätzt, teil- [8] Zimmer, G.: Aufgabenorientierte Didaktik – Entwurf ei- weise sogar als irrelevant geleugnet, wenn von ner Didaktik für die Entwicklung vollständiger Hand- didaktikfreien Medien gesprochen wird. Eine Reihe lungskompetenzen in der Berufsbildung. In W. Markert (Hg.), Berufs- und Erwachsenenbildung zwischen Markt von Projekten haben genau aus diesem Grund in der und Subjektbildung. Baltmannsweiler 1999. S. 125–167. Vergangenheit (zu) wenig Wirkungsgrad für Bil- dungsanliegen entfaltet, d. h. sie blieben hinter den Erwartungen zurück und ließen (berechtigte) Fragen Prof. Dr. Michael Kerres hat seit 2001 am Insti- nach der Nachhaltigkeit entsprechender Vorhaben tut für Erziehungswissenschaft an der Gerhard- aufkommen. Mercator-Universität Duisburg eine Professur für Mediendidaktik und Wissensmanagement inne. Darüber hinaus ist er Leiter des Steinbeis- Literatur Transferzentrums Bildung & Medien. [1] Arnold, R.; Gieseke, W. (Hg.): Die Weiterbildungsgesell- Adresse: Gerhard-Mercator Universität Duis- schaft. Neuwied: Luchterhand 1999. burg, Institut für Erziehungswissenschaft, Lehr- stuhl für Mediendidaktik und Wissensmanage- [2] Baym, N. K.: The emergence of community in computer- ment, Lotharstr. 65, D 47057 Duisburg, mediated communication. In: G. J. Steven (Hg.): Cyber- E-Mail: weboffice@edumedia.uni-duisburg.de, Society: Computer-mediated communication and com- http://www.kerres.de, munity. Thousand Oaks, CA: Sage 1995. S. 138–163. Tel.: (02 03) 3 79 -24 34, Fax: (02 03) 3 79 -19 81 System statt Chaos. Oldenbourg! Christiane Gernert Norbert Ahrend Oldenbourg IT-Management: System statt Chaos Ein praxisorientiertes Vorgehensmodell Bernd Oestereich 2001. 348 Seiten Die Gebunden UML-Kurzreferenz € 49,80 für die Praxis DM 97,40 kurz, bündig, ballastfrei ISBN 3-486-25107-4 2001. 160 Seiten Broschur € 14,80 Oldenbourg DM 28,95 ISBN 3-486-25637-8 192
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