Case report Fachhochschule Westschweiz
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Behandlung eines somatischen Tinnitus durch manuelle osteopathische Techniken Eine Fallstudie Case report Studiengang für Osteopathie, Abteilung Gesundheit Fachhochschule Westschweiz Master of Science in Osteopathie (MSC Ost) Anita Jost 10-932-101 Referent: PhD Dawn Carnes Abgabedatum: 08.06.2018 1
Abstract: Tinnitus ist ein weit verbreitetes Symptom und führt bei 1 – 3% der betroffenen Personen zu einer beträchtlichen Verminderung der Lebensqualität. Der beschriebene Fall einer Patientin um die 40 Jahre, mit einem unilateralen Tinnitus ohne HNO-Befund und assoziierten Schmerzen im rechten Temporomandibulären Gelenk (TMG), welcher durch gewisse Positionen des Kopfes und durch Stress moduliert wird, ist ein typisches Beispiel für einen Fall von somatischem Tinnitus. Der somatische Tinnitus hat seinen Ursprung in Funktionsstörungen des muskuloskelettalen Systems und ist somit durch manuelle osteopathische Techniken therapierbar. Bis heute gibt es noch keine genau definierte Richtlinien für dessen Diagnose und Therapie. Laut aktuellen Studien sollten sich die osteopathischen Untersuchungen und Behandlungen vor allem auf die Region des Kopf-, Hals,- Kiefer- und Schultergürtelbereichs sowie auf die angrenzenden Muskeln, Strukturen und Faszien fokussieren, mit besonderer Beachtung des Zervikokranialen Überganges, der Kaumuskulatur und des Sphenomandibulären Ligamentes (SML). Wird der somatische Tinnitus und die mit ihm in Zusammenhangstehende Funktionsstörung korrekt diagnostiziert, kann eine osteopathische Behandlung zu einem Therapieerfolg führen. Konkrete Guidelines für eine gezielte Diagnose und eine korrekte Behandlung des somatischen Tinnitus sind unbedingt notwendig. Dazu bedarf es an weiterer Forschung zu den genauen Ursachen und die mit ihnen in Zusammenhang stehenden klinischen Anzeichen des somatischen Tinnitus. Keywords: - Somatischer Tinnitus - Diagnostik - Manuelle osteopathische Behandlung 2
Fallbeschreibung und Hintergrund Fallpräsentation Patientin mit Jahrgang 1977 beklagt sich über unilateralen, pulssynchronen Tinnitus auf der rechten Seite, der seit 6 Wochen besteht. Der Tinnitus ist fluktuierend, wird durch Stress und durch das Ablegen des Kopfes ausgelöst. Als Begleitsymptom weist die Patientin Bewegungseinschränkungen in der HWS sowie Schmerzen und Taubheitsgefühl im rechten Temporomandibulärgelenk (TMG) und Verspannungskopfschmerzen auf. Hals-Nasen-Ohren (HNO)- sowie vaskuläre Untersuchungen blieben ohne Ergebnisse. In der Untersuchung wurde ein erhöhter Muskeltonus in dem M. masseter, dem M. temporalis, dem M. sternocleidomastoideus und dem M. levator scapulae rechts gefunden. Es bestand eine Mobilitätseinschränkung des Kraniozervikalen-Übergangs (C0-C1-C2) sowie Spannungen in der suboccipitalen Muskulatur. Des Weiteren wies die Patientin Abnützungsspuren der Zähne durch Bruxismus auf. Die Behandlung bestand im Lösen der verspannten Muskulatur durch myofasziale Techniken und der Mobilisation des Schultergürtels, des TMG und dem Kraniozervikalen-Überganges. Zehn Tage nach der ersten Behandlung war eine deutliche Abnahme des Tinnitus sowie einer Linderung der Symptomatik im TMG und der Verspannungskopfschmerzen festzustellen. Nach der Folgebehandlung (welche der ersten Behandlung glich) waren die Beschwerden der Patientin komplett verschwunden. Hintergrund Tinnitus beschreibt eine subjektive Wahrnehmung eines nicht extern generierten Tons oder Geräuschs im Ohr, das meistens als Ringen oder Summen beschrieben wird[A]. Es ist ein Symptom, das durch eine gestörte Hörwahrnehmung entsteht und kann sowohl von kurzer Dauer als auch chronisch auftreten. [A] Weltweit sind 15 – 20 % der Bevölkerung von Tinnitus betroffen (A), (1) , (2), (3), (4), (5)- (6). Davon sind 25% durch die Symptome im Alltag beeinträchtigt und bei 1 – 3% wird die Lebensqualität dadurch beträchtlich vermindert (7). Mit zunehmendem Schweregrad des Tinnitus wächst die Inzidenz von Depression, Angststörungen sowie Schlaflosigkeit bei den betroffenen Personen (8), (9), (10). Für die Klassifizierung des Tinnitus bestehen mehrere Modelle. Für diese Fallstudie wird die „Tinnitus Holistic Simplified Classification“ (THoSC) laut Cianfrone et al 2015 benutzt (11): Je nach Ursprung des Tinnitus wird dieser in folgende drei Kategorien unterteilt: 1. auditorischer Tinnitus: Ursache: Es besteht eine pathologische Veränderung der Hörwahrnehmung oder Gehörbahn welche zu einem Hörverlust und einem damit in Zusammenhang stehenden Tinnitus führt (12), (13). Auslöser können sein: Ohrinfektionen, Cerumen, Aussetzung an lauten Lärm, ototoxische Medikamente, Morbus Menière, Neurome und Veränderung neuronaler Transmission. Liegt ein pulssynchroner Tinnitus vor, kann dieser durch eine Aorta/Karotiden Stauung, eine arteriovenöse Fistula/Malformation, einen vaskulären Tumor oder durch Bluthochdruck ausgelöst werden (14). Charakteristik: Er betrifft eher ältere Männer in Kombination mit einem Hörverlust[A], [B]. 3
2. psychopathologischer Tinnitus Ursache: Dieser wird durch psychologische und psychopathologische auditorische Interaktionen ausgelöst (11). 3. somatischer Tinnitus Ursache: Sein Ursprung liegt in Funktionsstörungen* des muskuloskelettalen Systems und nicht im Ohr selbst (15). Charakteristik: Er ist meist unilateral, kommt bei jüngeren Patienten•• (
Fragestellung Angesichts der unterschiedlichen Ätiologie sowie der noch nicht komplett verstandenen Pathophysiologie des somatischen Tinnitus gibt es bis heute noch keine genau definierte Richtlinie für dessen Diagnose und Therapie (20). Die bisher bekannten Therapieansätze sind nicht für alle Patienten gleich wirksam und führen zum Teil zu keiner Besserung der Symptome (20). In meiner Fallstudie stellen sich die Fragen: 1. Wie kann ein somatischer Tinnitus diagnostiziert werden? 2. Welche, durch osteopathische Techniken behandelbare Funktionsstörungen, können die Ursache eines somatischen Tinnitus sein? Methode Für den wissenschaftlichen Nachweis wurden die Datenbanken Pubmed, NICE, chiro-index, osteopatic-research und International Journal of Osteopathic Medicine verwendet sowie das Buch Tinnitus, Gerhard Hesse von Thieme. Es wurde nach systematischen Reviews, Originalartikel und Fallstudien mit den Stichwörtern „somatic tinnitus“, „somatosensory tinnitus“, „manual therapy“ „Temporomandibulardysfunction (TMD)“, „Temporomandibularjoint (TMJ)“ und „osteopathic therapy“ gesucht. Um den aktuellen Wissenstand zu überprüfen, wurde das Buch Tinnitus und zwei systematische Reviews von 2017 analysiert. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden spezifisch Artikel in der Osteopathie (oder der manuellen Therapie) und zur Diagnostik von Tinnitus, insbesondere des somatischen Tinnitus, beigezogen, um meine Fragestellung beantworten zu können. Gesamthaft waren dies 6 systematische Reviews, 43 Originalartikeln (davon 10 RCT’s), drei Fallstudien, zwei Master-Arbeiten und eine Dissertation. Allesamt wurden mit Ausnahme von 5 Publikationen nach dem Jahr 2000 publiziert. Die Fragestellung wurde unter Berücksichtigung der SMART Richtlinien formuliert. Die Stuktur der Fallstudie folgt den Richtlinien des livret d’étudiante [Anhang A]. 5
Nachweis der Literatur Welche Strukturen stehen mit einem somatischen Tinnitus in Verbindung Myogene und neurogene Theorie Die neurologische Verbindung des somatosensorischen Systems mit dem auditiven System wurde breit untersucht (21), (22), (23), (24), (25), (26), (27). In Tier- sowie Menschenmodellen hat man herausgefunden, dass die Integration gewisser somatosensorischen Afferenzen und der auditiven Afferenzen im gleichen Kerngebiet, dem Dorsalen Cohleären Nucleus (DCN) passiert (28). Es gibt somit eine Konvergenz zwischen den somatosensorischen Afferenzen und den auditiven Afferenzen (28). Die somatosensorischen Inputs kommen aus den Regionen des TMG (vor allem aus dem Innervationsbereich des N. trigeminus), dem Kraniozervikalen Übergang, der Halswirbelsäule (HWS) sowie der Nacken- und Schultergürtelmuskulatur (17). Somit kann ein somatischer Tinnitus als Ursprung eine spontane Feuerungsrate spezifischer Neuronen haben, die durch somatosensorische Inputs generiert werden(17). Des Weiteren wurde gezeigt, dass Bruxismus und damit einhergehende Kieferschmerzen oder Verspannungen mit fluktuierendem Tinnitus in Zusammenhang stehen (29). Durchblutungs Theorie Der VIII Hirnnerfv wird von der A. inferior cerebelli versorgt, welche aus der A. vertebralis stammt. Diese verläuft durch die foramina intervertebralis der HWS. Durch eine Funktionsstörung der HWS kann es zu einer verminderten Blutzufuhr des VIII Hirnnervs kommen. In solchen Fällen wird oft zusätzlich zum Tinnitus noch Schwindel angegeben. [A] Anatomische Verbindungen Anatomisch sind vor allem Verbindungen des TMG mit dem Innenohr festzustellen. Der Musculus pterygoideus lateralis weist eine fibröse Verbindung zum Malleolus Knöchelchen im Innenohr auf. Ebenfalls in Verbindung mit dem M. pterygoideus lateralis ist der M. tensor vali palatini welcher eine fibröse Verbindung mit dem M. tensor tympani aufweist (30). Das Sphenomandibuläre Ligament (SML) wird durch das anteriore malleolare Ligament zum Malleolus Knöchelchen weitergeführt. In Kadavern konnte nachgewiesen werden, dass Druck auf das SML zu einer Bewegung in dem Malleolus Knöchelchen führt (31). Psychologische Theorie Es ist bekannt, dass der Tinnitus durch Stress ausgelöst werden kann (32). Auch das TMG ist stressanfällig und es kommt bei Stresssituationen öfters zu Funktionsstörungen (33). Dies ist auf einen weit höheren Anteil an Muskelspindeln in der Kaumuskulatur zurückzuführen. Diese reagieren schneller auf Reaktionen der gamma-Motorik was in Stresssituationen zu einem erhöhten Muskeltonus führt [A]. Durch neurologische, myogene, vaskuläre, anatomische und psychologische Verbindungen des TMG (genauer dem M. temporalis, M. masseter, M. pterygoideus lateralis und das SML), des Kraniozervikalen Übergangs und der Muskulatur des Schultergürtels mit dem Ohr oder der Gehörbahn, können somit Funktionsstörungen dieser Regionen zu einem somatischen Tinnitus führen. Osteopathische Techniken sind somit vor allem für die Regionen des Kopf-, Hals,- Kiefer- und Schultergürtelbereichs sowie für die angrenzenden Muskeln, Strukturen und Faszien empfehlenswert. 6
In mehreren aktuellen Studien, wird eine Funktionsstörung des TMG oder der HWS mit einem somatischen Tinnitus in Verbindung gebracht (Tabelle1). Die Studien zeigen auf, dass durch die manuelle Behandlung der Funktionsstörungen der HWS oder des TMG eine Verbesserung der Tinnitus Symptomatik zu verzeichnen ist. Tabelle 1 Resultate aktueller Studien zur manuellen Behandlung des somatischen Tinnitus. RCT = randomised controlled trial, HVLA = High velocity low amplitude trust, TMD = Temporomandibuläre Disfunktion, HWSD = HWS Disfunktion Name, Studientyp Anzahl Patienten Methode Resultate Dräger 2000, 33 Patienten mit Osteopathische Moderate Verbesserung Dissertation (RCT) chronischem Tinnitus Behandlung der HWS, des Tinnitus in der (20) BWS sowie des TMG und Behandlungsgruppe im kraniosakralen Vergleich zu der Dysfunktionen Kontrollgruppe Alcantara et al. 2002, 1 Person 41j mit HVLA einer Verbesserung des Tinnitus Fallstudie (34) bilateralem Tinnitus Atlassubluxation nach 9 Behandlungen und Vertigo in Kombination mit einer TMD Bjorne et al. 2003, 24 Patienten mit Manuelle TMG und HWS Verbesserung in Frequenz Longitudinalstudie Morbus Menière Behandlung (3 Jahre und Intensität der (35) Kombination mit Behandlung mit follow- Symptome (unter anderem einer TMD und HWSD up alle 6 Monate) Tinnitus) Tullberg et al. 2006, 73 Patienten mit Manuelle TMG In 43% der Patienten kam RCT (36) Tinnitus in Behandlung es zu einer Verbesserung Kombination mit des Tinnitus nach 2 Jahren einer TMD (v.a (signifikant zur Myalgie) Kontrollgruppe) Joachim et al. 2010, 31 Patienten mit Osteopathische Empfindung, sowie pilot study (37) Tinnitus in Behandlung der TMD Intensität des Tinnitus Kombination mit konnte nach 6 einer TMD Behandlungen vermindert werden Twig 2010, Master- 32 Patienten mit Osteopathische Signifikante Verbesserung Thesis (38) einseitigem Tinnitus Behandlung vs Placebo der subjektiv empfundenen (ohne Hörstörung) Behandlung psychosozialen Tinnitusbelastung der osteopathischen Behandlung im Vergleich zur Plazebo Behandlung 7
Diagnostizierung des somatischen Tinnitus Die THoSC schlägt für die Diagnose des Tinnitus bestimmte Parameter vor (Tabelle2)(11). Jeder Tinnitus sollte zum Ausschliessen eines auditorischen Tinnitus zuerst durch einen HNO- Arzt getestet werden. Die Untersuchung sollte eine komplette HNO-Inspektion des Ohres inklusive audiologischer sowie neuro-otologischer Tests beinhalten. Im Falle eines pulssynchronen Tinnitus sollte zudem unbedingt ein Angiologe aufgesucht werden, um vaskuläre Pathologien ausschliessen zu können (14). Für die weitere Diagnose sind vor allem die Anamnese und die somatosensorischen Untersuchungen ausschlaggebend. Haider et al. 2017 haben aus 100 Studien die Charakteristika eines somatischen Tinnitus zusammengefasst (Tabelle 2)(16). Auffällig ist im Gegensatz zum auditorischen Tinnitus das Vorkommen bei eher jüngeren Patienten unter 40 Jahre sowie die koexistierenden Schmerzen im muskuloskelettalen Bereich. Die Modulierbarkeit des Tinnitus durch TMG oder Nackenbewegungen, oder durch die Position des Kopfes ist eine zentrale Charakteristik des somatischen Tinnitus. In einer Kohortstudie in England wurde zudem herausgefunden, dass die Mehrheit der von somatischem Tinnitus betroffenen Patienten einen pulssynchronen Tinnitus aufweisen und Variationen in der Lautstärke des Tinnitus verzeichnen (39). Im Falle einer negativen HNO-Untersuchung, eines positiven somatosensorischen Tests und zusätzlich einer typischen Charakteristik für einen somatischen Tinnitus, bestehen gute Chancen für eine Verbesserung der Symptomatik des Tinnitus durch die Behandlung der somatischen Funktionsstörung (36). 8
Tabelle 2 Diagnostik eines somatischen Tinnitus laut THoSC Ausschluss eines auditiven HNO-Untersuchung: Tinnitus - Inspektion des Ohres - Audiologische und neuro-otologische Tests - Im Falle eines pulssynchronen Tinnitus zusätzliche Untersuchung durch einen Angiologen Risikofaktoren(11): - Gehörverlust - Entzündung des Ohres - Lärmtraumata oder Schalltraumata - Tauchunfälle - Korrelation von Tinnitus mit Medikamenteneinnahmen (v.a Antimikrobika, NSAID, Schleifendiuretika) - Schwindel / Ohrendruck (Morbus menière oder hydrops cochleae)(40) Spezifische Anamnese (1) Art des Geräusches, Lokalisierung, konstant oder veränderbar (2) Chronologischer Zusammenhang mit anderen Symptomen (Gehörverlust, Stress, Schmerzen) (3) Modulation durch Bewegungen oder Lagerung (4) Psychologische und emotionale Verfassung Charakteristika des Charakteristika: somatischen Tinnitus - junge Patienten (
Kritische Beurteilung der Resultate Die Vorgehensweise für die Diagnostik des somatischen Tinnitus ist durch eine Observationsstudie mit 212 Tinnitus betroffenen Personen aus der Universitätsklinik in Rom entstanden. Sie stellt somit eher eine mögliche Herangehensweise dar, als dass sie als Guideline dienen könnte. Es konnten zwar neurologische, myogene, vaskuläre, anatomische und psychologische Verbindungen des TMG, des Kraniozervikalen Übergangs und des Schultergürtels mit dem Ohr oder der Gehörbahn gefunden werden. Jedoch wurden noch zu wenige Studien darüber gemacht, ob die Funktionsstörungen in dieser Region wirklich die Ursache des somatischen Tinnitus sind. Schon Neuhuber et al. 1998 haben davor gewarnt nur wegen neurologischen oder anatomischen Verbindungen auf Symptome zu schliessen (41). In keiner der analysierten Studien wurde eine genaue Beschreibung der Behandlung der Funktionsstörungen gefunden. Es wurde auch nicht erwähnt, mit welcher Behandlung die besten Ergebnisse erzielt wurden. In den meisten Studien wurden die Probanden individuell nach ihren gefundenen Funktionsstörungen behandelt. Es scheint, als könne man zwar die Region einer möglichen Behandlung eingrenzen, jedoch nicht die spezifische Funktionsstörung angeben. Integration der Resultate in die Osteopathische Konsultation Die Patientin der Fallstudie erfüllt alle Charakteristika, die auf einen somatischen Tinnitus mit Ursprung in einer Funktionsstörung des muskuloskelettalen Systems hinweisen (Tabelle 2). Dies kann somit ein erstes Indiz dafür sein, dass eine osteopathische Behandlung zu einem Therapieerfolg führen könnte. Sollte sich, nicht wie in diesem Fall, die behandelte Person noch keiner HNO-Untersuchung unterzogen haben, ist dies zu empfehlen. Vor allem um einen auditorischen Tinnitus, der mit einer Krankheit des Ohrs oder des Gehörgangs einhergeht auszuschliessen. Dafür sollten die Risikofaktoren (Tabelle 2) in der Anamnese ausgeschlossen werden. Besonders ein nicht abgeklährter pulssynchroner Tinnitus sollte unbedingt an einen Angiologen weitergeleitet werden (14). Um den Verdacht auf einen somatischen Tinnitus noch zu verstärken, sollen anschliessend an die spezifische Tinnitus-Anamnese (Tabelle 2) die somatosensorischen Untersuchungen durchgeführt werden (Tabelle 2). Diese Untersuchungen wurden im obigen Fallbeispiel nicht durchgeführt und können somit nicht evaluiert werden. Es ist bewiesen, dass neurologische, myogene, vaskuläre, anatomische und psychologische Verbindungen des TMG, des Kraniozervikalen Übergangs und des Schultergürtels mit dem Ohr oder der Gehörbahn bestehen. Osteopathische Untersuchungen sollten sich somit vor allem auf die Region des Kopf-, Hals,- Kiefer- und Schultergürtelbereichs sowie auf die angrenzenden Muskeln, Strukturen und Faszien fokussieren. 10
Besondere Aufmerksamkeit sollte in diesem Fall auch der M. pterygoideus lateralis erhalten, der durch seine anatomische Verbindung eng mit dem Ohr in Zusammenhang steht. Nicht nur in dieser Fallstudie wurde ein erhöhter Tonus dieses Muskels gefunden. Auch zwei weitere Fallstudien von Massoud Arab et al. 2014 berichten über das gleiche Phänomen (42). In der systematischen Review von Ramirez et al. 2008 wird ein Zusammenhang zwischen jenem Muskel und Tinnitus dokumentiert (43). Für die Behandlung kann zwar eine Region eingegrenzt werden, jedoch kann keine allgemeingültige Funktionsstörung angegeben werden. Die Behandlung des somatischen Tinnitus sollte individuell der behandelten Person angepasst werden und auf die Ergebnisse in der Untersuchung abgestützt sein. Die Erfolgschancen für eine Behandlung ist grösser bei Patienten mit einem modifizierbaren oder fluktuierenden Tinnitus (36), wie es auch in dieser Fallstudie der Fall war. Des Weiteren ist zu beachten, dass die Ursache einer Funktionsstörung nicht unbedingt die Struktur selbst sein mag. Im Falle eines Bruxismus wird man zwar eine hypertone Kaumuskulatur finden, diese wird sich aber ohne Behandlung der Primärursache, durch interdisziplinäre Zusammenarbeit mit einem Zahnarzt oder Psychologen, nicht komplett auflösen (44). Des Weiteren können Funktionsstörungen in gewissen Regionen auch durch pathologische Veränderungen der Strukturen (Osteoarthritis, Degenerative Prozesse, Subluxationen) hervorgerufen werden, welche nicht alleine durch die Osteopathie behandelt werden können(11). Es kann somit also nicht jeder somatische Tinnitus durch osteopathische Behandlungen therapiert werden. Um die Lebensqualität der Tinnituspatienten zu erhöhen, ist in vielen Fällen eine interdisziplinäre Arbeit notwendig (12). In jedem Fall sollte dementsprechend individuell entschieden werden, welche Behandlung für den Patienten die effizienteste darstellt. Wiederum fehlen hier Forschungsergebnisse zu einem klaren interdisziplinären Behandlungsplan. 11
Diskussion Zusammenfassung der Resultate: Da der Tinnitus ein Syndrom und keine Erkrankung darstellt, ist es wichtig, jeden Tinnituspatienten individuell zu beurteilen und eine für ihn angepasste Behandlungsstrategie zu entwickeln. Falls dies noch nicht der Fall sein sollte, sollte der Patient für den Ausschluss eines auditiven Tinnitus an einen HNO-Arzt weiterverwiesen werden. Falls ein pulssynchroner Tinnitus vorliegt, ist es wichtig, diesen von einem Angiologen abklären zu lassen. Nach der spezifischen Tinnitus Anamnese, mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Charakteristika eines somatischen Tinnitus (Tabelle 2), sollte die somatosensorischen Tests (Tabelle 2) durchgeführt werden. Die weitere osteopathische Untersuchung sollten sich dann vor allem auf die Region des Kopf-, Hals,- Kiefer- und Schultergürtelbereichs sowie auf die angrenzenden Muskeln, Strukturen und Faszien fokussieren. Mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Zervikokranialen Übergang, die Kaumuskulatur und das SML. Wird der somatische Tinnitus und die mit ihm in Zusammenhang stehende Funktionsstörung korrekt diagnostiziert, kann eine osteopathische Behandlung zu einem Therapieerfolg führen. Je nach Ursache des Tinnitus ist es wichtig, interdisziplinär zu arbeiten, um dem Patienten eine optimale Behandlung bieten zu können. Konkrete Guidelines für eine gezielte Diagnose und eine korrekte Behandlung des somatischen Tinnitus sind unbedingt notwendig. Dazu bedarf es aber weiterer Forschung zu den genauen Ursachen und die mit ihnen in Zusammenhang stehenden klinischen Anzeichen. Limitationen und zukünftige Forschung: Obwohl grösstenteils systematische Reviews sowie RCT für die wissenschaftlichen Nachweise verwendet wurden, basieren meine Resultate mehrheitlich auf theoretischen Hypothesen und Klassifikationen aus Observationsstudien.. Um meine Resultate zu stärken, bräuchte es weitere, grössere Studien. Zukünftige Forschung sollte vor allem darauf abzielen, den somatischen Tinnitus genauer diagnostizieren zu können. Es gibt noch keine Studie, die beschreibt, ob es einen Zusammenhang zwischen der somatosensorischen Modulation des Tinnitus und einer in dieser Region vorhandenen Funktionsstörung gibt. Ralli et al. 2016 haben herausgefunden, dass es eine Verlinkung zwischen einer positiven Schmerzgeschichte des TMG und der Modulierbarkeit des Tinnitus durch Druck auf eben dieses Gelenk gibt (45). Es wurde jedoch nicht untersucht, ob eine Behandlung der Funktionsstörung des TMG zu einer Verbesserung des Tinnitus geführt hätte. 12
Es ist zwar bewiesen, dass manuelle Techniken zu einer Verbesserung des Tinnitus führen können (Tabelle 1), die vorliegenden Studien haben jedoch alle nur eine kleine Probandenzahl (durchschnittlich 20 Probanden pro Gruppe) und weisen somit eine geringe statistische Stärke auf. Es wurden nur manuelle Behandlungen gegenüber einer Kontrollgruppe verglichen. Spannend wäre es zu untersuchen, welche Behandlungen (myofasziale Techniken, Thrusts, Mobilisationen, Übungen zu Hause) am effizientesten wären. Durch die vernetzten Ursachen des Tinnitus sowie koexistierenden Funktionsstörungen oder Pathologien, wird oft eine interdisziplinäre Zusammenarbeit empfohlen (12). Für diese bräuchte es aber zuerst klare Standards für die Diagnose sowie für den Behandlungsplan der verschiedenen Arten von Tinnitus. Momentan ist die Klassifizierung, Untersuchung und Behandlung des Tinnitus noch ein umstrittenes Thema in der Literatur. Es werden unterschiedlichste Behandlungsansätze diskutiert, ohne jedoch die jeweiligen Therapieerfolge anzugeben oder die Zusammenarbeit der verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu spezifizieren. Aus diesen Gründen ist NICE an der Ausarbeitung einer Guideline für „Tinnitus assessment and management“, welche voraussichtlich 2020 publiziert werden wird (46). 13
Anhang A 14
15
16
Referenzen 1. Mccormack A, Edmondson-Jones M, Fortnum H, Dawes P, Middleton H, Munro KJ, et al. The prevalence of tinnitus and the relationship with neuroticism in a middle-aged UK population. J Psychosom Res [Internet]. 2014;76(1):56–60. Available from: http://dx.doi.org/10.1016/j.jpsychores.2013.08.018 2. Shargorodsky J, Curhan GC, Farwell WR. Prevalence and characteristics of tinnitus among US adults. Am J Med. 2010 Aug;123(8):711–8. 3. Michikawa T, Nishiwaki Y, Kikuchi Y, Saito H, Mizutari K, Okamoto M, et al. Prevalence and factors associated with tinnitus: a community-based study of Japanese elders. J Epidemiol. 2010;20(4):271–6. 4. Khedr EM, Ahmed MA, Shawky OA, Mohamed ES, El Attar GS, Mohammad KA. Epidemiological study of chronic tinnitus in Assiut, Egypt. Neuroepidemiology. 2010;35(1):45–52. 5. Xu X, Bu X, Zhou L, Xing G, Liu C, Wang D. An epidemiologic study of tinnitus in a population in Jiangsu Province, China. J Am Acad Audiol. 2011 Oct;22(9):578–85. 6. Krog NH, Engdahl B, Tambs K. The association between tinnitus and mental health in a general population sample: results from the HUNT Study. J Psychosom Res. 2010 Sep;69(3):289–98. 7. Axelsson A, Ringdahl A. Tinnitus--a study of its prevalence and characteristics. Br J Audiol. 1989 Feb;23(1):53–62. 8. Zoger S, Svedlund J, Holgers K-M. Relationship between tinnitus severity and psychiatric disorders. Psychosomatics. 2006;47(4):282–8. 9. Cronlein T, Langguth B, Pregler M, Kreuzer PM, Wetter TC, Schecklmann M. Insomnia in patients with chronic tinnitus: Cognitive and emotional distress as moderator variables. J Psychosom Res. 2016 Apr;83:65–8. 10. Langguth B, Kleinjung T, Fischer B, Hajak G, Eichhammer P, Sand PG. Tinnitus severity, depression, and the big five personality traits. Prog Brain Res. 2007;166:221–5. 11. Cianfrone G, Mazzei F, Salviati M, Turchetta R, Orlando MP, Testugini V, et al. Tinnitus Holistic Simplified Classification (THoSC): A New Assessment for Subjective Tinnitus, With Diagnostic and Therapeutic Implications. Ann Otol Rhinol Laryngol. 2015 Jul;124(7):550–60. 12. Atik A. Pathophysiology and Treatment of Tinnitus : An Elusive Disease. Indian Journal of Otolaryngology and Head & Neck Surgery. 2014;66(January):1–5. 13. Roberts LE, Eggermont JJ, Caspary DM, Shore SE, Melcher JR, Kaltenbach JA. Ringing ears: the neuroscience of tinnitus. J Neurosci. 2010 Nov;30(45):14972–9. 14. Zimmerman E, Timboe A, Force NA. Tinnitus : Steps to take. The Journal of Family Practice. 2014;63(2):82–8. 15. Sanchez TG, Guerra GCY, Lorenzi MC, Brandao AL, Bento RF. The influence of voluntary muscle contractions upon the onset and modulation of tinnitus. Audiol Neurootol. 2002;7(6):370–5. 16. Haider HF, Hoare DJ, Costa RFP, Potgieter I, Kikidis D, Lapira A, et al. Pathophysiology , Diagnosis and Treatment of Somatosensory Tinnitus : A Scoping Review. frontiers in 17
Neuroscience. 2017;11(April). 17. Ralli M, Greco A, Turchetta R, Altissimi G, Vincentiis M De, Cianfrone G. Somatosensory tinnitus : Current evidence and future perspectives. J of International Medical Research. 2017;45(3):399 -947 18. Manfredini D, Olivo M, Ferronato G, Marchese R, Martini A, Guarda-Nardini L. Prevalence of tinnitus in patients with different temporomandibular disorders symptoms. Int Tinnitus J. 2015;19(2):47–51. 19. Dräger K. Tinnitus und seine Reaktion auf osteopathische Behandlung. Dissertation zum Erlangen des Grades eines Dokots in Medizin. Universität Hamburg. 2000 20. Swain SK, Nayak S, Ravan JR, Sahu MC. Tinnitus and its current treatment-Still an enigma in medicine. J Formos Med Assoc. 2016 Mar;115(3):139–44. 21. Shore SE, Roberts LE, Langguth B. Maladaptive plasticity in tinnitus--triggers, mechanisms and treatment. Nat Rev Neurol. 2016 Mar;12(3):150–60. 22. Cacace AT. Expanding the biological basis of tinnitus: crossmodal origins and the role of neuroplasticity. Hear Res. 2003 Jan;175(1–2):112–32. 23. Dehmel S, Cui YL, Shore SE. Cross-modal interactions of auditory and somatic inputs in the brainstem and midbrain and their imbalance in tinnitus and deafness. Am J Audiol. 2008 Dec;17(2):S193-209. 24. Shore SE, El Kashlan H, Lu J. Effects of trigeminal ganglion stimulation on unit activity of ventral cochlear nucleus neurons. Neuroscience. 2003;119(4):1085–101. 25. Shore SE. Plasticity of somatosensory inputs to the cochlear nucleus--implications for tinnitus. Hear Res. 2011 Nov;281(1–2):38–46. 26. Wu C, Stefanescu RA, Martel DT, Shore SE. Tinnitus: Maladaptive auditory-somatosensory plasticity. Hear Res. 2016 Apr;334:20–9. 27. Shore S, Zhou J, Koehler S. Neural mechanisms underlying somatic tinnitus. Prog Brain Res. 2007;166:107–23. 28. Kaltenbach JA. Summary of evidence pointing to a role of the dorsal cochlear nucleus in the etiology of tinnitus. Acta Otolaryngol Suppl. 2006 Dec;(556):20–6. 29. Rubinstein B, Erlandsson SI. A stomatognathic analysis of patients with disabling tinnitus and craniomandibular disorders (CMD). Br J Audiol. 1991 Apr;25(2):77–83. 30. Ramirez LM, Ballesteros LE, Sandoval GP. Tensor tympani muscle: strange chewing muscle. Med Oral Patol Oral Cir Bucal. 2007 Mar;12(2):E96-100. 31. Loughner BA, Larkin LH, Mahan PE. Discomalleolar and anterior malleolar ligaments: possible causes of middle ear damage during temporomandibular joint surgery. Oral Surg Oral Med Oral Pathol. 1989 Jul;68(1):14–22. 32. Schmitt C, Patak M, Kroner-Herwig B. Stress and the onset of sudden hearing loss and tinnitus. Int Tinnitus J. 2000;6(1):41–9. 33. Korszun A, Young EA, Singer K, Carlson NE, Brown MB, Crofford L. Basal circadian cortisol secretion in women with temporomandibular disorders. J Dent Res. 2002 Apr;81(4):279– 83. 34. Alcantara J, Plaugher G, Klemp DD, Salem C. Chiropractic care of a patient with 18
temporomandibular disorder and atlas subluxation. J Manipulative Physiol Ther. 2002 Jan;25(1):63–70. 35. Bjorne A, Agerberg G. Symptom relief after treatment of temporomandibular and cervical spine disorders in patients with Meniere’s disease: a three-year follow-up. Cranio. 2003 Jan;21(1):50–60. 36. Tullberg M, Ernberg M. Long-term effect on tinnitus by treatment of temporomandibular disorders: a two-year follow-up by questionnaire. Acta Odontol Scand. 2006 Apr;64(2):89–96. 37. Joachim S, Kronau S, Moshövel N, Niggemeier H, Rütz M. Test-dependent osteopathic treatment of patients with tinnitus and craniomandibular dysfunctions ( CMD ): A pre- post pilot trial.I J of osteopathic medicin. 2010;13:104-131. 38. Twigt P. Die Wirksamkeit einer osteopathischen Intervention bei Patienten mit einem einseitigen Tinnitus aurium. Masterthesis zur Erlangung des Grades Master of Science in Osteopathy. 2010 39. Ward J, Vella C, Hoare DJ, Hall DA. Subtyping Somatic Tinnitus: A Cross-Sectional UK Cohort Study of Demographic, Clinical and Audiological Characteristics. PLoS One. 2015;10(5):e0126254. 40. Plontke SK, Gürkov R. Morbus Menière Menière ’ s Disease. Facharztwissen-HNO. 2015;530–54. 41. Neuhuber W.L. Besonderheiten der Innervation des Kopf-Hals-Bereichs. Orthopäde 1998;794–801. 42. Massoud A, Reza M. The effect of cranial osteopathic manual therapy on somatic tinnitus in individuals without otic pathology : Two case reports with one year follow up *. Int J Osteopath Med [Internet]. 2014;17(2):123–8. Available from: http://dx.doi.org/10.1016/j.ijosm.2013.11.002. 43. Ramirez LM, Ballesteros LE, Sandoval GP. Topical review: temporomandibular disorders in an integral otic symptom model. Int J Audiol. 2008 Apr;47(4):215–27. 44. Alóe F. Sleep Bruxism Treatment. Sleep Sience. 2009;2(1):49–54. 45. Ralli M, Altissimi G, Turchetta R, Mazzei F, Salviati M, Cianfrone F, et al. Somatosensory Tinnitus: Correlation between Cranio-Cervico-Mandibular Disorder History and Somatic Modulation. Audiol Neurootol. 2016;21(6):372–82. 46. Guideline scope Tinnitus : assessment and management. NICE (2016):1–10. 47. Braun B, Schiffman EL. The validity and predictive value of four assessment instruments for evaluation of the cervical and stomatognathic systems. J Craniomandib Disord. 1991;5(4):239–44. [A] Gerhard H. Tinnitus. Stuttgart: Thieme. 2008:7 - 44 [B] Eggermont JJ. Pathophysiology of tinnitus. Prog Brain Res. 2007:19 – 23 [C] Levine RA. Somatic Tinnitus. Tinnitus: Theory and Management. J. B. Snow, BC Decker. 2004:108–124. [D] Ernst A. Freesmeyer WB. Funktionsstörungen im Kopf-Hals-Bereich. Stuttgart: Thieme.2008. 19
Sie können auch lesen