Chronisch rezidivierende Kopfschmerzen - Neurologische Kasuistik
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Fortbildung Neurologische Kasuistik Chronisch rezidivierende Kopfschmerzen Testen Sie Ihr Wissen! Anamnese Medikamentenkonsum wird verneint. Ein 70-jähriger verheirateter, berenteter Auch fremdanamnestisch ergeben sich In dieser Rubrik stellen wir Ihnen abwechselnd einen bemerkenswerten Fall aus dem psychiat- Angestellter leidet seit über 15 Jahren an keine Anhaltspunkte für einen erhöhten rischen oder dem neurologischen Fachgebiet vor. rezidivierenden Kopfschmerzen. Diese Konsum von Analgetika oder Triptanen. Hätten Sie die gleiche Diagnose gestellt, dieselbe nahmen in den letzten Wochen, nach ei- Ein Schädel-Hirn-Trauma wird Therapie angesetzt und einen ähnlichen Verlauf ner Schulteroperation und einer lang- ebenso wie eine ZNS-Infektion verneint. erwartet? Oder hätten Sie ganz anders entschie- wierigen zahnärztlichen Behandlung mit Familienanamnese: Es besteht keine Be- den? Mithilfe der Fragen und Antworten am Ende Zahnextraktion bei anhaltenden Lokal- lastung für eine Migräne. jeder Kasuistik vertiefen Sie Ihr Wissen. schmerzen, deutlich an Frequenz und Gefäßrisikofaktoren: Arterielle Hyperto- Intensität zu. Seit Ende 2010 seien nun nie und Hyperlipoproteinämie. Die Kasuistiken der letzten Ausgaben täglich Kopfschmerzen vorhanden Als Dauermedikation wird die Ein- (N = neurologisch, P = psychiatrisch): (Abbildung 1). Dominierend seien hier nahme von ASS® 100 mg, Simvastatin starke Kopfschmerzen (6–7/10 auf einer 20 mg, CoAprovel® (Irbesartan 300 mg NT 9/2011 Analogskala von 1–10). Diese seien von und Hydrochlorothiazid 12,5 mg) und P: Kein Tic, sondern eine dissoziative dumpf-drückender Qualität, fast immer Tebonin® 2 x 100 mg angegeben. Bewegungsstörung holocephal vorhanden und nur gelegent- NT 10/2011 lich mit Übelkeit und Erbrechen verbun- Neurologischer Befund N: Schluckstörung – Wenn die Wirbelsäule den. Ein- bis zweimal pro Monat träten Die neurologische Untersuchung zeigt zum Hindernis wird frontal beidseits bentont massive Kopf- einen unauffälligen Befund. Die Arteria schmerzen auf, die von stechendem Cha- temporalis ist unauffällig und beidseits NT 11/2011 rakter sind und von einer Photo- und nicht druckdolent tastbar. Bei der psy- P: Aphasie als Leitsymptom frontotemporaler Phonophobie begleitet werden. Zusätz- chiatrischen Untersuchung dominiert Lobärdegeneration liche neurologische Symptome werden eine leichte generalisierte Angststörung nicht beschrieben. Nur an wenigen Ta- mit gelegentlichen Panikattacken. Es fin- NT 12/2011 gen seien die Kopfschmerzen von leich- den sich aktuell keine Anhaltspunkte für N: Hohes Alter – kognitive Störungen – ter Intensität, sodass sie nicht als be- eine depressive Episode oder eine kogni- M. Alzheimer: ein zunehmender Reflex? lastend empfunden würden. Zeitweise tive Störung. NT 1/2012 erwache er bereits mit starken Kopf- P: Krampfanfälle bei Benzodiazepinentzug schmerzen, die sich über den Tag nicht Internistisch-tomografischer Befund mehr besserten, gelegentlich wechsle die In einer Duplex-Sonografie der Halsar- NT 2/2012 Schmerzintensität im Verlauf des Tages terien finden sich einzelne nicht steno- N: Chronisch rezidivierende Kopfschmerzen doch spürbar. sierende Plaques im Bereich des Bulbus Seit einigen Jahren besteht ein beid- der Arteria carotis communis beiderseits seitiges Ohrgeräusch, das in Ruhephasen (rechts größer als links) mit leichter Das Online-Archiv finden Sie auf den als sehr störend empfunden wird. Ein Intimaverdickung. Die Kernspintomo- Homepages der Berufsverbände unter begleitender Schwindel oder eine Hör- grafie des Schädels zeigt mehrere kleine www.bvdn.de minderung werden verneint. signalreiche Marklagerläsionen periven- www.neuroscout.de Zusätzlich besteht seit Jahren eine trikulär beidseits in den T2- und FLAIR- www.bv-psychiater.de Angststörung mit Panikattacken und re- Sequenzen. Ein raumfordernder Prozess, zidivierenden depressiven Episoden. Zur eine kortikale Ischämie oder eine Gefäß- Besserung der Kopfschmerzen nimmt der mißbildung können ausgeschlossen wer- Patient nur Novaminsulfon oder gelegent- den. Die arterielle MR-Angiografie zeigt lich Acetylsaliylsäure ein. Ein chronischer eine Hypoplasie der A. vertebralis links NeuroTransmitter 2 · 2012
Neurologische Kasuistik Fortbildung sowie eine Hypoplasie der proximalen A. cerebri posterior beiderseits bei nor- maler Weite der distalen Abschnitte. Die Nasennebenhöhlen waren bis auf eine tapetenartige Schleimhautschwellung normal belüftet. Ein Schlaf-Apnoe-Screening ergibt keinen Anhalt für eine nächtliche Hypo- xie oder behandlungsbedürftige Apnoe- phasen. Diagnose — Chronischer täglicher Kopfschmerz — Idiopathischer Tinnitus beidseits — Angststörung mit Panikattacken — Rezidivierende depressive Störung — Multiple Marklagerläsionen — Gefäßrisikofaktoren: arterielle Hypertonie, Hyperlipoproteinämie Abbildung 1: Kopfschmerzkalender 2010/2011. Eigenprotokoll der Schmerzintensität (leichte Kopfschmerzen = 1–2/10, KS = 3– 4/10, starke Kopfschmerzen = 5– 6/10, starke Epikrise Kopfschmerzen = 7– 8/10, extreme Kopfschmerzen = 9 –10/10). Mit dem Patienten wurde in einem lan- gen Aufklärungsgespräch die Problema- tik eines chronischen Kopfschmerzsyn- droms ausführlich besprochen und eine verhaltenstherapeutische Behandlung bei der Kombination mit einer Angststörung eingeleitet. Da die Kopfschmerzsympto- matik sich durch die lokalen Schmerzen nach Schulter- und Kieferoperation deut- lich verschlechterte und zu schmerzbe- dingten Schlafstörungen führte, wurde eine Kopfschmerzprophylaxe mit Amitri- ptylin begonnen, die jedoch wegen starker Nebenwirkungen wieder abge- setzt werden musste. Therapieversuche mit Escitalopram und Citalopram in de- ren Verlauf zunehmend Panikattacken auftraten, wurden ebenfalls nicht tole- riert. Es erfolgte dann eine Behandlung mit Topiramat (Aufdosierung bis 100 mg/d) unter gleichzeitiger antidepres- siver Behandlung mit Venlafaxin. Hier- Abbildung 2: Kopfschmerzkalender Mitte 2011 unter Topiramat unter besserte sich die Kopfschmerzin- tensität deutlich (Abbildung 2). Migräne- attacken traten nicht mehr auf und die leichten weiterhin täglich vorhandenen hin Panikattacken auftraten, erfolgte Es traten auch wieder typische Migräne- Kopfschmerzen beeinträchtigten die All- eine Umstellung auf Pregabalin (langsam attacken auf. tagsaktivitäten nicht mehr. Bei zuneh- aufdosierend bis auf 175 mg/d) unter re- Nachdem verschiedene Pharmako- menden Konzentrationsstörungen, de- duzierter Dosis von Venlafaxin (75 therapien entweder keinen Effekt hatten pressiver Verstimmung und innerer Un- mg/d). Diese Medikation wurde erneut oder bei positivem Effekt auf den chro- ruhe wurde die Topiramatdosis jedoch nicht vertragen und aufgrund eines zu- nischen Kopfschmerz wegen Nebenwir- zuerst reduziert und bei fortbestehenden nehmenden Benommenheitsgefühls kungen immer wieder abgesetzt werden Nebenwirkungen wieder ausgeschlichen. („sei nie mehr richtig bei sich“) wieder mussten, erfolgte zuletzt eine Botulinum- Einen Therapieversuch mit Valproinsäu- ausgeschlichen. Die Kopfschmerzintensi- toxin-Injektionsbehandlung der perikra- re lehnte der Patient bei bekannten, er- tät und -frequenz nahm in den Folgewo- nialen Muskulatur. Innerhalb der ersten höhten Leberwerten ab. Da auch weiter- chen wieder deutlich zu (Abbildung 3). zwei Wochen kam es zu einer deutlichen NeuroTransmitter 2 · 2012 51
Fortbildung Neurologische Kasuistik Besserung der Kopfschmerzsymptomatik ohne jegliche Nebenwirkungen. Nach den erstmals wieder kopfschmerzfreien Tagen seit langer Zeit verschlechterte sich die Symptomatik jedoch erneut im Rahmen eines stärkeren grippalen Infektes mit Husten und Rhinitis. Die Angststörung ist aktuell stabil. LITERATUR www.springermedizin.de/neurotransmitter Dr. med. Peter Franz Neurologische Gemeinschaftspraxis Tagesklinik München Nord Abbildung 3: Kopfschmerzkalender Ende 2011 E-Mail: pkfranz@aol.com Fragen 1. Welche der Aussagen über einen chronisch c Zu den behandelbaren Risikofaktoren d Eine Störung der zentralen Schmerz- täglichen Kopfschmerz ist richtig? zählen arterielle Hypertonie, Schnar- inhibition trägt zur Chronifizierung a Ein sekundärer Kopfschmerz sollte chen, Rauchen und erhöhter Koffein- bei chronischen Kopfschmerzen bei. immer kernspintomografisch ausge- konsum. e Ein hoher Angstindex im Kindesalter schlossen werden. d ei einem Medikamenten-indu- B und eine erhöhte Stressreaktivität er- b Häufigste Ursache eines sekundären ziertem Kopfschmerz ist das Rezidiv- höhen das Risiko für einer Migräne im chronischen täglichen Kopfschmerzes risiko in den ersten sechs Monaten Erwachsenenalter. ist ein medikamenten-induzierter am geringsten. Kopfschmerz. e Über die Hälfte aller Patienten mit c Häufigste Ursache eines primären chronischer Migräne oder Span- chronischen Kopfschmerzes ist eine nungskopfschmerzen behält den 4. Welche der Substanzen wirkt nicht bei Migräne oder ein Spannungskopf- dominierenden Kopfschmerz auch chronischer Migräne und Spannugskopf- schmerz. im Langzeitverlauf. schmerzen? d a Topiramat ie Prävalenz einer chronischen D Migräne zeigt deutliche regionale b Botulinumtoxin Unterschiede und liegt zwischen 3. Welche der Aussagen zur Chronifizierung c Amitriptylin 0,2–5,1%. von Kopfschmerzen ist falsch? d e Alle Antworten sind richtig. Valproat a eim Übergang vom episodischen B e Keine wirkt bei beiden Kopfschmerz- zum chronischen Spannungskopf- arten. schmerz treten periphere Schmerz- mechanismen zunehmend in den 2. Welche der Angaben über den Verlauf Hintergrund. chronischer täglicher Kopfschmerzen ist b Im NMR konnte beim chronischen falsch? Spannungskopfschmerz eine Verrin- a Häufig finden sich Phasen der Remis- gerung der grauen Substanz in zen- sion mit anschließenden Rezidiven. tralen Schmerzzentren gezeigt wer- b Als Risikofaktoren gelten: eingreifen- den. de Lebensveränderungen, schlechter c Eine zentrale Sensitivierung spielt nur sozialer Status, zusätzliche chronische bei der Migräne, nicht jedoch beim Schmerzzustände. Spannungskopf eine wichtige Rolle. 52 NeuroTransmitter 2 · 2012
Neurologische Kasuistik Fortbildung Lösungen 1e, 2d, 3c, 4b Ein chronischer Kopfschmerz, der über schmerz (meist 1 Attacke/Tag mit einer mittelhoch und für einfache nicht steroi- Jahre mit wechselnder Frequenz und In- durchschnittlichen Dauer von 60 Minu- dale Analgetika (NSAID) gering [Smith tensität teilweise mit wechselnder Vertei- ten) oder die paroxysmale Hemikranie 2004]. Bereits bei einer Einnahme von lung und Qualität auftritt, ist in der neu- (mittlere Attackenfrequenz 11/Tag, Atta- zwei bis drei NSAID pro Woche sollte rologischen Praxis ein sehr häufiges und ckendauer 15 Minuten) lassen sich auf- jedoch bei einem chronischen Kopf- bekanntes Problem. Etwa 4 % der Erwach- grund der Schmerzdauer und Frequenz schmerz die Möglichkeit eines MIK senen leiden weltweit jedoch an täg- anamnestisch meist leicht abgrenzen. berücksichtig werden. lichen chronischen Kopfschmerzen: Spa- Nur wenn der Kopfschmerz ohne frühere nien 4,7 %, USA 4,1 %, Taiwan 3,9 % [Castil- Kopfschmerzanamnese innerhalb von Zu Frage 2: lo 1999, Scher 1998, Wang 2000]. Wäh- drei Tagen auftritt und eine symptoma- Antwort d ist richtig. Patienten mit CTK rend eine Übersicht verschiedener epide- tische Ursache einschließlich eines medi- können im Langzeitverlauf häufig zwi- miologischer Untersuchungen in Europa kamenteninduzierten Kopfschmerzes schen Phasen mit täglichem Kopf- ebenfalls eine jährliche Prävalenz von ausgeschlossen wurde, kann er als neu- schmerzen und attackenförmigen pri- annähernd 4 % ergab, zeigen sich jedoch aufgetretener täglicher Kopfschmerz dia- mären Kopfschmerzen hin- und herwech- deutliche Unterschiede in der Prävalenz gnostiziert werden (http://ihsclassifica- seln. Dabei kommt es bei Migränepati- in einzelnen europäischen Studien [Sto- tion.org/de/02_klassifikation/02_ enten häufig zu einer Abnahme der Kopf- ver 2006]. So fand sich in einer Populati- teil1/04.08.00_other.html). schmerzintensität, die meist einem Span- onsstudie in Norwegen nur eine Präva- Die Prävalenz der chronischen Migräne, nungskopfschmerz entsprechend bilateral lenz chronischer Kopfschmerzen von definiert nach den Kriterien von Silber- als dumpf-drückend angegeben werden. 1,5 % [Hagen 2000]. stein und Lipton oder den überarbeiteten Vegetative Begleitsymptome kommen Der Bedeutung chronischer täglicher internationalen Kopfschmerzkriterien, seltener vor. In der von Lipton veröffent- Kopfschmerzen für die Lebensqualität beträgt zwischen 0,2 und 5,1 % wobei lichten Spectrum-Studie zeigten dabei und als Ursache einer Behinderung und nach Schätzungen der Schwerpunkt zwi- Patienten, die an einem Spannungstyp- Leistungseinschränkung im Beruf und schen 1,4 –2,2% liegt [Silberstein 1996, Kopfschmerz und Migräne litten, auch bei den Alltagsaktivitäten wird auch in Zeeberg 2009]. Für Deutschland fand einen guten Effekt unter Sumatriptan, der Einschätzung der Weltgesundheitsor- Straube in einer kürzlich veröffentlichten wenn die Migräneattacken vorher ange- ganisation (WHO) Rechnung getragen, Studie an 7.417 Migränepatienten in drei sprochen hatten [Lipton 2000]. Patienten die eine Behinderung durch eine chro- Regionen Deutschlands jedoch nur eine mit reinen Spannungskopfschmerzen nische Migräne den Belastungen und sehr niedrige Rate von 1,41 %. Die durch- ohne Migräneattacken sprachen hinge- Einschränkungen einer Demenz, einer schnittliche Kopfschmerzfrequenz lag bei gen nicht auf das Triptan an. Tetraplegie oder Psychose gleichstellt 19 Kopfschmerztagen/Monat. Nach Aus- Eine Langzeitverlaufsbefragung bei 591 [Harwood 2004]. schluss der Patienten mit medikamenten Kopfschmerzpatienten aus Zürich, die in- induziertem Kopfschmerz konnten in der nerhalb von 30 Jahren siebenmal befragt Zu Frage 1: Altersgruppe von 35 bis 75 Jahren letzt- wurden, ergab, dass 69 % der Migräne- Antwort e ist richtig. Ein chronischer, täg- lich nur bei 0,09 % die Diagnose einer „rei- und nur 58 % Spannungskopfschmerz- licher Kopfschmerz (CTK) wird diagnosti- nen“ chronischen Migräne gestellt wer- Patienten über den gesamten Zeitraum ziert, wenn über mindestens drei Monate den [Straube 2010]. an dem gleichbleibenden dominierenden an mindestens 15 Tagen im Monat Kopf- Die Prävalenz eines MIK liegt in der Allge- primären Kopfschmerztyp litten [Mari- schmerzen bestehen. Die Diagnose ist meinbevölkerung bei etwa 1,5 % [Diener kangas 2011]. rein deskriptiv und erfordert den Aus- 2004]. Dabei fand sich in einer Metaana- Der Verlauf chronischer Kopfschmerzen schluss einer ganzen Reihe sekundärer lyse von 29 Studien mit zusammen 2.612 wurde in einer großen Populationsstudie Kopfschmerzursachen. Eine kernspinto- Patienten bei 65 % eine Migräne, bei 27 % mit 55.255 Teilnehmern untersucht. 2.599 mografische Untersuchung ist dabei zum ein Spannungskopfschmerz und bei den davon litten an mehr als 180 Tagen an Ausschluss einer zerebralen Gefäßerkran- restlichen 8 % eine gemischter Typ oder Kopfschmerzen (CTK) und nur 2.033 hat- kung, eines raumfordernden Prozesses, ein anderer primärer Kopfschmerz als ten an zwei bis 104 Tagen Kopfschmerzen entzündlicher Erkrankungen oder einer Ursache [Kavuk 2004]. Dabei ist das Risiko [Scher 2003]. Nach einem Jahr konnte aus Liquordruckstörungen der häufig noch für Frauen dreieinhalb Mal höher als für der ersten Gruppe (> 180 Tage/Kopf- eingesetzten Computertomografie über- Männer. Das Risiko einen MIK zu entwi- schmerzen) noch 1.134 befragt werden. legen [Halker 2011]. Immer sollte auch an ckeln ist für die eingenommen Medika- Hiervon hatten 44 % weiterhin an über einen medikamenteninduzierten Dauer- mente unterschiedlich hoch. So ist das Ri- 180 Tagen Kopfschmerzen, bei 43 % kam kopfschmerz (MIK) gedacht werden. Häu- siko für opioidhaltige Präparate, barbitu- es zu einer leichten Abnahme der Kopf- figste Ursache ist jedoch eine primär epi- rathaltige Kombinationspräparate (Butal- schmerzfrequenz (105 bis 179 Kopf- sodische Migräne (72 %) oder ein Span- bital) und Acetalysalicylsäure-/Acetami- schmerztage/Jahr) und bei 13 % zu einer nungskopfschmerz (20 %). Andere primä- nophen-/Koffeinhaltige Kombinations- deutlichen Abnahme auf weniger als 104 re Kopfschmerzen wie der Clusterkopf- präparate sehr hoch, für Triptane Kopfschmerztage/Jahr. Aus der Gruppe NeuroTransmitter 2 · 2012 53
Fortbildung Neurologische Kasuistik Lösungen Fortsetzung der Kopfschmerzpatienten mit anfangs nachgewiesenen Risikofaktoren arterielle Übergang einer episodischen in eine chro- niedriger Frequenz entwickelten 3 % im Hypertonie, Übergewicht, nächtliches nische Migräne ist die Entwicklung einer Verlauf des Jahres einen chronischen Schnarchen und Schlaf-Apnoe-Syndrom, kortikalen Übererregbarkeit. Mittels trans- Kopfschmerz (> 180 Tage/Jahr). In dieser Rauchen, hoher Koffeinkonsum und ein kranieller Magnetstimulation konnte eine Untersuchung erwiesen sich ein erhöhter Analgetika- oder Triptankonsum thera- Übererregbarkeit okzipitaler Kortexge- Bildungsstand und eine nicht kaukasi- peutisch beeinflussen [Übersicht Garza biete nachgewiesen werden [Übersicht sche Abstammung als positive Prädik- 2010]. Aurora 2011]. Wahrscheinlich führt die er- toren einer Remission des CTK. Der Verlauf eines MIK wurde in einer spa- höhte kortikale Erregbarkeit auch zu einer In einer kleinen Langzeitbeobachtung nischen Population untersucht. Unter Einschränkung in der Verarbeitung sensib- von 26 Patienten aus Taiwan litten 27 % 4.855 Kopfschmerzpatienten konnten ler Reize. Bildgebungsverfahren lassen hier auch nach 13 Jahren unverändert an mittels eines Fragebogens 72 mit einem Unterschiede beim Übergang einer episo- einem chronisch täglichen Kopfschmerz. MIK ermittelt werden. Die Kontrolle nach dischen zu einer chronischen Migräne Gleich häufig handelte es sich dabei um einem Jahr zeigte, dass 64 % nicht mehr erkennen [Ferrari 2007]. eine chronische Migräne (3 Patienten) als MIK diagnostizierbar waren, bei über Gleichartige Mechanismen, die durch kon- und einen Spannungskopfschmerz (3 Pa- einem Drittel (36 %) persistierte die Sym- tinuierliche Schmerzreize aus peripheren tienten). Bei einem Patienten wurde ein ptomatik jedoch. Unter den nach vier myofaszialen Strukturen zu einer zentralen chronischer Medikamenten-induzierter Jahren noch teilnehmenden 68 Patienten Sensitivierung und damit zu einer Chroni- Kopfschmerz diagnostiziert [Fuh 2008]. nahm der Prozentsatz typischer MIK-Sym- fizierung des Kopfschmerzes führen, wur- Die gleiche Arbeitsgruppe fand auch bei ptomatik sogar wieder auf 44 % zu [Fon- den auch für den chronischen Spannungs- Jugendlichen (12 bis 14 Jahre) in einer tanilas 2010]. In einer Verlaufsuntersu- kopfschmerz nachgewiesen [Bezov 2011]. Verlaufsuntersuchung über acht Jahre bei chung bei 96 Patienten aus Deutschland Darüber hinaus konnte auch gezeigt wer- 65 % der CTK-Patienten eine Abnahme zeigte sich, dass die Rückfallrate in den den, dass chronische Spannungskopf- der Kopfschmerzfrequenz [Wang 2009]. ersten sechs Monaten mit 31 % am höchs- schmerzen mit einer verminderten Inhibi- Zum Langzeitverlauf bei Migräne wurde ten war, nach einem Jahr nur noch leicht tion zentraler Schmerzwahrnehmung in Amerika 2005 eine Zufallsbefragung auf 41 % und nach vier Jahren auf 45 % assoziiert sind [Pielsticker 2005]. Unter- von 24.000 Menschen durchgeführt. Von anstieg [Katsarava 2005]. stützt wird diese Annahme auch durch die diesen konnte bei der Erstbefragung Während weltweit aufgrund von epide- Ergebnisse einer kleinen Anwendungs- 18.514, nach einem Jahr 14.063 und nach miologischen populationsgestützten Stu- studie bei chronischem Spannungskopf- zwei Jahren 14.069 Fragebögen ausge- dien die Prävalenz eines MIK mit 2–5% er- schmerz. Durch eine niederfrequente Elek- wertet werden. Von den 383 Teilnehmern mittelt wurde, erstaunt der bei Analyse der trostimulation, die im Tierversuch zu einer bei denen 2005 eine chronische Migräne Daten der Deutschen Migräne und Kopf- langanhaltenden Schmerzhemmung diagnostiziert werden konnte, litten nach schmerzgesellschaft von 7.417 Patienten führt, konnte hierbei bei 20 Patienten mit einem Jahr noch 53 % und nach zwei Jah- aus drei Regionen in Deutschland mit einem chronischen Spannungskopf- ren weiterhin 34 % an einer chronischen 0,1% erhobene sehr niedrige Wert eines schmerz eine anhaltende Schmerzredukti- Migräne. Nur 26 % litten an weniger als MIK [Straube 2010]. Dabei lag der Prozent- on erreicht werden [Lindelof 2010]. zehn Tagen pro Monat an Kopfschmer- satz der Patienten, die an chronischer Mi- Kernspintomografisch zeigte sich bei 20 zen. Als ungünstig für eine Besserung gräne (>15 Kopfschmerztage/Monat) lit- Patienten mit chronischem Spannungs- zeigte sich in dieser Studie das Auftreten ten und einen erhöhten Analgetikakon- kopfschmerz, nicht jedoch bei einer glei- einer Allodynie und eine über 25 Tagen/ sum betrieben mit 50% im Rahmen der in chen Anzahl mit medikamentinduziertem Monate liegende Ausgangsfrequenz der verschiedenen Serien nachgewiesenen Kopfschmerz, eine signifikante Abnahme Kopfschmerzen [Manack 2011]. Rate von 40–80% [Rapoport 1988, Diener der grauen Substanz in den für die zentra- Als Risikofaktoren für einen täglichen 2004]. le Schmerzverarbeitung zuständigen Re- chronischen Kopfschmerz konnte in den gionen [Schmidt-Wilcke 2005]. Eine kürz- letzten Jahren eine ganze Reihe von Fak- Zu Frage 3: lich veröffentlichte NMR-Untersuchung toren herausgearbeitet werden [Scher Antwort c ist richtig. Die exakten patho- vom 295 Migränepatienten zeigte demge- 2003]. So fanden sich eingreifende physiologischen Abläufe, die zu chroni- genüber eine signifikant erhöhte Zahl von Lebensänderungen (Umzug, Trennung, schen Kopfschmerzen führen sind noch Marklagerläsionen, subklinischen Infark- etc.) als Auslöser eines CTK [Scher 2008]. unbekannt. Klinische Studien bestätigen ten im Posterior-Versorgungsgebiet und Ein weibliches Geschlecht, niedriger sozi- jedoch eine Entwicklung aus einer epi- einen erhöhte Eisengehalt im Putamen, aler Lebensstandard, niedriges Bildungs- sodischen Migräne in einen Spannungs- Globus pallidum und Nucleus ruber. Eine niveau, single-status, ein früheres Schä- kopfschmerz und weiter in einen täglichen erhöhte Attackenfrequenz, eine beglei- del-/Nackentrauma oder ein bestehendes Kopfschmerz. Ebenso finden sich auch tende Aura und eine längerer Krankheits- zusätzliches Schmerzsyndrom zählen da- Remissionen und eine wiederholte Trans- dauer waren dabei mit vermehrten bei zu den nicht änderbaren Risikofak- formation eines primären Kopfschmerzes Marklagerläsionen auch im Hirnstamm toren. Hingegen lassen sich die ebenfalls in einen anderen. Entscheidend für den verbunden [Kruit 2010]. 54 NeuroTransmitter 2 · 2012
Neurologische Kasuistik Fortbildung Lösungen Fortsetzung Als Trigger für einen Spannungskopf- 41 Patienten, die an einem chronischen nischen Migräne vor. Auch hier konnte schmerz werden wie bei der Migräne Spannungskopfschmerz litten, in einer unter Pregabalin eine deutliche Redukti- Stress und emotionale Konflikte angege- Dosierung von 2 x 500 mg/d zur einer on der Kopfschmerzfrequenz und -stärke ben [Chen 2009]. In einer großen Popu- signifikanten Reduktion der Kopf- erreicht werden. Allerdings zeigten Pati- lationsstudie bei der Kinder (geboren: schmerzfrequenz ohne Einfluss auf die enten mit wirklich täglichen Kopf- 1.4.1972 bis 31.3.1973 in Dunedin Neusee- Schmerzintensität [Yurekli 2008]. In einer schmerzen keine Besserung [Calandre land, Einwohnerzahl ca. 120.000) im Subgruppenaanalyse einer prospektiven, 2010]. Offene Studien für Memantine und Alter von 3, 5, 7, 9, 11, 13, 15, 18, 21, 26 doppelblinden, placebokontrollierten Levetiracetam bei chronischer Migräne und zuletzt 32 Jahren untersucht wurden, randomisierten Studie konnte bei Pati- wiesen jeweils eine positiven Therapie- konnte bei 96,2% (!) die Kopfschmerz- enten mit chronischer Migräne ein signifi- effekt auf [Übersicht Garza 2010]. Hier daten bis zum 26. Lebensjahr erfasst wer- kanter Effekt von Valproinsäure gezeigt müssen jedoch größere doppelblinde den. Die Analyse dieser, über einen sehr werden [Bigal 2009]. Für Topiramat konn- placebokontrollierte Studien die Effekte langen Beobachtungszeitraum erhobenen te in zwei großen randomisierten, place- erst bestätigen. Eine jüngst veröffentlich- Kopfschmerzen ergab, dass unter Berück- bokontrollierten Doppelblindstudien mit te doppelblinde, randomisierte, placebo- sichtigung von Geschlecht und kindlicher/ Parallelgruppen ein Therapieeffekt bei kontrollierte Studie mit Levetiracetam elterlicher Kopfschmerzanamnese das Risi- chronischer Migräne nachgewiesen wer- (3 g/d) fand nur einen nicht signifikanten ko im Alter von 26 Jahren an einer Migräne den [Silberstein 2007, Diener 2007]. Inte- Trend zu einer Zunahme kopfschmerz- zu leiden signifikant erhöht war, wenn die- ressant ist hierbei, dass dieser Effekt auch freier Tage (entsprechend einem zusätz- se im Kindesalter einen erhöhten Angst- beim Bestehen eines medikamentenin- lichen kopfschmerzfreien Tag pro Monat) index hatten, im Alter von 18 Jahren an ei- duzierten Kopfschmerzes auftrat. In einer bei teilweise beeinträchtigenden Neben- ner Angststörung litten oder eine erhöhte offenen Studie konnte bei 46 Patienten wirkungen [Beran 2011]. Stressreaktivitätspersönlichkeit zeigten mit chronischem Spannungskopfschmerz Obgleich eine große doppelblinde, ran- [Übersicht bei Cahill 2005]. Für das Risiko durch die Gabe von Topiramat (25 –100 domisierte, placebokontrollierte Studie eines Spannungskopfschmerzes lies sich mg/d) bei 73 % eine über 50 %ige Abnah- bei episodischer Migräne keine Überle- dieser Zusammenhang nicht nachweisen. me der Kopfschmerzfrequenz erzielt wer- genheit einer Therapie mit Botulinum- In einer Übersicht von neun Populations- den [Lampl 2006]. toxin gegenüber dem Placeboarm zeigte, studien fand sich eine deutliche Komorbi- Amitritylin hat in einer Reihe von Studien wurden inzwischen zwei, allerdings of- dität bei Migräne für eine ganze Reihe von einen positiven Effekt auf einen chroni- fene, doppelblinde, placebokontrollierte psychiatrischen Erkrankungen. Am deut- schen Spannungskopfschmerz zeigen Studien (PREMPT1+2) bei chronischer lichsten war der Zusammenhang bei De- können [Jensen 2000). Zur Therapie der Migräne durchgeführt. Zusammen wur- pression und Angsterkrankung, hierbei chronischen Migräne liegen allerdings den 1.384 Patienten doppelblind, place- besonders mit Panikstörung und Phobien bisher keine guten Studien vor. In einer bokontrolliert in Parallelgruppen 24 Wo- [Radat 2004]. Auch beim chronischen kleinen prospektiven Studie, bei der dop- chen behandelt, bevor sich eine 32-wö- Spannungskopfschmerz findet sich eine pelblind Amitritylin versus Amitritylin chige offene Therapiephase anschloss. im Verlauf oft bestimmende psychiatrische plus Fluoxetin getestet wurde, ergab sich Therapeutisch wurden bei allen Patienten Komorbidität mit Depressionen (51%) und kein Effekt für die Kombination, in beiden 155 Einheiten an 31 Stellen der Kopf-, Panikstörung (22%) [Juang 2000]. Gruppen kam es jedoch zu einer deut- Hals- und Nackenmuskulatur (M. frontalis, lichen Besserung der Kopfschmerzsym- M. corrugator supercilii, M. procerus, Zu Frage 4: ptomatik. Eine fehlende Placebogruppe M. temporalis, M. occipitalis, M. trapezius) Antwort b ist richtig. Aufgrund des chro- und der Einfluss eines medikamenten- nach einem festen Lokalisations- und nischen Verlaufs der Erkrankung mit Re- induzierten Kopfschmerzes bei der nur Dosisschema injiziert. Abhängig von der missionen und Rezidiven ist das erste Ziel kleinen Patientenzahl (39) beschränken Schmerzverteilung und Intensität konn- therapeutischer Maßnahmen eine Reduk- die Aussage dieser Studie jedoch erheb- ten zusätzlich bis zu 40 Einheiten verab- tion der Kopfschmerztage und der lich [Krymchantowski 2002]. reicht werden [Aurora 2010, Diener 2010]. Schmerzintensität, nicht jedoch eine Zur Behandlung mit Pregabalin liegt bis- Nur in PREEMPT 2 konnte dabei eine Kopfschmerzfreiheit. Begleitend sind her nur eine offene Studie zur Behand- signifikante Abnahme der Kopfschmerz- daher auch immer nicht medikamentöse lung eines medikamenteninduzierten tage im Vergleich zu Placebo nachgewie- und psychotherapeutische Verfahren zu chronischen täglichen Kopfschmerzes sen werden [Dodick 2010]. Für einen the- ergänzen [Halker 2011]. Für eine Vielzahl vor. Hier wurde die Wirksamkeit von 150 rapeutischen Effekt bei Spannungskopf- von Substanzen liegen zwischenzeitlich mg Pregabalin im Vergleich zu 100 mg schmerzen fand sich kein Effekt [Schulte- auch gute Studien zur Beurteilung der Topiramat untersucht. Beide Substanzen Mattler 2006]. In einer Vergleichsstudie Wirksamkeit vor. führten zu einer gleichartigen Besserung zur Behandlung einer chronischen Migrä- Valproinsäure führte in einer kleinen der Kopfschmerzsymptomatik [Rizzato ne war der Einsatz von Botulinumtoxin A prospektiven, randomisierten, doppel- 2011]. Eine weitere offene Studie für dem prophylaktischen Effekt von Topira- blinden placebokontrollierten Studie mit Pregabalin liegt zur Therapie der chro- mat gleichwertig [Cady 2011]. NeuroTransmitter 2 · 2012 57
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