Wie "objektiv" können Nachrichten sein? - Ulrich Paetzold

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Ulrich Paetzold

Wie „objektiv" können Nachrichten sein?

Ulrich Paetzold, geboren 1943, studierte Publizistik, Philosophie und
Theaterwissenschaft. Er ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für
Publizistik der FU Berlin.
    „Die meisten Nachrichten sind falsch." Unter diesem Titel erschien vor zwei
Jahren ein Buch von Harry Pross. Gemeint waren tatsächlich die Nachrichten in
der Presse, im Hörfunk und im Fernsehen. Die globale Betrachtung legt nahe,
ökonomische und politische Mächte dafür verantwortlich zu machen, daß die
meisten Nachrichten, die durch Massenmedien verbreitet werden, falsch sind.
Aber was heißt das: falsche oder richtige Nachrichten? Politiker verdächtigen
z. B. viele Nachrichten, die ihnen nicht lieb sind. Sie meinen, Nachrichten seien
dann richtig, wenn sich ihre Anschauungen darin wiederfinden. Demnach wären
die „richtigen" Nachrichten gerade die parteilichen Nachrichten. Aber solche
„parteilichen" Nachrichten, die in den einen Augen richtig sind, sind in den an-
deren falsch. Gibt es demnach vielleicht gar keine richtigen oder falschen Nach-
richten?
    Anfang 1972 übertrug Radio Bremen eine work-shop-Diskussion mit dem
Titel: „Am Anfang steht die Nachricht." Damit sollte wohl angedeutet sein, daß
vor aller Meinungsäußerung, Kommentierung und Urteilsbildung Hörfunk und
Fernsehen Nachrichten bringen, die Sachverhalte und Ereignisse in der Art und
Weise präsentieren, wie sie „wirklich" geschehen sind. Das bedeutet: Nachrichten
werden als Informationen verstanden, die der Meinungsbildung vorausgehen
und die sich in ihrer Art und Weise auch äußerlich von Meinungsäußerungen un-
terscheiden. Man denke nur an den äußeren Ablauf der „Tagesschau". Dort
begrüßen uns jene bekannten Herren, die mit angemessener Strenge und ohne
irgendwelche Regungen die von den Redakteuren zusammengestellten Texte ver-
lesen. Beinahe Sprechmaschinen, sind sie offizielle Verkünder von Sätzen, die
kraft ihrer äußerlichen Klarheit fast die gleiche Autorität haben wie Urteilsver-
kündungen von Richtern. Die kurzen Filmbeiträge sind sorgsam danach bemes-
sen, daß die Präsentation von Herrn Brandt genügend durch Herrn Kohl aus-
geglichen wird.

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    Fabrizierte Objektivität also, die von Redakteuren hergestellt wird nach
Regeln, denen sie verpflichtet sind? In der Tat sind in den meisten Rundfunk-
gesetzen. Aussagen über die Gestaltung von Nachrichtensendungen enthalten.
Im Gesetz des Westdeutschen Rundfunks heißt es: „Die Nachrichtengebung muß
allgemein, unabhängig und objektiv sein." Das Gesetz über den Südwestfunk
stellt fest: „Nachrichten sind von Kommentierungen und Stellungnahmen zu
trennen." Radio Bremen ist nach dem Gesetz angehalten: „Alle Nachrichten und
Berichte müssen nach Inhalt, Stil und Wiedergabe wahrheitsgetreu und sachlich
sein."
    Auf einen Nenner gebracht — und an den halten sich die meisten Nachrich-
tenredakteure: Nachrichten sollen „reine Fakten" enthalten und keine versteckten
„Meinungen". Sie sind Ausdruck menschenmöglicher Objektivität. Stehen aber
am Anfang wirklich die Nachrichten? Diesen Satz in Frage zu stellen heißt, die
Begrifflichkeit in Frage zu stellen, mit der Forderungen an
Nachrichtensendungen gestellt sind.
Welches sind die Bedingungen von Objektivität?
     Gefordert ist, daß die Nachrichten „wahrheitsgetreu" sein sollen. Zu fragen
ist: Wessen Wahrheit ist die Treue zu halten? — Gefordert ist, daß „Nachrichten
von Kommentierungen und Stellungnahmen zu trennen" sind. Zu fragen ist: Wie
kann man eigentlich Nachrichten auswählen, akzentuieren und formulieren, ohne
zu bewerten, ohne Stellung zu nehmen, ohne sich in Stellung zu bringen
gegenüber dem, was man auswählt und nicht auswählt, Auswahl und For-
mulierungen von Nachrichten implizieren immer auch Bewertung und Einord-
nung von Inhalten.
    Im Gesetz von Radio Bremen wird zudem gefordert: „Bei Nachrichtenüber-
mittlung ist nur solches Material zu benutzen, das aus Nachrichtenagenturen und
Quellen stammt, die in Beurteilung und Wiedergabe einen objektiven Standpunkt
erkennen lassen." Festzustellen ist: Letztlich wird nicht geleugnet, daß diejenigen,
die Nachrichten verfassen, einen Standpunkt haben. Gefordert wird, daß dieser
Standpunkt sich durch Objektivität auszeichnet. Es bleibt zu fragen: Wie läßt sich
Objektivität gewinnen? Unter welchen Bedingungen wird eine Meldung
objektiv?
     Objektiv ist noch nicht eine Nachricht, wenn sie Personen, Ort und Modali-
täten einer Handlung, eines Ereignisses oder politischer Vorgänge erwähnt. Zur
Objektivität gehört ebenso die Begründung, warum etwas öffentlich relevant ist.
Die öffentliche Relevanz einer Nachricht kann aber nur erkannt werden, wenn
ihre Entstehung mitbedacht wird. Die Entstehung einer Nachricht gibt auf die
Frage eine Antwort, wer an ihrer Verbreitung ein Interesse haben mag. Der
Publizistikwissenschaftler wie auch der Nachrichtenredakteur haben bei ihrer Ar-
beit mit dem Kommunikationsmaterial zu beachten, auf welche Frage eine Nach-
richtenmeldung eine Antwort ist. Dieses in der Nachrichtensendung transparent

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zu machen, erfüllt Objektivität. In ihr werden Entstehung und Geltung einer
Nachricht deutlich. Das aber widerspricht der Anschauung, die Reduzierung der
Nachricht auf das Faktum sei Objektivität. Mit einer solchen Anschauung geht
oft das abgestellte Urteilsvermögen des Redakteurs einher. Er weiß sich sicher
mit Meldungen, mit denen keiner etwas anfangen kann, weil sie aus sich heraus
keinerlei Sinn ergeben. Beispiel: „Außenminister Walter Scheel fährt heute zu
einer Besprechung mit seinem französischen Kollegen nach Paris."
    Was verhindert die tendenzielle Herstellung von Objektivität der Nachrich-
tensendung? Die Allgemeinheit der Begriffe in den Rundfunkgesetzen verweist
auf eine Schwierigkeit der Erkenntnisprozesse überhaupt, die den Nachrichten-,
Sendungen zugrunde liegen. „Objektiver Standpunkt", so wurde gesagt, muß die
Entstehung und Geltung einer Meldung als Einheit deutlich machen. Die Geltung
einer Nachricht scheint schon gegeben, indem sie veröffentlicht wird. Tatsächlich
braucht sie nicht durch Meinungsäußerungen des Nachrichtenredakteurs berei-
chert zu werden. Was aber die Entstehung einer Nachricht angeht, so ist dem
Redakteur oftmals die Erkenntnismöglichkeit verstellt, die so notwendig zur Er-
füllung der geforderten Objektivität ist. Seine Quellen sind Agenturen, die Mel-
dungen, vorformuliert nach einem grammatikalischen Grundschema, am laufen-
den Meter über die Fernschreiber jagen.
    Die Quantitäten sagen wenig über die Qualitäten von Meldungen aus. Die
Agenturen vermitteln ja nur Nachrichtenmaterial, sie sind aber nicht die Basis
der Nachrichten. Die Redakteure sind nicht objektiv, die eine Nachricht schon
dann für genügend „gesichert" halten, wenn sie von drei Agenturen gleichzeitig
gebracht wird. Agenturen haben ein weitverzweigtes Netz der Nachrichtenbe-
schaffung. Die vielen Korrespondenten, so meinen einige, seien die wirklichen
Nachrichtenquellen. Das ist ebenfalls nicht richtig. Die vielen Korrespondenten
sind lediglich die ersten Vermittlungsagenten von Meldungen.

Nachrichten und gesellschaftliche Interessen
    Die Frage drängt sich demnach auf: Wo entstehen die Nachrichten? Nachrich-
ten entstehen aus gesellschaftlichen und politischen Prozessen, über die etwas zu
veröffentlichen Interesse besteht. Ein neuer Begriff also, der sich denen der Wahr-
heitstreue und Objektivität zugesellt: Interesse. Interesse jedoch ist ein Begriff,
der es nicht mehr zuläßt, ohne weitere Verbindungen gebraucht zu werden.
    Zum einen sind Interessen wesentliche Kräfte, die um Einfluß auf den Rund-
funk ringen und solche Meldungen in die Sendung bringen wollen, die sie für
öffentlich relevant halten. Zum anderen gibt es Hörer- und Zuschauerinteressen,
die in den Nachrichten ihren Niederschlag finden. Das sind beispielsweise Wetter-
bericht, Totozahlen, Verkehrsinformationen Servicenachrichten. Diese letztere
Kategorie soll hier nicht weiter beschäftigen.

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    Wenn Nachrichten aus gesellschaftlichen und politischen Prozessen entstehen,
dann bedeutet das: in diesen Prozessen kommen Kräfte miteinander oder auch
gegeneinander in Bewegung. Diese Kräfte haben ein Interesse daran, daß über ihre
Wirksamkeit etwas veröffentlicht wird. Manche Kräfte haben bisweilen auch viel
Interesse daran, daß über ihr Wirken nichts veröffentlicht wird, daß sie überhaupt
nicht ins öffentliche Gespräch kommen. Die Träger von Interessen, die
„Interessenvertreter", wie man so unzutreffend in der deutschen Sprache sagt, sind
also die wesentlichsten Quellen von Nachrichten. Daraus folgt: Die Quellen von
Nachrichten sind identisch mit bestimmten Interessen, sie sind dazu da, bestimmte
Abisichten in die öffentliche Verbreitung von Nachrichten zu bringen.
    Der gesellschaftliche Charakter der Informationsquellen ist dadurch gekenn-
zeichnet, daß in ihnen Interessen und Absichten organisiert zum Ausdruck kom-
men. Dazu werden publizistische Mittel benötigt. Die großen gesellschaftlichen
Gruppen, wie Arbeitgeberverbände, Kirchen, Parteien und Gewerkschaften ver-
fügen über eindrucksvolle Informationsapparate. Diese Informationsapparate
verschaffen ihnen ein publizistisches Gewicht, das kleinere und vor allem
schwächere Gruppen nicht haben. Fällt es den Parteien leicht, beispielsweise Mit-
teilungen über Absichten in der Mietgesetzgebung zu machen, so können die
Betroffenen, die Mieter, publizistisch nicht adäquat reagieren.
    Am Anfang steht also nicht die Nachricht! Am Anfang stehen die organisierten
Interessen von Parteien und Gruppen, die über die Mittel verfügen, ihre Interessen
in Nachrichten zu überführen. Wenn aber die Nachricht von Anfang an eine solche
Nähe zu Interessen hat, zu gesellschaftlich und politisch voneinander geschiedenen
Gruppen und Parteien, dann sind die Nachrichten, wie sie letztlich über den
Rundfunk ausgestrahlt werden, zunächst nicht „wahrheitsgetreue" und „objektive"
Ausdrücke, sondern sie sind subjektive Wahrheiten und nur Teilaspekte der
„Objektivität". Genau dies aber findet in den Nachrichten nicht die entsprechende
Form. Die Form der Nachrichten spiegelt eine täuschende Allgemeingültigkeit der
Nachrichten vor. Sie apostrophiert das Faktische, das unbestreitbar Richtige. Ihre
Form liegt fest in den grammatikalischen Grundstrukturen der Sprache, wie sie von
den Nachrichtenagenturen geprägt sind. Diese grammatikalischen Grundstrukturen
abstrahieren von dem subjektiven Ausgangspunkt der Nachricht und verkleiden
diese in eine Tatsachenmeldung, wertneutral gegenüber dem, wovon sie Mitteilung
macht.

Nachrichten und Sprache
   Wie die Nachrichten, die aus gesellschaftlichen Interessen entstanden sind, ist
auch die Sprache nicht wertneutral. Nach allem, was wir bisher wissen, gibt es in
der Alltagssprache keine Wertneutralität. In der Mathematik mag es möglich sein,
einen Sachverhalt in eine ihm entsprechende Form zu bringen, unabhängig, wer
damit umgeht. In diesem Sinne kann die Alltagssprache Sachverhalte, ge-

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sellschaftliche, und politische Wirklichkeit nicht objektivieren. Die Sprache ver-
mittelt die vom jeweiligen Bewußtsein bestimmten Vorstellungen von den Ge-
genständen und Vorgängen, über die etwas gesagt wird. Sie ist somit sowohl die
Dinge benennend als auch die Bedeutung der Dinge anzeigend. Sie ist weder das
eine noch das andere, sondern immer beides zusammen. Die Sprache ist also die
Form, in der Interessen ihren kommunikativen Ausdruck finden. Daher sind
Interessen, die zu Nachrichten werden, zweckbestimmte Ausdrucksformen. Sie
sind Ausdrucksformen von Absichten und Behauptungen.
    Dies sind alles Aussagen, die wesentlich zur Klärung dessen sind, was man
grundsätzlich Nachrichten nennt. Kritisch ist gegen die Praxis der Nachrichten-
redaktionen zu fragen, warum derartige Bestimmungen nicht zum Bestandteil
ihrer täglichen Arbeit gemacht werden. Ein Beispiel: Wann immer sich Tarif-
verhandlungen zuspitzen, meldet der Nachrichtensprecher: „Ein Streik droht..."
Diese Sprachstereotype wird kaum hinterfragt, nicht einmal von den Gewerk-
schaftssprechern. Einen Streik der Öffentlichkeit als ein Absolutum zu präsen-
tieren, das als böse Naturgewalt über die Gesellschaft fällt — ähnlich dem Aus-
bruch des Vesuvs — deutet auf eine Jahrzehnte alte Diffamierung der Aktionen
von Gewerkschaften hin. Es gibt martialische und rechtschaffende Kräfte in der
Gesellschaft. Streiks gehören in den offiziellen Nachrichten zu den Ereignissen,
die dem Unheil eines Hagelschlags nahekommen. Denn zugleich wird mit dem
Wort „drohen" beim Zuschauer und Zuhörer jenes immer wieder angesprochene
Reinlichkeitsgefühl für Ruhe und Ordnung im gesellschaftlichen Zusammenleben
aktiviert, das alles „Störende" als gesellschaftsfeindlich oder parasitär abstempelt.
Eine Grundhaltung, die den politischen Parteien sehr nützlich ist, weil sie ihr
Herrschaftsmonopol erleichtert.
     Dieses Gefühl für Harmonie und partnerschaftliche Zusammenarbeit wird
durch die Nachrichten über politische Vorgänge positiv gezüchtet. Anständige Po-
litiker zeichnen sich dadurch aus, daß sie ihre Dinge von Mensch zu Mensch
regeln. Drohungen kommen höchstens von Politikern aus dem Osten, die ohne-
hin nicht ganz lupenreine Menschen sind. So ist Kohl zwar immer der „Vor-
sitzende der CDU"; aus Breschnew macht man lieber den „Chef".
    Was in dem Begriff der „Sozialpartnerschaft" anklingt, läßt das, was man
bisweilen auf der Straße oder im Betrieb sieht, nicht mehr vereinbar erscheinen
mit Sitte und Anstand in einer „modernen Industriegesellschaft". So ist denn
auch nicht verwunderlich, daß die Arbeitswelt, die doch für die Existenz der
Menschen so unmittelbar entscheidend ist, aus den Nachrichtensendungen fast
gänzlich verbannt ist. Zwar blitzt manchmal auch im Fernsehen auf, was es wohl
mit dem schönen Begriff der „Sozialpartnerschaft" auf sich hat, wenn Unterneh-
mer „ihre" Arbeiter entlassen, weil der Betrieb „unrentabel" geworden ist, aber
solche Nachrichten gehören an den Rand, meistens kippen sie in den Papierkorb.
Der Alltag der arbeitenden Menschen ist grundsätzlich nicht aktuell für die

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Nachrichten. Nur Sensationen und „Unglücksfälle" im Arbeitsalltag gelangen
durch die Nachrichten ins öffentliche Gerede.
    Ähnlich verhält es sich mit den Meldungen über die Tarifpolitik. Abstrakta
werden als Fakten geliefert: Lohnpolitik als Gerangel um Prozentzahlen. Zwar
ist zu erfahren, wieviel Prozent mehr Löhn der Chemiearbeiter nach einer Ta-
rifrunde zu erwarten hat. Er bekommt auch noch die mahnende Äußerung eines
Arbeitgebersprechers frei Haus, in der von großer Besorgnis um das Allgemein-
wohl, von der Notwendigkeit steigender Preise die Rede ist. Aber von Profiten
in der Chemiebranche oder anderen Branchen ist in den Nachrichten nie die Rede.
    Nachrichtenpolitik — wenn es eine solche überhaupt gibt — zeichnet sich
nicht durch das aus, was bisher leichtfertig mit Manipulation gemeint wurde.
Nachrichtenredakteure verrichten ihr Werk im guten Glauben, unparteiisch zu
sein und den wirklichen Ereignissen so nahe wie möglich zu kommen. Aber das
Problem muß dennoch gerade von den Gewerkschaften gesehen und angegangen
werden: die Nachrichten, reduziert auf das „Faktische", stärken das Konserva-
tive, das Beharrende im Denken der Menschen. Das Progressive drückt sich, so-
lange es auf Überwindung von Zuständen drängt, in Ideen und Gedanken aus.
Es hat nicht die Kraft des Faktischen; es hat deshalb für Nachrichtensendungen
wenig Chancen.
    Man bedenke nur, wie schwer es ist, die Menschen für die Mitbestimmung am
Arbeitsplatz zu gewinnen. Der Begriff ist alt, in zahlreichen Nachrichtensendun-
gen wird er erwähnt. Aber wo sind die Nachrichten, die über praktizierte Mitbe-
stimmung informieren? Eng mit dieser Feststellung verbunden sind die Ver-
säumnisse, den Bereich der Wirtschaft in den Nachrichten zu durchleuchten. Die
Sprache der Wirtschaftsnachrichten bietet dafür Gewähr, daß die Mehrheit der
arbeitenden Menschen sie nicht versteht, also auch nicht durchschaut, wovon sie
handeln. Hier haben die Gewerkschaften sträflich versagt, indem sie es zuge-
lassen haben, daß die Formulierung der Wirtschaftsnachrichten dem Kapital und
den Wirtschaftswissenschaftlern überlassen blieb. Wirtschaft — ein Begriff, der
mit Unternehmen und Unternehmer gleichgesetzt wird — ist zwar etwas, das je-
den betrifft, der man aber unwissend und ohnehin arbeitsabhängig ausgesetzt
bleibt. Wie soll da der Begriff „Mitbestimmung" den Leuten etwas sagen?
Ungeschiedenes Bewußtsein
   Die Folgen liegen auf der Hand und werden durch die Praxis in den Medien
bestätigt: Gegenüber den Rundfunknachrichten verhält sich der Mensch zwar
aufgeschlossen, bleibt aber unwissend in bezug auf das, wovon die Nachrichten
künden. Was Zuschauern und Hörern präsentiert wird, ist ungeschiedenes Be-
wußtsein: es bleibt keine Unterscheidung zwischen dem Bild und dem Wort, die
er wahrnimmt, und den Sachen, wovon sie zeugen. Derartig ungeschiedenes Be-
wußtsein nennt man Vertrauen und Glauben auf und an die Autorität des Me-
diums.

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    Die Nachrichtenredakteure stützen diese Haltung des Vertrauens auf das
Medium, statt die Skepsis gegenüber den gebotenen Informationen zu fördern.
Und damit begeben sie sich genau auf die Linie, die sie mit den Politikern ver-
bindet. Denn auch den Politikern ist vornehmlich an Vertrauen gelegen und nicht
an Skepsis gegenüber dem, was sie über die Wirklichkeit sagen. In dieser Kon-
stellation ist die Versuchung groß, eine Berichterstattung zu pflegen, die über-
wiegend so arbeitet, als seien die vorgestellten Bild-Ton-Beziehungen die Sachen
selber, um die es eigentlich gehen müßte. Minister, die lächelnd den Superjets
entsteigen, Händeschütteln der Diplomaten und politischen Händler, gemütliches
Beisammensein in Biedermeierzimmern oder das „keep smiling" auf den Frei-
treppen gut gepflegter Schlösser, Abgeordnete über Akten gebeugt mit angemes-
sen ernsten Gesichtern, Statements nichtssagender Allgemeinplätze, metaphorische
Allegorien über Wirtschaftspolitik, vorab besprochene Interviews mit geheimnis-
vollen Andeutungen, in denen der Politiker als der große wissensüberlegene Star
posieren kann — in solchen Klischees und Stereotypen erschöpft sich weitgehend
das Bild von der Politik, täglich reproduziert mit den gleichen Statisten und
Akteuren.
    Mit solchen Nachrichten wird die Personifizierung gesellschaftlicher und
politischer Prozesse zum entscheidenden Merkmal der Mystifikation durch Rund-
funk und Fernsehen. Diese Mystifikation steht selbst im Gegensatz zu den For-
derungen der Rundfunkgesetze, wenngleich sie durch ihre unpräzise Art des
Gebrauchs von Begriffen mitverschuldet ist. Sie steht im Gegensatz zu den For-
derungen nach kritischer Durchleuchtung der Wirklichkeit, wie sie an den Rund-
funk durch die Gesetze herangetragen sind. Die Schuld trifft nicht nur die Poli-
tiker. Sie versuchen, die Rundfunkanstalten in ihren Griff zu bekommen und tun
damit das, was ihnen nützt. Die Schuld trifft in erster Linie auch die publizisti-
schen Produzenten, die einen derartigen Mythos der Politik möglich und damit
die Politiker ungefragt zu ihren eigenen Herren machen.
    Die Frage nach der Objektivität von Nachrichten in Hörfunk und Fernsehen
spitzt sich damit zur Frage zu: Wer entscheidet darüber, was der „objektive
Standpunkt" in der Produktion von Nachrichtensendungen ist?
    These dieses Aufsatzes ist: die Objektivität einer Nachricht ergibt sich ten-
denziell in der Einheit von Entstehung und Geltung einer Nachricht. Der Streit
um die geforderte möglichst objektive Mitteilung in einer formulierten Nachricht
verweist auf den Konflikt von unterschiedlich motivierten Erkenntnispositionen
und Wertvorstellungen, wie sie sich in gesellschaftlichen und politischen Ausein-
andersetzungen ergeben. Ausdrucksformen derart unterschiedlicher Erkenntnis-
positionen sind gekennzeichnet durch gesellschaftliche Interessen, politische Ab-
sichten, Sprachbewußtsein, Bildungsniveau, Erfahrungen im Taktieren usw.
    Das alles wird in den Nachrichtenredaktionen gar nicht oder zuwenig berück-
sichtigt. Die Redakteure haben es im allgemeinen nicht gelernt, sich mit den
Schwierigkeiten ihrer Tätigkeit auseinanderzusetzen. Politisch um so beachtens-

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werter muß es sein, wenn die Verfassung der Rundfunkanstalten Entscheidungs-
prozeduren und Sanktionen bereithält, um derartige Lernprozesse in den Redak-
tionen zu unterbinden.
    „Die meisten Nachrichten sind falsch." Pross hat diese Behauptung übernom-
men von dem preußischen Militärwissenschaftler Clausewitz, der über den
Wahrscheinlichkeitswert von Nachrichten geschrieben hatte: „Ein Glück noch,
wenn sie, einander widersprechend, ein gewisses Gleichgewicht erzeugen und die
Kritik selbst herausfordern. Viel schlimmer für den Nichtgeprüften, wenn ihm
der Zufall diesen Dienst nicht erweist, sondern eine Nachricht die andere unter-
stützt, bestätigt, vergrößert, das Bild mit immer neuen Farben ausmalt, bis sie,
die Notwendigkeit, uns in fliegender Eile den Entschluß abgedrängt hat, der
bald als Torheit erkannt wird, so wie jene Nachrichten als Lügen, Übertreibun-
gen, Irrtümer usw. Mit kurzen Worten: Die meisten Nachrichten sind falsch, und
die Furchtsamkeit der Menschen wird zur neuen Kraft der Lüge und Unwahr-
heit."

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