Community Care - ein integratives Konzept zur kooperativen Versorgung im Gemeinwesen - Sozialversicherung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
PRIMÄR- PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG VERSORGUNG Stärkung von Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfe und interprofessioneller und interinstitutioneller Zusammenarbeit durch Sozialarbeit Community Care – ein © rcfotostock – stock.adobe.com integratives Konzept zur kooperativen Versorgung im Gemeinwesen bedingt erforderlich und wurde konzeptuell durch 1 Einleitung Primärversorgungseinheiten bereits begonnen. Ziel Österreich steht – so wie andere Staaten Europas – an- ist es, durch die Schaffung einer örtlich und zeitlich für gesichts demografischer und soziostruktureller Verän- die Bevölkerung gut erreichbaren Einrichtung (Best derungen vor großen Herausforderungen im Hinblick Point of Service) für alle Bevölkerungsgruppen einen auf die Gestaltung der zukünftigen medizinischen und möglichst niederschwelligen Zugang zur Gesund- psychosozialen Grundversorgung seiner Bevölkerung. heitsversorgung zu gewährleisten. In dieser soll eine Es ist davon auszugehen, dass in den kommenden umfassende Versorgung der Bevölkerung in einem Jahren eine zunehmende Zahl an Menschen Unter- multiprofessionellen Team, bestehend aus Ärztinnen stützungsbedarf im Rahmen der Grundversorgung in und Ärzten und anderen für eine Primärversorgung Form von medizinischen, pflegerischen oder psycho- relevanten Berufsgruppen – darunter Pflegerinnen/ sozialen Dienstleistungen benötigen wird. Gleichzeitig Pfleger, Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter, Physio- zeichnet sich bereits jetzt ab, dass es insbesondere für therapeutinnen/Physiotherapeuten, Ergotherapeu- FH-Prof. Dr. PhDr. den ländlichen Raum deutlich schwieriger wird, ausrei- tinnen/Ergotherapeuten, Diätologinnen/Diätologen, Christoph Redelsteiner chend Fachkräfte – insbesondere Ärztinnen und Ärzte – Psychologinnen/Psychologen, Hebammen und Lo- ist Sozialarbeiter, Gesund- zu finden, die bereit sind, in diesem Bereich zu arbeiten. gopädinnen/Logopäden – ermöglicht werden. Ange- heitswissenschaftler sowie Ebenso ist wegen der geburtenschwachen Jahrgänge in strebt wird, einen Großteil der einfacheren Gesund- Notfallsanitäter und seit vielen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesens heits- und Krankheitsanliegen von Patientinnen und 1984 im Rettungswesen ein Wettbewerb um die besten Studentinnen und Stu- Patienten ohne Weiterleitung in andere Versorgungs- aktiv. Er leitet den Master- studiengang Soziale Arbeit denten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu er- einrichtungen zu erkennen und möglichst vor Ort zu an der FH St. Pölten und warten. behandeln. Diese Maßnahmen sollen den Spitalsbe- initiierte den Studiengang Berufsbilder müssen daher attraktiv sein und Mög- reich deutlich entlasten und helfen, Kosten einzuspa- „Gesundheits- und Kran- lichkeiten der Weiterentwicklung bieten. Abgrenzun- ren (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2014). kenpflege“ mit Lehrgang gen zwischen den Berufsgruppen als Zeichen von Dieses Grundkonzept bietet neben der Bereitstellung für Sanitäter. Er ist Lehr- „Eigenständigkeit“ werden zunehmend als Zeichen eines differenzierten Grundversorgungsangebots gangsleiter für Rettungs- dienstmanagement der mangelnder Professionalität und geringer interdiszi- auch die grundsätzliche Chance, zunächst differen- Donau Universität Krems. plinärer Lösungskompetenz wahrgenommen. Eine zierter zu erkennen, welcher konkrete Hilfebedarf tat- Neuorganisation der Versorgung scheint daher un- sächlich gegeben ist und wie darauf reagiert werden 3/2020 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 113
PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG könnte. Denn ein wesentliches Ziel der Gesundheits- sondere hochbetagter Menschen in den kommenden reform, nämlich Kosten einzusparen und den Betrof- Jahrzehnten. Zu Jahresbeginn 2019 waren etwas fenen dennoch adäquate Unterstützung zu bieten, mehr als 27 Prozent der in Österreich lebenden Men- wird nur dann erreicht, wenn es gelingt, unterstüt- schen mindestens 60 Jahre alt, knapp 5,5 Prozent zungsbedürftigen Personen die für sie passende Form waren mindestens 80 Jahre alt (vgl. Statistik Austria der Unterstützungsleistung zielgerichtet zukommen 2019). Bis in das Jahr 2050 wird nach Prognosen von zu lassen und Fehlsteuerungen zu vermeiden. Statistik Austria (2018) der Anteil der Menschen ab Im Folgenden werden zunächst sehr knapp die für 60 Jahren auf 34 Prozent und jener der 80-jährigen diese Frage relevanten demografischen und struk- und noch älteren Personen auf elf Prozent der Ge- turellen Veränderungen in der ambulanten Gesund- samtbevölkerung anwachsen. Es wird zwar in vielen heitsversorgung skizziert. Weiters werden anhand Prognosen davon ausgegangen, dass mehr Menschen eines Einzelfallbeispiels in der gegenwärtigen Struk- länger in gesundem Zustand leben werden als in den tur des Versorgungssystems auftretende Mängel in vergangenen Jahrzehnten, dennoch wird für das hö- der zielgerichteten Steuerung von Unterstützungs- here Lebensalter ein steigender Unterstützungsbe- leistungen dargelegt. Auf Basis dessen wird der Vor- darf vorausgesagt. Dies zeigt sich bereits jetzt etwa schlag für eine gezieltere Lenkung und Betreuung daran, dass Ende des Jahres 2018 knapp 57 Prozent von Patientinnen und Patienten durch „Community aller über 81-jährigen Personen Pflegegeld bezo- FH-Prof. Mag. Dr. Care“ dargestellt. gen (vgl. BMASGK 2019a: 143). Ihr Anteil beträgt knapp 48 Prozent der Pflegegeldbezieher/-innen aller Johannes Pflegerl 2 Strukturelle Veränderungen Altersgruppen (vgl. BMASGK 2019a: 134). Selbst studierte Soziologie in der ambulanten ein steigender Gesundheitszustand der höchsten Al- und ist Leiter des Ilse Arlt-Instituts für ,Soziale Gesundheitsversorgung am terskohorten wird daher, was den Anstieg der Zahlen Inklusionsforschung‘ sowie Beispiel des demografischen pflegebedürftiger Menschen angeht, durch die deut- stellvertretender Leiter des Altersstrukturwandels lich höhere Besetzung künftiger Altengenerationen Masterstudienganges am Department für Soziales Eine zentrale Herausforderung für die zukünftige Ge- zumindest für die nächsten Jahrzehnte deutlich mehr der FH St. Pölten. Schwer- staltung der medizinischen, pflegerischen und psycho- als aufgehoben. punkte sind soziale Arbeit sozialen Primärversorgung ergibt sich u. a. aus dem Nach einer aktuellen Pflegepersonalprognose des Bun- mit älteren Menschen und in den kommenden Jahrzehnten zu erwartenden An- desministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und deren Angehörigen, stieg pflegebedürftiger Personen. Im November 2019 Konsumentenschutz wird davon ausgegangen, dass soziale Inklusion und erhielten in Österreich 466.818 Personen Pflegegeld sich bereits bis zum Jahr 2030 nur aufgrund der de- Exklusion, Gerontologie sowie Familiensoziologie. (Statistik Austria 2020). Nach Angaben des aktuells- mografischen Veränderungen ein zusätzlicher Bedarf ten Pflegevorsorgeberichts wurden im Jahr 2018 ins- von etwa 24.700 Vollzeitäquivalenten an Pflegekräften gesamt 153.486 Personen von Mitarbeiterinnen und unterschiedlicher Qualifikationsstufen ergeben wird. Mitarbeitern mobiler Hilfsdienste betreut, 116.644 Geht man von den derzeitigen Teilzeitquoten aus, Personen im Rahmen stationärer Dienste, inklusive ergibt das nach den Ergebnissen dieser Studie einen teilstationärer Dienste, Kurzzeitpflege und alternati- Zusatzbedarf von 31.400 Pflege- und Betreuungsper- ver Wohnformen (vgl. BMASGK 2019a: 217). sonen. Zudem ist aufgrund von Pensionierungen bis 24.692 Personen erhielten im Jahr 2018 eine Förde- zum Jahr 2030 von weiteren 41.500 zusätzlich erfor- rung des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, derlichen Pflegekräften unterschiedlicher Qualifikati- Gesundheit und Konsumentenschutz (BMASGK) onsstufen auszugehen. Daraus ergibt sich insgesamt für eine 24-Stunden-Betreuung (vgl. BMASGK ein Zusatzbedarf von etwa 72.900 Pflegepersonen bis FH-Prof. Dr. Tom Schmid 2019a: 37). In den nächsten Jahrzehnten ist mit ei- zum Jahr 2030. Noch nicht berücksichtigt sind dabei ist Sozialwissenschaftler nem starken Anstieg pflegebedürftiger Personen zu strukturelle Veränderungen wie etwa der Ausbau von und Professor an der FH rechnen. Nach jüngsten Berechnungen wird die Zahl Dienstleistungen oder neuer Dienste bzw. etwaige Ver- St. Pölten mit einer Dozen- der von mobilen Diensten betreuten Personen bis änderungen im Pflege- und Betreuungsbedarf. (vgl. tur für Sozialpolitik sowie zum Jahr 2030 um mehr als 40.500 auf etwa 194.000 BMASGK 2019b: 38) Geschäftsführer von „DAS Personen, im stationären Bereich um knapp 20.000 Dazu kommt, dass in den kommenden Jahren in Ös- BAND – gemeinsam vielfäl- tig“ in Wien. Lehrtätigkeiten auf etwa 136.300 Personen (inklusive teilstationärer terreich mit einem starken Rückgang der Zahl der an der Alpe-Adria-Universi- Dienste, Kurzzeitpflege und alternativer Wohnfor- niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte zu rechnen ist. tät Klagenfurt/Celovec und men) ansteigen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass ab Knapp 67 Prozent von ihnen sind derzeit mindestens an der IMC FH Krems, dem Jahr 2023 – bedingt durch den stärkeren Anstieg 50 Jahre alt (vgl. Statistik Austria 2019). Wie heraus- Mitgesellschafter des der Bevölkerung über 85 Jahre – von einem stärkeren fordernd es ist, Pflegekräfte zu finden, zeigt sich da- Zentrums für Sozialwirt- Anwachsen auszugehen ist (BMASGK 2019b:29) ran, dass derzeit noch keine Vollauslastung der ange- schaft. Zahlreiche wissen- schaftliche Publikationen. Wesentliche Ursache für diese Entwicklung ist die botenen Studienplätze im Bereich Pflege besteht. Im aufgrund des demografischen Altersstrukturwandels Bereich der Sozialarbeit hingegen gibt es bereits seit zu erwartende Zunahme der Zahl älterer und insbe- Jahren deutlich mehr Bewerberinnen und Bewerber, 114 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 3/2020
PRIMÄR- PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG VERSORGUNG als Studienplätze vorhanden sind – für die Bachelor- studiengänge gibt es bis zu siebenmal mehr, für die Masterstudiengänge Soziale Arbeit bis zu viermal mehr Bewerbungen als Studienplätze. 3 „Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen tun soll?!“ – © Thaut Images – stock.adobe.com Psychosozialer Einsatz in einem ländlichen Bezirk Der nachfolgende im Rahmen der Feldforschung do- kumentierte Fall aus einem ländlichen Bezirk zeigt den massiven Einsatz unterschiedlicher Hilferessourcen, ohne dass für die betroffene Patientin eine adäquate Lö- sung gefunden wird – obwohl sich alle im Hilfesystem kennt das bereits und versucht den diensthabenden Trotz Kooperation und korrekt verhalten und auch entsprechend kooperieren. Hausarzt zu erreichen. Tabelle 2 stellt die wichtigs- korrekten Verhaltens Kein untypischer Fall in der medizinischen Versorgung. ten Prozessschritte, die Beteiligten, die Ziele und die der vielen Akteure – Die Patientin ist rund 45 Jahre alt und lebt zusam- Uhrzeiten dar. Letztlich dauert es vom Erstkontakt keine passende Hilfe men mit ihrem Mann in einem kleinen Haus in einer mit dem Hilfesystem (dem Anruf beim Hausarzt) bis für eine Patientin. kleinen Ortschaft. Samstag zu Mittag bekommt die zum Eintreffen im psychiatrischen Krankenhaus rund Patientin eine Panikattacke, die sich primär durch ein 6,5 Stunden. Die Patientin bzw. ihr Ehemann hatten Versteifen des Rumpfes und Zittern äußert. Ihr Mann dabei zu sechs Hilfesystemen Kontakt: Hausarzt, Ret- Tabelle 1: Übersicht – Prozess der Versorgung einer Patientin mit Panikattacke Uhrzeit Wer Schritt Ziel 11.30 Patientin Panikattacke; psychosoziale Notlage Beruhigung 12.00 Ehemann Kontakt diensthabender Hausarzt: „wieder Panikattacke“ Abklärung/Visite 12.00 Hausarzt Info: Eintreffen erst ca. 13.30 Uhr möglich, da mit anderen Patienten Eigene Entlastung, beschäftigt Aufklärung Bedienzeit 12.30 Ehemann Notruf 144: „wieder Panikattacke – zittert“ Abklärung/Visite 12.33 LSZ Alarmierung RTW zu „Krankentransport“ Hospitalisierung 12.36 RTW Einsatzbeginn Patientenversorgung 12.50 RTW Am Einsatzort eingetroffen Patientenversorgung 12.50 RTW Anamneseerhebung; Untersuchung der Patientin Patientenversorgung 12.59 RTW Kontakt Hausarzt, Info: Eintreffen erst ca. 14.30 Uhr möglich, da mit Vermeidung Hospitalisierung anderen Patienten beschäftigt 13.05 RTW Überlegung einer Alternative: einzige Möglichkeit am Wochenende Vermeidung Hospitalisierung, ist psychiatrisches KH B, dieses kann nur mit ärztlicher Einweisung Vermeidung zusätzlicher angefahren werden (1 Stunde, 66 km Richtung Westen) Wege 13.10 RTW Einzige Möglichkeit nach Rücksprache mit der Rettungsleitstelle 144 Besorgen einer ärztlichen ist Transport auf neurologische Station KH A; Fahrtstrecke ca. 47 km Einweisung Richtung Norden; Fahrtbeginn 13.48 RTW Im KH A eingetroffen Patientenversorgung 13.56 KH B Aufnahmeärztin spricht mit RTW-Team und Patientin; beendet Patientenversorgung Anamnese mit Satz: „Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen tun soll?!“ (viele Patienten in der Auf- nahme) 14.00 KH B Aufnahmeärztin ersucht RTW, Patientin in psychiatrisches KH B zu Patientenversorgung, bringen (ca. 88 km, 70 Minuten Fahrt in eine Richtung + Übergabe, Reduktion der Zahl zu Rückfahrt) betreuender Patienten 14.00 RTW RTW verweigert höflich mit Hinweis auf unversorgten Bezirk, bittet Versorgung des Bezirkes KTW zu rufen, da sonst insgesamt ca. 3 weitere Stunden kein RTW wiederherstellen im Bezirk 14.02 RTW Einsatzbereit KH A Rückfahrt Bezirk 15.02 RTW Einsatzbereit auf Wache Einsatztaktisch günstigste Positionierung zur Notfall- versorgung im Bezirk 17.16 KTW Beginn Transfer Patientin vom KH A in psychiatrisches KH B, 18.25 Hospitalisierung Uhr eingetroffen Legende: KH = Krankenhaus, KTW = Krankentransportwagen, LSZ = Landessicherheitszentrale, RTW = Rettungswagen Quelle: DISS REDELSTEINER, eigene Darstellung 3/2020 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 115
PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG tungsleitstelle, Rettungsdienst, Krankenhaus A, Kran- 2006, 2011, vgl. Bastecky, Leier-Kriz, Mötzl, Wer- kentransport, psychiatrische Klinik B. Keine dieser nitznig 2017; vgl. Novosad, Wallner 2017, vgl. Böh- Ressourcen ist eine adäquate, bezogen auf das Pro- mer 2018). Ursachen dafür sind z. B.: blem dieser Patientin. Idealerweise wäre der Besuch l Einsamkeit der Patientinnen/Patienten: Die Pa- eines psychosozialen Notdienstes oder der Transport tientinnen und Patienten verfügen über kein aus- in eine Beratungseinrichtung das Mittel der Wahl. Die reichendes oder aktivierbares soziales Netzwerk, Ärztin des Krankenhauses A bringt das Dilemma auf um einfache Probleme zu lösen – von der herun- den Punkt: Nach der Anamneseerhebung erkennt sie tergefallenen Fernbedienung einer allein lebenden die Fehlallokation, würde auch gerne zielgerichteter Person, die nicht mehr ausreichend mobil ist, bis intervenieren und meint zur verängstigten Patientin: zu einfachen Gesundheitsproblemen wie leichten „Ich weiß nicht, was ich mit Ihnen tun soll?!“ Ein Bauchschmerzen. Wenn niemand da ist, um bei der Sozialarbeiter ist in der Einrichtung nicht vorhanden, Einschätzung mitzuhelfen, Fürsorge zu zeigen, ein- eine klinische Psychologin nur zu bestimmten Zeiten fache Interventionen wie Teekochen durchzufüh- im Dienst. Letztlich wird mangels Alternativen die ren und den Verlauf ein wenig zu beobachten, kann Patientin in die Psychiatrie des Krankenhauses B ver- das zu einem Notruf bei 144 führen. legt. Diese „freiwillige“ Einweisung in die Psychiatrie l Überforderung der Angehörigen: Die Ange- ist als überbordende Reaktion zu sehen, löst auch das hörigen sind mit der Betreuung oder Pflege der Problem der Patientin nicht und kann zu Prozesse der Patientinnen und Patienten fachlich, finanziell, Stigmatisierung führen. menschlich oder emotional überfordert. Insbeson- In Summe waren ca. 15 bis 20 Personen mit unter- dere mobile, schwer demente Menschen sind für schiedlichem beruflichem Hintergrund im Laufe der die Angehörigen eine Herausforderung. „Behandlung“ mit der Patientin in Kontakt – Ret- l Psychosoziale Problemlagen: Die Betroffenen ha- tungssanitäter, Notfallsanitäter, Internisten, Neurolo- ben eine Krise, Angstzustände oder erleben die Zu- gen, Pflegehelfer, Krankenpflegerin, Stationssekre- spitzung etwa von Obdachlosigkeit, eines Alkohol- täre usw. Die Patientin hätte primär eine Betreuung problems oder Konflikte im unmittelbaren sozialen durch eine psychosoziale Fachkraft wie eine Kran- System, z. B. in der Familie oder Partnerschaft. kenhaussozialarbeiterin und gegebenenfalls eine me- Als einzige rasch und rund um die Uhr verfügbare dikamentöse Sedierung benötigt. Ressource, die auch aufsuchend bzw. mobil tätig ist, Bezüglich des weiteren Fallverlaufs ist davon auszu- wird deshalb häufig auf den Rettungsdienst zurück- gehen, dass die Patientin wie bei vorangegangenen gegriffen. Dieser kann aber die oben genannten Ursa- Attacken noch am selben Tag aus der Psychiatrie ent- chen nicht lindern oder lösen. Patientinnen/Patienten Der Einsatz von Rettungs- lassen wurde. werden dann entweder unnötig hospitalisiert, verursa- wägen für die Versorgung, Das Problem der Patientin wurde letztlich nicht ad- chen eine noch höhere „Falllast“ in den Kliniken und z. B. psychosozialer äquat gelöst, ebenso war der Rettungswagen des hohe Kosten oder sie werden vor Ort belassen und ru- Probleme, führt zu keiner Bezirks für rund 2,5 Stunden nicht in seinem unmit- fen dann manchmal in kurzen Abständen erneut den Lösung dieser Anliegen telbaren Gebiet einsatzbereit, der Bezirk mithin ohne Rettungsdienst um Hilfe. und gefährdet den Rettungsmittel. Ein zweiter Einsatz wäre nur mit einer „Bezogen auf die Gesamteinsatzzahl ergeben die wie- Sicherstellungsauftrag entsprechend langen zeitlichen Verzögerung mit einer derholten Interventionen innerhalb von 36 Stunden für medizinische Notfälle. Ressource aus dem Nachbarbezirk möglich gewesen. 1,85 Prozent der Gesamteinsätze“ in Wien. „Spit- Der direkte Einsatz und die nachfolgende Transferie- zenreiter“ in einer Erhebung war ein Patient, bei rung ins Krankenhaus B haben in Summe rund 5,5 dem innerhalb eines Jahres 82-mal eine wiederholte Stunden gedauert. Sie wurden der Rettungsorgani- Intervention durchgeführt wurde, bei einem weiteren sation von der Krankenversicherung der Patientin in waren 75 Re-Interventionen erforderlich, „Platz drei“ Summe mit 70 Euro abgegolten. Unter anderem sor- belegt ein Patient mit 57 Interventionen im Jahr 2007 gen diese niedrigen Tarife für geringen Veränderungs- (vgl. Ander 2009: 16, 37 f.). Aktuell erforschen wir druck. Würde die Dienstleistung zu realen bzw. fairen Fälle von Patienten mit psychiatrischem Hintergrund Kosten in der Höhe von ca. 1.200 bis 1.500 Euro ab- bzw. Suchtproblemen, die im Schnitt bis zu fünfmal gerechnet, wäre eine sinnvollere Ressourcenallokati- pro Woche „144“ wählen und Einsätze auslösen. Eine on rascher ein Anliegen der Stakeholder. Einbeziehung der Krankenhaussozialarbeit zur Ent- wicklung alternativer Versorgungswege erfolgt meist 4 „Dauerpatienten“ – ein nicht – entweder mangels entsprechender Sozialar- Phänomen von Rettungs- beiterinnen/Sozialarbeiter, Spitäler oder weil diese diensten und Klinikaufnahmen nur bei längeren Aufenthalten von Patientinnen und Einzelne Patientinnen und Patienten oder deren An- Patienten beigezogen werden und entsprechende Ver- gehörige bitten oft über lange Zeit und mehrfach in knüpfungen mit Akutaufnahmestationen noch nicht sehr kurzen Abständen um Hilfe (vgl. Redelsteiner vorhanden sind. 116 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 3/2020
PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG 5 Community Care als integrierter Lösungsansatz Regelmäßige Fehllenkungen von Patientinnen und Pa- tienten in für die konkrete Problemlage wenig passen- de Einrichtungen führen bei Patientinnen/Patienten, © Neurologisches Rehabilitationszentrum Rosenhügel Angehörigen und Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern zu Frustrationen. Patientinnen und Patienten chronifizie- ren ihre Verhaltensweisen, erleben sie als ausweglos und werden durch zahlreiche Behandlungsversuche auch medizinischen und psychosozialen Gefahren und Stigmatisierungen ausgesetzt. Zudem brauchen hochwertige und teure klinische Ressourcen in An- betracht der demografischen Entwicklung, die zu einem wachsenden Patientenaufkommen und zu Per- sonalmangel führt, eine Entlastung von allgemeinen formellen oder informellen „fürsorglichen“ Einwei- Nachbarschaftliche Strukturen der Hilfe ersetzen und Sozialarbeiterin des Neuro- sungen. Deshalb ist die Anleitung von Patientinnen ergänzen gegebenenfalls diese familiären Hilfeleis- logisches Rehabilitations- und Patienten bzw. ihre Lenkung zu für sie passenden tungen als nächste Ebene und sind ebenfalls meist un- zentrum Rosenhügel bei und ausreichenden Unterstützungsformen erforder- entgeltliche Formen der gegenseitigen Unterstützung. der Patienten- und lich. Community Care – ein integraler Lösungsansatz, Darüber ist das Gemeinwesen die erste formellere Angehörigenberatung. der Patientinnen/Patienten, Angehörige, helfende Form der Hilfe, z. B. durch Kommunen, Religions- Berufsgruppen und Hilfeeinrichtungen mit einbezieht, gemeinschaften und lokale Vereine. Das Aktivieren um Menschen an die „richtige Adresse zu bringen“ – dieser Hilfemöglichkeiten durch Beratung, soziale setzt vor diesem Hintergrund auf vielen Ebenen an: Diagnostik, Netzwerkanalyse oder Akutsozialarbeit Abbildung 1: Soziale und medizinische ist eine klassische Aufgabe von Sozialarbeiterinnen/ Sorgeebenen Sozialarbeitern. Werden diese grundlegenden For- men der Hilfe nicht mitbedacht, einbezogen und ak- tiviert, so sind weitere Fehllenkungen von Menschen in rein klinisch-medizinische Systeme die Folge. Die Patientin/der Patient mit Unwohlsein weist sich dann selbst oder via Rettungsdienst ins Krankenhaus oder in hochspezialisierte klinische Einrichtungen ein. Mit Sozial- und Gesundheitseinrichtungen sind in diesem Zusammenhang alle nichtklinischen statio- nären Versorgungseinrichtungen gemeint, so z. B. Hausarztpraxen, Beratungsstellen, ambulante soziale und medizinische Dienste. Diese stellen die „Primary Care“-Ebene dar, wo auch formelle Primärversor- Quelle: Christoph Redelsteiner 2019 gungseinheiten angesiedelt sind. Sie brauchen in der Eine wichtige Rolle spielen semiformelle bzw. infor- Konzeption und alltäglichen Arbeit einen Bezug zu melle Ebenen der Unterstützung. Das beginnt mit der und eine Zusammenarbeit mit den sozialen Ebenen persönlichen Vor- und Fürsorge, z. B. damit, was wir darunter und Berufsgruppen, die aufsuchend und als einzelne Person an eigenen Kräften und Ressour- nachgehend die Menschen in diesen Lebenswelten cen präventiv, vor Eintritt einer besonderen Heraus- unterstützen und stärken, z. B. Sozialarbeiterinnen/ forderung, im Sinne einer Selbstachtsamkeit für unser Sozialarbeiter. Wohlbefinden aufwenden. Die nächste Stufe wäre die Der Zugang zu Krankenhäusern sollte eigentlich ge- Selbsthilfe, wo wir auch mit unseren Kenntnissen im lenkt und nur auf Basis von echten Indikationen mög- Sinne einer Eigenbewältigung von Herausforderun- lich sein, ist aber sehr niederschwellig. Jeder kann gen aktiv werden. Eine weitere Versorgungsstufe ist aktuell selbst entscheiden, in welche Gesundheitsein- die Familie (oder familienähnliche Systeme), die in richtung auf welcher Versorgungsebene er geht – ent- bestimmten sozialen Situationen und auch in Krank- sprechende Mobilität vorausgesetzt, die gegebenen- heitssituationen ausgleichend wirkt. Zuhören, Gesprä- falls durch den Rettungsdienst oder Krankentransport che, Zuwendung und scheinbar banale Dinge wie Tee- sichergestellt wird. kochen oder die Sicherung der Mobilität wären Bei- Hier setzt die telefonische Gesundheitsberatung spiele für eine solche Unterstützung. 1450 an, die verstärkt insbesondere dort, wo auch 3/2020 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 117
PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG Abbildung 2: Soll-Zustand der idealtypischen Vernetzung der vorhandenen Ressourcen – Kontaktaufnahme über die Telefonnummern 144 oder 1450 Analyse von sozialen Problemlagen per Telefon, Beratung und aufsuchende Akutsozialarbeit zur Anbindung an passende Hilferessourcen in der Region. Quelle: Christoph Redelsteiner 2019 organisatorisch und institutionell mit dem Rettungs- Betroffenen zu klären, deren Selbsthilferessourcen notruf 144 und dem ärztlichen Vertretungsdienst und familiäre Ressourcen zu stärken und gegebe- 141 verknüpft, durch niedrigschwellige telefonische nenfalls Anbindungen an formelle Hilfeformen im Beratung bei der Auswahl passender medizinischer Sozialsystem durchzuführen. Das kann auch eine Ressourcen berät. Die „sonstigen“ – meist unklaren, persönliche Begleitung in Einrichtungen sein und oft psychosozialen – Anliegen brauchen eine weitere auch eine punktuelle Unterstützung über mehrere sozialarbeiterische Einschätzung. Wochen bedeuten. Dabei kommen Techniken der so- Das nachfolgende Flussdiagramm (Abbildung 2) zialarbeiterischen Diagnostik, der motivierenden Ge- zeigt den Soll-Zustand der idealtypischen Vernetzung sprächsführung, der Krisenintervention und des Em- der vorhandenen Ressourcen, wenn die initiale Kon- powerments zum Einsatz. Wesentliches Ziel ist der taktaufnahme über die Telefonnummern 144 oder Versuch, durch Interventionstechniken chronifizierte 1450 erfolgt. Verläufe zu pausieren oder zu durchbrechen. Dabei Der Fall müsste nach einer Analyse durch 1450 ei- sind die Wahrung der Autonomie der Betroffenen nem „sozialarbeiterischen Helpdesk“ zum Clearing und deren Aktivierung zur Stärkung des Selbstwerts übergeben werden. Dieses Clearing ist ein kommu- und der Selbstwirksamkeit zu beachten. Wunder und nikativer, interaktiver dialogischer Prozess, der nicht Hoffnungslosigkeit sind dabei keine sozialarbeiteri- trivialisierbar und schwer standardisierbar ist. Es schen Kategorien, sondern es geht um die gemein- beinhaltet auf Basis einer Vertrauensbildung rasche same Suche nach alltagsnahen und verwirklichbaren und fachliche Klärungen, welche soziale Institution Lösungen, oft in kleinen Schritten unter Akzeptanz oder andere Ressource sich für die präsentierte Pro- von Rückfällen und scheinbar unlogischen Entschei- blemstellung der Klienten als adäquat erweist (vgl. dungen der Betroffenen. Fürst 2008: 59). Ist diese Vertrauensbildung telefo- Community-Care-Teams für Akutsozialarbeit sind in nisch nicht möglich oder die Situation chronifiziert, den USA und in skandinavischen Ländern zumeist an diffus oder bedarf es einer persönlichen Klärung, ist den Rettungsdienst als direkte taktische Ressource der Hausbesuch durch Akutsozialarbeit eine nieder- angebunden und meist nur durch diesen bzw. die Po- schwellige und rasche Reaktionsform. Akutsozial- lizei oder einen behördlichen Sozialdienst alarmier- arbeit ist eine rund um die Uhr erreichbare und bei bar. Sie sind je nach Aufgabenschwerpunkt meist Bedarf rasch mobilisierbare Interventionsstrategie, interprofessionell mit Sozialarbeiterinnen/Sozial- um Situationen durch persönlichen Kontakt mit den arbeitern und psychiatrischen Krankenpflegerinnen/ 118 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 3/2020
PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG Krankenpflegern oder mancherorts auch mit Polizis- tinnen/Polizisten besetzt. Typische Indikationen sind dabei z. B.: l Allgemeine Sorgebekundung durch Sanitäterinnen/ Sanitäter, Hausärztinnen/Hausärzte, Hauskranken- pflegerinnen/-pfleger vor Ort l Einsamkeit © drubig-photo – stock.adobe.com l Psychiatrische Problemstellung, auch Selbst- oder Fremdgefährdung l Wiederholte Notrufe l Unsichere Wohn- und Lebensumstände (z. B. infra- strukturell bzw. baulich) l Verständnisprobleme in Bezug auf Medikamenten- einnahme l Klientinnen/Klienten mit Alkohol- bzw. Drogenpro- weile jährlich etwa 24.000 Einsätze durch, das sind Mobile aufsuchende Sozial- blemen ca. 5.000 mehr als die mobilen notfallmedizinischen arbeit zur Intervention bei l Unerfüllte basale Bedürfnisse (Essen, Pflege, Ob- Teams, und entlastet diese und die Krankenhäuser akuten oder chronifizierten dach etc.) damit signifikant. Einsparungen bei sozialen Institu- psychosozialen Problem- l Keine designierte Betreuungsperson vorhanden tionen wie Gewaltschutzzentren, Frauenhäusern oder stellungen und zur Reduktion l Anzeichen für Überforderung der Betreuungsperson Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe führen nicht von Krankenhausaufenthalten. l Unkoordiniertes Vorgehen mehrerer betreuender nur zu mehr Armut und Leid bei den Betroffenen, Personen bzw. Professionen sondern werden kompensatorisch von den teureren l Unspezifizierte oder nicht eingehaltene Betreuungs- klinischen Einrichtungen aufgefangen – die wieder- pläne um dadurch überlastet werden und nicht passend auf l Verdacht auf Vernachlässigung oder Missbrauch die primär vorliegende Problemstellung reagieren l Erste Betreuungsebene nach Tod einer Patientin/ei- können. nes Patienten vor Ort In Österreich gibt es erste Ansätze für professionel- Bei Bedarf erfolgen Hausbesuche gemeinsam mit le Akutsozialarbeit – der Notruf Niederösterreich Hausärztin/Hausarzt, „Community Nurses“ oder Ge- kann aktuell bei Anruf über „1450“ telefonisch meindenotfallsanitäterinnen/-sanitätern. In der Stadt mit Akutsozialarbeiterinnen/-sozialarbeitern verbin- Seattle (653.000 Einwohner) führt das über den den und erprobt aktuell in Zusammenarbeit mit der Rettungsdienst gesteuerte Sozialarbeitsteam mittler- Fachhochschule St. Pölten deren Einsatz vor Ort. Abbildung 3: Umwelten eines Gemeinwesenzentrums am Beispiel Orth an der Donau Quelle: Christoph Redelsteiner 2019 3/2020 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 119
PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG mation über vorhandene Unterstützungsmöglichkei- 6 Community Care als Grundlage ten und Pflegeangebote für alte Menschen und deren für Social Prescribing An- und Zugehörige sowie über sozialrechtliche An- Als nachfolgender und nachhaltiger Schritt nach der sprüche für Förderungen an. Vernetzungsarbeit auf Akutsozialarbeit wäre „Social Prescribing“ systema- lokaler, wohnortnaher Ebene zu und zwischen Hilfs- tisch anzuwenden. Unter Social Prescribing versteht diensten und zu ehrenamtlichen Ressourcen sowie man die entsprechenden Verweisungen von ärztli- Entlastungsgespräche für die Betroffenen sind auch chen, pflegerischen Kolleginnen/Kollegen, aber auch Entlastungspotentiale für die Pflegenden und das me- anderen „klinischen“ Professionen wie Physio- oder dizinische und pflegerische System. Ergotherapeutinnen/-therapeuten zu Sozialarbeiterin- Beratung, Beziehungs- und Biografiearbeit, aufsu- nen/Sozialarbeitern. Diese Fachkräfte werden im an- chende Soziale Arbeit mit Menschen, Angehörigen- gloamerikanischen Raum auch „Link Worker“ oder arbeit, psychosoziale Unterstützung und Kriseninter- „Well-Being Coordinator“ genannt und fungieren vention sowie soziale Netzwerkarbeit sind zentrale nach einem entsprechenden Clearing als Navigator Kompetenzen im sozialarbeiterischen Qualifikations- zu weiteren – insbesondere nichtmedizinischen – profil. Basierend auf einer menschenrechtsorientier- Ressourcen. Diese umfassen das gesamte Feld der ten Grundhaltung übernehmen Sozialarbeiter/-innen Sozialarbeit wie Bewährungshilfe, Drogenberatung, auch eine anwaltschaftliche Funktion, um die Inter- Schuldenberatung, soziale Grundsicherung, Institu- essen und Bedürfnisse ihrer Klientinnen und Klien- tionen, die bei Arbeitslosigkeit unterstützen, Anti- ten durchsetzen zu helfen und den Zugang zu sozial- Gewalt-Interventionsstellen, betreute Wohngruppen rechtlichen Leistungen sicherzustellen. oder Notschlafstellen. Ein wesentlich umfangreiche- „Diplomsozialarbeiter“ studierten an Sozialakademi- rer und schwer zu erfassender Teil sind informelle en – seit fast 20 Jahren wird an Fachhochschulen stu- bzw. halbformelle Ressourcen im jeweiligen un- diert. Mit dem Umstieg auf Bachelor und Master ging mittelbaren Sozialraum: Nachbarschaftsnetzwer- die Berufsbezeichnung verloren, ein entsprechendes ke, Frauengruppen, Feuerwehren, Vereine aller Art, Berufsgesetz müsste hier wieder Klarheit schaffen. Sportinitiativen, Seniorenverbände, Jugendgruppen, Auch eine Aufstockung der Studienplätze wäre drin- religiöse und kulturelle Institutionen, wo Menschen gend erforderlich, um Medizin und Pflege entlasten sozialen Anschluss finden können. zu können. Die Bachelorausbildung beinhaltet ne- Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Bereich ben Methoden der sozialen Diagnostik z. B. sozial- Community Care brauchen daher ein umfangreiches medizinische, juristische, politische, soziologische spezifisches Verweisungswissen und müssen auch und sozialarbeitswissenschaftliche, menschenrecht- die lokalen Strukturen und Ansprechpartner kennen liche, psychosoziale und gesundheitswissenschaftli- und deren Stärken, Leistungsvermögen und -gren- che Aspekte. Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter ar- zen einschätzen können. Abbildung 3 zeigt in einer beiten grundsätzlich immer interprofessionell, da verallgemeinerten und verdichteten Form die erste Linderungen oder Lösungen für Betroffene immer Ebene von Verweisungen am Beispiel der Gemeinde im Dialog mit diesen, dem Umfeld und involvierten Orth an der Donau, das zumindest wochentags ein Berufsgruppen erarbeitet werden müssen. Das Mas- dichtes Netzwerk bildet. terstudium „Soziale Arbeit“ ist daher auch bewusst Nachts und am Wochenende bzw. an Feiertagen wür- für Absolventinnen/Absolventen anderer Studien wie de diese Grafik sehr ausgedünnt aussehen. Nur we- Ergotherapie, Soziologie, Kultur- und Sozialanthro- nige lokale Ressourcen wie Feuerwehr, Polizei und pologie, Polizeiliche Führung, Pflege, Rechtskunde, „First Responder“, die die Zeit bis zum Eintreffen Medizin usw. zugänglich und bietet Vertiefungen in des Rettungswagens überbrücken, wären rasch ver- den Bereichen Case-Management, klinische Sozial- fügbar. Regionale Akutsozialarbeit könnte vor allem arbeit, „General Social Work“ oder Gemeinwesen- in diesen Zeiten überbrückend aktiv sein. Sozialarbeit. Aufgaben der Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter im 7 Sozialarbeiter sind Bereich Gemeinwesensozialarbeit bzw. Community Community-Care-Experten Care wären rasche aufsuchende Intervention und Be- Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter haben das treuung, Beziehungs- und Vertrauensaufbau und Ersta- fachliche Potential, einen wichtigen Beitrag in der namnesen bzw. Clearings. Nach der Erstintervention psychosozialen Betreuung, insbesondere auch älterer wäre eine Referenzierung, auch durch unmittelbare Menschen und ihrer An- und Zugehörigen zu leisten. Terminvereinbarung, zu spezielleren Ressourcen aus Bereits jetzt bieten Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter dem medizinischen, pflegerischen, psychologischen, durch gezielte professionelle Sozialberatung auch di- sozialarbeiterischen Bereich erforderlich. Hausärztin- agnosebezogene Beratung wie im Bereich Demenz, nen/Hausärzte, Hauskrankenpflegerinnen/-pfleger angemessene und niederschwellig angebotene Infor- und „Acute Community Nurses“ wären wesentliche 120 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 3/2020
PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG Schnittstellenpartner in der gemeindenahen Versor- gung. Gemeindenahe Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter sind das professionelle Verbindungsglied, das zwi- schen Patientinnen/Patienten und deren Angehörigen, Rettungsdienst, Hausärztinnen/Hausärzten, Pflege- diensten, Polizei und zahlreichen psychosozialen Einrichtungen arbeitet. Sie benötigen daher eine ent- sprechende fachliche und rechtliche Verweisungskom- petenz. Wesentlich ist auch eine Kenntnis des konkreten So- zialraumes als Grundlage für Social Prescibing: Die Sozialarbeiter sollten das Gemeinwesen und seine In- teressenspartner sowie seine soziale Struktur kennen und verstehen und so in der Lage sein, an deren Res- sourcen anzuknüpfen. Das beginnt bei Jugendzentren, Jugendgruppen politischer und konfessioneller Natur, Kulturvereinen, Sportvereinen, Parteien, Religions- Fallplanung im Gemeinwesen unter Einbezug gemeinschaften und erstreckt sich bis zu Kenntnissen verschiedener Professionen. In diesem Fall von informelleren Systemen wie nachbarschaftlichen Sozialarbeit-Medizin-Pflege-Seelsorge. Netzwerken. Insbesondere für Menschen, die einsam sind, viele da- von ältere Bürgerinnen und Bürger, wäre die systema- tische Unterstützung bei der Anknüpfung an formelle zwischen den Geschlechtern und sozioökonomischen und informelle soziale Netzwerke, die persönlich in Gruppen unabhängig von der Herkunft und für alle unmittelbarer Umgebung oder mit neuen sozialen Me- Altersgruppen zu (Ziel 2), psychosoziale Gesundheit dien auch global vorhanden sind, eine Kernaufgabe. bei allen Bevölkerungsgruppen zu fördern (Ziel 9). Ziel 10 der Bundes-Zielsteuerungskommission sieht 8 Fazit vor, qualitativ hochstehende und effiziente Gesund- Angesichts der gegenwärtigen demografischen und heitsversorgung für alle nachhaltig sicherzustellen soziostrukturellen Veränderungen steht Österreich vor (Bundes-Zielsteuerungskommission 2014: 5). Durch großen Herausforderungen im Hinblick auf die Ge- die angedachte aufsuchende Intervention und Betreu- staltung der zukünftig integrierten medizinischen und ung sowie die anschließende Vermittlung an andere psychosozialen Grundversorgung seiner Bevölkerung. Einrichtungen würde mehr Menschen als bisher eine Neben einer Neustrukturierung wird jedoch auch eine zielgerichtete Versorgung ermöglicht und somit we- Fokussierung auf eine zielgerichtete Versorgung an- sentlich zur Erreichung dieser Ziele beigetragen (vgl. gestrebt. Dies eröffnet Möglichkeiten, in diesem Zu- Christ et al. 2015). sammenhang u. a. auch ein stärkeres Augenmerk auf Ein flächendeckendes System von Community Care den Ausbau der psychosozialen Grundversorgung zu würde zur Stärkung von Selbsthilfe, Nachbarschafts- legen. Akutsozialarbeiterinnen/-sozialarbeiter könn- hilfe und interprofessioneller und interinstitutioneller ten zentrale Aufgaben in diesem Bereich übernehmen. Zusammenarbeit führen und klinische, medizinische Grundsätze für soziale Arbeit im Gesundheitsbereich und pflegerische Strukturen entlasten. Dazu bräuchte sind: es die verstärkte Einbindung von Sozialarbeitern und l Open Door Policy: Soziale Arbeit verfolgt einen Sozialarbeiterinnen im klinischen und extramuralen „Offene Tür“-Zugang für Menschen auf der Suche Bereich, auch bei Primärversorgern. Insbesondere im nach Hilfe. ländlichem Raum würden sie wesentliche Hilfen re- l Aufsuchend: Soziale Arbeit sucht Menschen auch gional und wohnortnahe erbringen, z. B. im Casema- im Sozialraum und in ihren konkreten Lebenswel- nagement vieler komplexer Einzelkonfigurationen ten und -wirklichkeiten auf. und Menschen und deren soziale Räume stärken und l Nachgehend: Im Sozialraum und auch im ‚Straßen- zu einer Verbesserung des sozialen Netzes und der leben‘ wird den Menschen, die besonders von Ex- Lebensqualität beitragen. Auch durch konkrete sys- klusion betroffen sind, proaktiv nachgegangen. tematische Hilfe mit digitalen (Chat, E-mail, Video- Diese Berufsgruppe könnte wesentlich dazu beitra- gespräch), telefonischen und persönlichen Methoden gen, einige der zentralen in der Gesundheitsförde- – dort, wo niemand anderer da ist, der helfen kann rungsstrategie formulierten Ziele nachhaltig zu er- und so besonders vulnerable, kontaktarme und iso- reichen: für gesundheitliche Chancengerechtigkeit lierten Mitmenschen unterstützen. 3/2020 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 121
PRIMÄR- NIEDERSCHWELLIGER ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG VERSORGUNG L I T E R AT U R Ander, G. (2009): Schon wieder die gleiche Adresse – Problem der Mehrfachinterventionen. Masterthesis, Universitätslehrgang für Rettungsdienstmanagement, Donau-Universität Krems [unveröffentlicht]. Bastecky, S., Leier-Kriz, B., Mötzl, I., Wernitznig, B. (2017): Ansätze alternativer Vermittlungs- und Versorgungspfade für Menschen mit akutem psychosozialen Handlungsbedarf. Masterarbeit Studiengang Soziale Arbeit, Fachhochschule St. Pölten. Böhmer, V., Novosad, H. (2018): Sozialarbeiterische Handlungskonzepte bei wiederholter Inanspruchnahme im Gesundheitswesen, https://www.fhstp.ac.at/de/studium-weiterbildung/soziales/soziale-arbeit-bachelor/projekte1/professionelle-aufsuchende-soziale- arbeit. Booker, M. J., Shaw, A. R. G., Purdy, S. (2015): Why do patients with ‘primary care sensitive’ problems access ambulance services? A systematic mapping review of the literature. In: BMJ Open, 5 (5): e007726. 19, doi: 10.1136/bmjopen-2015-007726. Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (2019a): Österreichischer Pflegevorsorgebericht 2018. Wien: Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz. Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (2019b): Pflegepersonal-Bedarfsprognose für Öster- reich. Wien: Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz. Bundesministerium für Gesundheit (2012): Rahmen-Gesundheitsziele. Richtungsweisende Vorschläge für ein gesünderes Österreich. Wien. Bundesministerium für Gesundheit (2014): „Das Team rund um den Hausarzt“. Konzept zur multiprofessionellen und interdisziplinären Primärversorgung in Österreich. Wien. Bundes-Zielsteuerungskommission (2014): Gesundheitsförderungsstrategie. Wien: Bundes-Zielsteuerungskommission. Christ, R., Spitzbart, S., Rohrauer-Näf, G., Ropin, K. (2015): Die österreichische Gesundheitsförderungsstrategie. In: Journal Gesund- heitsförderung, 1, S. 38–44. Fürst, R. (2008): Case Management und Clearing. In: Bakic, J., Diebäcker, M., Hammer, E: Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch. Wien: Löcker, S. 59. Kolland, F., Marschitz, W. (2015): Pflege: Die demographische Atempause ist vorbei. Jetzt kommt der große Sturm! Präsentationsun- terlagen zur Pressekonferenz des Österreichischen Hilfswerkes vom 20.4.2015, http://www.hilfswerk.at/cms/download/5mmq2/0420_ PK_Jahresinitiative.pdf (24.5.2015). Mühlberger, U., Knittler, K., Guger, A. (2008): Mittel- und langfristige Finanzierung der Pflegevorsorge. Wien: Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung. Novosad, H., Wallner, S. (2017): Sozialarbeitsgestützte Triage bei Notruf 144. Filterung und Lenkung von psychosozialen Hilfsanfragen zu passenden Ressourcen. Masterarbeit Studiengang Soziale Arbeit, Fachhochschule St. Pölten. Novosad, H., Weber-Schigutt, E., Wallner, S. (2017): Digitales Verweisungstool zu Institutionen der sozialen Arbeit und weiteren psychosozialen Ressourcen, https://www.fhstp.ac.at/de/studium-weiterbildung/soziales/soziale-arbeit-bachelor/projekte1/digitales- verweisungstool-zur-sozialen-arbeit. Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen (2012): Ärztinnen und Ärzte: Bedarf und Ausbildungsstellen 2010 bis 2030. Wien: Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen. Redelsteiner, C. (2019): Experten für die „most vulnerable humans“. Die Rolle der Sozialarbeit im Gesundheitswesen. In: Procare, 24: 6. Redelsteiner, C., Moser, M., Zahorka, F. (2019): Gemeinwesenzentrum Orth an der Donau. gemeinsam.gesundheit.gestalten. llse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung, Fachhochschule St. Pölten. Redelsteiner, C. (2006): Die präklinische Akut- und Notfallversorgung pädiatrischer Patienten in Wien. Eine Bestandsaufnahme, Analy- se der Schnittstellen und Möglichkeiten der Versorgungsoptimierung. Diplomarbeit, Fachhochschule St. Pölten. Redelsteiner, C. (2011): Der Notfalleinsatz – Das System Rettungsdienst. In: Redelsteiner, C., Kuderna, H., et al. (Hrsg.): Handbuch für Notfall- und Rettungssanitäter. Wien: Braumüller, S. 2–9. Redelsteiner, C. (2013): Die erste Versorgungsebene als Schlüsselstelle für eine adäquate PatientInnenlenkung. Primary Care als in- tegrierter Lösungsansatz. Ein Aufgabengebiet der sozialen Arbeit. In: Soziales Kapital, 9, http://www.soziales-kapital.at/index.php/ sozialeskapital/article/view/256 (17.11.2013). Redelsteiner, C. (2014): Von der „Rettung“ zum mobilen präklinischen Dienst. Der Rettungsdienst auf dem Weg zu einem Paradigmen- und Strategiewechsel? In: ÖZPR – Österreichische Zeitschrift für Pflegerecht, S. 164–166. Redelsteiner, C. (2016): Aktuelle und künftige Anforderungen an das Gatekeeping im präklinischen Bereich unter besonderer Berück- sichtigung der soziodemografischen Entwicklung am Beispiel zweier Grenzregionen im Burgenland. Dissertation Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften. Edewecht: Verlag Stumpf & Kossendey. Redelsteiner, C. (2019): Primärversorgung: Welche Rolle spielt dabei der Rettungsdienst bzw. die Soziale Arbeit? In: ÖGERN (Hrsg.): Primärversorgung zwischen Medizin, Pflege und Rettungsdienst. Schmid, T. (2018): Die Arzt-Patientenbeziehung. In: Flemmich, G., Hais, A., Schmid, T. (Hrsg.): Gesundheitsberufe im Wandel. Wien. S. 264–273. Schmid, T. (2018): Primärversorgung. In: Flemmich, G., Hais, A., Schmid, T. (Hrsg.): Gesundheitsberufe im Wandel. Wien, S. 274–283. Statistik Austria (2018): Bevölkerungsprognosen. Ausführliche Tabellen der Hauptvariante (Österreich). Schnellbericht. Wien, Statistik Austria. Statistik Austria (2019): Berufsausübende niedergelassene Ärzte und Ärztinnen 2018 nach Alter, Geschlecht und Bundesländern. Wien, http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/gesundheit/gesundheitsversorgung/personal_im_ gesundheitswesen/022353.html (9.2. 2020). Statistik Austria (2020): Bundespflegegeldbezieherinnen und -bezieher sowie Ausgaben für das Bundespflegegeld 2019. Wien, http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/sozialleistungen_auf_bundesebene/bundespflegegeld/ 034778.html (9.2. 2020). Zahorka, F. (2016): Psychosoziale Helplines. Analyse zur Entwicklung von Empfehlungen einer integrierten und effizienten Adressie- rung von psychosozialen Problemen an Helplines unter Einbezug der präklinischen Notfallmedizin. Masterarbeit Studiengang Soziale Arbeit, Management Center Innsbruck. Zahorka, F. (2018): Alternative Verweisungspfade für psychosoziale Problemstellungen in der Präklinik. Erkenntnisse auf Basis eines Forschungsaufenthalts in Colorado Springs. soziales_kapital – Wissenschaftliches Journal Österreichischer Fachhochschul-Studien- gänge Soziale Arbeit, 19, S. 114–122. 122 S O Z I A L E S I C H E R H E I T 3/2020
Sie können auch lesen