Corona und Care Repositorium für die Medienwissenschaft - media/rep

Die Seite wird erstellt Penelope Bruns
 
WEITER LESEN
Repositorium für die Medienwissenschaft

   Gabriele Dietze; Encarnación Gutiérrez Rodriguez; Leander Scholz; Vanessa
   E. Thompson; Maja Figge; Jana Mangold; Stephan Trinkaus; Brigitte Weingart
   Corona und Care
   2021
   https://doi.org/10.25969/mediarep/15765

   Veröffentlichungsversion / published version
   Zeitschriftenartikel / journal article

Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Dietze, Gabriele; Gutiérrez Rodriguez, Encarnación; Scholz, Leander; Thompson, Vanessa E.; Figge, Maja; Mangold,
Jana; Trinkaus, Stephan; Weingart, Brigitte: Corona und Care. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 24: Medien
der Sorge, Jg. 13 (2021), Nr. 1, S. 116–138. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/15765.

Nutzungsbedingungen:                                               Terms of use:
Dieser Text wird unter einer Creative Commons -                    This document is made available under a creative commons -
Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0        Attribution - Non Commercial - No Derivatives 4.0 License. For
Lizenz zur Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu dieser Lizenz   more information see:
finden Sie hier:                                                   https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0
https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0
Corona und Care
—

Zuzanna Czebatul: Coloring Quarantine Nr. 14

«Coloring Quarantine» ist ein Projekt der Exile Gallery (Wien) und entstand in Reaktion
auf den Lockdown im Frühjahr 2020. Alle Bilder sind im Netz zugänglich und können
zum Ausmalen ausgedruckt werden: exilegallery.org/exhibitions/coloring-quarantine/

                            116                                                           Zf M 24, 1/2021
—
  ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND
  UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE
  GABRIELE DIETZE / ENCARNACIÓN GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ /
  LEANDER SCHOLZ und VANESSA E. THOMPSON im Gespräch mit MAJA FIGGE /
  JANA MANGOLD / STEPHAN TRINKAUS und BRIGITTE WEINGART

Wissenschaft steht nicht jenseits gesellschaft-      barer und auch schärfer geworden. Zeit also, das
licher Sorgeverhältnisse. Sie ist nicht nur struk-   Verhältnis von Sorge und (Medien-)Wissenschaft
turiert von ihnen, sondern selbst ein Bereich des    genauer zu betrachten und die Erfahrungen des
öffentlichen sozialen Lebens, aus dem Sorgearbeit    letzten Jahres in der (Dis-)Kontinuität unserer Sor-
scheinbar ausgegliedert wird. Das betrifft mehr      geverhältnisse zu verstehen: das Löchrigwerden
als das, was man die Vereinbarkeit von Beruf und     der Grenzen zwischen privatem und öffentlichem
Familie nennt, sind diese beiden Kategorien doch     Raum in unseren allgegenwärtigen Zoom-Ka-
schon Ergebnisse grundlegender gesellschaftli-       cheln, das Eindringen der Diskurse der Virologie
cher und vergeschlechtlichter Sorgebeziehungen.      und Epidemiologie in unsere ‹privatesten› Prak-
Traditionelle Vorstellungen von wissenschaftli-      tiken etc. In der Hoffnung, dass diese Situation
cher Objektivität und Neutralität partizipieren an   vielleicht auch eine Transformation der Sorge
dieser Aufteilung der Sorgearbeit, ebenso wie die    ermöglicht, eine Neuverhandlung ihrer Transver-
Verfügbarkeit von Kinderbetreuung oder billigen,     salität, hat die ZfM-Redaktion Anfang Dezember
meist migrantischen Arbeitskräften im Haushalt       2020 Expert_innen dazu eingeladen, sich über
die Möglichkeiten und Formen wissenschaftli-         ihre Perspektiven auf das Thema auszutauschen:
cher Praxis mitbestimmen. Die Trennung zwi-          die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze, die
schen Wissenschaft und Sorge war immer schon         die medialen Care-Diskurse im Gender-Blog der
ein – wenn auch sehr wirkmächtiges – Phantasma:      ZfM analysiert, die seit Langem mit dem Zusam-
Wissenschaft funktioniert auch in Beziehungen        menhang von Sorgearbeit und Migration befass-
der Sorge, der Übernahme von Verantwortung für       te Soziologin Encarnación Gutiérrez Rodríguez,
ihre Gegenstände und die Mitforschenden, der         den Philosophen und Autor Leander Scholz, der
Teilnahme und des Teilens.                           sich für die politischen Implikationen familiärer
   Wissenschaftler_innen sind derzeit im double      Sorgepraktiken interessiert, und die Sozialwissen-
bind einer Praxis gefangen, in der die Sorge um      schaftlerin Vanessa E. Thompson, deren Arbeiten
Forschungsverhältnisse gegen die ausgeglieder-       im Feld von Rassismus, Dekolonialisierung und
te Sorge um nichtwissenschaftliche Beziehungen       Schwarzem Aktivismus einen erweiterten Care-
ausgespielt wird. Das war vor Corona schon so, ist   Begriff voraussetzen.
aber unter den Bedingungen der Pandemie sicht-
                                                     —
DEBATTE                                                                       117
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART

Maja Figge Zum Einstieg in unser Gespräch             alle Veranstaltungen online macht, dann stellt
möchten wir gern die seit der Pandemie                sich für mich die Frage, wie ich in der Lehre
vielbemühte Metapher des Brennglases                  soziale Beziehungen und den Gedanken von
aufgreifen, also die Rede von «Corona als             ‹gemeinsamem Lernen›, oder überhaupt des
Brennglas»1: Was hat sich, würdet ihr sagen,          Gemeinsamen, aufrechterhalte. Dieses Gemein-
aus eurer wissenschaftlichen, fachlichen              same kann sich in der Situation, in der wir ge-
Perspektive, aber eben auch aus der persön-           rade stecken, sehr schnell vaporisieren und das
lichen und sozialen – mit COVID -19 konkret           hat natürlich auch Konsequenzen für politisches
und darüber hinaus auch im Diskurs über               Handeln. Ganz konkret auch in der Lehre:
Care verändert? Gab es überhaupt eine Ver-            Was bedeutet es, wenn nach der Pandemiekrise
schiebung? Oder ist das nicht so eindeutig?           Online-Lehre zum Grundstein in der Lehre
Ist das als Verhärtung zu beschreiben oder ist        wird? Was bedeutet das für die Prekarisierung
da vielleicht auch eine Öffnung erkennbar?            einer großen Gruppe von Kolleg_innen, die un-
Leander Scholz Ich habe viel mit anderen darüber      ter diesen Bedingungen arbeitet? Was bedeutet
diskutiert, was eigentlich neu ist unter Corona-      es auch für uns oder die Generationen, die nach
Bedingungen. Mir fallen viele Kleinigkeiten ein,      uns kommen? Und was bedeutet es überhaupt für
aber was gesamtgesellschaftlich neu ist, lässt        die Wissenschaft und die Universität als Ort der
sich schwer sagen. Ich habe den Eindruck, dass        Begegnung, des Sich-Kennenlernens? Was be-
die Pandemie bestimmte Dinge sichtbar gemacht         deutet es für diese Kommunikation, die Formen
hat, die schon vorher da waren. Dazu gehört           des Hinterfragens, der kritischen Auseinanderset-
eben auch die Sorgearbeit, weil Sorgearbeit           zung und der eventuellen politischen Transfor-
speziell sowohl ältere Menschen als auch Kinder       mation? Die rechtsextreme Ecke – Gabriele wird
angeht und weil bestimmte Einrichtungen wie           sicher noch darüber sprechen – ist da ziemlich
Schulen und Kitas ausgefallen sind. Für mich          flink und organisiert. Was bedeutet das für ganz
persönlich hat das deutlich gemacht, wie wichtig      viele Länder und ganz viele Orte auch inner-
die familiären Beziehungen sind. In der Situa-        halb Europas, wenn man sich beispielsweise die
tion, wo die staatliche Infrastruktur nicht da war,   Situation in Spanien anschaut, wo die Haushalte
war plötzlich die Familie auf eine ganz andere        mit sehr wenig auskommen müssen, die Kurz-
Weise präsent. Da wurden Dinge sichtbar, die die      arbeit nicht funktioniert etc.? Aber was bedeutet
ganze Zeit da sind, weil all diese Arbeit immer       das auch für die Akkumulation des Kapitals?
geleistet wird, ob das jetzt Pflegerinnen und         Das Finanzkapital steht ja eigentlich ganz gut da.
Pfleger im Dienstleistungssinne sind oder ob es       Das stellt uns vor viele, viele Fragen, über die wir
im privaten Bereich geschieht.                        nachdenken müssen.

Encarnación Gutiérrez Rodríguez Was die               Gabriele Dietze Danke, Encarnación, dass du
Pandemie noch einmal ganz deutlich zeigt, sind        zu Recht diese Querverbindung angesprochen
die globalen wie die lokalen Ungleichheiten           hast. Was mich besonders irritiert, ist die
und ihre Verstärkung: die Feminisierung, die          Usurpation des Freiheitsbegriffs durch die Co-
Rassifizierung und das Outsourcen der Arbeit.         rona-Leugner_innen oder die sogenannten
Hier im Norden und im urbanen Kontext,                Querdenker_innen. Ein früher progressiv
in dem ich mich bewege, und auch in der Wis-          verstandener Begriff wird jetzt zum Lackmus-
senschaft hat die Pandemie mich als Lehrende          test oder zur Scheideflüssigkeit für das rich-
in eine andere Position versetzt. Wenn man            tige rechtspopulistische Bewusstsein. Diese

                     118                                                                     Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE

Umdeutung des Freiheitsbegriffs hat große              diese Verschärfung hat Proteste evoziert, weil
Auswirkungen, z. B. auf die Universität: Mit           wir gesehen haben, dass Gruppierungen, die
diesen Klagen über eine sogenannte cancel culture      sowieso schon vulnerabel sind, dann auch noch
wird ja behauptet, dass eine rechte Freiheit des       poliziert werden.2 Was auch vorher schon so
Ausdrucks durch unsere Wissenschaftlichkeit            war, aber selbst in dieser Situation sind gerade
behindert würde. Abgesehen davon: Wenn man             das die kriminalisierten Gruppen.
Corona-Probleme über einen Freiheitsbegriff                Wir haben auch schon transnationale
diskutiert, stellt man praktisch Care in Abwesen-      Protestformationen gesehen und entsprechende
heit. Jede_r, die_der über Freiheit und Corona         Losungen gehört: «Die Pandemie macht uns
diskutiert, thematisiert die Selbstsorge, also dass    nicht alle gleich». Aber ich finde, dass trotzdem
es mein Ich oder meine Familie ist, die entscheiden    nur bestimmte Ungleichheiten sichtbar geworden
muss, wie sie leben will und die links und rechts      sind. Da kann uns eine intersektionale Perspek-
keine Verantwortlichkeiten hat. Insofern wird der      tive helfen: Es wurde wenig über die illegali-
Freiheitsbegriff oft pervertiert und die Dimen-        sierten Sexarbeitenden gesprochen, es wurde
sion der ‹Freiheit der Anderen› als Grenze der         wenig über mehrfach marginalisierte Positionen
eigenen Freiheit unterschlagen.                        gesprochen in diesem Ausdifferenzieren der
                                                       Ungleichheiten durch die Pandemie. Und da ist
Vanessa E. Thompson Ich würde dem zustim-              es auch wichtig zu gucken, wie diese intersekti-
men, dass sich nicht so viel geändert, sondern         onalen Aufmerksamkeitsökonomien eigentlich
eher verschärft hat, bzw. ich glaube auch, wie         verlaufen. Auf welche Gruppierung wird diesbe-
Encarnación gesagt hat, dass es zu einer brutalen      züglich geschaut, sich Sorgen gemacht, und was
Verschärfung der intersektionalen Ungleich-            wird verhandelt? In Bezug auf die Universität ist
heiten gekommen ist. Weil gerade mehrfach              es, glaube ich, ganz ähnlich. Ich hatte das Gefühl,
marginalisierte, prekarisierte Gruppen, die            dass viel darüber gesprochen wird, was für For-
schon vorher den Konditionen frühzeitiger Tode         men der Mehrarbeit, die natürlich auch verge-
ausgesetzt waren, also beispielsweise rassifizierte,   schlechtlicht ist, weiter in den Haushalt gedrängt
deprivilegierte Gruppierungen – unter anderem          werden, aber dann oft entlang der heterosexuellen,
in den USA , aber auch in Europa –, massiv             weißen Dimensionen, und dass nicht gefragt
von sogenannten underlying health-conditions           wird, was eigentlich mit denjenigen von uns ist,
betroffen sind. Das hat viel mit Umwelt-Rassis-        die sich nicht in ein weißes, bürgerliches, hetero-
mus, mit den Krankenversicherungssystemen,             sexuelles Privates zurückziehen und im Home-
also bestimmten Care-Strukturen zu tun. All            office arbeiten können, das natürlich auch entlang
diese Gruppen, die vorher schon in ihrer               von Ungleichheitsdimensionen verläuft. Oder was
Lebenserwartung und ihren Alltagspraktiken             ist mit Studierenden, die sich realiter ganz massiv
davon betroffen waren, sind in der Pandemie            Sorgen machen müssen über ihre Eltern, wenn
noch vulnerabler geworden. Es ist sehr deutlich        diese nicht zu Hause arbeiten können, oder sich
geworden, wie diese Kategorie von essential,           um sie kümmern und unterstützen müssen / wol-
essential worker zusammenläuft mit der Vulnerabi-      len. Oder mehrfach marginalisierte Studierende,
lität oder der Nähe zu frühzeitigen Toden, auch        die von heute auf morgen nicht mehr wissen, wie
auf globaler Ebene. Die Gruppen, deren Arbeit          sie ihre Miete bezahlen können, etc. Bezogen auf
grundlegend ist für das Funktionieren der Ge-          die Uni-Diskurse hat mir die Verhandlung dessen
sellschaft, sind gleichzeitig die Exponiertesten in    gefehlt, was es eigentlich bedeutet, die Universität
Bezug auf die Gefahr durch diese Pandemie. Und         als eine solidarische Institution zu denken.

DEBATTE                                                                         119
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART

L.S. Ja, vielleicht, ich denke aber, dass man auch      Prekarisierung und die unterschiedliche Aus-
differenzieren muss. Wir sprechen hier über eine        differenzierung der Bereiche von Care: Wir
globale Perspektive, aber wenn man das politisch-       haben das Gesundheitssystem im Sinne der aktu-
ökonomisch betrachtet, gerade was die Frage             ellen Versorgung in den Krankenhäusern – und
der Gesundheitsversorgung angeht, ist es ja doch        da steht natürlich Deutschland anders da als
von Land zu Land sehr unterschiedlich. Man              Spanien oder Großbritannien, wo der National
konnte beobachten, dass die Länder, die ein             Health Service (NHS ) ziemlich abgebaut wurde.
sehr stark neoliberalisiertes Gesundheitssystem         Und wo auch einige der Gesundheitsarbeiter_in-
haben, viel mehr gelitten haben. Gerade die             nen, also die Krankenschwestern, das Pflege-
USA und auch Großbritannien stehen eben doch            personal, bis hin zu den Ärzt_innen, prekarisiert
ganz anders da als die kontinentaleuropäischen          arbeiten, outgesourct werden, also nicht direkt
und auch asiatischen Nationen. Das macht nicht          eingestellt werden von den Krankenhäusern.
alle gleich, das ist sowieso klar, aber es ist auch     Diese Arbeitskräfte waren und sind mehrheitlich
unterschiedlich bewältigt worden. Gerade was            rassifizierte Personen, viele Migrantinnen aus
Care angeht, finde ich, hat sich die Politik sehr       Afrika z. B., die als Krankenschwestern einge-
viel Mühe gegeben, die Nicht-Überlastung des            stellt wurden. Einige von ihnen sind gestorben
Gesundheitssystems zu gewährleisten. Das finde          bei dieser Pandemie. Auch in Spanien zeigt
ich bemerkenswert. So ging es in Deutschland um         sich genau diese Austeritätspolitik: Abbau
einen relativ gleichen Zugang zur Gesundheits-          des Gesundheitssystems, Nichtverlängerung
versorgung. Es gibt auch Länder mit privilegierten      von Arbeitsverträgen, Nichteinstellung von
Zugängen, wo jemand mit Geld die bessere Ver-           neuem Personal.
sorgung bekommt. Hier ist es eben nicht so                  Wenn wir uns Deutschland anschauen, dann
gewesen und das ist ein Unterschied. Mein Ein-          sehen wir gerade im Bereich der Altersheime
druck ist, dass die politische Verschiebung             und des Pflegebereichs, ein Bereich, das mehr-
zwischen der Zeit vor der Krise und heute darin         heitlich von einer feminisierten, rassifizierten
besteht, dass der sogenannte neoliberale Dis-           und migrantisierten Arbeitskraft bedient wird,
kurs, gerade was die Daseinsfürsorge des Staates        dass es da nicht so gut aussieht. Die Arbeiter_in-
angeht, doch einen starken Knacks bekommen              nen dort – und die sind sehr lange gewerkschaft-
hat. Ich glaube, es gibt keine Partei, die sich jetzt   lich organisiert und haben viele Streiks durch-
noch trauen würde, das Gesundheitssystem weiter         geführt in den letzten Jahren – haben darauf
zu privatisieren. Auch die globalen Lieferketten,       hingewiesen, dass ihre Bezahlung weder ihrer
also die Versorgungssicherheit war natürlich eine       Qualifizierung entspricht noch der Zeit, die es
große Frage. Ich würde aber darauf bestehen,            erfordert, Personen zu pflegen. Dieser Bereich
dass es unterschiedliche Gesellschaften gibt, die       ist in den letzten Jahren nicht weiter ausgebaut
die Krise unterschiedlich bewältigt haben, und          worden: weder auf der Ebene des Personals
dass hier die Gesundheitsfürsorge bislang, soweit       noch auf der Ebene der Infrastruktur.
ich das beobachten kann, relativ gleichmäßig                Ich sehe nicht, dass der Diskurs sich gewan-
zugänglich gemacht wurde. Das hat mich schon            delt hat. Ich wünsche mir, dass gesehen wird,
beeindruckt, was man bereit ist, dafür zu zahlen.       dass wir vielleicht woanders investieren sollten,
Das ist ja keine geringe Summe.                         aber das passiert noch nicht. Neben vielen
                                                        anderen Fragen, die aufgeworfen werden, geht es
E.G.R. Wenn ich noch mal zurückgehen kann               dabei auch um das Altern, was Altern bedeutet,
auf das, was Vanessa benannt hat, nämlich die           wie die Gesellschaft damit umgeht.

                      120                                                                    Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE

V.E.T. Mir ging es nicht darum zu sagen, dass         und das würde ich doch noch mal gerne wieder-
in Deutschland dieselbe Situation herrscht wie        holen, dass unter bestimmten Migrant_innen
in den USA oder Großbritannien. Das ist selbst-       mehr Todesfälle als bei Nicht-Migrant_innen
verständlich nicht so. Es ist dennoch wichtig         vorgekommen sind, wie es in New York war.
zu sehen, dass auch in Deutschland oder in kon-       Oder dass es im Zusammenhang von bestimmten
tinentaleuropäischen Kontexten diese intersek-        Stadtvierteln und sozialem Status signifikante
tionalen Ungleichheiten wirken, wenn auch             Unterschiede gab. Zumindest gibt es darüber
kontextuell. Und das sehen wir daran, wer diese       keine Daten, die ich kenne. Ich glaube schon,
Arbeit eigentlich leistet: dass es, wie Encarnación   dass das Gesundheitssystem in Deutschland eben
gerade ausgeführt hat, hauptsächlich femini-          doch unabhängig vom Geldbeutel für alle offen-
sierte, migrantisierte oder auch rassifizierte        steht. Man kann an den Toten in Deutschland
Arbeiter_innen sind – auch in Deutschland oder        nicht abzählen, welche ethnische Herkunft oder
Frankreich. In Frankreich wurde es nicht statis-      migrantische Herkunft sie haben. Das kann man
tisch erfasst, aber auch da waren die sogenannten     nicht alles über einen Kamm scheren.
‹Banlieues›, was ja vor allem rassifizierte ver-
armte Stadtteile sind, sehr stark von Toden wie       V.E.T. Das hat ja auch niemand gemacht. Es
auch schweren Verläufen durch Corona geprägt,         geht nur darum, auch auf die intersektionalen
und auch in Deutschland haben wir sogenannte          Ungleichheiten in den hiesigen Kontexten zu
‹vergessene Hotspots›, Camps, Geflüchtetenhei-        schauen, nicht darum zu sagen: «Das ist genau
me, migrantisierte Arbeitsbereiche. Es gibt jetzt     dasselbe wie in den USA ». Natürlich ist die
eine Kampagne in Berlin, ‹Legalisierung jetzt›,       Gesundheitspolitik und auch die Dimension
in der illegalisierte Migrant_innen, besonders        sowie die Geschichte des Rassismus eine andere.
Haushaltsarbeiter_innen, und Unterstützer_in-         Wir haben aber auch in Deutschland im Sommer
nen sich zusammengetan haben.3 Sie haben kei-         gesehen, dass Rassismus ein Thema ist. Es gab
nen Zugang zu dem, von dem wir denken, dass es        auch hier migrantisierte Personen, die sich fragen
in Deutschland so gut funktioniert, nämlich zum       mussten: «Wenn es hier eng wird: Welche Kör-
Gesundheitswesen oder zum Wohnungsmarkt.              per werden behandelt und welche nicht?» Und
Das ist natürlich anders als in den USA , aber es     bevor diese Debatte überhaupt anfangen konnte,
ist nicht so, dass es intersektionale Ausschluss-     wurde sie zum Schweigen gebracht und damit die
prozesse nicht auch in kontinentaleuropäischen        Erfahrungen, die Menschen mit dem Rassismus
Kontexten gibt. Und ich glaube, da ist es wichtig,    im Gesundheitssystem gemacht haben.
wenn wir über Care sprechen, noch mal zu sagen,
von wo aus wir das denken und was es heißt, die       Brigitte Weingart Ist die Frage, wem die Privi-
Stimmen ernst zu nehmen, die außerhalb dieser         legien, die das noch nicht komplett neoliberal
Versorgungsstrukturen stehen und gleichzeitig         ausverkaufte deutsche Gesundheitssystem
damit beschäftigt sind, diese, oft unter sehr pre-    zur Verfügung stellt, eigentlich zugutekom-
kären Bedingungen, aufrechtzuerhalten.                men, denn präsent genug? Das ist ja auch eine
                                                      Medienfrage: Welche Fälle, welche Probleme
L.S. Ganz kurz dazu: Dass es soziale Ungerech-        kommen vor und ist z. B. das, was du gerade
tigkeiten gibt, war auch vor der Corona-Pan-          beschrieben hast, Vanessa, in derselben Weise
demie schon so, und dass Ungleichheiten durch         präsent, wie die von Leander wiedergegebene
bestimmte Bedingungen verschärft werden, ist          Erfolgsgeschichte des deutschen Gesundheits-
klar. Aber ich habe in Deutschland nicht gesehen,     systems? Über die faktische Ungleichheit sind

DEBATTE                                                                       121
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART

Philip Hinge: Coloring Quarantine Nr. 154

                      122                                                    Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE

wir uns wahrscheinlich tendenziell einig, aber        unterschiedlichen Zirkulationen von Finanz-
wie wird deren Corona-bedingte Sichtbarkeit           kapital und den damit verbundenen Effekten.
zum Ausgangspunkt für Transformationen?               Wir können das, was im Gesundheitssystem pas-
Kann man das schon irgendwo ablesen?                  siert ist, nicht unabhängig von der Finanzkrise
L.S. Es gab in Deutschland Pläne, sehr viele          2007/2008 in Europa diskutieren, und daher finde
Krankenhäuser zu schließen; diese Pläne sind          ich es schwierig zu sagen: Hier ist es wunderbar
jetzt erst einmal verschwunden. Das ist ein ganz      und woanders sieht es nicht so gut aus. Statt-
konkreter Effekt dieser Pandemie. Und soweit          dessen muss man diese Verschränkung denken
ich die Gesundheitspolitiker_innen der verschie-      und das Ganze nicht nur auf der lokalen Ebene
denen maßgeblichen Parteien kenne, wird sich          sehen. Um noch mal auf die intersektionalen
jetzt keine_r hinstellen und Privatisierungen         Formen von Gewalt zurückzukommen, die in der
fordern, im Gegenteil, die Daseinsvorsorge des        Pandemie deutlich werden: Ein anderes Beispiel
Staates wird verstärkt, die Bereitstellung von        ist die Fleischindustrie, in der Tagelöhner_in-
Medikamenten wird verstärkt; das sind ganz kon-       nen, also Vertragsarbeiter_innen aus Osteuropa
krete Vorhaben gegen die Abhängigkeit von be-         für Mindestlöhne arbeiten und in miserablen
stimmten Märkten und Lieferketten. Ich sage ja        Wohnverhältnissen leben. Verabschiedet worden
nicht, dass alles prima ist im deutschen Gesund-      ist jetzt, dass diese Arbeitsverhältnisse in großen
heitssystem; es gibt aber bestimmte Elemente,         Betrieben beendet werden sollen, in kleinen Be-
die durch diese Pandemie in eine eher kommu-          trieben nicht. Das wird aber nicht thematisiert.
nale und nicht nur privatwirtschaftliche Richtung         Mit dem Care-Bereich in den privaten Haus-
gehen. Wenn es eine Lehre gibt, was zumindest         halten, der zum Teil in der Schweiz, in Österreich
das Gesundheitssystem im ganz klassischen poli-       und in Deutschland von Frauen aus Osteuropa
tischen Sinne angeht, dann die, dass ein weniger      gestemmt wird, ist es ähnlich. In Form einer zir-
privatisiertes Gesundheitssystem höhere Chan-         kulären Migration im Rahmen von Touristenvisa
cen für die gesamte Bevölkerung bietet, diese         verbringen sie drei Monate bei ihren Arbeit-
Pandemie einigermaßen zu überstehen. Das wird         geber_innen,4 dann fahren sie wieder weg, um
auf jeden Fall Konsequenzen haben, auch für die       drei Monate später zurückzukommen. Für diese
EU -Politik. Ob das weltweit gilt, wage ich zu        Frauen hat die Corona-Pandemie bedeutet, dass
bezweifeln. Es ist ja gar keine Frage, dass es hier   einige von ihnen nicht nach Hause und andere
um recht reiche Nationen geht, die sich das eben      nicht zu ihrem Arbeitsplatz zurückgehen konnten.
auch leisten können.                                  Dies bedeutet wiederum, dass einige von ihnen
                                                      festsaßen und nicht zu ihren Familien zurück-
E.G.R. Ich denke, was die Pandemie auch zeigt,        kehren konnten. In Spanien gibt es zurzeit große
sind die globalen geografischen Verschrän-            Auseinandersetzungen darum, wie die Corona-
kungen. Ich glaube, wir können Deutschland            Krise vor allem die migrantisierte Bevölkerung
nicht ohne die EU diskutieren oder ohne die           trifft. Einige Migrant_innenorganisationen und
Verschränkung mit anderen Regionen der Welt.          Haushaltsarbeiter_innengewerkschaften orga-
Deswegen ist die Frage, ob das Gesundheits-           nisieren zurzeit eine Legalisierungskampagne.5
system auch sozialstaatlich organisiert ist. Es       Auch hier in Deutschland findet dies statt. In Spa-
stellt sich dann aber die Frage, warum das gerade     nien ist es möglich sich zu legalisieren, wenn man
nicht verfolgt wird, warum es eher zu Austeri-        nachweisen kann, dass die Person einer entlohn-
tätspolitiken, zu Einsparungen im Staatshaushalt      ten Vollzeitbeschäftigung im Privathaushalt für
kommt und wie das zusammenhängt mit den               den Zeitrahmen von drei Jahren nachgegangen

DEBATTE                                                                       123
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART

ist. Wenn die Person jedoch über ein befristetes      Sache. Ähnliches passierte auch in Deutschland.
Arbeitsvisum verfügt, riskiert sie bei Verlust des    Ohne Pandemie in den Fleischfabriken hätten
Arbeitsplatzes den Aufenthaltsstatus. Dies führt      wir die dortigen unmenschlichen Arbeitsbedin-
zu einer Prekarisierung nicht nur auf der Ebene       gungen der osteuropäischen Arbeiter_innen,
des Beschäftigungsverhältnisses, sondern auch auf     obwohl weitgehend bekannt, nicht als unerträg-
der Ebene des Aufenthaltsrechts. Doch insgesamt       lich anerkannt und keine Gesetzesänderungen
verschärft die Corona-Krise die Prekarisierung        gehabt. Corona hat auf bestimmten Ebenen eine
der Arbeit für den größten Teil der Bevölkerung.      ethische Sensibilität angeregt. Es scheint also
Viele Menschen sind in Kurzarbeit beschäftigt         möglich, durch dieses gesellschaftliche Todesbe-
und machen sich Sorgen über ihre berufliche Zu-       wusstsein eine gewisse Kommunalität für soziale
kunft. Viele Menschen müssen sich auch Sorgen         Ungerechtigkeit zu erzeugen.
über die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis,
ihres Visums oder die Bewilligung ihres Asylan-       B.W. Eine meiner Fragen für heute war, wie
trags machen. Für die Gruppen, die bereits unter      differenziert man mit diesem Care-Begriff
diesen prekären Arbeitsbedingungen arbeiten,          überhaupt arbeiten kann. Er lässt sich ja einer-
also migrantisierte, feminisierte, rassifizierte      seits ganz eng fassen und ruft im Alltagsver-
Menschen, arme Menschen, ist die Situation            ständnis so etwas wie Pflegearbeit auf, daran
schwierig. Wenn die Person irregulär beschäftigt      gekoppelt die traditionelle vergeschlechtlichte
ist, z. B. als Putzfrau oder als Pflegerin, und das   Hausarbeit, die Reproduktionsarbeit etc.
ist auch hier in Deutschland der Fall, ist das An-    Andererseits laufen seit Jahren über die Idee
gebot, auf Kurzarbeit zu gehen oder irgendeine        der Gouvernementalität und der Selbstsorge
Form staatlicher Unterstützung zu bekommen,           Achtsamkeitsdiskurse unter dem Care-Begriff.
kaum vorhanden. Was bedeutet das konkret hier         Und jetzt sind wir damit konfrontiert, dass die
in Europa, wenn diese Möglichkeiten, das eigene       Pandemie uns die Vernetztheit, die globale
Leben zu erhalten, nicht gegeben sind?                Interdependenz von Care-Konstellationen und
                                                      vor allem von sozialen Ungerechtigkeiten
G.D. Mir scheint noch eine andere Dimension           vor Augen führt. Was taugt dieser Begriff über-
wichtig. Encarnación, was du sagst, ist völlig        haupt noch, wenn er so breit gefasst wird?
richtig, aber ich erinnere mich, wie zutiefst ver-       In unserem Gespräch zeichnet sich schon
blüfft ich war, dass wir aus dem ersten Lockdown6     ab, dass gerade diese Verschachtelungen
mit antirassistischen Massendemonstrationen           aufschlussreich sind. Wir sollten uns viel-
in Solidarität mit George Floyd und der Black-        leicht fragen, wie Mikropolitiken von Care
Lives-Matter-Bewegung herausgekommen sind.            mit diesen globalen Interdependenzen so in
Das war eine ausgesprochen seltsame Kombina-          Zusammenhang gebracht werden können,
tion. So gesehen hatte die Corona-Epidemie            dass sie politisierbar werden. Eine Politisie-
wohl ein Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit        rung, die sich offenbar eingestellt hat, war ja
erzeugt. In den Vereinigten Staaten hat die Black-    die gerade von Gabriele benannte: das Zu-
Lives-Matter-Bewegung, darauf hat Vanessa             sammentreffen von Corona und Rassismus in
hingewiesen, als Metapher einer gesellschafts-        der Frage des Atmen-Könnens, aber auch die
politischen Sorge eine gewisse Anerkennung            Isolation, die offenbar dazu beigetragen hat,
des historisch fortdauernden Rassismus in der         dass es ein Begehren nach Demonstrationen
weißen amerikanischen Bevölkerung nach sich           gab, danach, sich mit anderen zu treffen, um
gezogen. Wie nachhaltig das ist, ist eine andere      ein politisches Kollektiv zu erleben (was es,

                      124                                                                 Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE

Stichwort ‹Hygiene-Demos›, leider auch in              dahintersteht. Das ist tatsächlich eine große
anderen Ausprägungen gab). Das scheint ja              Aufgabe, das neu zu denken und einen anderen
ein Symptom zu sein, aber wie kriegt man das           Arbeitsbegriff zu entwickeln, weil das ganz eng
alles unter diesen einen Begriff?                      auch mit unserem Freiheitsbegriff zusammen-
L.S. Vielleicht erst mal ganz generell: Care-Arbeit    hängt. Die ganze europäische Philosophie ist
ist ja schon länger im Fokus, das ist nichts Neues.    am autonomen Subjekt ausgerichtet, und da
Ich würde Care auch nicht ganz so weit fassen          werden solche verletzlichen Verbindungen wie
wie ihr. Das hat meines Erachtens mit der Krise        Vater – Kind, Mutter – Kind oder andere Sorge-
des Arbeitsbegriffs zu tun: In der Finanzkrise         Beziehungen ethisch nicht reflektiert. Außer der
2007 bis 2011 sind mehr Industriejobs als Dienst-      christlichen Caritas-Lehre gibt es da extrem we-
leistungsjobs verloren gegangen, vor allem in          nig, was solche Beziehungen überhaupt erfasst.
den USA , und das hatte den interessanten Neben-
effekt, dass tatsächlich auch viel über Männer         Stephan Trinkaus Wenn ich das richtig verstehe,
und Fürsorge gesprochen wurde, weil eben               wundert es dich nicht, dass sich die Corona-
zahlenmäßig mehr Männer arbeitslos geworden            Demonstrationen – wie Gabriele vorhin kon-
sind, die dann gezwungen waren, zu Hause zu            statiert hat – auf den Freiheitsbegriff beziehen,
bleiben und vielleicht auch unfreiwillig Hausar-       weil der tatsächlich mit einer Vorstellung von
beit zu übernehmen.                                    menschlicher Handlungsfähigkeit und Arbeit
    Über Care-Arbeit wurde natürlich schon seit        zu tun hat, der in Spannung steht zu dem, was
Aristoteles nachgedacht. Aber ich denke, die           du mit Care meinst?
Krise des industriellen oder des rein an Produk-       L.S. Ich glaube, die sogenannten Querdenker_in-
tion ausgerichteten Arbeitsbegriffs hat auch mit       nen sind schwer einzuschätzen; es ist nicht
dem Aufstieg von Dienstleistung zu tun, ob das         einfach, das schon als Bewegung zu beschreiben.
jetzt privat oder professionell ist, gewerblich, be-   Da muss man auch ein bisschen Distanz haben,
ruflich oder eben einfach Kinderbetreuung. Ich         weil das eine sehr, sehr heterogene Bewegung ist
glaube, dass unsere Gesellschaft überhaupt gar         und der Freiheitsbegriff da ein sehr liberaler ist,
keinen Begriff von dieser Art von Arbeit hat, weil     der sich aus der Angst vor einem totalitären Staat
unser Arbeitsbegriff mit seiner Unterscheidung         speist. Die behaupten, wie es ja leider auch man-
zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit          che Linke machen, die das eben als problemati-
sehr stark an den Bedingungen des 19. Jahrhun-         sche Biopolitik beschreiben, der Staat werde jetzt
derts ausgerichtet ist. Das, was wir als Berufs-       totalitär. Das ist eigentlich ein anarcho-liberaler
arbeit oder Arbeit im echten Sinne begreifen, ist      Freiheitsbegriff, den die ‹Querdenker_innen›
natürlich bestimmten Arbeitsformen geschuldet,         in Anspruch nehmen. Nein, das passt nicht zu
die dominant waren. Wir werten andere Arbeits-         dem, was ich eben gesagt habe. Was ich kritisiere,
formen ab, weil sie nicht so präsent sind. Das         ist eine liberale Tradition, die von Kant bis zur
Hauptproblem ist aber, das überhaupt erst einmal       Gegenwart reicht und auch Teile des Feminis-
zu beschreiben. Wenn man die Geschichte der            mus bestimmt, deren einziges Ideal das emanzi-
politischen Philosophie anschaut, dann gehört          patorisch-autonome Individuum ist und die
die Hausarbeit von Aristoteles bis Hannah              andere Aspekte des Lebens komplett ausblendet,
Arendt zu den niedrigsten Tätigkeiten. Das än-         nämlich die Verbundenheit und die Gebunden-
dert sich auch im 20. Jahrhundert nicht. Es gibt       heit. Es gibt extrem wenig in der Philosophiege-
auch noch gar nicht so lange eine philosophische       schichte zu Beziehungen zwischen Kindern und
Reflexion darüber, was das für ein Subjekt ist, das    Eltern oder zu Beziehungen zwischen Kranken

DEBATTE                                                                        125
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART

und Gesunden, woraus sich ethische Entschei-              Es gibt zudem viele Traditionen, die eigentlich
dungen begründen. Wenn Hannah Arendt über             ganz anders denken als wir, ‹wir› Europäer_innen.
politischen Aktionismus spricht, dann ist das für     Dabei geht es weniger um Care, sondern eher
sie eine heroische Tätigkeit, die findet auf einer    um planetarische Kosmologien, um vielfache Ver-
Bühne statt, die ist sichtbar – und Care-Arbeit ist   bindungen zwischen verschiedenen Spezies
eben privat, oft nicht sichtbar, der Öffentlichkeit   und unsere Beziehung zum Planeten. In diesen
entzogen. Sie ist anstrengend, wiederholt sich        Debatten werden Beziehungen anders gedacht.
immer, sagt Hannah Arendt, das ist furchtbar, sie     Das erweitert den Bezug auf Care. Denn es geht
macht dumpf und stumpf. Das ist eine ganz lange       nicht nur um interpersonelle Beziehungen, die
Geschichte von Vorurteilen, und ich glaube, dass      mit emotionaler Arbeit im Sinne von persönli-
diese Art von Arbeit und auch die Art des Egos,       cher Aufmerksamkeit und Fürsorge einhergehen.
das diese Arbeit vollzieht, und die Selbstbilder,     Vielmehr geht es hier um planetarische Fragen
die damit einhergehen, wirklich ganz anders           im dem Sinne, wie sich der Mensch in Beziehung
funktionieren als ein beruflicher oder öffentlicher   und Verantwortung zu seiner Umwelt setzt.
Erfolg, wo man immer eine Art von Applaus auf         Es geht hier eher darum, uns in Beziehung zu
einer Bühne bekommt. Es ist interessant, das erst     unserer kolonialen Geschichte, der Herstellung
einmal zu beschreiben – und die Gesellschaft          globaler heteronormativer, rassifizierter, ableis-
kommt jetzt darauf, weil bestimmte Formen der         tischer und vergeschlechtlichter Ungleichheiten
Arbeit sowieso gerade in der Krise sind und           zu setzen; das Nord-Süd- und Ost-West-Ver-
wir uns nicht mehr nur über Berufsarbeit definie-     hältnis, die geopolitischen Verschränkungen,
ren können.                                           die daraus erwachsen, zu denken. Aber es geht
                                                      auch um unsere Beziehung zum Planeten. Wir
E.G.R. Das stimmt, solange man sich auf die           leben nicht von, sondern mit dem Planeten, mit
okzidentale Philosophietradition bezieht und auf      den Pflanzen, mit den Flüssen, mit den Insekten.
die griechische Antike, wo bestimmte Männer           Und ich glaube wir sind an einem Punkt – und
sprechen durften in der Polis. Man musste ja          mit ‹wir› meine ich die weißen Europäer_innen,
auch Besitz haben und das konnte nur ein Mann,        die so aussehen wie ich –, an dem die unendliche
der von Frauen und von der versklavten Be-            kapitalistische Wertschöpfung, der Extraktivis-
völkerung bedient wurde. Der Feminismus hat           musdrang und die Verdinglichung unserer
allerdings schon sehr früh etwas anderes gezeigt,     kollektiven Ressourcen und Arbeit durch indivi-
z. B. wenn Silvia Federici über die Haushalts-        duelle Kapitalmaximierung so nicht mehr weiter-
arbeit schreibt und Alexandra Kollontai, aber         gehen kann.
auch Sylvia Pankhurst darüber berichten, was              In dieser Debatte ist für mich die Frage
es bedeutet als Frau für die Reproduktions-           nach der gesellschaftlichen Organisation der
arbeit zuständig zu sein, oder Sojourner Truth,       Haushaltsarbeit zentral.7 Das, was diese Arbeit
die über die versklavte Arbeit und die Position       ausmacht, Putzen und Waschen und Kochen
der Schwarzen Frau in der Plantagenökonomie           usw., wird als Routine-Arbeit angesehen, und
spricht. Diese Theoretikerinnen thematisieren         gesellschaftlich wird diese Arbeit als minderwer-
die andere Seite der europäischen Moderne,            tig betrachtet. Diese Arbeit ist jedoch konstitutiv
nämlich den Kolonialismus und die Plantagen-          für die Herstellung und Bewahrung des Lebens.
ökonomien, die die Industrialisierungen und           Sie ermöglicht die Herstellung des Lebens. Und
die Idee des bürgerlichen autonomen Individu-         wenn wir als Gesellschaft dies nicht begreifen,
ums ermöglichten.                                     verstehen wir auch nicht, dass diese Arbeit

                     126                                                                    Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE

unmittelbar an der Produktion unserer sozialen,       S.T. Bezogen auf das, was Encarnación eben
affektiven und planetarischen Beziehungen             eingeführt hat, stellt sich die Frage, ob Sorge
beteiligt ist. Diese unmittelbare Arbeit als den      oder Care etwas beitragen kann zu einer
zentralen Angelpunkt unserer Beziehungen zu           Kollektivität oder Konvivialität, die über das
denken, nicht nur in der Fürsorge für die_den         Menschliche hinausgeht. Also gibt es Sorge
anderen, sondern in der Form eines kollektiven,       für etwas, das uns so wenig ähnlich ist, dass
aufeinander angewiesenen und voneinander              wir uns in keiner Weise damit identifizieren
abhängigen Lebens,8 ist zentral für das gesell-       können? Kann man diese Verbindungen mit
schaftliche Zusammenleben oder für das Streben        Sorge bzw. Care denken? Das scheinen mir
nach Konvivialität.9 Diese Interdependenzen,          wichtige Fragen, gerade was die Gegenstände
diese Abhängigkeiten, in denen wir leben und          der Wissenschaft, auch der Medienwissen-
existieren, werden gerade sehr sichtbar. Darin        schaft, betrifft.
liegen die Grenzen der Projekte, die so stark auf     L.S. Natürlich gibt es in allen Kulturen auch Ge-
eine liberale Logik des unabhängigen autonomen        gengeschichten – zum Glück. Auch in der
Subjekts setzen. Das ist jetzt keine Gegenrede,       europäischen natürlich, das ist ja nicht nur ein
sondern ein Nachdenken über die Narrative, in         außereuropäisches Phänomen. So gibt es mit der
denen wir uns bewegen. Und übrigens spielen           christlichen Caritas-Lehre eine ganze Tradition,
die Medien da eine wesentliche Rolle.                 die das Politische nicht als Bühne, sondern als
                                                      Nächstenliebe, als Sorge um die_den Nächste_n
G.D. Die Überlegung, Care-Arbeit zu einem             denkt; das ist eine komplett andere Tradition
Vitalzentrum von Konvivialität zu machen,             als die der Aufklärung. Und das ist seit der Anti-
finde ich absolut wichtig, möchte aber dafür          ke – ich kann nur für die europäische Geschichte
plädieren, das immer im Zusammenhang mit              sprechen, weil ich die anderen einfach nicht
der vorhergehenden Vergeschlechtlichung               ausreichend kenne – auch immer gegendert, und
von Care-Arbeit zu diskutieren. Care ist eine         natürlich hängt Autonomie dann mit Männ-
feminisierte, eine als feminisiert gedachte Praxis,   lichkeit zusammen. Aber eben auch mit einer
die die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als     Männlichkeit, die einer bestimmten Art von
Habitus nicht herausfordert. Deswegen kann            Arbeit, nämlich der notwendigen Reproduktion
man auf Care als revolutionäres oder wenigstens       und Ernährungsarbeit, enthoben war. Deswe-
evolutionäres Prinzip unter dem Gesichtspunkt         gen ist ja das, was sich gerade abzeichnet, so ein
von Geschlechter-Gerechtigkeit nicht setzen,          großer Umbruch.
wenn man, wie gesagt, nicht gleichzeitig die              Die International Labour Organisation (ILO )
Feminisierung von Care-Arbeit herausfordert.          hat die Einbeziehung von Vätern in die Familien-
Im Zusammenhang von Vanessas Argumentation            arbeit im Sinne von active fatherhood als den
wollte ich noch einmal auf Maria Lugones’             vermutlich größten gesellschaftlichen Umbruch
Überlegungen zur coloniality of gender hinweisen,     für das 21. Jahrhundert beschrieben, zumindest
wo sie darauf aufmerksam macht, dass der              in den Industrieländern. Das produziert dann tat-
Kolonialisierungsprozess in bestimmten anthro-        sächlich auch andere Formen von Subjektivität.
pologischen Zusammenhängen gleichzeitig ein               Das ist es, was mich interessiert, weil natürlich
Domestizierungs- und Unterwerfungsprozess             die ganze Vorstellung, dass ich rausgehe, das
von indigenen Frauen unter indigene Männer            Haus verlasse – als großer Akt, der als Eintritt in
gewesen ist.10 Das finde ich wichtig, weil es zu      das Politische beschrieben wird –, eine ganz an-
denaturalisieren hilft.                               dere Form von Selbstentwurf ist, die von einem

DEBATTE                                                                        127
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART

Publikum produziert wird, als die Familienarbeit.       Veränderungen, die wir sehen wollen. Oder
Das weiß jede_r, die_der sich länger mal um             trügt mich der Eindruck, dass z. B. über
ein kleines Kind oder einen anderen Menschen            migrantische Care-Arbeiter_innen im ersten
gekümmert hat. Es gibt kein Publikum, vor               Lockdown und auch jetzt in der Tagesschau
dem diese Leistung dann erbracht wird. Und              herzlich wenig zu sehen war?
ich bin mir sicher, dass das auch eine Übung für        V.E.T. Jetzt hast du eine weitere wichtige Frage
bestimmte Tugenden ist. Es gibt Tugenden, die           gestellt. Ich wollte aber noch mal zurückkommen
werden im Haus erworben, und das sind andere            zu der nach dem Care-Begriff und danach, was
als die, die außerhalb des Hauses wichtig sind.         der leisten kann und was nicht: Ich würde auch
Ich glaube tatsächlich, dass es große gesellschaft-     sagen, dass es total wichtig ist, an feministische
liche Veränderungen bringen würde, wenn es              Genealogien anzuknüpfen, weil die ja schon ganz
eine signifikante Teilhabe von Männern und              lange diese, auch Arendt’sche, Trennung der
Frauen an dieser gemeinsam getätigten Familien-         Bereiche der Notwendigkeit und der Freiheit
arbeit gibt. Insofern würde ich sagen: Natürlich        hinterfragt haben und damit auch die Trennung
sind das ganz zentrale Genderfragen.                    zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten
                                                        etc. Gewisse Feminismen denken nicht erst seit
B.W. Nun hat unter COVID -19 die klassische             María Puig de la Bellacasa eine Beziehung zur
Geschlechter-Arbeitsteilung einen Auf-                  non-human world als eine Form von Care,11 also
schwung erfahren, also wir sind mal kurz in             die ökologischen Feminismen oder indigene und
die 1950er Jahre zurückgebeamt worden …                 antikoloniale Bewegungen, für die das koloni-
L.S. Also das gilt nicht für alle, das muss ich jetzt   alkapitalistische Projekt immer auch eines war,
mal sagen. Ich habe zu Hause Homeschooling              das die Erde zerstört. Ich würde z. B. sagen,
gemacht, deswegen kann ich das nicht so allge-          Fanons The Wretched Of The Earth bezieht sich
mein akzeptieren.                                       nicht nur darauf, dass Kolonialismus non-humans
                                                        produziert oder gewisse Menschen zu Nicht-
B.W. Ja, natürlich, aber haben wir es nicht             Menschen erklärt, sondern auch die Erde wret-
auch verstärkt mit Backlash-Phänomenen                  ched: Wir haben es da mit Projekten der Ausbeu-
zu tun, oder jedenfalls noch nicht mit der              tung zu tun, der Überausbeutung, die Menschen
Situation, die du gerade in Aussicht gestellt           entmenschlichen, aber auch die Erde zerstören.
hast? Im selben Maße vielleicht, wie die Ein-           Da gibt es eine lange Genealogie, das in Frage
sicht in globale interconnectedness, die durch          zu stellen, zu kritisieren, herauszufordern und
die Pandemie beflügelt wurde, noch nicht                auch über Alternativen nachzudenken, und ich
das Sensorium für nachhaltiges Konsumie-                denke, dass der Care-Begriff hier Potenzial hat.
ren ausgeprägt hat oder für die alltäglichen            Nicht in dem Sinne, dass er willkürlich oder
Interventionsmöglichkeiten gegen soziale                beliebig werden soll. Ich würde es ähnlich sehen
Ungerechtigkeit?                                        wie Encarnación: Es geht darum, ihn um gewisse
L.S. Nein, dass es dieses Phänomen gab, will ich        Konfigurationen entwerteter Arbeit zu spinnen.
gar nicht bestreiten.                                   Es gab die Kampagne ‹wages for housework›,12
                                                        aber auch die intersektionalen Feministinnen,
B.W. Ich hake hier auch deshalb ein, weil               die die Leerstellen der Kampagne kritisiert
ich mich frage, ob diese Transformationen               haben, wie die ‹Black Women for Wages for
tatsächlich so präsent sind, wie wir sie                Housework› (BWf Wf H), und darauf hingewie-
vor Augen haben. Das sind ja Themen und                 sen haben, dass es auch um diejenigen gehen

                       128                                                                   Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE

    Anne Meerpohl: Coloring Quarantine Nr. 16

DEBATTE                                                              129
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART

muss, die im System der Plantagenökonomien            selten um die Lager, die in Antira-Politkreisen
die Hausarbeit für andere machen mussten,             als die vergessenen Hotspots bezeichnet wer-
um diejenigen, die mittellos sind oder von der        den, oder darum, dass die Menschen dort unter
Gesellschaft als ‹unwürdig› stigmatisiert und         Massenquarantäne gestellt und teilweise poliziert
kriminalisiert werden.13                              werden, die Lager nicht verlassen dürfen. Das fin-
    Als jemand, die zu staatlicher Kriminalisie-      det alles gerade statt und auch schon seit Anfang
rung und Polizieren arbeitet, frage ich mich aber     des Jahres 2020. Deshalb ist es jetzt so wichtig
auch, inwiefern mit dem Wandel der Arbeit viele       (wie vor der Pandemie auch schon) zu gucken,
der sogenannten ‹entwerteten› Bevölkerungs-           welche Geschichten und Erfahrungen eigentlich
gruppen nicht mehr für Ausbeutung und Über-           repräsentiert werden und wer aus diesen Aner-
ausbeutung gebraucht werden. Ich denke an die         kennungsökonomien herausfällt, und Solidarität
sogenannten surplus-populations, meist rassifiziert   von dort aus zu praktizieren. Was kann unsere
und arm gehalten, und daran, wie sich eine ge-        Aufgabe sein als Wissenschaftler_innen und Per-
wisse Entwertung der Arbeit dadurch artikuliert,      sonen, die in Sorgeverhältnissen zueinander, aber
dass es gar nicht mehr darum geht, die Arbeits-       auch mit der Welt stehen und zu denken versu-
kraft bestimmter Gruppen (womöglich doppelt           chen? Was muss fortgesetzt oder vielleicht auch
oder intersektional) auszubeuten, sondern dass        anders gemacht, gedacht werden? Diese Pande-
diese eigentlich ‹überflüssig› gemacht, krimi-        mie stellt uns vor neue Herausforderungen.
nalisiert und sterben gelassen werden – wie die
Menschen, die auf dem Mittelmeer «ertrunken           Jana Mangold Was die Selbstreflexion als Wis-
gemacht» werden oder sogar durch Pushbacks            senschaftler_innen angeht, so haben wir uns in
direkt in den Tod geführt werden, oder in die La-     der Vorbereitung gefragt: Ist es eigentlich in
ger in Libyen und andere mörderische Kontexte.        Ordnung, angesichts all dieser Problematiken,
Was hieße es also, in Bezug auf Care über Arbeit      die sich um die Frage derjenigen, die jetzt
hinauszudenken?                                       besonders verletzlich sind und um die sich ge-
    Ein anderer Gedanke betrifft den Freiheits-       kümmert werden muss, drehen, über die
begriff, QA non und die Corona-leugnerischen          Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu spre-
Bewegungen. Ich frage mich, was das für ein           chen? Ich fand es sehr aufschlussreich, dass
Freiheitsbegriff ist, mit dem da gearbeitet wird?     es in unserer Diskussion sofort nicht mehr
Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, dass der          um diesen häuslichen Kontext ging, dass sehr
liberale Freiheitsbegriff immer per se progres-       schnell klar wurde, die gravierenden Fragen
siv war. Aus der postkolonialen oder Schwarzen        dieser Care-Debatte liegen tatsächlich stärker
radikalen Theorie gibt es eine starke Kritik an       in den Verschränkungen, in diesem Bezogen-
diesem liberalen Freiheitsbegriff, der einhergeht     sein aufeinander, welches aber politisch oder
mit der systematischen Entmenschlichung und           ökonomisch immer wieder unterdrückt wird.
Ausbeutung eines Großteils der Bevölkerung der        L.S. So sympathisch mir es ist, den Care-
Welt. Wir haben auf jeden Fall ein Problem mit        Begriff so auszuweiten, so finde ich es doch auch
diesen Bewegungen, aber ich frage mich: Wird          problematisch, ihn auf alles zu beziehen. Das
hier wirklich etwas Progressives vereinnahmt?         hat auch mit der Karriere des Sorge-Begriffs zu
    Und zu der Frage der Medien: Über welche          tun: Ökologische Sorge um die Erde, Sorge um
Erfahrungen sprechen wir eigentlich und welche        die Natur, Sorge um den Mitmenschen – kann
Erfahrungen werden in der Pandemie repräsen-          man natürlich alles machen, aber ich würde
tiert? Wenn es um Hotspots geht, dann geht es         das nicht nur deswegen kritisch sehen, weil es

                     130                                                                   Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE

schwammiger wird, sondern vor allem deswe-           nicht auflösbares, zugleich reziprokes und
gen, weil mit der Sorge ja auch ein bestimmtes       asymmetrisches Verhältnis. Die Frage ist, wie
Regime einhergeht. Sorge hat damit zu tun,           man Sorge denkt. Wenn man Sorge als ‹Sorge
dass es um andere Maßnahmen geht als in einer        für jemanden› denkt und als ein paternalis-
symmetrischeren Begegnung. Man kann z. B.            tisches Herrschaftsverhältnis, dann versteht
sehen, dass im Zusammenhang der ökologi-             man, glaube ich, schon die Beziehung zwi-
schen Fragen mehr kuratorische und regulato-         schen Mutter und Kind falsch. Das ist ja nicht
rische als beispielsweise normative oder andere      einfach ein einseitiges Verhältnis, in dem das
Maßnahmen des klassischen Politikbereiches           eine über das andere Macht hätte. Dass Sorge
getroffen werden. Das heißt, die Sorge produ-        auch beherrschend sein kann, ist etwas ande-
ziert ihr eigenes politisches Verhältnis – und       res, aber grundsätzlich kann man sich Sorge
wenn die Sorge das Oberleitmotiv wäre für alles      nur als ein reziprokes Verhältnis, als einen re-
Politische, dann wäre ich besorgt, um es mal so      lationalen Prozess vorstellen, würde ich sagen.
auszudrücken: weil die Sorge natürlich immer         L.S. Ja klar, alle Verhältnisse sind in irgendeiner
ein bestimmtes Verhältnis darstellt, das auch        Art und Weise dialektisch und natürlich haben
eine Entgrenzung der_dem anderen gegenüber           die Kinder in der Eltern-Kind-Beziehung sehr
produziert. Und das fände ich, so sehr ich eben      viel Macht. Das ist mir alles klar. Aber ich würde
für eine Ethik der Sorge plädiert habe, schwie-      trotzdem sagen, dass die Sorge eine bestimmte
rig. Denn dann unterschätzte man doch, dass          Art von Zugriff produziert, der zwar nicht sou-
die Sorge eben auch andere Zugriffsmodelle auf       verän ist, aber eben auch nicht reziprok wie z. B.
die_den andere_n impliziert, die ihre eigenen        das Anerkennungsverhältnis.
Probleme mitbringen. Mit der Sorge ist nicht
alles gut. Man übernimmt z. B. extrem viel Ver-      S.T. Aber Sorge ist ja eben kein Anerken-
antwortung für jemand anderen. Eine Sorge ist        nungsverhältnis – sondern das Andere der
meist um jemanden, die_der eben nicht in dem         Anerkennung.
Maße zur Selbstsorge fähig ist, und das kann         L.S. Ja, das meine ich. Jedes Verhältnis kann in
leicht auch Paternalisierung bedeuten. Wenn ich      eine bestimmte Richtung ausarten. Aber mir ist
sage, ich stelle die Natur unter die Sorge, stelle   wichtig, sich zu überlegen, dass Sorge eben eine
das und das unter die Sorge, dann sehe ich mich      andere Art von Relation als ‹Ich und Du›, als das
als denjenigen, der das produziert. Umgekehrt        Anerkennungsverhältnis, als politische Demokra-
gibt es ja auch Philosophien, die das gemacht        tie bedeutet und dass man sich das klarmachen
haben und eine Position derer_dessen bezogen         muss, wenn man die Sorge auf alle Naturverhält-
haben, die_der sich sorgt. Das ist dann eben         nisse ausdehnt.
nicht mehr Demokratie, das ist auch nicht mehr
Austausch, Zirkulation oder Wettkampf oder           E.G.R. Was ich spannend an der Diskussion
all diese anderen Modelle, sondern das ist dann      gerade finde, ist, dass wir immer in Übersetzun-
eben der_die, der_die die Macht über alles hat.      gen arbeiten. Und der Begriff ‹Sorge› hat im
Eine sorgende Person hat sehr viel Macht.            Deutschen ja auch etwas mit ‹worrying› im Eng-
                                                     lischen zu tun, während der spanische Begriff
S.T. Aber nicht die, die sorgen, haben am            ‹cuidado› eher mit Achtsamkeit zu tun hat, mit
meisten Macht, sondern die, um die sich am           achten. Was ‹care› im Englischen angeht, bin ich
meisten gesorgt wird. Das haben wir doch             jetzt etymologisch nicht so aufgestellt, aber so
auch in der Pandemie erlebt. Sorge ist ein           wie das zumindest umgangssprachlich verwendet

DEBATTE                                                                       131
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART

wird, geht es ja um caring, und ich weiß nicht, ob    gerade die dekoloniale Care-Ethik thematisiert.
das gleichzusetzen ist mit worrying. Das deut-        Dabei ging es mir nicht nur darum, die Care-
sche ‹Sorge› und Formulierungen wie ‹er sorgt         Ethik auf der konkreten Ebene der Pflege- und
sich› oder ‹es wird gesorgt› setzen ja schon so       Betreuungsarbeit in der Familie, in personellen
eine Form von autonomem Handeln voraus, was           Beziehungen oder in Pflege- und Betreuungs-
noch mal dieses Dialektische produziert oder          einrichtungen in den Fokus zu bekommen.
diese_n andere_n, zu der_dem man in Bezie-            Vielmehr ging es mir um Care als Siedepunkt
hung steht, die_den man zugleich auch negiert,        gesellschaftlicher Verhältnisse wie Rassismus,
um sich selber zu konstituieren. Während wir          Kolonialität, das Geschlechterverhältnis und Ka-
‹cuidado› eher relational denken: Da ist alles        pitalismus. Im Sinne von Amaya Perez Orozco,
miteinander verbunden und man ist eher auf der        einer feministischen Ökonomin aus Madrid, geht
Ebene, sagen wir mal: der actor-network theory        es um das Verhältnis von Kapital und Care. Mit
(ANT ), nämlich das eine kann ohne das andere         der Radikalisierung des Widerspruchs zwischen
gar nicht existieren.                                 Arbeit und Kapital macht Perez Orozco deutlich,
   Und wenn wir so weit gehen würden, dass            dass Care-Arbeit kein partikulärer Arbeitsbe-
wir das auch im Sinne von Kosmologien auffas-         reich im Kapitalismus ist.16 Vielmehr steht Care
sen, so wie Vanessa vorhin ja indigene Narra-         als zentrale Drehachse für die Organisation
tive, indigene Formen der Auseinandersetzung          von Arbeit in der gegenwärtigen Gesellschaft.
mit unserem Kosmos, mit unserem Planeten              Zugleich verweist Care im Sinne von Precarias
erwähnt hat, dann ist es ja nicht so, dass ich über   a la Deriva 17 auf das Kontinuum von Produk-
den Fluss verfüge, sondern der Fluss verfügt          tions- und Reproduktionsarbeit. Care bedeutet ja
auch über mich. Zoe Todd, eine Métis aus              nicht nur Arbeit im Sinne der entlohnten Arbeit,
Edmonton, Alberta, in Kanada, hat eine sehr           sondern die Tätigkeit, die vita activa im Grunde
gute Kritik auch an Latour und dem Konzept            genommen, die im Zentrum unseres Daseins
des Anthropozäns formuliert, in der sie darüber       steht. Und das wäre natürlich eine radikale Wen-
spricht, wie wichtig dieser Fluss in Edmonton         dung in der Form, wie wir uns in Beziehung zu
für die Métis war. Fluss bedeutet, mit ihm, mit       dem Ort, an dem wir leben, und der Welt, in der
den Fischen zusammenzuleben. Der Ort, an dem          wir leben, denken.
sie lebte, war Teil ihres Seins und des Seins ihrer
Community und so weiter.14 Das hört sich alles        V.E.T. Ich würde widersprechen, dass Ethiken
sehr romantisiert an, aber ich finde, das ist eine    oder Politiken von Care nicht demokratisch sein
ganz andere Form zu sprechen, mich in der Welt        können. Und Anerkennung hat nie für alle funk-
zu denken. Und in Lateinamerika thematisieren         tioniert, das hat Fanon eindrücklich in seiner
die Kämpfe der Frauen des Amazonas und die            Kritik an Hegel gezeigt. Wie Encarnación gera-
feministische Auseinandersetzung um Territo-          de ausgeführt hat: Es geht um Formen des Zu-
rium – Land – Körper Politiken der kolonialen         einander-in-Beziehung-Seins und Politiken der
heteropatriarchalen kapitalistischen Extraktion       Angewiesenheit, die natürlich auch demokratisch
gerade diesen Blick.15                                sind, und ich würde das schon auch als ethics of
   Care hat also auf der einen Seite eine Dimen-      care bezeichnen. Ich muss in Bezug auf Haus-
sion, die mit Arbeit zu tun hat, mit konkreter        haltsarbeit überlegen, weil in abolitionistischen
Arbeit, da geht es um die Materialität von Care.      Kreisen auch über Care als das gesprochen wird,
Es gibt aber auch die Seite der Care-Ethik.           was z. B. Harriet Tubman gemacht hat, wenn sie
In meiner Studie zu Haushaltsarbeit habe ich          Menschen auf der Plantage zur Flucht verholfen

                     132                                                                   Zf M 24, 1/2021
Sie können auch lesen