Corona und Care Repositorium für die Medienwissenschaft - media/rep
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Repositorium für die Medienwissenschaft Gabriele Dietze; Encarnación Gutiérrez Rodriguez; Leander Scholz; Vanessa E. Thompson; Maja Figge; Jana Mangold; Stephan Trinkaus; Brigitte Weingart Corona und Care 2021 https://doi.org/10.25969/mediarep/15765 Veröffentlichungsversion / published version Zeitschriftenartikel / journal article Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Dietze, Gabriele; Gutiérrez Rodriguez, Encarnación; Scholz, Leander; Thompson, Vanessa E.; Figge, Maja; Mangold, Jana; Trinkaus, Stephan; Weingart, Brigitte: Corona und Care. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft. Heft 24: Medien der Sorge, Jg. 13 (2021), Nr. 1, S. 116–138. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/15765. Nutzungsbedingungen: Terms of use: Dieser Text wird unter einer Creative Commons - This document is made available under a creative commons - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 Attribution - Non Commercial - No Derivatives 4.0 License. For Lizenz zur Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu dieser Lizenz more information see: finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0
Corona und Care — Zuzanna Czebatul: Coloring Quarantine Nr. 14 «Coloring Quarantine» ist ein Projekt der Exile Gallery (Wien) und entstand in Reaktion auf den Lockdown im Frühjahr 2020. Alle Bilder sind im Netz zugänglich und können zum Ausmalen ausgedruckt werden: exilegallery.org/exhibitions/coloring-quarantine/ 116 Zf M 24, 1/2021
— ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE GABRIELE DIETZE / ENCARNACIÓN GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / LEANDER SCHOLZ und VANESSA E. THOMPSON im Gespräch mit MAJA FIGGE / JANA MANGOLD / STEPHAN TRINKAUS und BRIGITTE WEINGART Wissenschaft steht nicht jenseits gesellschaft- barer und auch schärfer geworden. Zeit also, das licher Sorgeverhältnisse. Sie ist nicht nur struk- Verhältnis von Sorge und (Medien-)Wissenschaft turiert von ihnen, sondern selbst ein Bereich des genauer zu betrachten und die Erfahrungen des öffentlichen sozialen Lebens, aus dem Sorgearbeit letzten Jahres in der (Dis-)Kontinuität unserer Sor- scheinbar ausgegliedert wird. Das betrifft mehr geverhältnisse zu verstehen: das Löchrigwerden als das, was man die Vereinbarkeit von Beruf und der Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Familie nennt, sind diese beiden Kategorien doch Raum in unseren allgegenwärtigen Zoom-Ka- schon Ergebnisse grundlegender gesellschaftli- cheln, das Eindringen der Diskurse der Virologie cher und vergeschlechtlichter Sorgebeziehungen. und Epidemiologie in unsere ‹privatesten› Prak- Traditionelle Vorstellungen von wissenschaftli- tiken etc. In der Hoffnung, dass diese Situation cher Objektivität und Neutralität partizipieren an vielleicht auch eine Transformation der Sorge dieser Aufteilung der Sorgearbeit, ebenso wie die ermöglicht, eine Neuverhandlung ihrer Transver- Verfügbarkeit von Kinderbetreuung oder billigen, salität, hat die ZfM-Redaktion Anfang Dezember meist migrantischen Arbeitskräften im Haushalt 2020 Expert_innen dazu eingeladen, sich über die Möglichkeiten und Formen wissenschaftli- ihre Perspektiven auf das Thema auszutauschen: cher Praxis mitbestimmen. Die Trennung zwi- die Kulturwissenschaftlerin Gabriele Dietze, die schen Wissenschaft und Sorge war immer schon die medialen Care-Diskurse im Gender-Blog der ein – wenn auch sehr wirkmächtiges – Phantasma: ZfM analysiert, die seit Langem mit dem Zusam- Wissenschaft funktioniert auch in Beziehungen menhang von Sorgearbeit und Migration befass- der Sorge, der Übernahme von Verantwortung für te Soziologin Encarnación Gutiérrez Rodríguez, ihre Gegenstände und die Mitforschenden, der den Philosophen und Autor Leander Scholz, der Teilnahme und des Teilens. sich für die politischen Implikationen familiärer Wissenschaftler_innen sind derzeit im double Sorgepraktiken interessiert, und die Sozialwissen- bind einer Praxis gefangen, in der die Sorge um schaftlerin Vanessa E. Thompson, deren Arbeiten Forschungsverhältnisse gegen die ausgeglieder- im Feld von Rassismus, Dekolonialisierung und te Sorge um nichtwissenschaftliche Beziehungen Schwarzem Aktivismus einen erweiterten Care- ausgespielt wird. Das war vor Corona schon so, ist Begriff voraussetzen. aber unter den Bedingungen der Pandemie sicht- — DEBATTE 117
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART Maja Figge Zum Einstieg in unser Gespräch alle Veranstaltungen online macht, dann stellt möchten wir gern die seit der Pandemie sich für mich die Frage, wie ich in der Lehre vielbemühte Metapher des Brennglases soziale Beziehungen und den Gedanken von aufgreifen, also die Rede von «Corona als ‹gemeinsamem Lernen›, oder überhaupt des Brennglas»1: Was hat sich, würdet ihr sagen, Gemeinsamen, aufrechterhalte. Dieses Gemein- aus eurer wissenschaftlichen, fachlichen same kann sich in der Situation, in der wir ge- Perspektive, aber eben auch aus der persön- rade stecken, sehr schnell vaporisieren und das lichen und sozialen – mit COVID -19 konkret hat natürlich auch Konsequenzen für politisches und darüber hinaus auch im Diskurs über Handeln. Ganz konkret auch in der Lehre: Care verändert? Gab es überhaupt eine Ver- Was bedeutet es, wenn nach der Pandemiekrise schiebung? Oder ist das nicht so eindeutig? Online-Lehre zum Grundstein in der Lehre Ist das als Verhärtung zu beschreiben oder ist wird? Was bedeutet das für die Prekarisierung da vielleicht auch eine Öffnung erkennbar? einer großen Gruppe von Kolleg_innen, die un- Leander Scholz Ich habe viel mit anderen darüber ter diesen Bedingungen arbeitet? Was bedeutet diskutiert, was eigentlich neu ist unter Corona- es auch für uns oder die Generationen, die nach Bedingungen. Mir fallen viele Kleinigkeiten ein, uns kommen? Und was bedeutet es überhaupt für aber was gesamtgesellschaftlich neu ist, lässt die Wissenschaft und die Universität als Ort der sich schwer sagen. Ich habe den Eindruck, dass Begegnung, des Sich-Kennenlernens? Was be- die Pandemie bestimmte Dinge sichtbar gemacht deutet es für diese Kommunikation, die Formen hat, die schon vorher da waren. Dazu gehört des Hinterfragens, der kritischen Auseinanderset- eben auch die Sorgearbeit, weil Sorgearbeit zung und der eventuellen politischen Transfor- speziell sowohl ältere Menschen als auch Kinder mation? Die rechtsextreme Ecke – Gabriele wird angeht und weil bestimmte Einrichtungen wie sicher noch darüber sprechen – ist da ziemlich Schulen und Kitas ausgefallen sind. Für mich flink und organisiert. Was bedeutet das für ganz persönlich hat das deutlich gemacht, wie wichtig viele Länder und ganz viele Orte auch inner- die familiären Beziehungen sind. In der Situa- halb Europas, wenn man sich beispielsweise die tion, wo die staatliche Infrastruktur nicht da war, Situation in Spanien anschaut, wo die Haushalte war plötzlich die Familie auf eine ganz andere mit sehr wenig auskommen müssen, die Kurz- Weise präsent. Da wurden Dinge sichtbar, die die arbeit nicht funktioniert etc.? Aber was bedeutet ganze Zeit da sind, weil all diese Arbeit immer das auch für die Akkumulation des Kapitals? geleistet wird, ob das jetzt Pflegerinnen und Das Finanzkapital steht ja eigentlich ganz gut da. Pfleger im Dienstleistungssinne sind oder ob es Das stellt uns vor viele, viele Fragen, über die wir im privaten Bereich geschieht. nachdenken müssen. Encarnación Gutiérrez Rodríguez Was die Gabriele Dietze Danke, Encarnación, dass du Pandemie noch einmal ganz deutlich zeigt, sind zu Recht diese Querverbindung angesprochen die globalen wie die lokalen Ungleichheiten hast. Was mich besonders irritiert, ist die und ihre Verstärkung: die Feminisierung, die Usurpation des Freiheitsbegriffs durch die Co- Rassifizierung und das Outsourcen der Arbeit. rona-Leugner_innen oder die sogenannten Hier im Norden und im urbanen Kontext, Querdenker_innen. Ein früher progressiv in dem ich mich bewege, und auch in der Wis- verstandener Begriff wird jetzt zum Lackmus- senschaft hat die Pandemie mich als Lehrende test oder zur Scheideflüssigkeit für das rich- in eine andere Position versetzt. Wenn man tige rechtspopulistische Bewusstsein. Diese 118 Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE Umdeutung des Freiheitsbegriffs hat große diese Verschärfung hat Proteste evoziert, weil Auswirkungen, z. B. auf die Universität: Mit wir gesehen haben, dass Gruppierungen, die diesen Klagen über eine sogenannte cancel culture sowieso schon vulnerabel sind, dann auch noch wird ja behauptet, dass eine rechte Freiheit des poliziert werden.2 Was auch vorher schon so Ausdrucks durch unsere Wissenschaftlichkeit war, aber selbst in dieser Situation sind gerade behindert würde. Abgesehen davon: Wenn man das die kriminalisierten Gruppen. Corona-Probleme über einen Freiheitsbegriff Wir haben auch schon transnationale diskutiert, stellt man praktisch Care in Abwesen- Protestformationen gesehen und entsprechende heit. Jede_r, die_der über Freiheit und Corona Losungen gehört: «Die Pandemie macht uns diskutiert, thematisiert die Selbstsorge, also dass nicht alle gleich». Aber ich finde, dass trotzdem es mein Ich oder meine Familie ist, die entscheiden nur bestimmte Ungleichheiten sichtbar geworden muss, wie sie leben will und die links und rechts sind. Da kann uns eine intersektionale Perspek- keine Verantwortlichkeiten hat. Insofern wird der tive helfen: Es wurde wenig über die illegali- Freiheitsbegriff oft pervertiert und die Dimen- sierten Sexarbeitenden gesprochen, es wurde sion der ‹Freiheit der Anderen› als Grenze der wenig über mehrfach marginalisierte Positionen eigenen Freiheit unterschlagen. gesprochen in diesem Ausdifferenzieren der Ungleichheiten durch die Pandemie. Und da ist Vanessa E. Thompson Ich würde dem zustim- es auch wichtig zu gucken, wie diese intersekti- men, dass sich nicht so viel geändert, sondern onalen Aufmerksamkeitsökonomien eigentlich eher verschärft hat, bzw. ich glaube auch, wie verlaufen. Auf welche Gruppierung wird diesbe- Encarnación gesagt hat, dass es zu einer brutalen züglich geschaut, sich Sorgen gemacht, und was Verschärfung der intersektionalen Ungleich- wird verhandelt? In Bezug auf die Universität ist heiten gekommen ist. Weil gerade mehrfach es, glaube ich, ganz ähnlich. Ich hatte das Gefühl, marginalisierte, prekarisierte Gruppen, die dass viel darüber gesprochen wird, was für For- schon vorher den Konditionen frühzeitiger Tode men der Mehrarbeit, die natürlich auch verge- ausgesetzt waren, also beispielsweise rassifizierte, schlechtlicht ist, weiter in den Haushalt gedrängt deprivilegierte Gruppierungen – unter anderem werden, aber dann oft entlang der heterosexuellen, in den USA , aber auch in Europa –, massiv weißen Dimensionen, und dass nicht gefragt von sogenannten underlying health-conditions wird, was eigentlich mit denjenigen von uns ist, betroffen sind. Das hat viel mit Umwelt-Rassis- die sich nicht in ein weißes, bürgerliches, hetero- mus, mit den Krankenversicherungssystemen, sexuelles Privates zurückziehen und im Home- also bestimmten Care-Strukturen zu tun. All office arbeiten können, das natürlich auch entlang diese Gruppen, die vorher schon in ihrer von Ungleichheitsdimensionen verläuft. Oder was Lebenserwartung und ihren Alltagspraktiken ist mit Studierenden, die sich realiter ganz massiv davon betroffen waren, sind in der Pandemie Sorgen machen müssen über ihre Eltern, wenn noch vulnerabler geworden. Es ist sehr deutlich diese nicht zu Hause arbeiten können, oder sich geworden, wie diese Kategorie von essential, um sie kümmern und unterstützen müssen / wol- essential worker zusammenläuft mit der Vulnerabi- len. Oder mehrfach marginalisierte Studierende, lität oder der Nähe zu frühzeitigen Toden, auch die von heute auf morgen nicht mehr wissen, wie auf globaler Ebene. Die Gruppen, deren Arbeit sie ihre Miete bezahlen können, etc. Bezogen auf grundlegend ist für das Funktionieren der Ge- die Uni-Diskurse hat mir die Verhandlung dessen sellschaft, sind gleichzeitig die Exponiertesten in gefehlt, was es eigentlich bedeutet, die Universität Bezug auf die Gefahr durch diese Pandemie. Und als eine solidarische Institution zu denken. DEBATTE 119
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART L.S. Ja, vielleicht, ich denke aber, dass man auch Prekarisierung und die unterschiedliche Aus- differenzieren muss. Wir sprechen hier über eine differenzierung der Bereiche von Care: Wir globale Perspektive, aber wenn man das politisch- haben das Gesundheitssystem im Sinne der aktu- ökonomisch betrachtet, gerade was die Frage ellen Versorgung in den Krankenhäusern – und der Gesundheitsversorgung angeht, ist es ja doch da steht natürlich Deutschland anders da als von Land zu Land sehr unterschiedlich. Man Spanien oder Großbritannien, wo der National konnte beobachten, dass die Länder, die ein Health Service (NHS ) ziemlich abgebaut wurde. sehr stark neoliberalisiertes Gesundheitssystem Und wo auch einige der Gesundheitsarbeiter_in- haben, viel mehr gelitten haben. Gerade die nen, also die Krankenschwestern, das Pflege- USA und auch Großbritannien stehen eben doch personal, bis hin zu den Ärzt_innen, prekarisiert ganz anders da als die kontinentaleuropäischen arbeiten, outgesourct werden, also nicht direkt und auch asiatischen Nationen. Das macht nicht eingestellt werden von den Krankenhäusern. alle gleich, das ist sowieso klar, aber es ist auch Diese Arbeitskräfte waren und sind mehrheitlich unterschiedlich bewältigt worden. Gerade was rassifizierte Personen, viele Migrantinnen aus Care angeht, finde ich, hat sich die Politik sehr Afrika z. B., die als Krankenschwestern einge- viel Mühe gegeben, die Nicht-Überlastung des stellt wurden. Einige von ihnen sind gestorben Gesundheitssystems zu gewährleisten. Das finde bei dieser Pandemie. Auch in Spanien zeigt ich bemerkenswert. So ging es in Deutschland um sich genau diese Austeritätspolitik: Abbau einen relativ gleichen Zugang zur Gesundheits- des Gesundheitssystems, Nichtverlängerung versorgung. Es gibt auch Länder mit privilegierten von Arbeitsverträgen, Nichteinstellung von Zugängen, wo jemand mit Geld die bessere Ver- neuem Personal. sorgung bekommt. Hier ist es eben nicht so Wenn wir uns Deutschland anschauen, dann gewesen und das ist ein Unterschied. Mein Ein- sehen wir gerade im Bereich der Altersheime druck ist, dass die politische Verschiebung und des Pflegebereichs, ein Bereich, das mehr- zwischen der Zeit vor der Krise und heute darin heitlich von einer feminisierten, rassifizierten besteht, dass der sogenannte neoliberale Dis- und migrantisierten Arbeitskraft bedient wird, kurs, gerade was die Daseinsfürsorge des Staates dass es da nicht so gut aussieht. Die Arbeiter_in- angeht, doch einen starken Knacks bekommen nen dort – und die sind sehr lange gewerkschaft- hat. Ich glaube, es gibt keine Partei, die sich jetzt lich organisiert und haben viele Streiks durch- noch trauen würde, das Gesundheitssystem weiter geführt in den letzten Jahren – haben darauf zu privatisieren. Auch die globalen Lieferketten, hingewiesen, dass ihre Bezahlung weder ihrer also die Versorgungssicherheit war natürlich eine Qualifizierung entspricht noch der Zeit, die es große Frage. Ich würde aber darauf bestehen, erfordert, Personen zu pflegen. Dieser Bereich dass es unterschiedliche Gesellschaften gibt, die ist in den letzten Jahren nicht weiter ausgebaut die Krise unterschiedlich bewältigt haben, und worden: weder auf der Ebene des Personals dass hier die Gesundheitsfürsorge bislang, soweit noch auf der Ebene der Infrastruktur. ich das beobachten kann, relativ gleichmäßig Ich sehe nicht, dass der Diskurs sich gewan- zugänglich gemacht wurde. Das hat mich schon delt hat. Ich wünsche mir, dass gesehen wird, beeindruckt, was man bereit ist, dafür zu zahlen. dass wir vielleicht woanders investieren sollten, Das ist ja keine geringe Summe. aber das passiert noch nicht. Neben vielen anderen Fragen, die aufgeworfen werden, geht es E.G.R. Wenn ich noch mal zurückgehen kann dabei auch um das Altern, was Altern bedeutet, auf das, was Vanessa benannt hat, nämlich die wie die Gesellschaft damit umgeht. 120 Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE V.E.T. Mir ging es nicht darum zu sagen, dass und das würde ich doch noch mal gerne wieder- in Deutschland dieselbe Situation herrscht wie holen, dass unter bestimmten Migrant_innen in den USA oder Großbritannien. Das ist selbst- mehr Todesfälle als bei Nicht-Migrant_innen verständlich nicht so. Es ist dennoch wichtig vorgekommen sind, wie es in New York war. zu sehen, dass auch in Deutschland oder in kon- Oder dass es im Zusammenhang von bestimmten tinentaleuropäischen Kontexten diese intersek- Stadtvierteln und sozialem Status signifikante tionalen Ungleichheiten wirken, wenn auch Unterschiede gab. Zumindest gibt es darüber kontextuell. Und das sehen wir daran, wer diese keine Daten, die ich kenne. Ich glaube schon, Arbeit eigentlich leistet: dass es, wie Encarnación dass das Gesundheitssystem in Deutschland eben gerade ausgeführt hat, hauptsächlich femini- doch unabhängig vom Geldbeutel für alle offen- sierte, migrantisierte oder auch rassifizierte steht. Man kann an den Toten in Deutschland Arbeiter_innen sind – auch in Deutschland oder nicht abzählen, welche ethnische Herkunft oder Frankreich. In Frankreich wurde es nicht statis- migrantische Herkunft sie haben. Das kann man tisch erfasst, aber auch da waren die sogenannten nicht alles über einen Kamm scheren. ‹Banlieues›, was ja vor allem rassifizierte ver- armte Stadtteile sind, sehr stark von Toden wie V.E.T. Das hat ja auch niemand gemacht. Es auch schweren Verläufen durch Corona geprägt, geht nur darum, auch auf die intersektionalen und auch in Deutschland haben wir sogenannte Ungleichheiten in den hiesigen Kontexten zu ‹vergessene Hotspots›, Camps, Geflüchtetenhei- schauen, nicht darum zu sagen: «Das ist genau me, migrantisierte Arbeitsbereiche. Es gibt jetzt dasselbe wie in den USA ». Natürlich ist die eine Kampagne in Berlin, ‹Legalisierung jetzt›, Gesundheitspolitik und auch die Dimension in der illegalisierte Migrant_innen, besonders sowie die Geschichte des Rassismus eine andere. Haushaltsarbeiter_innen, und Unterstützer_in- Wir haben aber auch in Deutschland im Sommer nen sich zusammengetan haben.3 Sie haben kei- gesehen, dass Rassismus ein Thema ist. Es gab nen Zugang zu dem, von dem wir denken, dass es auch hier migrantisierte Personen, die sich fragen in Deutschland so gut funktioniert, nämlich zum mussten: «Wenn es hier eng wird: Welche Kör- Gesundheitswesen oder zum Wohnungsmarkt. per werden behandelt und welche nicht?» Und Das ist natürlich anders als in den USA , aber es bevor diese Debatte überhaupt anfangen konnte, ist nicht so, dass es intersektionale Ausschluss- wurde sie zum Schweigen gebracht und damit die prozesse nicht auch in kontinentaleuropäischen Erfahrungen, die Menschen mit dem Rassismus Kontexten gibt. Und ich glaube, da ist es wichtig, im Gesundheitssystem gemacht haben. wenn wir über Care sprechen, noch mal zu sagen, von wo aus wir das denken und was es heißt, die Brigitte Weingart Ist die Frage, wem die Privi- Stimmen ernst zu nehmen, die außerhalb dieser legien, die das noch nicht komplett neoliberal Versorgungsstrukturen stehen und gleichzeitig ausverkaufte deutsche Gesundheitssystem damit beschäftigt sind, diese, oft unter sehr pre- zur Verfügung stellt, eigentlich zugutekom- kären Bedingungen, aufrechtzuerhalten. men, denn präsent genug? Das ist ja auch eine Medienfrage: Welche Fälle, welche Probleme L.S. Ganz kurz dazu: Dass es soziale Ungerech- kommen vor und ist z. B. das, was du gerade tigkeiten gibt, war auch vor der Corona-Pan- beschrieben hast, Vanessa, in derselben Weise demie schon so, und dass Ungleichheiten durch präsent, wie die von Leander wiedergegebene bestimmte Bedingungen verschärft werden, ist Erfolgsgeschichte des deutschen Gesundheits- klar. Aber ich habe in Deutschland nicht gesehen, systems? Über die faktische Ungleichheit sind DEBATTE 121
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART Philip Hinge: Coloring Quarantine Nr. 154 122 Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE wir uns wahrscheinlich tendenziell einig, aber unterschiedlichen Zirkulationen von Finanz- wie wird deren Corona-bedingte Sichtbarkeit kapital und den damit verbundenen Effekten. zum Ausgangspunkt für Transformationen? Wir können das, was im Gesundheitssystem pas- Kann man das schon irgendwo ablesen? siert ist, nicht unabhängig von der Finanzkrise L.S. Es gab in Deutschland Pläne, sehr viele 2007/2008 in Europa diskutieren, und daher finde Krankenhäuser zu schließen; diese Pläne sind ich es schwierig zu sagen: Hier ist es wunderbar jetzt erst einmal verschwunden. Das ist ein ganz und woanders sieht es nicht so gut aus. Statt- konkreter Effekt dieser Pandemie. Und soweit dessen muss man diese Verschränkung denken ich die Gesundheitspolitiker_innen der verschie- und das Ganze nicht nur auf der lokalen Ebene denen maßgeblichen Parteien kenne, wird sich sehen. Um noch mal auf die intersektionalen jetzt keine_r hinstellen und Privatisierungen Formen von Gewalt zurückzukommen, die in der fordern, im Gegenteil, die Daseinsvorsorge des Pandemie deutlich werden: Ein anderes Beispiel Staates wird verstärkt, die Bereitstellung von ist die Fleischindustrie, in der Tagelöhner_in- Medikamenten wird verstärkt; das sind ganz kon- nen, also Vertragsarbeiter_innen aus Osteuropa krete Vorhaben gegen die Abhängigkeit von be- für Mindestlöhne arbeiten und in miserablen stimmten Märkten und Lieferketten. Ich sage ja Wohnverhältnissen leben. Verabschiedet worden nicht, dass alles prima ist im deutschen Gesund- ist jetzt, dass diese Arbeitsverhältnisse in großen heitssystem; es gibt aber bestimmte Elemente, Betrieben beendet werden sollen, in kleinen Be- die durch diese Pandemie in eine eher kommu- trieben nicht. Das wird aber nicht thematisiert. nale und nicht nur privatwirtschaftliche Richtung Mit dem Care-Bereich in den privaten Haus- gehen. Wenn es eine Lehre gibt, was zumindest halten, der zum Teil in der Schweiz, in Österreich das Gesundheitssystem im ganz klassischen poli- und in Deutschland von Frauen aus Osteuropa tischen Sinne angeht, dann die, dass ein weniger gestemmt wird, ist es ähnlich. In Form einer zir- privatisiertes Gesundheitssystem höhere Chan- kulären Migration im Rahmen von Touristenvisa cen für die gesamte Bevölkerung bietet, diese verbringen sie drei Monate bei ihren Arbeit- Pandemie einigermaßen zu überstehen. Das wird geber_innen,4 dann fahren sie wieder weg, um auf jeden Fall Konsequenzen haben, auch für die drei Monate später zurückzukommen. Für diese EU -Politik. Ob das weltweit gilt, wage ich zu Frauen hat die Corona-Pandemie bedeutet, dass bezweifeln. Es ist ja gar keine Frage, dass es hier einige von ihnen nicht nach Hause und andere um recht reiche Nationen geht, die sich das eben nicht zu ihrem Arbeitsplatz zurückgehen konnten. auch leisten können. Dies bedeutet wiederum, dass einige von ihnen festsaßen und nicht zu ihren Familien zurück- E.G.R. Ich denke, was die Pandemie auch zeigt, kehren konnten. In Spanien gibt es zurzeit große sind die globalen geografischen Verschrän- Auseinandersetzungen darum, wie die Corona- kungen. Ich glaube, wir können Deutschland Krise vor allem die migrantisierte Bevölkerung nicht ohne die EU diskutieren oder ohne die trifft. Einige Migrant_innenorganisationen und Verschränkung mit anderen Regionen der Welt. Haushaltsarbeiter_innengewerkschaften orga- Deswegen ist die Frage, ob das Gesundheits- nisieren zurzeit eine Legalisierungskampagne.5 system auch sozialstaatlich organisiert ist. Es Auch hier in Deutschland findet dies statt. In Spa- stellt sich dann aber die Frage, warum das gerade nien ist es möglich sich zu legalisieren, wenn man nicht verfolgt wird, warum es eher zu Austeri- nachweisen kann, dass die Person einer entlohn- tätspolitiken, zu Einsparungen im Staatshaushalt ten Vollzeitbeschäftigung im Privathaushalt für kommt und wie das zusammenhängt mit den den Zeitrahmen von drei Jahren nachgegangen DEBATTE 123
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART ist. Wenn die Person jedoch über ein befristetes Sache. Ähnliches passierte auch in Deutschland. Arbeitsvisum verfügt, riskiert sie bei Verlust des Ohne Pandemie in den Fleischfabriken hätten Arbeitsplatzes den Aufenthaltsstatus. Dies führt wir die dortigen unmenschlichen Arbeitsbedin- zu einer Prekarisierung nicht nur auf der Ebene gungen der osteuropäischen Arbeiter_innen, des Beschäftigungsverhältnisses, sondern auch auf obwohl weitgehend bekannt, nicht als unerträg- der Ebene des Aufenthaltsrechts. Doch insgesamt lich anerkannt und keine Gesetzesänderungen verschärft die Corona-Krise die Prekarisierung gehabt. Corona hat auf bestimmten Ebenen eine der Arbeit für den größten Teil der Bevölkerung. ethische Sensibilität angeregt. Es scheint also Viele Menschen sind in Kurzarbeit beschäftigt möglich, durch dieses gesellschaftliche Todesbe- und machen sich Sorgen über ihre berufliche Zu- wusstsein eine gewisse Kommunalität für soziale kunft. Viele Menschen müssen sich auch Sorgen Ungerechtigkeit zu erzeugen. über die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis, ihres Visums oder die Bewilligung ihres Asylan- B.W. Eine meiner Fragen für heute war, wie trags machen. Für die Gruppen, die bereits unter differenziert man mit diesem Care-Begriff diesen prekären Arbeitsbedingungen arbeiten, überhaupt arbeiten kann. Er lässt sich ja einer- also migrantisierte, feminisierte, rassifizierte seits ganz eng fassen und ruft im Alltagsver- Menschen, arme Menschen, ist die Situation ständnis so etwas wie Pflegearbeit auf, daran schwierig. Wenn die Person irregulär beschäftigt gekoppelt die traditionelle vergeschlechtlichte ist, z. B. als Putzfrau oder als Pflegerin, und das Hausarbeit, die Reproduktionsarbeit etc. ist auch hier in Deutschland der Fall, ist das An- Andererseits laufen seit Jahren über die Idee gebot, auf Kurzarbeit zu gehen oder irgendeine der Gouvernementalität und der Selbstsorge Form staatlicher Unterstützung zu bekommen, Achtsamkeitsdiskurse unter dem Care-Begriff. kaum vorhanden. Was bedeutet das konkret hier Und jetzt sind wir damit konfrontiert, dass die in Europa, wenn diese Möglichkeiten, das eigene Pandemie uns die Vernetztheit, die globale Leben zu erhalten, nicht gegeben sind? Interdependenz von Care-Konstellationen und vor allem von sozialen Ungerechtigkeiten G.D. Mir scheint noch eine andere Dimension vor Augen führt. Was taugt dieser Begriff über- wichtig. Encarnación, was du sagst, ist völlig haupt noch, wenn er so breit gefasst wird? richtig, aber ich erinnere mich, wie zutiefst ver- In unserem Gespräch zeichnet sich schon blüfft ich war, dass wir aus dem ersten Lockdown6 ab, dass gerade diese Verschachtelungen mit antirassistischen Massendemonstrationen aufschlussreich sind. Wir sollten uns viel- in Solidarität mit George Floyd und der Black- leicht fragen, wie Mikropolitiken von Care Lives-Matter-Bewegung herausgekommen sind. mit diesen globalen Interdependenzen so in Das war eine ausgesprochen seltsame Kombina- Zusammenhang gebracht werden können, tion. So gesehen hatte die Corona-Epidemie dass sie politisierbar werden. Eine Politisie- wohl ein Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit rung, die sich offenbar eingestellt hat, war ja erzeugt. In den Vereinigten Staaten hat die Black- die gerade von Gabriele benannte: das Zu- Lives-Matter-Bewegung, darauf hat Vanessa sammentreffen von Corona und Rassismus in hingewiesen, als Metapher einer gesellschafts- der Frage des Atmen-Könnens, aber auch die politischen Sorge eine gewisse Anerkennung Isolation, die offenbar dazu beigetragen hat, des historisch fortdauernden Rassismus in der dass es ein Begehren nach Demonstrationen weißen amerikanischen Bevölkerung nach sich gab, danach, sich mit anderen zu treffen, um gezogen. Wie nachhaltig das ist, ist eine andere ein politisches Kollektiv zu erleben (was es, 124 Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE Stichwort ‹Hygiene-Demos›, leider auch in dahintersteht. Das ist tatsächlich eine große anderen Ausprägungen gab). Das scheint ja Aufgabe, das neu zu denken und einen anderen ein Symptom zu sein, aber wie kriegt man das Arbeitsbegriff zu entwickeln, weil das ganz eng alles unter diesen einen Begriff? auch mit unserem Freiheitsbegriff zusammen- L.S. Vielleicht erst mal ganz generell: Care-Arbeit hängt. Die ganze europäische Philosophie ist ist ja schon länger im Fokus, das ist nichts Neues. am autonomen Subjekt ausgerichtet, und da Ich würde Care auch nicht ganz so weit fassen werden solche verletzlichen Verbindungen wie wie ihr. Das hat meines Erachtens mit der Krise Vater – Kind, Mutter – Kind oder andere Sorge- des Arbeitsbegriffs zu tun: In der Finanzkrise Beziehungen ethisch nicht reflektiert. Außer der 2007 bis 2011 sind mehr Industriejobs als Dienst- christlichen Caritas-Lehre gibt es da extrem we- leistungsjobs verloren gegangen, vor allem in nig, was solche Beziehungen überhaupt erfasst. den USA , und das hatte den interessanten Neben- effekt, dass tatsächlich auch viel über Männer Stephan Trinkaus Wenn ich das richtig verstehe, und Fürsorge gesprochen wurde, weil eben wundert es dich nicht, dass sich die Corona- zahlenmäßig mehr Männer arbeitslos geworden Demonstrationen – wie Gabriele vorhin kon- sind, die dann gezwungen waren, zu Hause zu statiert hat – auf den Freiheitsbegriff beziehen, bleiben und vielleicht auch unfreiwillig Hausar- weil der tatsächlich mit einer Vorstellung von beit zu übernehmen. menschlicher Handlungsfähigkeit und Arbeit Über Care-Arbeit wurde natürlich schon seit zu tun hat, der in Spannung steht zu dem, was Aristoteles nachgedacht. Aber ich denke, die du mit Care meinst? Krise des industriellen oder des rein an Produk- L.S. Ich glaube, die sogenannten Querdenker_in- tion ausgerichteten Arbeitsbegriffs hat auch mit nen sind schwer einzuschätzen; es ist nicht dem Aufstieg von Dienstleistung zu tun, ob das einfach, das schon als Bewegung zu beschreiben. jetzt privat oder professionell ist, gewerblich, be- Da muss man auch ein bisschen Distanz haben, ruflich oder eben einfach Kinderbetreuung. Ich weil das eine sehr, sehr heterogene Bewegung ist glaube, dass unsere Gesellschaft überhaupt gar und der Freiheitsbegriff da ein sehr liberaler ist, keinen Begriff von dieser Art von Arbeit hat, weil der sich aus der Angst vor einem totalitären Staat unser Arbeitsbegriff mit seiner Unterscheidung speist. Die behaupten, wie es ja leider auch man- zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit che Linke machen, die das eben als problemati- sehr stark an den Bedingungen des 19. Jahrhun- sche Biopolitik beschreiben, der Staat werde jetzt derts ausgerichtet ist. Das, was wir als Berufs- totalitär. Das ist eigentlich ein anarcho-liberaler arbeit oder Arbeit im echten Sinne begreifen, ist Freiheitsbegriff, den die ‹Querdenker_innen› natürlich bestimmten Arbeitsformen geschuldet, in Anspruch nehmen. Nein, das passt nicht zu die dominant waren. Wir werten andere Arbeits- dem, was ich eben gesagt habe. Was ich kritisiere, formen ab, weil sie nicht so präsent sind. Das ist eine liberale Tradition, die von Kant bis zur Hauptproblem ist aber, das überhaupt erst einmal Gegenwart reicht und auch Teile des Feminis- zu beschreiben. Wenn man die Geschichte der mus bestimmt, deren einziges Ideal das emanzi- politischen Philosophie anschaut, dann gehört patorisch-autonome Individuum ist und die die Hausarbeit von Aristoteles bis Hannah andere Aspekte des Lebens komplett ausblendet, Arendt zu den niedrigsten Tätigkeiten. Das än- nämlich die Verbundenheit und die Gebunden- dert sich auch im 20. Jahrhundert nicht. Es gibt heit. Es gibt extrem wenig in der Philosophiege- auch noch gar nicht so lange eine philosophische schichte zu Beziehungen zwischen Kindern und Reflexion darüber, was das für ein Subjekt ist, das Eltern oder zu Beziehungen zwischen Kranken DEBATTE 125
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART und Gesunden, woraus sich ethische Entschei- Es gibt zudem viele Traditionen, die eigentlich dungen begründen. Wenn Hannah Arendt über ganz anders denken als wir, ‹wir› Europäer_innen. politischen Aktionismus spricht, dann ist das für Dabei geht es weniger um Care, sondern eher sie eine heroische Tätigkeit, die findet auf einer um planetarische Kosmologien, um vielfache Ver- Bühne statt, die ist sichtbar – und Care-Arbeit ist bindungen zwischen verschiedenen Spezies eben privat, oft nicht sichtbar, der Öffentlichkeit und unsere Beziehung zum Planeten. In diesen entzogen. Sie ist anstrengend, wiederholt sich Debatten werden Beziehungen anders gedacht. immer, sagt Hannah Arendt, das ist furchtbar, sie Das erweitert den Bezug auf Care. Denn es geht macht dumpf und stumpf. Das ist eine ganz lange nicht nur um interpersonelle Beziehungen, die Geschichte von Vorurteilen, und ich glaube, dass mit emotionaler Arbeit im Sinne von persönli- diese Art von Arbeit und auch die Art des Egos, cher Aufmerksamkeit und Fürsorge einhergehen. das diese Arbeit vollzieht, und die Selbstbilder, Vielmehr geht es hier um planetarische Fragen die damit einhergehen, wirklich ganz anders im dem Sinne, wie sich der Mensch in Beziehung funktionieren als ein beruflicher oder öffentlicher und Verantwortung zu seiner Umwelt setzt. Erfolg, wo man immer eine Art von Applaus auf Es geht hier eher darum, uns in Beziehung zu einer Bühne bekommt. Es ist interessant, das erst unserer kolonialen Geschichte, der Herstellung einmal zu beschreiben – und die Gesellschaft globaler heteronormativer, rassifizierter, ableis- kommt jetzt darauf, weil bestimmte Formen der tischer und vergeschlechtlichter Ungleichheiten Arbeit sowieso gerade in der Krise sind und zu setzen; das Nord-Süd- und Ost-West-Ver- wir uns nicht mehr nur über Berufsarbeit definie- hältnis, die geopolitischen Verschränkungen, ren können. die daraus erwachsen, zu denken. Aber es geht auch um unsere Beziehung zum Planeten. Wir E.G.R. Das stimmt, solange man sich auf die leben nicht von, sondern mit dem Planeten, mit okzidentale Philosophietradition bezieht und auf den Pflanzen, mit den Flüssen, mit den Insekten. die griechische Antike, wo bestimmte Männer Und ich glaube wir sind an einem Punkt – und sprechen durften in der Polis. Man musste ja mit ‹wir› meine ich die weißen Europäer_innen, auch Besitz haben und das konnte nur ein Mann, die so aussehen wie ich –, an dem die unendliche der von Frauen und von der versklavten Be- kapitalistische Wertschöpfung, der Extraktivis- völkerung bedient wurde. Der Feminismus hat musdrang und die Verdinglichung unserer allerdings schon sehr früh etwas anderes gezeigt, kollektiven Ressourcen und Arbeit durch indivi- z. B. wenn Silvia Federici über die Haushalts- duelle Kapitalmaximierung so nicht mehr weiter- arbeit schreibt und Alexandra Kollontai, aber gehen kann. auch Sylvia Pankhurst darüber berichten, was In dieser Debatte ist für mich die Frage es bedeutet als Frau für die Reproduktions- nach der gesellschaftlichen Organisation der arbeit zuständig zu sein, oder Sojourner Truth, Haushaltsarbeit zentral.7 Das, was diese Arbeit die über die versklavte Arbeit und die Position ausmacht, Putzen und Waschen und Kochen der Schwarzen Frau in der Plantagenökonomie usw., wird als Routine-Arbeit angesehen, und spricht. Diese Theoretikerinnen thematisieren gesellschaftlich wird diese Arbeit als minderwer- die andere Seite der europäischen Moderne, tig betrachtet. Diese Arbeit ist jedoch konstitutiv nämlich den Kolonialismus und die Plantagen- für die Herstellung und Bewahrung des Lebens. ökonomien, die die Industrialisierungen und Sie ermöglicht die Herstellung des Lebens. Und die Idee des bürgerlichen autonomen Individu- wenn wir als Gesellschaft dies nicht begreifen, ums ermöglichten. verstehen wir auch nicht, dass diese Arbeit 126 Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE unmittelbar an der Produktion unserer sozialen, S.T. Bezogen auf das, was Encarnación eben affektiven und planetarischen Beziehungen eingeführt hat, stellt sich die Frage, ob Sorge beteiligt ist. Diese unmittelbare Arbeit als den oder Care etwas beitragen kann zu einer zentralen Angelpunkt unserer Beziehungen zu Kollektivität oder Konvivialität, die über das denken, nicht nur in der Fürsorge für die_den Menschliche hinausgeht. Also gibt es Sorge anderen, sondern in der Form eines kollektiven, für etwas, das uns so wenig ähnlich ist, dass aufeinander angewiesenen und voneinander wir uns in keiner Weise damit identifizieren abhängigen Lebens,8 ist zentral für das gesell- können? Kann man diese Verbindungen mit schaftliche Zusammenleben oder für das Streben Sorge bzw. Care denken? Das scheinen mir nach Konvivialität.9 Diese Interdependenzen, wichtige Fragen, gerade was die Gegenstände diese Abhängigkeiten, in denen wir leben und der Wissenschaft, auch der Medienwissen- existieren, werden gerade sehr sichtbar. Darin schaft, betrifft. liegen die Grenzen der Projekte, die so stark auf L.S. Natürlich gibt es in allen Kulturen auch Ge- eine liberale Logik des unabhängigen autonomen gengeschichten – zum Glück. Auch in der Subjekts setzen. Das ist jetzt keine Gegenrede, europäischen natürlich, das ist ja nicht nur ein sondern ein Nachdenken über die Narrative, in außereuropäisches Phänomen. So gibt es mit der denen wir uns bewegen. Und übrigens spielen christlichen Caritas-Lehre eine ganze Tradition, die Medien da eine wesentliche Rolle. die das Politische nicht als Bühne, sondern als Nächstenliebe, als Sorge um die_den Nächste_n G.D. Die Überlegung, Care-Arbeit zu einem denkt; das ist eine komplett andere Tradition Vitalzentrum von Konvivialität zu machen, als die der Aufklärung. Und das ist seit der Anti- finde ich absolut wichtig, möchte aber dafür ke – ich kann nur für die europäische Geschichte plädieren, das immer im Zusammenhang mit sprechen, weil ich die anderen einfach nicht der vorhergehenden Vergeschlechtlichung ausreichend kenne – auch immer gegendert, und von Care-Arbeit zu diskutieren. Care ist eine natürlich hängt Autonomie dann mit Männ- feminisierte, eine als feminisiert gedachte Praxis, lichkeit zusammen. Aber eben auch mit einer die die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Männlichkeit, die einer bestimmten Art von Habitus nicht herausfordert. Deswegen kann Arbeit, nämlich der notwendigen Reproduktion man auf Care als revolutionäres oder wenigstens und Ernährungsarbeit, enthoben war. Deswe- evolutionäres Prinzip unter dem Gesichtspunkt gen ist ja das, was sich gerade abzeichnet, so ein von Geschlechter-Gerechtigkeit nicht setzen, großer Umbruch. wenn man, wie gesagt, nicht gleichzeitig die Die International Labour Organisation (ILO ) Feminisierung von Care-Arbeit herausfordert. hat die Einbeziehung von Vätern in die Familien- Im Zusammenhang von Vanessas Argumentation arbeit im Sinne von active fatherhood als den wollte ich noch einmal auf Maria Lugones’ vermutlich größten gesellschaftlichen Umbruch Überlegungen zur coloniality of gender hinweisen, für das 21. Jahrhundert beschrieben, zumindest wo sie darauf aufmerksam macht, dass der in den Industrieländern. Das produziert dann tat- Kolonialisierungsprozess in bestimmten anthro- sächlich auch andere Formen von Subjektivität. pologischen Zusammenhängen gleichzeitig ein Das ist es, was mich interessiert, weil natürlich Domestizierungs- und Unterwerfungsprozess die ganze Vorstellung, dass ich rausgehe, das von indigenen Frauen unter indigene Männer Haus verlasse – als großer Akt, der als Eintritt in gewesen ist.10 Das finde ich wichtig, weil es zu das Politische beschrieben wird –, eine ganz an- denaturalisieren hilft. dere Form von Selbstentwurf ist, die von einem DEBATTE 127
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART Publikum produziert wird, als die Familienarbeit. Veränderungen, die wir sehen wollen. Oder Das weiß jede_r, die_der sich länger mal um trügt mich der Eindruck, dass z. B. über ein kleines Kind oder einen anderen Menschen migrantische Care-Arbeiter_innen im ersten gekümmert hat. Es gibt kein Publikum, vor Lockdown und auch jetzt in der Tagesschau dem diese Leistung dann erbracht wird. Und herzlich wenig zu sehen war? ich bin mir sicher, dass das auch eine Übung für V.E.T. Jetzt hast du eine weitere wichtige Frage bestimmte Tugenden ist. Es gibt Tugenden, die gestellt. Ich wollte aber noch mal zurückkommen werden im Haus erworben, und das sind andere zu der nach dem Care-Begriff und danach, was als die, die außerhalb des Hauses wichtig sind. der leisten kann und was nicht: Ich würde auch Ich glaube tatsächlich, dass es große gesellschaft- sagen, dass es total wichtig ist, an feministische liche Veränderungen bringen würde, wenn es Genealogien anzuknüpfen, weil die ja schon ganz eine signifikante Teilhabe von Männern und lange diese, auch Arendt’sche, Trennung der Frauen an dieser gemeinsam getätigten Familien- Bereiche der Notwendigkeit und der Freiheit arbeit gibt. Insofern würde ich sagen: Natürlich hinterfragt haben und damit auch die Trennung sind das ganz zentrale Genderfragen. zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten etc. Gewisse Feminismen denken nicht erst seit B.W. Nun hat unter COVID -19 die klassische María Puig de la Bellacasa eine Beziehung zur Geschlechter-Arbeitsteilung einen Auf- non-human world als eine Form von Care,11 also schwung erfahren, also wir sind mal kurz in die ökologischen Feminismen oder indigene und die 1950er Jahre zurückgebeamt worden … antikoloniale Bewegungen, für die das koloni- L.S. Also das gilt nicht für alle, das muss ich jetzt alkapitalistische Projekt immer auch eines war, mal sagen. Ich habe zu Hause Homeschooling das die Erde zerstört. Ich würde z. B. sagen, gemacht, deswegen kann ich das nicht so allge- Fanons The Wretched Of The Earth bezieht sich mein akzeptieren. nicht nur darauf, dass Kolonialismus non-humans produziert oder gewisse Menschen zu Nicht- B.W. Ja, natürlich, aber haben wir es nicht Menschen erklärt, sondern auch die Erde wret- auch verstärkt mit Backlash-Phänomenen ched: Wir haben es da mit Projekten der Ausbeu- zu tun, oder jedenfalls noch nicht mit der tung zu tun, der Überausbeutung, die Menschen Situation, die du gerade in Aussicht gestellt entmenschlichen, aber auch die Erde zerstören. hast? Im selben Maße vielleicht, wie die Ein- Da gibt es eine lange Genealogie, das in Frage sicht in globale interconnectedness, die durch zu stellen, zu kritisieren, herauszufordern und die Pandemie beflügelt wurde, noch nicht auch über Alternativen nachzudenken, und ich das Sensorium für nachhaltiges Konsumie- denke, dass der Care-Begriff hier Potenzial hat. ren ausgeprägt hat oder für die alltäglichen Nicht in dem Sinne, dass er willkürlich oder Interventionsmöglichkeiten gegen soziale beliebig werden soll. Ich würde es ähnlich sehen Ungerechtigkeit? wie Encarnación: Es geht darum, ihn um gewisse L.S. Nein, dass es dieses Phänomen gab, will ich Konfigurationen entwerteter Arbeit zu spinnen. gar nicht bestreiten. Es gab die Kampagne ‹wages for housework›,12 aber auch die intersektionalen Feministinnen, B.W. Ich hake hier auch deshalb ein, weil die die Leerstellen der Kampagne kritisiert ich mich frage, ob diese Transformationen haben, wie die ‹Black Women for Wages for tatsächlich so präsent sind, wie wir sie Housework› (BWf Wf H), und darauf hingewie- vor Augen haben. Das sind ja Themen und sen haben, dass es auch um diejenigen gehen 128 Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE Anne Meerpohl: Coloring Quarantine Nr. 16 DEBATTE 129
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART muss, die im System der Plantagenökonomien selten um die Lager, die in Antira-Politkreisen die Hausarbeit für andere machen mussten, als die vergessenen Hotspots bezeichnet wer- um diejenigen, die mittellos sind oder von der den, oder darum, dass die Menschen dort unter Gesellschaft als ‹unwürdig› stigmatisiert und Massenquarantäne gestellt und teilweise poliziert kriminalisiert werden.13 werden, die Lager nicht verlassen dürfen. Das fin- Als jemand, die zu staatlicher Kriminalisie- det alles gerade statt und auch schon seit Anfang rung und Polizieren arbeitet, frage ich mich aber des Jahres 2020. Deshalb ist es jetzt so wichtig auch, inwiefern mit dem Wandel der Arbeit viele (wie vor der Pandemie auch schon) zu gucken, der sogenannten ‹entwerteten› Bevölkerungs- welche Geschichten und Erfahrungen eigentlich gruppen nicht mehr für Ausbeutung und Über- repräsentiert werden und wer aus diesen Aner- ausbeutung gebraucht werden. Ich denke an die kennungsökonomien herausfällt, und Solidarität sogenannten surplus-populations, meist rassifiziert von dort aus zu praktizieren. Was kann unsere und arm gehalten, und daran, wie sich eine ge- Aufgabe sein als Wissenschaftler_innen und Per- wisse Entwertung der Arbeit dadurch artikuliert, sonen, die in Sorgeverhältnissen zueinander, aber dass es gar nicht mehr darum geht, die Arbeits- auch mit der Welt stehen und zu denken versu- kraft bestimmter Gruppen (womöglich doppelt chen? Was muss fortgesetzt oder vielleicht auch oder intersektional) auszubeuten, sondern dass anders gemacht, gedacht werden? Diese Pande- diese eigentlich ‹überflüssig› gemacht, krimi- mie stellt uns vor neue Herausforderungen. nalisiert und sterben gelassen werden – wie die Menschen, die auf dem Mittelmeer «ertrunken Jana Mangold Was die Selbstreflexion als Wis- gemacht» werden oder sogar durch Pushbacks senschaftler_innen angeht, so haben wir uns in direkt in den Tod geführt werden, oder in die La- der Vorbereitung gefragt: Ist es eigentlich in ger in Libyen und andere mörderische Kontexte. Ordnung, angesichts all dieser Problematiken, Was hieße es also, in Bezug auf Care über Arbeit die sich um die Frage derjenigen, die jetzt hinauszudenken? besonders verletzlich sind und um die sich ge- Ein anderer Gedanke betrifft den Freiheits- kümmert werden muss, drehen, über die begriff, QA non und die Corona-leugnerischen Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu spre- Bewegungen. Ich frage mich, was das für ein chen? Ich fand es sehr aufschlussreich, dass Freiheitsbegriff ist, mit dem da gearbeitet wird? es in unserer Diskussion sofort nicht mehr Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, dass der um diesen häuslichen Kontext ging, dass sehr liberale Freiheitsbegriff immer per se progres- schnell klar wurde, die gravierenden Fragen siv war. Aus der postkolonialen oder Schwarzen dieser Care-Debatte liegen tatsächlich stärker radikalen Theorie gibt es eine starke Kritik an in den Verschränkungen, in diesem Bezogen- diesem liberalen Freiheitsbegriff, der einhergeht sein aufeinander, welches aber politisch oder mit der systematischen Entmenschlichung und ökonomisch immer wieder unterdrückt wird. Ausbeutung eines Großteils der Bevölkerung der L.S. So sympathisch mir es ist, den Care- Welt. Wir haben auf jeden Fall ein Problem mit Begriff so auszuweiten, so finde ich es doch auch diesen Bewegungen, aber ich frage mich: Wird problematisch, ihn auf alles zu beziehen. Das hier wirklich etwas Progressives vereinnahmt? hat auch mit der Karriere des Sorge-Begriffs zu Und zu der Frage der Medien: Über welche tun: Ökologische Sorge um die Erde, Sorge um Erfahrungen sprechen wir eigentlich und welche die Natur, Sorge um den Mitmenschen – kann Erfahrungen werden in der Pandemie repräsen- man natürlich alles machen, aber ich würde tiert? Wenn es um Hotspots geht, dann geht es das nicht nur deswegen kritisch sehen, weil es 130 Zf M 24, 1/2021
ZUM VERHÄLTNIS VON SICHTBARKEIT, SORGE UND UNGLEICHHEIT IN DER PANDEMIE schwammiger wird, sondern vor allem deswe- nicht auflösbares, zugleich reziprokes und gen, weil mit der Sorge ja auch ein bestimmtes asymmetrisches Verhältnis. Die Frage ist, wie Regime einhergeht. Sorge hat damit zu tun, man Sorge denkt. Wenn man Sorge als ‹Sorge dass es um andere Maßnahmen geht als in einer für jemanden› denkt und als ein paternalis- symmetrischeren Begegnung. Man kann z. B. tisches Herrschaftsverhältnis, dann versteht sehen, dass im Zusammenhang der ökologi- man, glaube ich, schon die Beziehung zwi- schen Fragen mehr kuratorische und regulato- schen Mutter und Kind falsch. Das ist ja nicht rische als beispielsweise normative oder andere einfach ein einseitiges Verhältnis, in dem das Maßnahmen des klassischen Politikbereiches eine über das andere Macht hätte. Dass Sorge getroffen werden. Das heißt, die Sorge produ- auch beherrschend sein kann, ist etwas ande- ziert ihr eigenes politisches Verhältnis – und res, aber grundsätzlich kann man sich Sorge wenn die Sorge das Oberleitmotiv wäre für alles nur als ein reziprokes Verhältnis, als einen re- Politische, dann wäre ich besorgt, um es mal so lationalen Prozess vorstellen, würde ich sagen. auszudrücken: weil die Sorge natürlich immer L.S. Ja klar, alle Verhältnisse sind in irgendeiner ein bestimmtes Verhältnis darstellt, das auch Art und Weise dialektisch und natürlich haben eine Entgrenzung der_dem anderen gegenüber die Kinder in der Eltern-Kind-Beziehung sehr produziert. Und das fände ich, so sehr ich eben viel Macht. Das ist mir alles klar. Aber ich würde für eine Ethik der Sorge plädiert habe, schwie- trotzdem sagen, dass die Sorge eine bestimmte rig. Denn dann unterschätzte man doch, dass Art von Zugriff produziert, der zwar nicht sou- die Sorge eben auch andere Zugriffsmodelle auf verän ist, aber eben auch nicht reziprok wie z. B. die_den andere_n impliziert, die ihre eigenen das Anerkennungsverhältnis. Probleme mitbringen. Mit der Sorge ist nicht alles gut. Man übernimmt z. B. extrem viel Ver- S.T. Aber Sorge ist ja eben kein Anerken- antwortung für jemand anderen. Eine Sorge ist nungsverhältnis – sondern das Andere der meist um jemanden, die_der eben nicht in dem Anerkennung. Maße zur Selbstsorge fähig ist, und das kann L.S. Ja, das meine ich. Jedes Verhältnis kann in leicht auch Paternalisierung bedeuten. Wenn ich eine bestimmte Richtung ausarten. Aber mir ist sage, ich stelle die Natur unter die Sorge, stelle wichtig, sich zu überlegen, dass Sorge eben eine das und das unter die Sorge, dann sehe ich mich andere Art von Relation als ‹Ich und Du›, als das als denjenigen, der das produziert. Umgekehrt Anerkennungsverhältnis, als politische Demokra- gibt es ja auch Philosophien, die das gemacht tie bedeutet und dass man sich das klarmachen haben und eine Position derer_dessen bezogen muss, wenn man die Sorge auf alle Naturverhält- haben, die_der sich sorgt. Das ist dann eben nisse ausdehnt. nicht mehr Demokratie, das ist auch nicht mehr Austausch, Zirkulation oder Wettkampf oder E.G.R. Was ich spannend an der Diskussion all diese anderen Modelle, sondern das ist dann gerade finde, ist, dass wir immer in Übersetzun- eben der_die, der_die die Macht über alles hat. gen arbeiten. Und der Begriff ‹Sorge› hat im Eine sorgende Person hat sehr viel Macht. Deutschen ja auch etwas mit ‹worrying› im Eng- lischen zu tun, während der spanische Begriff S.T. Aber nicht die, die sorgen, haben am ‹cuidado› eher mit Achtsamkeit zu tun hat, mit meisten Macht, sondern die, um die sich am achten. Was ‹care› im Englischen angeht, bin ich meisten gesorgt wird. Das haben wir doch jetzt etymologisch nicht so aufgestellt, aber so auch in der Pandemie erlebt. Sorge ist ein wie das zumindest umgangssprachlich verwendet DEBATTE 131
DIETZE / GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / SCHOLZ / THOMPSON | FIGGE / MANGOLD / TRINKAUS / WEINGART wird, geht es ja um caring, und ich weiß nicht, ob gerade die dekoloniale Care-Ethik thematisiert. das gleichzusetzen ist mit worrying. Das deut- Dabei ging es mir nicht nur darum, die Care- sche ‹Sorge› und Formulierungen wie ‹er sorgt Ethik auf der konkreten Ebene der Pflege- und sich› oder ‹es wird gesorgt› setzen ja schon so Betreuungsarbeit in der Familie, in personellen eine Form von autonomem Handeln voraus, was Beziehungen oder in Pflege- und Betreuungs- noch mal dieses Dialektische produziert oder einrichtungen in den Fokus zu bekommen. diese_n andere_n, zu der_dem man in Bezie- Vielmehr ging es mir um Care als Siedepunkt hung steht, die_den man zugleich auch negiert, gesellschaftlicher Verhältnisse wie Rassismus, um sich selber zu konstituieren. Während wir Kolonialität, das Geschlechterverhältnis und Ka- ‹cuidado› eher relational denken: Da ist alles pitalismus. Im Sinne von Amaya Perez Orozco, miteinander verbunden und man ist eher auf der einer feministischen Ökonomin aus Madrid, geht Ebene, sagen wir mal: der actor-network theory es um das Verhältnis von Kapital und Care. Mit (ANT ), nämlich das eine kann ohne das andere der Radikalisierung des Widerspruchs zwischen gar nicht existieren. Arbeit und Kapital macht Perez Orozco deutlich, Und wenn wir so weit gehen würden, dass dass Care-Arbeit kein partikulärer Arbeitsbe- wir das auch im Sinne von Kosmologien auffas- reich im Kapitalismus ist.16 Vielmehr steht Care sen, so wie Vanessa vorhin ja indigene Narra- als zentrale Drehachse für die Organisation tive, indigene Formen der Auseinandersetzung von Arbeit in der gegenwärtigen Gesellschaft. mit unserem Kosmos, mit unserem Planeten Zugleich verweist Care im Sinne von Precarias erwähnt hat, dann ist es ja nicht so, dass ich über a la Deriva 17 auf das Kontinuum von Produk- den Fluss verfüge, sondern der Fluss verfügt tions- und Reproduktionsarbeit. Care bedeutet ja auch über mich. Zoe Todd, eine Métis aus nicht nur Arbeit im Sinne der entlohnten Arbeit, Edmonton, Alberta, in Kanada, hat eine sehr sondern die Tätigkeit, die vita activa im Grunde gute Kritik auch an Latour und dem Konzept genommen, die im Zentrum unseres Daseins des Anthropozäns formuliert, in der sie darüber steht. Und das wäre natürlich eine radikale Wen- spricht, wie wichtig dieser Fluss in Edmonton dung in der Form, wie wir uns in Beziehung zu für die Métis war. Fluss bedeutet, mit ihm, mit dem Ort, an dem wir leben, und der Welt, in der den Fischen zusammenzuleben. Der Ort, an dem wir leben, denken. sie lebte, war Teil ihres Seins und des Seins ihrer Community und so weiter.14 Das hört sich alles V.E.T. Ich würde widersprechen, dass Ethiken sehr romantisiert an, aber ich finde, das ist eine oder Politiken von Care nicht demokratisch sein ganz andere Form zu sprechen, mich in der Welt können. Und Anerkennung hat nie für alle funk- zu denken. Und in Lateinamerika thematisieren tioniert, das hat Fanon eindrücklich in seiner die Kämpfe der Frauen des Amazonas und die Kritik an Hegel gezeigt. Wie Encarnación gera- feministische Auseinandersetzung um Territo- de ausgeführt hat: Es geht um Formen des Zu- rium – Land – Körper Politiken der kolonialen einander-in-Beziehung-Seins und Politiken der heteropatriarchalen kapitalistischen Extraktion Angewiesenheit, die natürlich auch demokratisch gerade diesen Blick.15 sind, und ich würde das schon auch als ethics of Care hat also auf der einen Seite eine Dimen- care bezeichnen. Ich muss in Bezug auf Haus- sion, die mit Arbeit zu tun hat, mit konkreter haltsarbeit überlegen, weil in abolitionistischen Arbeit, da geht es um die Materialität von Care. Kreisen auch über Care als das gesprochen wird, Es gibt aber auch die Seite der Care-Ethik. was z. B. Harriet Tubman gemacht hat, wenn sie In meiner Studie zu Haushaltsarbeit habe ich Menschen auf der Plantage zur Flucht verholfen 132 Zf M 24, 1/2021
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