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Aus aktuellem Anlass

Enrique H. Prat

15 ethische Fragen zur Corona-Krise
15 Ethical Questions About the Corona-Crisis

     Die mit COVID-19 bezeichnete Krankheit ist         te Krise ausgelöst. Die Maßnahmen, die getroffen
erstmals im Dezember 2019 in der zentralchine-          wurden, um die Gesundheit zu schützen („Men-
sischen Millionenstadt Wuhan aufgetreten.1 Sie          schenleben retten“), hatten schwerwiegende Fol-
entwickelte sich im Jänner 2020 in China zur Epi-       gen auf verschiedenen anderen Ebenen. Ethische
demie. Aufgrund der enormen Dynamik der welt-           Fragen tun sich auf, die nach Klärung verlangen.
weiten Ausbreitung erklärte WHO-Direktor Tedros              Eine ausführliche Wiedergabe der Debatten,
Adhanom Ghebreyesus den COVID-19-Ausbruch               die noch im Gange sind und die uns wohl noch weit
am 11. März 2020 offiziell zur Pandemie.2 Weltweit      über das Ende der Pandemie hinaus begleiten wer-
gibt es mittlerweile weit mehr als vier Millionen       den, sowie das Angebot von konkreten Lösungen
Infizierte und mehr als 500.000 Todesfälle (Stand:      sollen Thema einer künftigen Schwerpunktausgabe
16. Mai 2020), die auf das Konto des neuen Corona-      von IMAGO HOMINIS sein.
virus gehen. Dass die Dunkelziffer noch wesentlich           Ethik ist eine praktische Querwissenschaft.
höher ist, gilt als wahrscheinlich.                     Sie fragt systematisch danach, was gutes Handeln
     Der Ausbruch wurde durch das bis dahin un-         ausmacht und bietet damit das Grundgerüst, die
bekannte Coronavirus SARS-CoV-2 (Krankheits-            relevantesten ethischen Fragestellungen aus den
erreger) ausgelöst. In den ersten Wochen des Jah-       verschiedenen Perspektiven wie etwa der Epidemi-
res 2020 zeigte sich, dass SARS-CoV-2 leichter als      ologie, Gesundheitspolitik, Soziologie, Geopolitik,
die bis jetzt schon bekannten SARS-Viren übertra-       aber auch aus rechtsstaatlicher und wirtschaftspo-
gen wird. Die Inkubationszeit (Zeit von der Anste-      litischer Perspektive zu identifizieren:
ckung bis zum Ausbruch der Erkrankung), liegt im             Im Folgenden sollen in einem ersten Schritt
Mittel (Median) bei 5 – 6 Tagen (Spannweite ein bis     Fragezeichen im Lichte der ethischen Prinzipien
14 Tage). Damit ist sie ca. dreimal so lange wie beim   rund um das Phänomen der Corona-Pandemie he-
bekannten Influenzavirus. Der Ansteckungszeit-          rausgefiltert werden.
raum ist daher entsprechend länger und insofern              Schon kurze Zeit nach dem Shutdown war of-
heimtückischer, als die bereits infizierte Person       fensichtlich, dass die Prinzipien der Bioethik wich-
selbst über lange Zeit keine ausgeprägten Sym-          tig sind, aber bei weitem nicht alleine genügen. Zur
ptome zeigt, vielleicht auch nicht selbst erkrankt,     Bioethik (Medizin-, Pflege- und Forschungsethik
sehr wohl aber in dieser Zeit für andere ansteckend     im Bereich der Life Sciences) zählen die Achtung
ist. Die Basisreproduktionszahl (durchschnittliche      der Menschenwürde (das Autonomieprinzip ein-
Anzahl der Ansteckungen pro infizierter Person)         geschlossen), die Prinzipien des Nicht-Schadens,
liegt aufgrund der bisherigen Erkenntnisse bei          des Wohlwollens und die Gerechtigkeit.
rund 3 Personen pro Patient, während es bei der              Die weitreichenden Folgen – ausgelöst durch
normalen Grippe (Influenza) rund 1,3 sind.3             die Reaktionen und Maßnahmen auf die Coro-
     Die Coronavirus-Pandemie und die Maßnah-           na-Pandemie – werfen Fragen auf, die über die Bio-
men zur Bewältigung der „größten Gesundheits-           ethik hinausgehen. Die Sozialethik (Ethik der Insti-
krise unsere Zeit“ (Ghebreyesus) hat eine weltwei-      tutionen und die politische Ethik) spielt hier eine

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entscheidenden Rolle, analysiert anhand der Prin-      rische Erhebungen und internationalen Austausch
zipien der Personalität (Respekt der Menschenwür-      zu überprüfen, und hinsichtlich ihrer Kosten und
de), Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität und        Nutzen rasch zu bewerten und nachzujustieren.
der Gerechtigkeit.                                          Trotz weltweit hunderter Forschungsgruppen
    Der deutsche Virologe Christian Drosten hat        und staatlicher Forschungsfinanzierung werden
angeregt, die Corona-Pandemie als Modell zu            Impfungen wohl kaum vor Herbst 2021 zur Verfü-
nehmen, um Nationalstaaten besser auf zukünf-          gung stehen - möglicherweise auch keine ausrei-
tige Pandemien vorzubereiten. Diese kämen be-          chend erprobten wirksamen Medikamente. Ange-
stimmt.4 Unmittelbar im Anschluss an COVID-19          sichts dieses Szenarios wird eine zweite – vielleicht
sollte man daher eine Strategie erarbeiten, um         auch dritte und vierte – Ansteckungswelle, be-
zukünftige Pandemien besser und rascher bewälti-       fürchtet.8 Der Druck wächst daher, behördliche
gen zu können.5 Dafür ist es wichtig, die ethischen    Verfahren im Eilzugstempo durchzuführen, die
Problemfelder, die sich bei dieser Pandemie gezeigt    Versuchung, sonst verpflichtende Stufen bis zur
haben, im Blick zu haben.                              klinischen Erprobung eines Medikaments oder
                                                       Impfstoffes zu überspringen, ist groß.
1. Ethische Fragezeichen aus epidemiolo-                    Pandemien wie diese zeigen die Grenzen der
gischer Perspektive6                                   Medizin und der Forschung auf. Sie kann nicht auf
                                                       Knopfdruck Erfahrungen und sicheres Wissen her-
    1.1 Corona-Forschung und mangelnde Evidenz:        vorzaubern.9 Zur Bekämpfung der Seuche ist noch
    Wie kommen wir zu sicherem Wissen?                 viel mehr Gewissheit, d. h. sicheres Wissen, not-
    Es gibt grundsätzlich zwei Wege, um eine Vi-       wendig. Die Politik allerdings kann nicht so lange
rus-Pandemie zu stoppen: antivirale Medikamente        warten, sie braucht dringend wissenschaftliche Er-
und Impfstoffe. Medikamente mildern die Schwere        kenntnisse, um mit effektiven Maßnahmen auf die
der Infektion oder heilen sie, Impfstoffe verhin-      Corona-Pandemie reagieren zu können.
dern sie (Prävention). Solange weder das eine noch          Normalerweise unterliegt das wissenschaft-
das andere verfügbar ist, bleibt nur die Möglichkeit   liche Arbeiten strengen Regeln und Kontroll-
,Infektionsketten zu unterbrechen durch die Re-        schleifen. Bis die Ergebnisse überprüft und veröf-
duktion der sozialen Kontakte (Social Distancing       fentlicht sind, dauert es meist viele Monate. Jetzt
durch Ausgangsbeschränkungen oder -sperre, Di-         laden Wissenschaftler ihre Studien derzeit ver-
stanz von ca. 1 Meter zwischen zwei Personen u. ä.,    mehrt auf sogenannten Preprint-Servern hoch. In
Shutdown) sowie das Einhalten von Hygiene-Vor-         der Forschung sind Preprint-Server ein gängiges
schriften (Hände waschen, Nasen-Mundschutz).           Medium, um vorläufige Ergebnisse mit anderen
    Einige Studien haben gezeigt, dass die Social      Wissenschaftlern zu diskutieren, ohne vorheriges
Distancing-Maßnahmen, die von den meisten Län-         langwieriges Peer-Review-Verfahren. Ob sie aber
dern der Welt zur Eindämmung der Ausbreitung           als akute Entscheidungshilfe für Politiker relevant
getroffen wurden, wirksam sind.7 Allerdings ba-        sind und wie hoch ihre Aussagekraft tatsächlich
sieren diese Maßnahmen teilweise auf Annahmen          ist, steht auf einem anderen Blatt. Hier spielt auch
ohne ausreichende Wissensbasis, denn viele wis-        die Wissenschaftskommunikation und Verbrei-
senschaftliche Fragen zu den Risiken von COVID-19      tung von sog. „wissenschaftlichen“ Studien ohne
sind angesichts der unzureichenden und zum Teil        entsprechenden Kontext eine Rolle.10
widersprüchlichen Datenlage noch ungeklärt. Da-             Mag sein, dass Autoren aus guter Absicht han-
her sind in allen Ländern die Krisenmanager der        deln, ihren Beitrag zur Krise leisten zu wollen.
Pandemie bemüht, die Maßnahmen durch empi-             So mancher Forscher wird aber wohl auch eine

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günstige Gelegenheit erblickt haben, rasch kleine           Krankheit und Medikamente zu ihrer Heilung
Studien vorzulegen, die wegen der enormen Ak-               verfügbar werden.12
tualität des Themas leicht von den Top-Journalen         4. Risikogruppen zu schützen.
angenommen wurden. Ungeprüfte Preprint-Stu-                Abgesehen davon, dass viele Länder es ver-
dien sind im Allgemeinen wenig aussagekräftig.        säumt haben, rechtzeitig auf die Gefahr der Pan-
Sie stützen sich auf wenige Fälle, genügen nicht      demie zu reagieren, wurden in den verschiedenen
den wissenschaftlichen Standards, weshalb die         Ländern unterschiedliche Strategien gewählt:
Interpretation der Ergebnisse nicht über Spekula-     Österreich, Deutschland, Tschechien und Ungarn
tionen hinausgehen kann.11 Eine Flut von Studien      gingen anders vor als zum Beispiel Südkorea,
schlechter Qualität, in denen so mancher Autor        Schweden, die Niederlande, Großbritannien oder
die Chance wittert, ohne strenge Prüfung in einem     die USA. Eine entscheidende Rolle hatten dabei Ex-
Top-Journal veröffentlichen zu können, führt zu       perten in ihrer Rolle als Regierungsberater. Auch
Verzerrungen und kann auch Forschungsstandards        sie – in erster Linie Epidemiologen und Virolo-
insgesamt und längerfristig negativ beeinflussen.     gen – konnten auf kein sicheres Wissen bauen, da
                                                      es noch keine Erfahrung mit COVID-19 gab. Ihre
     1. Corona und Ethik der Forschung                Empfehlungen sind daher eher mit unsicherem als
     Ist es ethisch rechtfertigbar, dass Journals     evidenzbasiertem Wissen behaftet. Ethisch stellt
     bei Pandemien von den bewährten Überprü-         sich die Frage, worauf sich politische Entschei-
     fungsregeln der wissenschaftlichen Artikel       dungen im Zusammenhang mit der Pandemie
     (peer review) abgehen? Wie kann die Einhal-      stützen. In den Beraterstäben der Politiker fehlte
     tung wissenschaftlicher Standards in einer       es nicht an Mathematikern und Statistikern. Sie
     Forschung, die unter hohem Druck steht,          wandten mathematische Modelle an, die auf der
     von der Scientific Community besser über-        Entscheidungstheorie basieren. Gerade bei Unsi-
     wacht werden?                                    cherheiten und Gewissheiten ist nicht nur die Ma-
                                                      thematik, sondern auch die Tugend der Klugheit,
                                                      deren Hauptbestandteil eine gute Beratung ist, ge-
2. Ethische Fragezeichen aus gesundheitspoli-         fragt. Ein wichtiger Faktor dabei ist auch der Erfah-
tischer Perspektive                                   rungsaustausch mit anderen Ländern.

    2.1 Die politische Strategie gegen die Pandemie      2. Corona und politische Ethik
    Das vorrangige gesundheitspolitische Ziel bei        Welche Regeln der Klugheit müssen Politiker
der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie besteht             bei gesundheitspolitischen Entscheidungen
darin, so viel Infizierte wie möglich zu heilen und      zur Bewältigung der Pandemie bei unzurei-
so viele Todesfälle wie möglich zu verhindern. Es        chender Gewissheit und wissenschaftlichen
geht dabei um ein vierfaches Ziel:                       Unsicherheiten befolgen?
  1. Die Zahl der gleichzeitig Infizierten darf das
     Gesundheitssystem nicht überlasten.
  2. So bald wie möglich die Herdenimmunität             2.2   Der Shutdown
     im Lande zu erreichen. Dazu rechnet man,
     dass ca. 70% der Bürger erkrankt und bereits        2.2.1 „Das Gesundheitssystem soll nicht über-
     geheilt sind.                                       lastet werden“
  3. Alles Mögliche zu tun, damit möglichst rasch        Die Ausbreitung der Krankheit soll unter
     ein wirksamer Impfstoff zur Prävention der       Kontrolle gehalten werden. Ziel ist es, dass genü-

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gend Ressourcen vorhanden sind, damit die CO-            tischen ökonomischen Entwicklung und hohen Ar-
VID-19-Neuerkrankten versorgt werden und die             beitslosigkeit wird sich die Gesundheitspolitik vor
Gesamtzahl der Infizierten die Ressourcen des Ge-        der Wirtschafts- und Bildungspolitik wohl beugen,
sundheitssystems – d. h. Spitalsbetten, vor allem        selbst wenn das Risiko einer zweiten, noch stärkeren
Intensivstationsbetten, Ärzte und Pflegepersonal,        Infektionswelle besteht. Die Abwägung der ver-
Beatmungsmaschinen, Medikamente, Schutzbe-               schiedenen Güter (Gesundheit, Wirtschaft, Bildung)
kleidung usw. – zu keinem Zeitpunkt überstei-            ist eine sozial-ethische Frage, die nicht mit einem
gen. Österreich verfügt über 28,9 Intensivbetten je      Algorithmus exakt zu lösen ist. Im Nachhinein wird
100.000 Einwohner.13 In Deutschland ist diese Zahl       man dies besser beurteilen können.
mit 33,9 je 100.000 noch höher. Deutlich geringer
sind die Kapazitäten in den von der Corona-Pande-           3. Corona und Bioethik
mie besonders stark betroffenen Staaten Spanien             Angesichts der mangelnden Erfahrung mit
mit 9,7 und Italien mit 8,6 Intensivstationsbetten          SARS-CoV-2 und somit des ungenügenden
je 100.000 Einwohner.                                       virologischen und epidemiologischen Wis-
     In mehreren europäischen Ländern hat der               sens stellt sich die Frage: Inwieweit waren die
Shutdown tatsächlich zur Abflachung der Infekti-            Shutdown-Maßnahmen aus wirtschaftlicher
onskurve (flatten the curve) geführt, die ohne diese        und sozialpolitischer Sicht notwendig? Hät-
Maßnahmen möglicherweise exponentiell verlau-               ten auch alternative Strategien – etwa der
fen wäre.14 Damit wurde in diesen Ländern wie etwa          spezifische Schutz der Risikogruppe – zum
Deutschland, Schweiz und in Österreich, die Aus-            Ziel geführt?
breitungszeit von COVID-19 zwar verlängert (ver-
mutlich wird sie bis zur Verfügbarkeit eines Impf-
stoffs dauern), die Zahl der jeweils Infizierten blieb       2.3 Der Shutdown und die allgemeine Gesund-
aber unterhalb der Überlastungsgrenze. Nicht so in           heitsversorgung: ein ethisches Dilemma
Italien und Spanien, in denen Mitte März bis Mitte           Während des „harten“ Shutdown (d. h. vor
April 2020 in manchen Regionen (Lombardei bzw.           der ersten Auflockerung) wurde der Betrieb in
Madrid) das System hoffnungslos überfordert war.         Krankenhäusern und auch die Gesundheitsver-
Nun, nach dem Abflachen der Kurve, stellt sich           sorgung im niedergelassenen Bereich auf ein Mi-
die Frage, ob in Zukunft nicht mehr für alle, son-       nimum reduziert mit dem Ziel, Spitalsbetten und
dern nur noch für die Risikogruppe ein besonderer        Intensivstationsbetten für zukünftige mit SARS-
Schutz verfolgt werden soll.15                           CoV-2 infizierte Menschen freizuhalten und um
     Die Maßnahmen, die weltweit in verschiedenen        Ansteckungen zu vermeiden. Dies läuft auf eine
Variationen umgesetzt wurden, waren drastisch            Diskriminierung von Patienten aufgrund ihrer
und beinhalteten starke Beschränkungen der               Krankheit hinaus und wurde daher offen kritisiert.
Grundrechte. Über die Angemessenheit dieser Ein-         Erst als genug Schutzmasken und Schutzbeklei-
schränkungen wird noch zu sprechen sein. Die Maß-        dung vorhanden waren, hat sich der Betrieb im
nahmen des Shutdown führten in etlichen Ländern          niedergelassenen Bereich unter Beachtung von
zum angepeilten Ziel, die Reproduktionszahl des          Schutzmaßnahmen (Desinfektion, kein Kontakt,
Coronavirus weit unter den Faktor 1 zu bringen. Ab       Distanzhaltung) halbwegs normalisiert. Aller-
Ende April 2020 stellte sich die Frage, wie der Be-      dings stellte sich heraus, dass Patienten mit drin-
trieb in der Gesundheitsversorgung, in der Bildung,      gendem Behandlungsbedarf von den Spitälern
in der Wirtschaft und überhaupt in der Gesellschaft      und Ordinationen aus Angst vor einer Ansteckung
hochgefahren werden soll. Angesichts der drama-          fern geblieben sind.16 Pflege- und Altersheime

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wurden in vielen Ländern zum Problem, da sie                Es herrscht allgemeiner Konsens darüber, Res-
bei den Maßnahmen nicht direkt berücksichtigt          sourcen so zu verteilen, dass möglichst viele Be-
wurden und lange keine Schutzbekleidung beka-          troffene einer Katastrophe überleben. In Italien gab
men. Das Besuchsverbot führte bei Bewohnern in         jedoch die Gesellschaft für Anästhesie und Inten-
Altenheimen zur Steigerung von Desorientierung         sivmedizin (SIAARTI) Empfehlungen ab, wonach
und Ängsten, ebenso die Begegnung mit Pflegern         Ressourcen nicht nur nach den Überlebenschancen,
in Schutzbekleidung.17 Selbst in der Sterbephase       sondern auch nach der maximalen Anzahl „Jahre
konnten anfangs Patienten nicht von ihren Ange-        geretteten Lebens“ verteilt werden sollten. Das läuft
hörigen besucht werden. Die Politik konterte und       auf eine Altersdiskriminierung hinaus, da jüngere
verteidigte den eingeschränkten Betrieb in den         Patienten von vorneherein Vorrang haben, weil ihre
Spitälern und Ordinationen.18                          Lebenserwartung in der Regel höher einzuschätzen
                                                       ist als die älterer Menschen. Auch in Straßburg wur-
     4. Ethik und Corona: Bioethik
                                                       den Patienten ab 80 Jahre pauschal von einer inten-
     Ist es gerechtfertigt und verhältnismäßig,
                                                       sivmedizinischen Beatmung ausgeschlossen.
     die Gesundheitsversorgung herunterzufah-
                                                            In der Katastrophen- und Kriegsmedizin wird
     ren? War es unbedingt erforderlich? Gab es
                                                       so vorgegangen, dass die Verwundeten in vier
     keine Alternativen? Wurden die Bedürfnisse
                                                       Gruppen eingeteilt werden: (1) Jene schwer Ver-
     der Bewohner von Altenheimen ausreichend
                                                       wundeten, die ohne sofortige Behandlung nicht
     berücksichtigt?
                                                       überleben werden, mit Behandlung aber eine gute
                                                       Prognose haben; diese werden sofort behandelt;
     2.4 Triage als ethisches Dilemma                  (2) Verwundete, die ohne sofortige Behandlung
     Eine mögliche Überlastung des Gesundheits-        auch mit hoher Wahrscheinlichkeit geheilt werden;
systems hätte (und hat in manchen Ländern wie          die Behandlung wird aufgeschoben, aber sie wer-
zum Beispiel Italien und Spanien) dazu geführt,        den unter Beobachtung gestellt. (3) Leicht Verwun-
dass Ärzte eine Auswahl treffen müssen, welcher        dete, die ohne Behandlung sicher geheilt werden;
der Schwerstkranken angesichts der zu knappen          sie werden nicht behandelt und (4) Verwundete, die
Ressourcen ein Intensivbett bzw. Beatmungsgerät        auch bei Behandlung kaum Überlebenschancen ha-
bekommen soll. Dieses Dilemma, das Triage (fran-       ben; diese werden nicht behandelt. Die Priorität ist
zösisch: Auswahl) genannt wird, kommt in der           also Gruppe 1 vor Gruppe 2 und diese vor Gruppe 3.
medizinischen Versorgung bei Katastrophen und               Zu unterscheiden ist, ob das Dilemma in einer
in Kriegen vor. Die Zahl der medizinisch zu ver-       Konkurrenzsituation ex ante oder ex post auftritt.
sorgenden Menschen übersteigt die Kapazitäten,         Im ersten Fall geht es darum, zu entscheiden, wel-
der Arzt muss eine Priorisierungsentscheidung an       che Verwundeten behandelt werden sollen, wenn
Ort und Stelle treffen. Die Priorisierungen erfolgen   mehrere gleichzeitig auf die Behandlung warten
dabei ausdrücklich nicht in der Absicht, Men-          und nur einer behandelt werden kann. In diesem
schen oder Menschenleben zu bewerten, sondern          Fall liefern die erwähnten Priorisierungsregeln
aufgrund der Verpflichtung, mit den (begrenzten)       eine mehr oder weniger klare Handlungsanleitung.
Ressourcen möglichst vielen Patienten eine nutz-       Der behandelnde Arzt muss eine Klugheitsent-
bringende Teilhabe an der medizinischen Versor-        scheidung treffen, indem er primär die erwähnten
gung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen.19         Regeln anwendet und bei Personen der gleichen
Es liegt eine umfangreiche ethische Bibliografie20     Gruppe, die in Konkurrenz zueinander treten, an-
zu diesem Thema vor. Die Lösung des Dilemmas           dere Faktoren wie Alter und soziales Umfeld (z. B.
fällt je nach ethischem Ansatz anders aus.             Sorgepflicht für kleine Kinder usw.) berücksichtigt.

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    Bei der Konkurrenzsituation ex-post ist die Ent-   ner Soziologe Franz Kolland. Sämtliche Systeme
scheidung schwieriger: Ist es legitim, bei jeman-      wurden in der Coronakrise der Lebensrettung und
dem die laufende Behandlung zu stoppen, wenn           deshalb der Aufrechterhaltung der Funktionsfä-
eine andere Person, die eindeutig bessere Überle-      higkeit des Gesundheitssystems untergeordnet.
benschancen hat, diese Behandlung dringender           Alle anderen sozialen Systeme – Wirtschaft, Fami-
benötigt? Eine utilitaristische Position würde dies    lie, Bildung, Religion, Kultur, Freizeit und Sport –
befürworten, eine Ethik der Menschenwürde wür-         werden zunächst auf „Standby“ gesetzt und erst,
de sich dieser Abwägung entziehen, da es der Men-      nach und nach, so weit hochgefahren, wie es für
schenwürde widerspricht, Menschenleben gegen           das Gesundheitswesen zuträglich sein kann. Dies
Menschenleben abzuwägen. Oberstes Kriterium            kann nicht ohne soziale Folgen bleiben. „Eine Kri-
muss die Erfolgsaussicht einer Behandlung blei-        se im soziologischen Sinne zeichnet sich dadurch
ben. Wenn also die Behandlung mit hoher Wahr-          aus, dass erstens die normalen Routinen nicht
scheinlichkeit aussichtslos ist, wäre ein Abbruch      mehr funktioniert und zweitens die Zustände vor
auch in normalen Situationen ethisch legitim, die      dem Eintritt der Ereignisse nicht wieder herstell-
Behandlung könnte beendet werden.21                    bar sind. Ein solches Ereignis erzeugt massive
    Zahlreiche nationale medizinische Fachgesell-      Kontrollverluste“24, gibt der deutsche Soziologe
schaften und Ethikkommissionen haben während           Wilhelm Heitmeyer zu bedenken.
der Pandemie Richtlinien zur Triage veröffentlicht.
Manche stützen sich dabei auf eine utilitaristische        3.2 Die Folgen der Krise für die Familie und
Argumentation. Triage-Entscheidungen sind für              Partnerschaften
Ärzte sehr belastend und äußerst schwierig.22 Eine         Für integre, gut funktionierende Familiensy-
international verbindliche Entscheidungsleitlinie      steme brachten die Einschränkungen durch die
würde Medizinern mehr Sicherheit geben und Dis-        Corona-Krise durchaus auch positive Effekte wie
kriminierungen vorbeugen.                              Entschleunigung und mehr Zeit füreinander in
                                                       der Partnerschaft oder für die Kinder. Soziolo-
   5. Corona und Bioethik                              gisch gesehen greifen die Shutdown-Maßnah-
   Wie lassen sich international verbindliche          men, die zur Eindämmung der Pandemie von den
   Entscheidungsleitlinien für Ärzte im Fall ei-       Regierungen und Parlamenten getroffen wurden
   ner Triage erstellen? Wenn sie fehlen, führt        – Home-Schooling, Home-Office, Einschränkung
   das zu Unsicherheit, utilitaristische Positi-       der Bewegungsfreiheit, finanzielle Wirtschafts-
   onen können zu Ungerechtigkeiten und Dis-           förderungen, Verschuldung zur Finanzierung der
   kriminierungen von Patienten führen. Ein            Maßnahmen, usw. – massiv in die Grundrechte
   Konsens über die Triage-Regeln wäre kon-            und die Struktur der Gesellschaft ein. Die deut-
   ventionell zu finden.                               sche Leopoldina hat die weitreichenden sozialen
                                                       Folgen der Maßnahmen für die Familie, die eine
                                                       zentrale Rolle einnimmt, beschrieben. „Sie ver-
3. Ethische Fragezeichen aus sozialpolitischer         bleibt oft als einziger Ort, in dem sich die Lebens-
Perspektive                                            vollzüge und das soziale Leben abspielen. Zusätz-
                                                       lich muss sie erweiterte Aufgaben übernehmen
    3.1 Corona-Krise: eine neue Art der Krise          wie Kinderbetreuung und schulische Ausbildung
    Krisen, bei denen Gesundheit im Zentrum            über Essensbeschaffung bis zur Organisation von
steht, seien im Gegensatz zu politischen oder          ‚Freizeit‘. Diese zusätzlichen Belastungen treffen
Wirtschaftskrisen „ziemlich neu“,23 sagt der Wie-      vor allem Frauen. Je nach ökonomischen Möglich-

Imago Hominis · Band 27 · Heft 2                                                                          87
Aus aktuellem Anlass

keiten, kulturellem Hintergrund, Vollständigkeit        3.3 Veränderungen der institutionellen
und innerer Organisation können Haushalte die           Prozesse in der Arbeitsorganisation, in der
genannten Funktionen unterschiedlich gut wahr-          Justizverwaltung und in den alltäglichen Bezie-
nehmen. Größtenteils bleibt diese kritische Bela-       hungen der Menschen
stung nach außen hin jedoch unsichtbar“.25 Die          Die Shutdown-Maßnahmen zwingen Institu-
Zunahme der Gewalt gegen Frauen und Kinder          tionen und Menschen zu einem neuen Lebensstil.
während der Pandemien sind durch Studien gut        Für die Arbeitsorganisation, die Justizverwaltung
belegt.26                                           und die Schulen sind dabei zwangsläufig neue
    Die Zwangsmaßnahmen zum Social Di-              Wege zu erproben und die Vorteile des Internet zu
stancing – zu Hause bleiben, Home-Schooling,        nutzen, die nach Corona institutionalisiert wer-
Home-Office – können bald zur Belastung wer-        den könnten: Home-Office wird nach Corona eine
den. Eine Umfrage des Instituts für Soziologie an   größere Akzeptanz am Arbeitsmarkt genießen.
der Universität Wien unter 1.000 österreichischen   Die Gerichte überlegen, ob vermehrt Einvernah-
Haushalten hat ergeben, dass die Konflikthäufig-    men per Videokonferenz gemacht werden usw.
keit in rund einem Viertel der Familien zugenom-        Auch im Bereich der zwischenmenschlichen
men hat. Für ein Drittel der Familien die Kinder-   Beziehungen kann es zu Veränderungen kom-
betreuung eine große Herausforderung darstellt,     men. Das Phänomen des Denunzierens in Coro-
und insbesondere Alleinerziehende und Familien      na-Zeiten war auffallend.29 Menschen, die sich
mit zwei oder mehr Kindern mit häufigeren Kon-      sonst wenig sozial geachtet fühlen, erfahren
flikten und Problemen bei der Kinderbetreuung       plötzlich eine Teilhabe an der Macht des Staates,
konfrontiert sind.27                                wenn sie andere denunzieren. Auch Alltagsge-
    Experten haben vor der Gewalt gegen Frauen      sten wie eine Umarmung stehen nach Corona
und Kinder in Folge der Ausgangsbeschrän-           unter neuen Vorzeichen, Menschen werden vor-
kungen gewarnt, einzelne Frauenberatungsein-        sichtiger, Angst spielt weiterhin für viele Men-
richtungen meldeten einen höheren Zulauf.28         schen eine große Rolle.30
Nach der Krise wird man den Anstieg der Gewalt          Man kann davon ausgehen, dass die Coro-
in der Familie genau untersuchen müssen, auch       na-Pandemie einen starken Impuls zur Verände-
die Zahl der Ehescheidungen. Bei einer Cost-Be-     rung der Institutionen zum sozialen Wandel gibt.
nefit-Studie der Shutdown-Maßnahmen wird            Das hat positive Seiten, kann aber auch negative
man auch die Gewalt in der Familie ebenso wie       Folgen haben. Möglichen sozialen Veränderungen
psychologische Schäden durch Stress in der Fa-      wird man einen legistischen Rahmen (Arbeits-
milie berücksichtigen müssen.                       recht, Sozialrecht, Familienrecht u. dgl.) geben
                                                    müssen, um Fortschritte zu fördern und Missbräu-
     6. Corona und Sozialethik
                                                    che zu unterbinden.
     Labile Systeme werden in Krisenzeiten noch
     labiler: Wurden die geeigneten flankie-           7. Corona und Sozialethik
     renden Maßnahmen zum Schutz der Familie           Der Staat soll wachsam die sozialen Verände-
     und zur Gewaltprävention zum Schutz von           rungen durch Corona beobachten, begleiten
     Frauen und Kindern eingesetzt?                    und positive Entwicklungen rasch fördern.

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Aus aktuellem Anlass

4. Ethische Fragezeichen aus rechtsstaatli-               4.2 Zur Legitimität der Einschränkung von
cher Perspektive                                          Grundrechten
    „Eine Norm, die besagt, dass man auf das              Grundrechte können mit anderen Rechtsgü-
Gute verzichten müsse, um das Gute zu retten, ist    tern kollidieren. Die Shutdown-Maßnahmen für
ebenso falsch wie die, welche verlangt, dass man     die Pandemie priorisieren die öffentliche Gesund-
auf die Freiheit verzichten müsse, um die Freiheit   heit und damit das Recht auf Leben (Lebensschutz)
zu retten“,31 schrieb Giorgio Agamben Anfang         gegenüber den oben erwähnten Grundrechten,
April 2020.                                          die eingeschränkt werden. In Zusammenhang mit
                                                     der Begründung der Maßnahmen wurde oft in der
    4.1 Maßnahmen gegen Corona, welche einige        Öffentlichkeit von dem absoluten Vorrang der Ge-
    Grundrechte einschränken                         sundheit und des Lebensschutzes gesprochen, was
    Darf man Grundrechte aussetzen, um die           vor allem in Deutschland zu einer Debatte geführt
Grundrechte zu retten? Und wer darf unter wel-       hat.33 Allgemeiner Konsens herrscht darüber, dass
chen Umständen Grundrechte aussetzen?                Grundrechtseinschränkungen zuerst ein (1) legi-
    Die in vielen Ländern eingesetzten Maß-          times Ziel verfolgen müssen – was in der gegenwär-
nahmen zur Eindämmung der Ausbreitung von            tigen Situation mit dem Schutz von Leben und Ge-
SARS-CoV-2 haben persönliche Freiheitsrechte,        sundheit der Bevölkerung außer Zweifel steht. Die
die in der Verfassung verbrieft sind, außer Kraft    eingesetzten Maßnahmen müssen darüber hinaus
gesetzt bzw. massiv eingeschränkt. Im europä-        (2) geeignet sein, um das Ziel zu erreichen, (3) not-
ischen Raum hat dies eine Debatte über die Verfas-   wendig (d. h. es gäbe keine bessere Alternative)
sungskonformität der Maßnahmen angestoßen,           und (4) verhältnismäßig sein. Die Fraglosigkeit des
auch in Österreich. Gegen Gesetze und/oder Ver-      richtigen Zwecks führt nicht automatisch zur Zu-
ordnungen zur Eindämmung des Corona-Virus            lässigkeit der ergriffenen Mittel.
liegen dem Verfassungsgerichtshof inzwischen              Während an der prinzipiellen Geeignetheit (2)
rund 70 Anträge vor (Stand: Ende Mai), von de-       der ergriffenen Maßnahmen zur Erreichung des
nen im Juni die ersten behandelt werden sollen.      Ziels, insbesondere der Abflachung der Infekti-
Ein Eilverfahren ist in Österreich im Gegensatz      onskurve, kein Zweifel bestehen dürfte, sind die
zu Deutschland, wo der Verfassungsgerichtshof        Kriterien der Notwendigkeit (3) und Verhältnismä-
mehrere Demonstrationsverbote gekippt hat,32         ßigkeit (4) nicht so klar erfüllt. Wegen der Schwere
gesetzlich nicht vorgesehen.                         und Dauer der Grundrechtsbeschränkungen wäre
    Grundrechte sind vorstaatliche Rechte. Sie       eine beständige Beobachtung und eine häufige Ver-
sind Menschenrechte, die sozusagen vor jeder         hältnismäßigkeitsprüfung angebracht, um über
Staatsgründung existieren, und nicht vom Staat       mögliche Lockerungen nachzudenken.34
begründet und verabschiedet, sondern nur an-              Das Verbot der Demonstration gegen die Maß-
erkannt und geschützt werden sollen. Konkrete        nahmen in Wien (24.4.2020) und das Umkippen der
Grundrechte, die durch die Maßnahmen zur Ein-        gerichtlichen Demonstrationsverbote in Deutsch-
dämmung der Pandemie beschnitten werden,             land im April 2020 zeigen, dass das Kriterium der
sind die Grundrechte auf Bewegungsfreiheit und       Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit nicht ein-
Freizügigkeit, auf Versammlungs- und Religi-         deutig anwendbar ist und einen großen Interpreta-
onsfreiheit sowie die zentralen wirtschaftlichen     tionsspielraum zulässt.
Grundrechte der Berufs- und Eigentumsfreiheit.            Die Debatte zu einem „Corona-Immunitätspass“
                                                     nimmt Fahrt auf. Kritiker sehen Grundrechte in Ge-
                                                     fahr und befürchten eine Spaltung der Gesellschaft.35

Imago Hominis · Band 27 · Heft 2                                                                        89
Aus aktuellem Anlass

In Deutschland hat Bundesgesundheitsminister            heit bewirkt auch eine Einschränkung der Religi-
Jens Spahn (CDU) Anfang Mai 2020 den Deutschen          onsfreiheit. Zunächst waren keine Gottesdienste
Ethikrat um eine Stellungnahme zum geplanten Im-        in den Kirchen möglich, sie wurden erst ab
munitätsnachweis für SARS-CoV-2 gebeten.                15. Mai 2020 unter sehr restriktiven Bedingungen
    Die Frage, ob und in welcher Form man Bür-          zugelassen. Auch hier scheint eine Prüfung der
ger zum Einsatz einer Tracking-Software (Coro-          Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit er-
na-App) verpflichten darf oder ob dies freiwillig ge-   forderlich. Die Tatsache, dass sich die Religions-
schieht, wird in zahlreichen Ländern diskutiert.36      gemeinschaften ohne großen Widerstand auf die
China implementiert derzeit ein durchaus um-            Einschränkungen eingestellt haben, genügt we-
strittenes Gesundheits-Tracking-System, das den         der, um die Verfassungskonformität, noch um die
Immunitätsstatus leicht einbeziehen könnte. In-         ethische Zulässigkeit der Einschränkung dieses
dien ist die einzige Demokratie der Welt, die ihre      Grundrechtes zu beweisen.
Bürger zum Herunterladen einer Corona-Kon-
takt-Nachverfolgungs-App verpflichtet.37 Hier              9. Corona und Sozialethik
steht auch ein Eingriff in die persönliche Freiheit        War es ethisch legitim, aufgrund der er-
zur Debatte. Im Namen der Sicherheit und des               wähnten Kriterien und Prinzipien der Sozi-
Grundrechts auf Bewegungsfreiheit sollen die Pri-          alethik in der Coronakrise das Grundrecht
vatsphäre und sensible Gesundheitsdaten über-              auf freie Ausübung der Religion einzu-
wacht bzw. preisgegeben werden. Datenschützer              schränken?
befürchten, dass Arbeitgeber, aber auch Versiche-
rungen künftig vermehrt Immunitätsnachweise                 4.4 Die Krise, die Stunde der Exekutive. Gibt es
verlangen könnten. Es ist zweifelhaft, ob diese             ein Zurück?
Maßnahme eine Notwendigkeits- und Verhältnis-               Der italienische Philosoph Giorgio Agamben
mäßigkeitsprüfung bestehen würde.                       kritisiert, dass Juristen angesichts der Situation im
                                                        März 2020 nicht nur in Italien geschwiegen haben,
     8. Corona und Sozialethik                          als die Exekutive und Legislative die Gewaltentren-
     Ist dem Lebensschutz der absolute Vorrang          nung aufgegeben haben. Demokratische Regeln
     unter den Grundrechten einzuräumen? War            müssten so rasch wie möglich normalisiert wer-
     es ethisch legitim, auf Grund der erwähnten        den, ermahnen viele Politikphilosophen, Oppositi-
     Kriterien und der Prinzipien der Sozialethik       onspolitiker, Journalisten und Experten. Agamben
     in der Coronakrise das Grundrecht auf Ver-         ist nicht der einzige, der sich skeptisch zeigt: Die
     sammlung einzuschränken und konkret die            Geschichte lehrt, dass Machthaber, sobald sie ein-
     Demonstrationen zu verbieten? Was bedeu-           mal die Macht an sich gezogen haben, diese ungern
     tet es, wenn Bürger unter den Vorzeichen           wieder abgeben.38
     der Sicherheit (Corona-App, digitaler Im-
     munitätsausweise) hochsensible Gesund-                10. Corona und politische Ethik
     heitsdaten weitergeben sollen?                        Welche Garantien können vorgesehen wer-
                                                           den, damit der Ausnahmezustand keine Mi-
                                                           nute länger als notwendig und unverhältnis-
    4.3 Zur Legitimität der Einschränkung der              mäßig lange dauert.
    Religionsfreiheit
    Die von der österreichischen Regierung einge-
setzte Maßnahme gegen die Versammlungsfrei-

90                                                                              Imago Hominis · Band 27 · Heft 2
Aus aktuellem Anlass

    4.5 Mangel an Solidarität als Kriminalstraftat?        Situationen mit nur gewisser formaler Ähnlich-
    Solidarität ist ein wichtiges Prinzip der              keit. Im Lichte der Sozialethik scheint es nicht klar,
Sozialethik und ebenso der christlichen Soziallehre.       dass Mangel an Solidarität eine Kriminalstraftat ist
Sie ist auch ein Wert und eine Tugend. In Zeiten der       und Solidarität mit strafrechtlichem Zwang durch-
Krise sind das Prinzip, der Wert und die Tugend be-        gesetzt werden soll.
sonders gefragt. Die Manager der Krise appellieren
                                                              11. Corona und Sozialethik
unentwegt an die Solidarität der Bürger, um sie zu
                                                              Ist es ethisch legitim, bei einer Pande-
motivieren, sich an die Maßnahmen zu halten und
                                                              mie konkrete Handlungen wie auf öffent-
damit vor allem die anderen zu schützen. In Öster-
                                                              licher Straße zu spazieren oder keinen Na-
reich wurde kritisiert, dass die Politik sich hier einer
                                                              sen-Mundschutz zu tragen u.dgl. als einen
unverhältnismäßigen Rhetorik der Angst bediente
                                                              Mangel an Solidarität darzustellen und sie
(„Lebensgefährder“). „Abstandhalten verlangt, pa-
                                                              als Kriminalstraftat zu betrachten und zu be-
radoxerweise, gesellschaftlichen Zusammenhalt auf
                                                              strafen? Was spricht dafür und was dagegen?
breiter Basis – und hier tritt das Strafrecht auf den
                                                              Und wann und unter welchen Bedingungen?
Plan: gegen die Uneinsichtigen und Widerständi-
gen, die sich um Kontaktverbot und Ausgangssperre
nicht scheren, gleichzeitig aber auch adressiert an        5. Ethische Fragezeichen aus ökonomischer
die, die sich konform verhalten, um sie in schwie-         Perspektive
riger Zeit in sozialer Vereinzelung zu bestärken.“39 Es        Die Politik hat zur Eindämmung der Pandemie
stellt sich die Frage, ob es angemessen war, Maßnah-       mit drastischen Shutdown-Maßnahmen reagiert,
men, die ein so schwaches wissenschaftliches Funda-        die wochenlang weltweit viele Sektoren der Wirt-
ment hatten – von evidenzbasierter-medizinischer           schaft lahmgelegt haben und zu einem historischen
Indikation ist keine Rede –, unter Strafe zu stellen.      Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt haben. Viele
„Auf Solidarität gründende Pflichten im Strafrecht         Klein- und Mittelbetriebe stehen vor dem Ruin,
waren bislang typischerweise Handlungsgebote. Je-          auch zahlreichen Großbetrieben droht die Insol-
dermann kennt die bei ‚gemeiner Gefahr‘ drohende           venz trotz großzügiger staatlicher finanzieller Ret-
Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung nach        tungsschirme.41 Vermögensverluste treffen breite
einem Unglücksfall oder die Garantenpflicht der            Schichten, soweit sie Ersparnisse insbesondere für
Eltern, Gefahren vom Kind abzuwenden. Nun wird             die Altersversorgung gebildet haben. Je länger ein
das Gebot, vom Kontakt zum Mitmenschen Abstand             Shutdown dauert, umso weniger lassen sich gravie-
zu nehmen, Strafgrund: homo homini virus (…).              rende ökonomische Folgen vermeiden.
Wer einen ‚triftigen Grund‘ für das Verlassen seiner           Am 14.4.2020 bestätigte der Internationale
Wohnung nicht plausibel machen kann – und die-             Währungsfonds (IWF): COVID-19 hat zur schwers-
se Einschätzung bleibt zunächst einmal Polizisten          ten Wirtschaftskrise seit der großen Depressi-
auf der Straße überlassen –, bewegt sich außerhalb         on (1929) geführt.42 Optimistisch betrachtet wird
seiner vier Wände auf flächendeckend kriminalisier-        die Weltwirtschaft zwischen 3% und 10% schrump-
tem Terrain“,40 kritisieren Strafrechts-Experten in        fen. Europa trifft es am stärksten (-7,5). Mittlerweile
Deutschland.                                               sind die Prognosen mancher Länder nach unten
    Die Pandemie wurde immer wieder mit einer              korrigiert worden. Die WTO (World Trade Organi-
Kriegssituation verglichen und dafür plädiert,             sation) hat einen Rückgang des Welthandels zwi-
ähnliches Recht wie beim Kriegsrecht anzuwenden            schen 13% und 33% prognostiziert.43
und militärische Disziplin einzufordern. De facto              Das österreichische Wirtschaftsforschungs-
handelt es sich jedoch um gänzlich verschiedene            institut (WIFO) rechnet in Österreich mit der

Imago Hominis · Band 27 · Heft 2                                                                                91
Aus aktuellem Anlass

stärksten Wirtschaftsrezession seit dem Zweiten            5.2 Mehr Staat? Zu viel Staat?
Weltkrieg: „Als Folge der COVID-19-Pandemie bzw.           Der Ruf nach „mehr Staat“ ist in der Krise un-
der Maßnahmen zu deren Eindämmung wurde                überhörbar.47 Die staatlichen Maßnahmen zur Ret-
die internationale und auch österreichische Wirt-      tung der Wirtschaft, so notwendig sie jetzt sind,
schaft im März dieses Jahres in einen markanten        stellen eine Zunahme des staatlichen Einflusses auf
Abschwung gestoßen. Im II. Quartal wird mit einer      die Wirtschaft dar. Ist die liberale Marktwirtschaft
globalen Rezession in noch nie dagewesener Grö-        in Gefahr? Die in der Krise getroffenen wirtschafts-
ße und Synchronität gerechnet. Das WIFO erwar-         politischen Maßnahmen gefährden das nachhal-
tet daher für 2020 in Österreich einen Rückgang        tige Wirtschaften im Rahmen einer freiheitlichen
der Wirtschaftsleistung und der Beschäftigung          Marktordnung. Ein Rückzug aus Unternehmen,
um 5¼% und einen Anstieg der Arbeitslosenquo-          sofern krisenbedingt Beteiligungen stattfanden,
te auf 8¾%“.44 Ähnlich bricht die Konjunktur in        sollte im Voraus geregelt sein.48
Deutschland als Folge der Maßnahmen gegen
die Corona-Pandemie laut ifo-Institut drastisch           13. Corona und Wirtschaftsethik
ein: das Bruttoinlandsprodukt soll 2020 um 4,2%           Wie weit soll der Staat die Wirtschaft kon-
schrumpfen.45                                             trollieren und auf Beteiligungen eingehen?
                                                          Wie schnell soll der Staat seinen Einfluss
    5.1 Finanzhilfe auf Kosten der zukünftigen            wieder zurückgeben?
    Generationen?
    Die finanziellen Rettungsmaßnahmen in                  5.3 Ökologisches Ziel nach der Krise politisch
schwindelerregenden Höhen sind notwendig, wer-             weniger wichtig?
fen aber auch Fragen auf:                                  Seit Ausbruch der Coronakrise wurde es um
    Die Staatsschulden werden in den reichen Län-      ökologische Ziele in der Politik leiser. Der Fokus
dern enorm ansteigen, damit die Rettungsschirme        stand zuerst auf Gesundheit, dann auf Ökonomie
finanziert werden.46 Sie werden die zukünftigen        und Bildung. Die Gefahr besteht, dass nun einfach
Generationen über Jahrzehnte hinweg belasten           so weitergemacht wird und beim nötigen Neuauf-
und die bestehende Finanzblase enorm wachsen           bau und der notwendigen Neuausrichtung man-
lassen. Die Coronakrise könnte also zu einer neu-      cher Wirtschaftszweige ökologische Ziele vernach-
en Finanzkrise führen. Die Erfahrung zeigt, dass       lässigt werden. Die Leopoldina betont deshalb:
das Finanzsystem Krisen mit einer Vergrößerung         „Bereits bestehende globale Herausforderungen
der Staatsschulden aufschieben kann. Die Frage         wie insbesondere der Klima- und Artenschutz ver-
ist nur: Wie lange? Die Politik musste in Coro-        schwinden mit der Coronavirus-Krise nicht. Poli-
na-Zeiten kurzfristig Entscheidungen fällen und        tische Maßnahmen sollten sich auf nationaler wie
kann beim Thema Verschuldung offenbar mit einer        internationaler Ebene an den Prinzipen von ökolo-
Öffentlichkeit rechnen, die sich darüber (noch) kei-   gischer und sozialer Nachhaltigkeit, Zukunftsver-
ne Gedanken macht.                                     träglichkeit und Resilienzgewinnung orientieren.
                                                       Maßnahmen, die bereits vor der Coronavirus-Krise
     12. Corona und Wirtschaftsethik                   auf einer breiten wissenschaftlichen Evidenz und
     Warum wird das Problem der Finanzierung           einem politisch-gesellschaftlichen Konsens beruh-
     der neuen Schulden und die neuen Bela-            ten, dürfen nicht abgeschwächt, sondern müssen
     stungen der künftigen Generationen vorerst        weiterhin mit hoher Priorität umgesetzt oder sogar
     ausgeblendet?                                     verstärkt werden“.49

92                                                                            Imago Hominis · Band 27 · Heft 2
Aus aktuellem Anlass

   14. Corona, Wirtschafts- & Umweltethik               Anhand der Erfahrungen der Corona-Pandemie
   Wird die ökologische Politik in der Krise he-        sollte ein Modell erarbeitet werden, um zukünftige
   runtergefahren? Können ökologische Ziele             Pandemien rascher und effizienter zu bekämpfen
   mittelfristig mit dem gleichen Einsatz ange-         und zu bewältigen. Die internationale Zusammen-
   strebt werden? Wie sollen die kurzfristigen          arbeit könnte viel besser funktionieren. In diesem
   ökonomischen Maßnahmen zur Ankurbe-                  Zusammenhang wird man die Rolle der WHO und
   lung der Wirtschaft mit den langfristigen            ihre Nähe zu chinesischen Machthabern untersu-
   ökologie-politischen Zielen der Staaten in           chen müssen, die von vielen Staaten scharf kritisiert
   Einklang gebracht werden?                            wurde. Man darf die Organisation nicht vorverurtei-
                                                        len,52 aber dass sie die chinesischen Behörden noch
                                                        im Februar gedeckt hat, ist mehr als verwunderlich.53
6. Ethische Fragezeichen aus geopolitischer
Perspektive                                                 6.1.2 Über den Machtkampf der Großmächte:
                                                            „Ein Virus verlagert die Macht“
    6.1 Ist Solidarität auf globaler Ebene ange-
    sichts der Pandemie gelebt und erwünscht?               Eine Katastrophe des Ausmaßes einer Pande-
    Zwei Phänomene von geopolitischer Relevanz          mie wird für Großmächte, kleinere Machtträger
können besonders in Verbindung mit der Coro-            und „Möchtegerne“ leicht zur Gelegenheit, um
na-Pandemie gebracht werden: die Globalisierung         sich geopolitisch besser zu positionieren. Viele
und der Kampf der Großmächte um Vermehrung              kommen zu dem Schluss, dass China den größeren
ihres Welteinflusses.                                   Vorteil aus der Krise zu ziehen scheint.54
                                                            Eine Frage, die die Weltöffentlichkeit beschäftigt
    6.1.1 Globalisierung: die Stunde der National-      und nach Ansicht von Virologen und Epidemiolo-
    staaten                                             gen nicht unerheblich ist, betrifft den Ursprung von
    „Der Krisenreflex der Staaten ist Unilateralis-     SARS-CoV-2. Die meisten Virologen favorisieren die
mus statt Kooperation. Paradox ist dies nicht zuletzt   Version, wonach das Virus vom Tier auf den Men-
deshalb, weil sich große Krisen kaum unilateral be-     schen in Wuhan auf einem Tiermarkt für begehrte Ar-
wältigen lassen“.50 SARS-CoV-2 hat sich nicht zuletzt   ten übertragen wurde. Weitere Szenarien, wonach das
wegen der globalisierten Verflechtungszusammen-         Virus künstlich gezüchtet aus einem Labor in Wuhan
hänge wie etwa dem internationalen Reiseverkehr so      entkommen sein könnte, weist China vehement von
rasch verbreitet. Als eine der ersten Reaktionen zur    sich. Eine sachliche Auseinandersetzung dazu ist der-
Pandemie haben die Nationalstaaten zum Schutz           zeit leider nicht möglich, da sie regelmäßig zu diplo-
ihrer Bürger die Grenzen für den Personenverkehr        matischen Angriffen und Gegenangriffen zwischen
geschlossen. Der Globalisierungsgedanke und die         den beiden Großmächten USA und China führt.55
internationale Zusammenarbeit wurden innerhalb              China selbst hat die Pandemie in den Griff be-
der Europäischen Union, aber auch darüber hinaus        kommen. Es bietet sich in Ländern von Asien und
teilweise und zeitweilig ausgesetzt. Die Rolle Chinas   Afrika als Helfer an, vor allem in jenen Ländern, in
und die mangelnde Transparenz in der Weitergabe         denen China bei Infrastrukturinvestitionen stark
der Daten haben zusätzlich Misstrauen gesät.            engagiert ist (z.B. Angola, Ghana, Nigeria, Kenia,
    Auch in der Europäischen Union herrschen            Demokratische Republik Kongo und Äthiopien).
große Differenzen zwischen den Staaten in der Fra-      Ganz selbstlos wird dieser Einsatz der Weltmacht
ge der Hilfsprogramme und Vorgangsweisen,51 na-         China, die sich ihren politischen Einfluss sichern
tionalstaatliche Interessen stehen im Vordergrund.      möchte, wohl nicht sein.

Imago Hominis · Band 27 · Heft 2                                                                            93
Aus aktuellem Anlass

    6.2 Die Armut in der Welt wird steigen              Referenzen
    Die reichen Länder der Welt können sich die         1    Anfang Mai wird bekannt, dass möglicherweise frü-
wirtschaftlichen Rettungsmaßnahmen gegenwärtig               her oder gleichzeitig bereits Ende Dezember 2019 in
leisten, für 2021 ist ein Wachstum der BIP prognosti-        Frankreich ein Fall von Covid-19 diagnostiziert wurde.
                                                        2    WHO Director-General’s opening remarks at the me-
ziert,56 an den Folgen des Wirtschaftseinbruchs wird
                                                             dia briefing on COVID-19, 11. März 2020.
man allerdings noch Jahre leiden. Was für reiche        3    World Health Organization, Coronavirus disease 2019
Länder gilt, gilt noch mehr für arme. Ihre Abhängig-         (COVID-19): Situation Report – 29.
keit vom Einfluss der Großmächte und multinatio-        4    Die Welt ist laut Experten viel zu schlecht auf globale Epide-
naler Konzerne wird steigen.                                 mien vorbereitet, Der Standard, 18.9.2019.
                                                        5    Interview mit Christian Drosten in „Zeit im Bild 2 Spe-
    Die Instrumentalisierung von Pandemien für
                                                             zial“ mit Armin Wolf, ORF, 24.4.2020.
Machtspiele auf höchster politischer Ebene ist eine     6    Diese Perspektive beschränkt sich nicht auf die epi-
traurige Wirklichkeit. Aus ethischer Sicht sind sie          demiologischen Fakten, sondern soll auch relevante
inakzeptabel. Die Machtspiele der USA und Chinas             virologische und infektiologische Aspekte umfassen.
auf dem Rücken der Opfer dieser und zukünftiger              Eine laufend aktualisierte Darstellung des Verlaufes
Pandemien sind ethisch auf das schärfste zu ver-             von COVID-19 findet sich auf der Seite des Robert
                                                             Koch Instituts, SARS-CoV-2 Steckbrief zur Coronavi-
urteilen. Gibt es für dieses Problem eine Lösung?
                                                             rus-Krankheit-2019 (COVID-19).
Realpolitik zählt seit jeher nicht unbedingt zu den     7    Sakamoto H. et al., Seasonal Influenza Activity
ethisch saubersten Tätigkeiten. Trotzdem muss                During the SARS-CoV-2 Outbreak in Japan, JAMA
man anerkennen, dass in der internationalen Zu-              (2020); 323(19): 1969-1971, doi:10.1001/jama.2020.6173.
sammenarbeit im letzten Jahrhundert viele Fort-         8    Kissler S. M. et al., Projecting the transmission dynamics
                                                             of SARS-CoV-2 through the postpandemic period, Science,
schritte erzielt wurden. Die im Anschluss an den
                                                             14.4.2020.
Zweiten Weltkrieg gegründeten internationalen           9    Knoll R., Soziologe zu Corona-Gesetzen: „Lebensgefährlich
Organisationen und ihre Projekte zeigen das. In              für die Demokratie“, Interview, Der Standard, 6.4.2020.
diesem Sinne könnten die Erfahrungen dieser Pan-        10   Erdek M. A., Ethical Responsibility in Publishing Research
demie eine Chance sein, um die internationale Zu-            Results on Covid-19 Treatments; in Clinical Trials and Hu-
sammenarbeit und Solidarität zu stärken.                     man Subjects Research, The Hastings Center – Bioethics
                                                             Forum, 30.4.2020, https://www.thehastingscenter.
     15. Corona: Sozialethik & politische Ethik              org/ethical-responsibility-in-publishing-research-re-
                                                             sults-on-covid-19-treatments/.
     Auf internationaler Ebene hat die Solidari-
                                                        11   Kummer S., Pandemie: Krise entschuldigt keine nied-
     tät bei der Pandemie schlecht funktioniert.             rigen Wissenschaftsstandards, Bioethik aktuell, IMABE,
     Wäre es in Hinblick auf zukünftige Pande-               4.5.2020.
     mien möglich, die internationale Solidarität       12   Koff W. C., Williams M. A., Covid-19 and Immunity
     der Staaten, Staatengemeinschaften und in-              in Aging Populations – A New Research Agenda, NEJM,
     ternationalen Organisationen so zu fördern,             17.4.2020, DOI: 10.1056/NEJMp2006761.
                                                        13   vgl. Intensivbetten: Deutschland mit hoher Versorgungs-
     dass sie die Armut der Welt effizient be-
                                                             dichte im internationalen Vergleich, Deutsches Ärzte-
     kämpfen, bei Katastrophen und Pandemien                 blatt, 2.4.2020.
     zusammenarbeiten und sich der Machtlogik           14   Specktor B., Coronavirus: What is ‘flattening the curve,’
     der imperialistischen Strategien der alten              and will it work?, Live Science, 16.3.2020, https://www.
     und der neuen Weltmächte entziehen?                     livescience.com/coronavirus-flatten-the-curve.html.
                                                        15   Nida-Rümelin J., „Wir müssen weg von allgemeinen
                                                             Maßnahmen!“, Interview, Die Furche, 22.4.2020.
                                                        16   Sorge um Patienten mit akutem Behandlungsbedarf, Deut-
                                                             sches Ärzteblatt, 22.4.2020.
                                                        17   Kummer S., COVID-19: Unnötige Krankenhauseinwei-

94                                                                                     Imago Hominis · Band 27 · Heft 2
Aus aktuellem Anlass

     sungen bei älteren Menschen verhindern, Bioethik aktuell,       na-blog-beitraege/blog06/.
     IMABE, 4.5.2020.                                             28 Gstöttner E., Häusliche Gewalt: Mehr Andrang bei Frau-
18   Vgl. Rosenbaum L., The Untold Toll – The Pandemic’s             enberatungsstellen in Linz, OÖN, 24.4.2020; Zahl der An-
     Effects on Patients without Covid-19, NEJM, 17.4.2020,          rufe wegen häuslicher Gewalt gestiegen, WDR, 22.4.2020;
     DOI: 10.1056/NEJMms2009984; Rückkehr zur Norma-                 Gewalt gegen Frauen: UNHCR in höchster Alarmbereit-
     lität hängt von Impfung ab, ORF, 18.4.2020, https://orf.        schaft, ORF, 20.4.2020.
     at/stories/3162359/: „Das muss man akut beenden.             29 Macht die Corona-Krise uns zu Denunzianten? Fünf Fragen
     Man darf keinen Menschen wegen seiner Krankheit                 an einen Experten, Deutschlandfunk Nova, 7.4.2020.
     diskriminieren. Das muss aufhören, rasch“, so der            30 Kolland F., siehe Ref. 23.
     Infektiologe Christoph Wenisch. [...] Der Schutz des         31 Agamben G., Zum Umgang der liberalen Demokratien mit
     Systems bleibe „erste Priorität“, weshalb auch die Ein-         dem Coronavirus: Ich hätte da eine Frage, Neue Züricher
     schränkungen für Besucher aufrecht bleiben werden,              Zeitung 15.4.2020, S. 13.
     so Gesundheitsminister Anschober. Es werde „sicher           32 vgl. Bundesverfassungsgericht, Suche nach Entschei-
     noch länger keine Normalsituation“ in den Spitälern             dungen; z.B. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten
     herrschen.                                                      Senats vom 17. April 2020, 1 BvQ 37/20, Rn. 1-29.
19   Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv-         33 Rede von Bundeskanzler Sebastian Kurz: „…Ge-
     und Notfallmedizin, Entscheidungen über die Zuteilung           sundheit ist das wichtigste, was es gibt…“, in: Zeit
     von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im       im Bild 1, ORF, 18.3.2020; Armin Laschet, Wolfgang
     Kontext der COVID-19-Pandemie, 25.3.2020.                       Schäuble und Markus Söder diskutieren öffentlich
20   Lübbe W., Corona-Triage, Verfassungsblog, 15.3.2020,            über den Stellenwert des Lebensschutzes: Debatte über
     https://verfassungsblog.de/corona-triage/; Lübbe W.             absoluten Vorrang des Lebensschutzes, FAZ Nr. 99/18 R 1,
     (Hrsg.), Tödliche Entscheidung. Allokation von Leben und        28.4.2020.
     Tod in Zwangslagen, mentis-Verlag, Paderborn (2004);         34 Deutsche Ethik-Rat, Solidarität und Verantwortung in
     Lübbe W., Veralltäglichung der Triage? Überlegungen             der Corona-Krise. Ad-hoc-Empfehlung, 27.3.2020, S. 4-5.
     zu Ausmaß und Grenzen der Opportunitäts-kostenorien-         35 Kummer S., COVID-19: Debatte zu einem „Corona-Im-
     tierung in der Katastrophenmedizin und ihrer Übertrag-          munitätspass“ nimmt Fahrt, Bioethik aktuell, IMABE,
     barkeit auf die Alltagsmedizin, Ethik in der Medizin            4.6.2020.
     (2001); 13: 148-160.                                         36 Coeckelbergh M., Corona-App: Ethische, rechtliche und
21   Prat E. H., Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium für die       gesellschaftliche Fragen, Der Standard, 19.5.2020.
     Entscheidung über einen Behandlungsabbruch, Imago Ho-        37 Corona-App in Indien zunehmend verpflichtend, OÖN,
     minis (1999); 6(1): 11-31.                                      15.5.2020.
22   Prat E. H., Sinnhaftigkeit in der Medizin, Imago Hominis     38 Agamben G., siehe Ref. 31.
     (2004); 11(4): 287-301.                                      39 Jahn M., Schmitt-Leonardy Ch., Solidarität durch
23   Kolland F., “Social Distancing”: Coronavirus verändert          Recht?, FAZ, 23.4.2020, S. 6.
     Gesellschaft, Interview, Redaktion (uni:view)/APA,           40 Ebd.
     20.3.2020.                                                   41 Boumans D., Link S., Sauer S., COVID-19: Die Welt-
24   Heitmeyer W., „In der Krise wächst das Autoritäre“, Inter-      wirtschaft auf der Intensivstation. Erkenntnisse aus einer
     view, Die Zeit, 13.4.2020.                                      weltweiten Expertenumfrage, ifo Schnelldienst 5/2020,
25   Leopoldina –Nationale Akademie der Wissenschaf-                 IFO-Institut, April 2020.
     ten, Dritte Ad-hoc-Stellungnahme: Coronavirus-Pandemie       42 The Great Lockdown: Worst Economic Downturn Since
     – Die Krise nachhaltig überwinden, 13.4.2020, S. 10; Vgl.       the Great Depression, Press Release No. 20/98, IMF,
     auch Pieh Ch., Deutlicher Anstieg an psychischen Symp-          23.3.2020.
     tomen. Eine Studie der Donau-Universität Krems unter-        43 Trade set to plunge as COVID-19 pandemic upends global
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Imago Hominis · Band 27 · Heft 2                                                                                            95
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