"DAFÜR MUSS ICH NUR NOCH ABNEHMEN" - DIE ROLLE VON GERMANY'S NEXT TOPMODEL UND ANDEREN FERNSEHSENDUNGEN BEI PSYCHOSOMATISCHEN ESSSTÖRUNGEN

 
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"DAFÜR MUSS ICH NUR NOCH ABNEHMEN" - DIE ROLLE VON GERMANY'S NEXT TOPMODEL UND ANDEREN FERNSEHSENDUNGEN BEI PSYCHOSOMATISCHEN ESSSTÖRUNGEN
FORSCHUNG

»Dafür muss ich nur noch
abnehmen«
Die Rolle von Germany’s next topmodel und anderen
Fernsehsendungen bei psychosomatischen Essstörungen
Maya Götz/Caroline Mendel/Sarah Malewski

In einer IZI-Studie wurden 241 Men-         dünner als die Durchschnittsfrau, sind      in die Essstörung verstärkt. Die Hin-
schen (vorwiegend Mädchen und               sie mittlerweile um rund 23 % schmaler      tergründe für die Entwicklung schwer
junge Frauen), die wegen einer Ess-         (Derenne & Beresin, 2006). Die Folge:       psychosomatischer Ausprägungen ei-
störung in therapeutischer Behand-          Nur schätzungsweise 4 % aller Frauen        ner Essstörung sind deutlich komplexer
lung sind, befragt, ob bzw. welche          wären aufgrund ihrer körperlichen           als der Wunsch, einem inneren, viel
Fernsehsendungen einen Einfluss auf         Möglichkeiten überhaupt in der Lage,        zu dünnen Ideal zu genügen (s. auch
ihre Erkrankung haben.                      dem aktuellen Schlankheitsideal zu          Lahusen in dieser Ausgabe).
                                            entsprechen. Letztendlich entspricht        Es sind vielmehr subjektiv-sinnhafte
Essstörungen gehören in den westli-         nur eine von 40.000 Frauen in Größe,        Prozesse der Medienrezeption und -an-
chen Industrieländern zu den häufigs-       Figur und Gewicht den Anforderungen         eignung, die in die Lebensbewältigung
ten psychosomatischen Erkrankungen          eines professionellen Models (Hawkins       und Alltagsgestaltung eingebunden
von Mädchen und jungen Frauen. Nur          et al., 2004). Die Darstellung über-        sind (vgl. Mikos, 2008). Studien mit
jedes dritte Mädchen zwischen 13 und        schlanker Mädchen und Frauen be-            Menschen mit einer Essstörung, die der
19 Jahren kann von sich sagen, es fühle     ginnt bereits in den Kindermedien. In       Bedeutung von Fernsehen im Kontext
sich gar nicht zu dick, bei jedem dritten   Zeichentricksendungen beispielsweise        von Essstörungen im Detail nachgehen,
Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren           haben drei Viertel der Mädchenfiguren       gibt es bisher nur wenige. Sie zeigen,
gibt es Hinweise auf Essstörungen           einen Körper, der dünner ist als der        dass Fernsehen Teil des alltäglichen
(KiGGS, 2006). Gut 2 von 100 Mäd-           von Barbie und der auf natürlichem          Handelns und in Beginn und Verlauf
chen haben eine schwere psychoso-           Wege überhaupt nicht zu erreichen ist       der Krankheit integriert ist. So fühlen
matische Krankheit wie Magersucht,          (Götz & Herche, 2013).                      sich junge Frauen insbesondere in
Bulimie oder Binge-Eating entwickelt.       Sehen Mädchen diese Bilder von              der Entstehungsphase der Krankheit
Hinzu kommt noch einmal etwa die            Körpern, die sie selbst nie erreichen       gegenüber dem dünnen Schönheits-
doppelte Zahl an Essstörungen, die sich     werden, ist in experimentellen Studien      ideal der Medien oft unterlegen, hilflos
nicht eindeutig einer der Hauptformen       nachweisbar, dass bei einigen Mädchen       und von den Bildern gefangen. Im
zuordnen lassen (Swanson et al., 2011).     die Zufriedenheit mit dem eigenen           Verlauf der Krankheit holen sie sich
Die Hintergründe der jeweiligen Krank-      Körper spontan zurückgeht (z. B. Bell &     dabei durchaus auch Anleitungen,
heit sind komplex. Sie äußert sich im       Dittmar, 2011). Entscheidend dabei          wie sie ihr Gewicht manipulieren
Essverhalten, das, vereinfacht gesagt,      ist, inwieweit Mädchen und Frauen           können, nutzen es als Flucht oder als
manipuliert wird, damit sich die Be-        das Ideal eines sehr dünnen Körpers         Informations- und Vergleichsquelle,
troffenen nicht mehr so minderwertig        internalisiert haben (Harrison, 2013).      wenn etwas über ihre Krankheit be-
fühlen.                                     Körperunzufriedenheit wiederum ist          richtet wird. In der Phase der aktiven
Gut belegt ist, dass Medien Frauen          ein nachgewiesener Risikofaktor für         Bewältigung der Essstörung spielen
überwiegend mit einem sehr schlanken        Essstörungen (The McKnight Investi-         die Enttarnung der Medienstereotype
Körper abbilden (zusammenfassend            gators, 2003; Cafri et al., 2005). Es ist   und die Abgrenzung gegenüber den
z. B. Kiehl, 2010). Über die Jahrzehnte     hierbei kein einfacher Reiz-Reaktions-      untergewichtigen Schönheitsbildern,
sind die Foto- und Laufstegmodels           Mechanismus, durch den die mediale          dem »Diätenterror« und den wider-
dabei immer dünner geworden. Waren          Überhöhung von untergewichtigen             sprüchlichen Werbebotschaften eine
vor 30 Jahren Fotomodels nur ca. 8 %        Foto- und Laufstegmodels den Weg            deutlichere Rolle (Baumann, 20091).

                                                                                        28/2015/1                            61
FORSCHUNG

Bei der Fernsehnutzung entwickeln                                                                     Die Bedeutung von bestimmten                 als Ausgleich zur psychosomatischen
sich also u. a. essstörungsspezifische                                                                Fernsehsendungen bei der Ent-                Störung, damit sich die Betroffenen
Motive. Sendungen dienen als Motiva-                                                                  stehung von Essstörungen                     zumindest kurzzeitig besser fühlten.
tion, Anerkennung und Rechtfertigung                                                                                                               In einer Reihe von Fällen wurden
für das eigene Handeln, aber auch als                                                                 Bei der Hälfte der Befragten lag der Be-     Fernsehsendungen aber auch zum
Informationsquelle für Tipps und als                                                                  ginn der Essstörung im Alter zwischen        Trigger, mit dem sich die Dynamik der
Anleitung zur Optimierung des essge-                                                                  12 und 15 Jahren, bei einem weiteren         Krankheit erst richtig entwickelte. Als
störten Verhaltens. Fernsehen kann als                                                                Fünftel zwischen 16 und 17 Jahren.           Sendungstitel wird ungestützt vor al-
Ersatz oder Ergänzung einer Therapie                                                                  Wie die meisten Jugendlichen sahen           lem eine Sendung genannt: Germany’s
dienen und schafft manchmal Räume,                                                                    sie auch in dieser Zeit Fernsehen. Die       Next Topmodel (Pro7). Mit deutlichem
um zumindest zeitweise nicht über                                                                     mit Abstand meistgesehenen Sendun-           Abstand folgen Sendungen wie Ex­
das Thema »Essen« nachdenken zu                                                                       gen waren Germany’s Next Topmodel            trem Schön!, Extrem Schwer (beide
müssen (Märschel, 20072). Bisher fehlen                                                               (GNTM) und die Daily Soap Gute Zei­          RTL2) oder Kochsendungen (Abb. 1).
Studien, die der Bedeutung einzelner                                                                  ten, schlechte Zeiten (GZSZ), was dem        Zunächst ein Blick auf die weiteren
Formate im Kontext der Krankheit                                                                      Trend in der Altersgruppe entspricht.        Fernsehsendungen, die im Kontext
nachgehen und durch eine breiter                                                                      Gesprächsthema mit den FreundInnen           der Krankheit unterschiedliche Funk-
angelegte Stichprobe auch eine quanti-                                                                waren insbesondere Castingshows,             tionen aufwiesen.
tative Einschätzung ermöglichen. Hier                                                                 allen vorweg GNTM.
setzt die vorgestellte Studie an und                                                                  Die Frage, ob es eine Fernsehsendung         Extrem Schön! – Endlich ein
geht der Rolle der Medien und insbe-                                                                  gab, die sie in besonderer Weise beein-
                                                                                                                                                   neues Leben
sondere einzelner Fernsehsendungen                                                                    flusst hat, bestätigen fast drei Viertel
bei Essstörungen aus der Perspektive                                                                  (71 %) der Antwortenden. Fernsehsen-         – Sich überlegen fühlen, aber
der Betroffenen nach.                                                                                 dungen spielen also nicht immer eine         auch Druck, denn alles ist
                                                                                                      bedeutsame Rolle. Wenn dies aber der         möglich
                                                                                                      Fall war, so wird aus den qualitativen
Die Studie                                                                                            Aussagen zur Frage, wie die Sendung          In der Makeover-Sendung Extrem
                                                                                                      die Krankheit beeinflusst hat, deutlich:     Schön! wird eine Person begleitet,
In Zusammenarbeit mit dem Bundes-                                                                     Die Sendung wurde meist als Verstär-         die Schönheitsoperationen an sich
fachverband Essstörungen e. V. (BFE)                                                                  kung der eigenen krank machenden             vornehmen lässt. Gezeigt werden
führte das IZI eine Befragung von                                                                     Gedanken beschrieben. Sie trugen             alle Details, die als zur Veränderung
akut von Essstörungen Betroffenen                                                                     dazu bei, sich noch minderwertiger           notwendig angesehen werden – von
durch. Anonyme Fragebogen mit                                                                         zu fühlen, und zeigten auf, wie sich das     schlechten Zähnen bis zu herabhän-
zumeist offenen Fragen boten Raum,                                                                    eigene Gewicht noch gezielter mani-          genden Bäuchen und Brüsten. Die
die eigenen Wahrnehmungen zusam-                                                                      pulieren ließe. Manchmal dienten sie         beteiligten Ärzte berichten über die
menzufassen. Quantifizierend wurde                                                                                                                 nahezu unbegrenzten Möglichkeiten
                                           n = 157 Befragte zwischen 11 und 57 Jahren, Angaben in %

an mehreren Stellen konkret nachge-                                                                                                                ästhetischer Eingriffe und den Stand
fragt, um so Vergleichsmöglichkeiten                                                                                                               der Behandlung. Am Ende sind Familie
zu früheren IZI-Studien zu schaffen. In                                                                                                            und Freunde dabei, wenn sich die ope-
die Auswertung gingen 241 Befragte                                                                                                                 rierte Person das erste Mal vor einem
ein, die zurzeit wegen einer Essstörung                                                                                                            Spiegel sieht.
therapeutisch begleitet werden bzw. in                                                                                                             Die Rezeption der Sendung gab einigen
betreuten Wohngruppen leben.3 Die                                                                                                                  der Frauen mit Essstörung ein gutes
Stichprobe setzt sich fast ausschließ-                                                                                                             Gefühl, weil sie im »Look-downwards-
lich aus Mädchen und jungen Frauen                                                                                                                 Prinzip« auf die ProtagonistInnen he-
(96 %) zusammen, hinzu kommen                                                                                                                      runterblicken konnten. Dies erhöhte
10 junge Männer. Einige der Betroffe-                                                                                                              dann das eigene Selbstwertgefühl:
nen (12 %) sind unter 16 Jahre, fast die                                                                                                           »Extrem Schön! hat mir immer das
Hälfte ist zwischen 16 und 21 Jahren.                                                                                                              Gefühl gegeben, zumindest schöner als
                                                                                                       Abb. 1: Sendungen, die die eigene Krank-
Die Befragten haben zum größten Teil                                                                   heit besonders beeinflussten (ungestützt,
                                                                                                                                                   die armen Würstchen in der Sendung
eine diagnostizierte Magersucht (85 %),                                                                Mehrfachnennungen möglich): GNTM            zu sein« (19-Jährige, Magersucht).
hinzu kommen Bulimie und Essstörun-                                                                    (39 %); alle weiteren Sendungen liegen      Gleichzeitig bestärkte die Sendung
gen mit Essanfällen, zum Teil auch in                                                                  unter 6 %                                   sie in dem Gefühl der Notwendigkeit
Kombination miteinander.4                                                                                                                          und Möglichkeit der grenzenlosen

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Optimierbarkeit des Körpers und             Das perfekte Dinner                         sich eine damals 16-Jährige so ©starkIZI
der Vermutung, dass Operationen             – Um sich satt zu sehen                     wieder, dass sie ähnlich wie die Figur
der vermeintlich leichteste Weg zu                                                      handelte und eine Mager- und Ess-
einem besseren Selbstwertgefühl sein        Als krankheitsbegleitend werden             Brech-Sucht entwickelte. Im zweiten
könnten: »Es scheint alles machbar          einzelne Sendungen wie Das perfekte         Fall nahm eine damals 17-Jährige mit
zu sein, jeder Makel oder besser jede       Dinner (VOX) beschrieben, d. h. Koch-       Symptomen von Magersucht das erste
Individualität lässt sich korrigieren. Es   shows, bei denen KandidatInnen bei          Erbrechen der Fernsehfigur Lilly zum
zeigt auch, wie sehr das Äußere die         den Vorbereitungen und der Durch-           Anlass, sich »auch zu erbrechen«, was
Psyche beeinflusst (soziale Isolation       führung eines Dinners von anderen           dann in die Ess-Brech-Sucht führte.
etc.). Es entstanden bei mir Über-          TeilnehmerInnen begleitet und bewer-        Die Bedeutung der regelmäßigen
legungen zur Anmeldung, weil nur            tet werden. Diese Art der Kochsendung       Rezeption von Daily Soaps kann bei
mit Operationen würde ich endlich           kann im Verlauf der Krankheit ganz          Jugendlichen und jungen Erwachse-
den Weg aus der Essstörung finden«          eigene Funktionen übernehmen, wie           nen ganz unterschiedlich ausfallen.
(26-Jährige, Magersucht).                   eine 17-Jährige mit Magersucht be-          Sie reicht von einem distanzierten
                                            schreibt: Ich sah »Kochsendungen (Das       Anschauen oder sogar Dekonstru-
Extrem Schwer – Mein Weg in                 große Backen, Das perfekte Dinner), um      ieren bis hin zu tiefen parasozialen
                                            mich ›satt‹ zu sehen. Sachen, die ich       Beziehungen und der Chance, Gefühle
ein neues Leben und The Biggest
                                            gerne essen würde, aber auf keinen          ausleben zu können, die sie sich sonst
Loser                                       Fall darf, weil ich dann noch fetter        nicht zugestehen (Götz, 2002). Im Fall
– Informationen und »Look-                  werde.« Die Sendung holt Menschen           der Aneignung des Handlungsstrangs
downwards-Prinzip«                          mit Essstörung bei ihrem typischen          »Lilly« bei GZSZ waren es vermutlich
                                            »Kreisen um das Thema Essen« ab,            identifikatorische Prozesse. Die beiden
Bei Extrem Schwer und The Biggest           bietet imaginäre »Ersatznahrung«            jungen Frauen fanden sich vermutlich
­Loser (Sat.1) werden Menschen bei          und stabilisiert damit auf ganz eigene      in der sensiblen und schüchternen Lilly
einem zum Teil als Wettkampf insze-         Weise das krankhafte Handeln: »Als          Seefeld wieder. Die sehr gute Schülerin,
nierten Prozess der Gewichtsreduktion       ich fast vollständig aufgehört habe zu      immer bemüht, das Richtige zu tun, hat
begleitet. Die befragten Frauen (und        essen, habe ich sämtliche Kochsen-          durch ihre schwierige Familiensituation
einige Männer) mit Essstörungen fan-        dungen gesehen, die im (deutschen)          seelisch viel zu tragen, ist unglücklich
den hier diverse konkrete Tipps, wie sie    Fernsehen ausgestrahlt wurden. Ich          verliebt und wird als hässliches Entlein
selbst weiter abnehmen können: »Ich         entwickelte eine absolute Obsession         kaum von anderen wahrgenommen.
habe viel über Gewicht und Ernährung        für alles, was mit dem Thema Essen zu       Vermutlich wurde sie zum idealisierten
gelernt. Aber auch über Bewegung:           tun hat. Selbst heute, wo ich halbwegs      Spiegel, in dem sich die beiden befrag-
Wie viel muss ich joggen, um einen          vernünftig und regelmäßig esse, kann        ten jungen Frauen in ihrem eigenen
Schokoriegel abzubauen?« (18-Jährige,       ich diese nur schwer ablegen« (27-Jäh-      seelischen Leiden wiederfanden und
Magersucht). Dabei empfanden sich           rige, Magersucht).                          dadurch anerkannt sahen. Die Soap
einige der Befragten noch zusätzlich                                                    erzählt glaubhaft von den Konflikten
unter Druck gesetzt: »Weil man sieht,       Gute Zeiten, schlechte Zeiten               der Fernsehfigur Lilly, und als diese
wie die Menschen dort abnehmen:                                                         den Weg wählt, sich 2 Finger in den
                                            – Die Geschichte von Lilly
durch Sport. Darauf folgte dann ein                                                     Hals zu stecken, um eine kalorienreiche
schlechtes Gewissen und der Wunsch,         In 2 Fällen kam es vor, dass die bei jun-   Nahrung, die sie ihrer Mutter zuliebe
auch so abnehmen zu können« (16-Jäh-        gen Zielgruppen viel gesehene Daily         gegessen hatte, wieder loszuwerden,
rige, Magersucht und Ess-Brech-Sucht).      Soap GZSZ (RTL) zum konkreten Anlass        folgen sie ihr in diesem Handlungsmus-
Parallel entstand bei Einzelnen aber        genommen wurde, sich zum ersten Mal         ter. So positiv diese in Beratung mit
auch ein Look-downwards-Effekt,             selbst herbeigeführt zu übergeben.          FachexpertInnen (Dick und Dünn e. V.)
indem sie sich überlegen fühlten und        Dies war dann jeweils auch der Anfang       entwickelte Geschichte zur Aufklärung
dadurch das anorexietypische Gefühl         der mittlerweile diagnostizierten Ess-      und Sensibilisierung auch ist, so kann es
der Handlungsmächtigkeit im Abneh-          Brech-Sucht. Medialer Anlass war ein        in Einzelfällen eben dennoch auch zu
men verstärkten: »Weil ich mir da als       Handlungsstrang mit der Figur Lilly         Nachahmungseffekten kommen.
Magersüchtige natürlich unglaublich         Seefeld, in dem ab Sommer 2012 über         Die medialen Bezüge zu GZSZ, Extrem
stark vorkam. Es hat mich also in           2 Jahre die Problematik der Bulimie         Schön! oder Extrem Schwer etc. sind
meiner Magersucht bestätigt und             erzählt wurde. In der eigentlich zum        dabei Einzelfälle, die aber wichtige
dazu gebracht, dass ich weitermache«        Zwecke der Aufklärung und Sensibi-          Hinweise auf eine mögliche Rolle von
(22-Jährige, Magersucht).                   lisierung angelegten Geschichte fand        Fernsehsendungen im Kontext von Ess-

                                                                                        28/2015/1                            63
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                                       störungen geben. Quantitativ um ein            dies das Zeichen, dass sie noch nicht
                                       Vielfaches häufiger wird jedoch eine           ausscheiden muss. Der Marktanteil
                                       Sendung genannt, die von 39 % der              (MA) bei den 12- bis 22-jährigen Mäd-
                                       hier Antwortenden ungestützt als be-           chen und jungen Frauen liegt je nach

                                                                                                                                  © picture alliance/dpa
                                       sonders beeinflussend für ihre eigene          Staffel um die 40 % (Abb. 3). Seit Jahren
                                       Krankheit bezeichnet wird: Germany’s           findet sich die Sendung in den Jahres-
                                       Next Topmodel.                                 hitlisten dieser Altersgruppe und 75 %
                                                                                      der Topmodel-Seherinnen unterhalten
                                                                                      sich am nächsten Tag mit der Freun-
                                                                                                                                                           Abb. 2: Der richtige »Walk« ist ein
                                       Germany’s Next Topmodel                        din über die Sendung (Götz & Gather,                                 zen­trales Element in GNTM (hier: Entschei-
                                       – Normen, Ideale und der                       2013). Heidi Klum ist bei Kindern und                                dungsshow 2014)
                                       ständige Druck, selbst                         Jugendlichen die beliebteste Medienfi-
                                                                                      gur 2014 (Trend Tracking Kids, 2014). Sie
                                       schuld zu sein
                                                                                      hat bei Jugendlichen einen sehr hohen                                GNTM stellt wie keine andere Sendung
                                       Die Sendung Germany’s Next Topmodel Bekanntheitsgrad und insbesondere                                               junge Frauen und ihre Entwicklung in
                                       (GNTM) ist eine Castingshow, die seit Castingshow-VielseherInnen haben                                              den Mittelpunkt, und zwar unabhängig
                                       2006 jedes Jahr 3 bis 4 Monate bei Pro7 das Gefühl, von ihr könne man lernen,                                       von romantischen Beziehungen. Die
                                       gesendet wird. Die Formatrechte für wie man Kritik übt. Sie hätten sie auch                                         Sendung bietet diverse Typen als Identi-
                                       Topmodel gehören dem US-amerikani- gerne als Mentorin und gut die Hälfte                                            fikationspersonen an, die vor Herausfor-
                                       schen Medienkonzern CBS Corporati- hätte Heidi Klum sogar gerne als Mutter                                          derungen in einem für die Altersgruppe
                                       on, der die Sendung in über 40 Länder (Götz, Bulla & Mendel, 2012).                                                 hoch attraktiven Setting und an attrakti-
                                       verkaufen konnte. Nun bereits in der In der hier vorgestellten Studie sticht                                        ven Orten spielt. Durch den Wettkampf-
                                       zehnten Staffel ist in Deutschland Heidi die Sendung GNTM in allen Fragen                                           und Bewertungscharakter der Sendung
                                       Klum die Hauptmoderatorin. Sie ist die als besonders bedeutsam heraus. Auf                                          entsteht Spannung und gleichzeitig die
                                       zentrale Figur der Jury, agiert als Traine- die offene Frage, ob es eine Sendung                                    Chance, selbst mitzuraten, zu bewerten
                                       rin und ist das personifizierte Vorbild gebe, die das Schönheitsideal der Ge-                                       und in Peergroup und Familie über die
                                       für die Kandidatinnen. In der Sendung sellschaft widerspiegele, nennen 83 %                                         Kandidatinnen »abzulästern«. Dadurch,
                                       selbst werden aus über 10.000 Bewer- ungestützt (!) GNTM. Gut drei Viertel                                          dass die Kandidatinnen in der Sendung
                                       berinnen zunächst fast zwei Dutzend der Befragten sehen die Sendung, viele                                          weit über die Grenzen des bisher Be-
                                       junge Frauen ausgewählt, die im Verlauf seit über 5 Jahren, zum Teil bereits seit                                   kannten hinausgehen müssen, werden
                                       der Show auf 3 Finalistinnen reduziert der Grundschule. Es ist das Format,                                          auch die jungen ZuschauerInnen heraus-
                                       werden. In jeder Sendung müssen sich das die eigene Krankheit am häufigs-                                           gefordert, selbst zu überlegen, wie sie in
                                       die Kandidatinnen Herausforderun- ten »sehr stark« beeinflusst hat und                                              dieser Situation gehandelt hätten. Dies
                                       gen stellen und sich bei »Castings« die große Mehrheit (85 %) stimmt der                                            sind Formen der Identitätsarbeit, bei de-
                                       und »Foto­shootings« beweisen. Den Aussage zu, dass GNTM Essstörungen                                               nen bereits in früheren Erhebungen der
                                       Höhepunkt stellt jeweils der einzeln wie Magersucht und Bulimie verstär-                                            dringende Verdacht aufkam, es handle
                                       präsentierte »Livewalk« (Abb. 2) vor ken kann.                                                                      sich hierbei eher um Identitätsarbeit
                                       der Jury dar. Überreicht Heidi Klum Was macht GNTM für Mädchen und                                                  mit Fallstricken (Götz & Gather, 2013).
                                       der Kandidatin am Ende ein Foto, ist junge Frauen mit einem Risiko für                                              Denn scheinbar sind die Kandidatinnen,
                                                                                                          Essstörungen so                                  respektive Zuschauenden, durchaus
                                                                                                          gefährlich? Warum                                handlungsmächtig und können sich
                                                                                                          hat – bei aller Macht                            durch Selbstbekenntnis, Selbstexplora-
menarbeit mit der GfK/TV Scope 5.1/media
© media control GmbH, © AGF in Zusam-

                                                                                                          der Auswahl, Inter-                              tion und Selbstmodellierung (Thomas,
                                                                                                          pretation und An-                                2007) gestalten. Gestaltungsobjekt ist
                                                                                                          eignung der Inhalte                              dabei der eigene Körper, Orientierung
                                                                                                          (Mikos, 2008) – diese                            und Wertmaßstab sind aber nicht etwa
                                                                                                          Sendung solch eine                               Individualität oder Lebensglück, sondern
                                                                                                          Wirkungskraft?                                   neoliberale Werte des Markt­erfolgs.
control GmbH

                                                                                                          Es sind zunächst                                 Junge Frauen werden zu »Unternehme-
                                                                                                          die Punkte, die die                              rinnen ihrer selbst« (zusammenfassend
                                                                                                          Sendung für viele                                Stehling, 2015), wobei es stets nur um
                                       Abb. 3: Einschaltquoten von GNTM nach Staffeln                     Mädchen-Fans                                     den untergewichtigen Körper und seine
                                                                                                          attraktiv macht: 5                               Präsentation und die Anpassung an die

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FORSCHUNG

Werte anderer geht. Dies spiegelt sich                                                                                  Spiegel und erzählen, sie seien hier und
auch in den Aussagen der jungen Frauen,                                                                                 da zu dick, sehen die jungen Frauen vor
die durch das Format ihre Krankheit als                                                                                 dem Fernseher mit erhöhter Aufmerk-
verstärkend erlebt haben, wider.                                                                                        samkeit auf den eigenen Körper und
                                                                                                                        entdecken an ihrem eigenen Körper
GNTM setzt unerreichbare                                                                                                noch mehr unzureichende Stellen.
Normen
                                                                                                                        Sich anpassen
»Ein vermeintlich perfektes Äußeres wird als
das Allerwichtigste dargestellt; nur wer dünn                                                                           »Dafür muss ich nur noch abnehmen.«
ist, kommt eine Runde weiter und gehört                                                                                 (14-Jährige, Magersucht)
                                                © picture alliance/dpa

dazu.« (19-Jährige, Magersucht)
                                                                                                                        Aufbauend auf einem überkritischen
Die Sendung stellt Äußerlichkeiten                                                                                      Verhältnis zum eigenen Körper, der
ins Zentrum von Erfolg und Anerken-                                                                                     Idealisierung sehr dünner Körper
nung. Dabei inszeniert die Sendung                                                                                      folgend und sich im Vergleich dazu
                                                                         Abb. 4: Für Mädchen besonders attraktiv:
ausschließlich körperliche Ausnah-                                                                                      als defizitär betrachtend, beschreibt
                                                                         vom schüchternen Mädchen aus Ostfries-
meerscheinungen junger Frauen mit                                        land zum Topmodel: Luisa Hartema               eine ganze Reihe der Mädchen, wie
einem Mindestmaß von 1,72 m und                                                                                         sie versuchten, sich dem inszenierten
einer maximalen Kleidergröße 36. Es                                                                                     Fernsehideal anzunähern. Das zentrale
werden »massenhaft schöne, perfekte                                                                                     Erzählmuster der Sendung: Es ist nur
Mädchen auf einem Haufen gezeigt, die                                    wie diese Mädchen auszusehen, und ist          eine Frage der Disziplin, vor allem der
alles fürs Schönsein geben« (17-Jährige,                                 gleichzeitig auch irgendwie sauer auf          emotionalen, aber auch der Essdisziplin.
Magersucht). Dies verzerrt den Blick für                                 sich selbst, nicht diese Willensstärke         Die jungen Frauen vor dem Fernseher
die Realität und die reale Vielfalt von                                  zu haben oder den Ehrgeiz« (17-Jährige,        beobachten nun ganz genau, »wenn die
Körpermaßen, in denen der Mensch                                         Ess-Brech-Sucht). Die unhinterfragten          Models Essen zubereiten« (17-Jährige,
an sich vorkommt. Es entsteht »das                                       Normen und die vielen körperlichen             Magersucht), wie viel und was die Kan-
Gefühl, es gibt so viele tolle, dünne,                                   Ausnahmeerscheinungen lassen bei               didatinnen essen. Wird eine Kandidatin
disziplinierte Mädchen, die damit etwas                                  den Befragten den Eindruck entstehen,          für ihr Naschen oder dafür, dass sie
erreichen und vor allem toll aussehen!«                                  es läge nur an ihnen, sich der scheinba-       Pommes gegessen hat, ermahnt und
(17-Jährige, Magersucht). Aussehen – in                                  ren Normalität anzupassen.                     beim nächsten Shooting als Versagerin
absoluten Ausnahmeerscheinungen –                                                                                       inszeniert, wirkt dies auch nachhaltig
wird mit Erfolg und Lebensglück gleich-                                  Sich vergleichen                               disziplinierend auf die jungen Frauen
gesetzt und so zum Normalfall und                                                                                       vor dem Fernseher. Am schwierigsten
absolut erstrebenswerten Ziel (Abb. 4).                                  »Da die Frauen alle extrem schlank waren,      wurde es, wenn die Kandidatinnen (oder
                                                                         vergleiche ich mich mit ihnen öfters. So hat
Es entsteht die Logik: »Jeder, der nicht                                                                                Heidi Klum) kalorienreiche Nahrung
                                                                         auch meine Krankheit angefangen.« (14-Jäh-
mindestens so aussieht, ist hässlich, un-                                rige, Magersucht)                              aßen und die jungen Frauen vor dem
zulänglich und dick! Dadurch entstehen                                                                                  Fernseher für sich frustriert feststellen
starke Minderwertigkeitskomplexe«                                        Es beginnen Vergleichsprozesse, be-            mussten: »Was die trotzdem manchmal
(18-Jährige, Magersucht).                                                sonders in Situationen, in denen kör-          essen und ich von so wenig zunehme«
                                                                         perbetonte Kleidung getragen wird. Je          (17-Jährige, Magersucht).
Der Wunsch, auch so                                                      »mehr Haut gezeigt wurde und wenn              Der Frust, das Unwohlsein und die
                                                                         es um sexy Bilder ging, also Wert auf          Minderwertigkeitsgefühle, die während
auszusehen
                                                                         Proportionen gelegt wird« (16-Jähri-           der Rezeption entstehen, führen jedoch
»Weil man gerne so aussehen würde, wie                                   ge, Magersucht), desto mehr fühlen             (leider) nicht dazu, einfach abzuschalten
die Models, und dann abnimmt und dann                                    viele der Befragten sich zum Vergleich         oder Rezeptionsmuster voller Wider-
in die Krankheit reingerät.« (16-Jährige,
                                                                         aufgefordert. Dieser Vergleich ist dann        stand gegen die Eigenlogik der Sendung
Magersucht)
                                                                         zum Teil deutlich auf einzelne Körper-         zu entwickeln. Gerade bei leistungsstar-
In den Beschreibungen der Bedeutung                                      teile wie ein »flacher Bauch« fokussiert       ken, anpassungsbereiten Mädchen, die
von GNTM im Kontext der eigenen Ess-                                     oder dreht sich um Fragen wie »Wie             viel Energie für die Optimierung bis
störung ist eine typische Ausprägung                                     genau kann man Knochen sehen, wie              hin zum Perfektionismus aufbringen
der Wunsch, auch »so auszusehen«                                         schlank scheinen die Arme zu sein?«            können – also typische Kennzeichen
(17-Jährige über ihre anorektische Pha-                                  (29-Jährige, Magersucht). Stehen die           essstörungsgefährdeter Menschen –,
se). »Dann wünscht man sich, genauso                                     Kandidatinnen in der Sendung vor dem           entwickelt sich typischerweise eine

                                                                                                                        28/2015/1                            65
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andere Logik. Eine 18-Jährige mit Ma-             den Problem kann dann leicht eine          führen. Entsprechend verwundert es
gersucht beschreibt prototypisch:                 Eigendynamik entwickeln, sodass es         nicht, dass 70 Patientinnen dieser Be-
»Viele der Mädchen, die bei Germany’s Next        zur Abspaltung der negativen Gefühle       fragung der Sendung Germany’s Next
Topmodel mitmachen, sind einfach so dünn          oder der emotional belastenden Le-         Topmodel einen »sehr starken Einfluss«
(wahrlich nicht alle, aber dennoch einige),       bensereignisse kommen kann. Doch           und weitere 72 immerhin noch »etwas
machen nicht extrem viel Sport oder achten
                                                  die abgespaltenen Gefühle und Erleb-       Einfluss« auf ihre Krankheit bescheini-
extrem auf ihre Ernährung. Da kam bei mir
die Frage auf, warum bin ich dann nicht so?       nisse sind durch die Verdrängung nicht     gen. Denn Menschen suchen sich das
Ich kam schnell zu der Einsicht, dass mich die-   verschwunden, sondern schlummern           symbolische Material, in dem sie ihre
se Frage nicht weiterbringt, und habe (nicht      vielmehr weiter unter der Oberfläche       handlungsleitenden Themen finden
nur deswegen!) angefangen abzunehmen,             (s. Lahusen in dieser Ausgabe).            und sich und ihre Identität weiterent-
extrem viel Sport zu machen. In meinem
                                                  Treffen diese Mädchen und jungen           wickeln können. GNTM wird zur Iden-
Kopf war/ist fest verankert: Wenn ich dünn
bin, dann ist alles einfacher. Das ganze Leben.   Frauen in einer solchen Krise auf die      titätsarbeit eingesetzt. Gerade wenn
Was ja auch in gewisser Weise wahr ist. Ich       Sendung GNTM, akzeptieren sie nicht        die jungen Frauen dann bestimmte
möchte sagen, ich bin nicht wegen GNTM            nur die Werte und die unerreichbare        Persönlichkeitsprofile haben und sich
magersüchtig geworden, dennoch hat es             Norm, sondern empfinden sich als           von dem Konzept »Unternehmerin
eine Rolle gespielt. Und heute schaue ich es      minderwertig und entwickeln den star-      ihrer selbst« angesprochen fühlen,
bewusst NICHT mehr an! Denn es würde die
Magersucht wieder so richtig pushen.«             ken Wunsch, sich dieser scheinbaren        kann der Weg der Selbstoptimierung
                                                  Normalität anzupassen: Denn in GNTM        des eigenen Körpers und Verhaltens
                                                  sind Erfolg und Anerkennung mit be-        sie in eine schwere psychosomatische
Das Krankmachende in der                          dingungsloser Anpassung verbunden.         Störung führen.
Logik von GNTM                                    Jede Anforderung, jedes Casting, jede
                                                  Challenge, jedes »Sich-von-Fremden-
Die besondere Wirksamkeit der Sen-                körperlich-gestalten-Lassen« ist voller    Konsequenzen
dung für Mädchen und Frauen mit                   Begeisterung anzunehmen und es muss
Prädisposition für Essstörungen liegt             alles »für den Kunden« bzw. Heidi          Mindest-BMI, mehr Vielfalt und
noch auf einer tieferen Ebene. Denn               Klum gegeben werden. Wahrnehmun-           höhere Sensibilität auch bei
was die Befragten trotz aller Offenheit           gen von eigenen Empfindungen wie           GNTM
und Reflektiertheit im Rahmen der hier            Müdigkeit und Kälte oder Gefühle wie
gewählten Methode nicht in derselben              Scham, Ekel, Wut oder Angst müssen         Wir gaben den Befragten die Chance,
Kürze berichten können: Sie befanden              unterdrückt und vom Handeln ent-           selbst Konsequenzen an die Medien-
sich zu Beginn der Essstörung in einer            koppelt werden. Anerkennung gibt es        industrie zu formulieren. Insgesamt
Krisensituation. Denn bei dieser psy-             nur für die Verdrängung. Das System        fordern sie ein breiteres Spektrum
chosomatischen Erkrankung steht                   zu stören oder sich hier gar kritisch zu   an Körperlichkeiten und natürlichen
selten das angestrebte Schönheitsideal            äußern, führt, wenn es nicht zufällig      Menschen in den Medien, deren Bilder
im Zentrum des eigentlichen Problems.             der Attraktivität der Sendung dient,       nicht durch Photoshop verändert wer-
Es geht um tiefe Krisen und Unsicher-             zum vorprogrammierten Ausschluss.          den. Mehrfach kam auch der Wunsch
heiten, Erlebnisse oder Lebenssitua-              Sendung und Krankheit haben also           nach »mehr Aufklärung über Essstö-
tionen, die den Betroffenen als nicht             nicht nur auf der Oberfläche von           rungen, keine Verteufelung von Leuten,
bewältigbar erscheinen. Um trotz der              Schönheitsnorm und Körperzentrie-          die eine haben« (16-Jährige, Mager-
Machtlosigkeit gegenüber den äußeren              rung eine sehr ähnliche Grundlogik:        sucht) auf. Neben dokumentarischen
Geschehnissen ihre Handlungsfähig-                Das erstrebenswerte Ziel ist es, die ei-   Formen sind fiktionale Erzählformen
keit aufrechtzuerhalten, verlagern die            gentlichen Wahrnehmungen, Gefühle          hier sicherlich ein lohnenswerter Weg.
Betroffenen ihre Wahrnehmung von                  und Bedürfnisse zurückzustellen, um        Die besondere Herausforderung dabei
den inneren Welten auf die äußeren                sich perfekt an die Anforderungen          wird immer der Balanceakt zwischen
Bereiche Körper und Essen. Durch die              und Normen anderer anzupassen und          Verständniswecken und der Anleitung
Manipulation des Gewichts können                  sie in ihrem Anliegen nicht zu stören.     zum krankhaften Umgang mit den
sie sich als weniger wertlos empfinden            Wird dieses implizite Grundmuster          eigenen Problemen bleiben.
und versuchen gewissermaßen, wieder               der Sendung zur Handlungsmaxime,           Bezüglich der Sendung GNTM reichen
handlungsmächtig zu werden – wenn                 kann es in einer Identitätskrise und bei   die Vorschläge von der Forderung, die
schon nicht gegenüber der äußeren                 entsprechenden psychischen Disposi-        »Sendung Germany‘s Next Topmodel
Welt, dann wenigstens gegenüber                   tionen wie Leistungsbereitschaft, An-      einzustellen, in der der Wettkampf
sich selbst. Dieser ungesunde Weg                 passungsbereitschaft oder einem Hang       um einen unmenschlich ›perfekten‹
des Umgangs mit einem tiefer liegen-              zum Perfektionismus in die Krankheit       Körper auf unwürdige Weise insze-

66                              28/2015/1
FORSCHUNG

niert wird« (32-Jährige, Magersucht),      Magersucht). Daraus abgeleitet entsteht                        Harrison, Kristen (2013). Media, body image, and eat­
über die Bitte, die Kandidatinnen          die konkrete Forderung nach einem                              ing disorders. In Dafna Lemish (Hrsg.), The Routledge
                                                                                                          International Handbook of Children, Adolescents and
menschenwürdiger zu behandeln und          Mindest-BMI (für Models und Schau-                             Media (S. 224-231). London & New York: Routledge.
nicht für jeden kleinen Fehltritt zu       spielerinnen) und dass »›Size Zero‹                            Hawkins, Nicole, Richards, P. Scott, Granley, H. Mac
kritisieren. Aus Sicht der Rezeptions-     vom Markt verschwindet!« (17-Jährige,                          & Stein, David M. (2004). The impact of exposure to
                                                                                                          the thin-ideal media image on women. Eating disor-
forschung wäre mehr Sensibilität im        Magersucht). Denn kranke Körper zu                             ders,12(1), 35-50.
Umgang mit Kritik an den Körpern der       idealisieren, bedeutet, Krankheit zu                           Iconkids & Youth (2014). Trend Tracking Kids®. Ergeb-
Kandidatinnen zentral. Eine vermehrte      verherrlichen.                                                 nisse zu High Interest Themen bei 6- bis 19-jährigen
                                                                                                          Kindern und Jugendlichen in Deutschland. München:
Wertschätzung von Individualität und                                                                      Iconkids & Youth.
Eigenwilligkeit (auch gegenüber Heidi       ANMERKUNGEN                                                   Kiehl, Katrin (2010). Risikofaktoren für Essstörungen
                                                                                                          unter besonderer Berücksichtigung medialer Einfluss-
Klum) wäre ein Zeichen von Qualität.                                                                      faktoren. Abrufbar unter: http://epub.uni-regensburg.
                                            1
                                                Interviewerhebung mit 45 Frauen mit Essstörungen
Zudem wäre eine gezielte Kontextua-             von 2003/2004                                             de/19703/1/Dissertation_Katrin_Kiehl.pdf [02.04.15]
lisierung für die ZuschauerInnen hilf-      2
                                                Interviewerhebung mit 14 Frauen mit Magersucht            KiGGS (2006). Studie zur Gesundheit von Kindern und
                                                                                                          Jugendlichen in Deutschland. Abrufbar unter: http://
reich, wodurch vermittelt wird, dass es     3
                                                	Der Kontakt wurde über Mitglieder des Bundesfach­        www.kiggs.de/ [02.04.15]
sich bei den Kandidatinnen um körper-            verbandes, meist TherapeutInnen und ÄrztInnen der
                                                                                                          Märschel, Sarina (2007). Welchen Hunger stillen Medi­
                                                 Erkrankten hergestellt. Die Erhebung fand zwischen
liche Ausnahmeerscheinungen handelt              November 2014 und Februar 2015 statt.                    en? Funktionen von Medien im Leben von Frauen mit
                                                                                                          Essstörungen. In Senta Pfaff-Ruediger & Michael Meyen
und dass die geforderten Anpassungs-        4
                                                Weitere 7 an der Befragung Teilnehmende mit Adi­          (Hrsg.), Alltag, Lebenswelt und Medien. Qualitative
und Verdrängungsmechanismen show-               positas werden bei den vorgestellten Ergebnissen          Studien zum subjektiven Sinn von Medienangeboten
                                                quantitativ und qualitativ nicht weiter berücksichtigt.   (S. 125-150). Münster: LIT.
bzw. businessspezifisch sind und nicht      5
                                                	Abgefragt wurden die Gebrauchswerte der Sendung          Mikos, Lothar (2008). Film- und Fernsehanalyse. 2. Auf-
unbedingt gesundheitsfördernd. Eine              in Rezeption und Aneignung, Items, die auch als          lage. Stuttgart: UVK.
                                                 Vergleichswerte aus einer Repräsentativstudie zu
einfließende Aufklärung zum Thema                »GNTM-SeherInnen allgemein« (Götz & Gather,              Stehling, Miriam (2015). Die Aneignung von Fernseh-
Magersucht wäre zudem thematisch                 2013) zur Verfügung standen.                             formaten im transkulturellen Vergleich. Eine Studie am
                                                                                                          Beispiel des Topmodel-Formats. Wiesbaden: Springer.
passend und wäre, gerade weil die
                                                                                                          Swanson, Sonja A., Crow, Scott J., Le Grange, Daniel,
Sendung viele Mädchen in einem sen-         LITERATUR                                                     Swendsen, Joel & Merikangas, Kathleen R. (2011). Pre­
siblen Alter erreicht, ein Zeichen von                                                                    valence and correlates of eating disorders in adol­
                                                                                                          escents: Results from the national comorbidity survey
Verantwortung.                              Baumann, Eva (2009). Die Symptomatik des Me-                  replication adolescent supplement. Archives of Gener­
                                            dienhandelns. Zur Rolle der Medien im Kontext der             al Psychiatry, 68(7), 714-723.
Von einer Befragten wird eine gezielte      Entstehung, des Verlaufs und der Bewältigung eines
                                                                                                          The McKnight Investigators (2003). Risk factors for the
Förderung der Medienkompetenz ein-          gestörten Essverhaltens. Köln: Herbert von Halem.
                                                                                                          onset of eating disorders in adolescent girls: results of
gefordert, ein Ansatz, der aus Sicht der    Bell, Beth Teresa & Dittmar, Helga (2011). Does media         the McKnight longitudinal risk factor study. American
                                            type matter? The role of identification in adolescent         Journal of Psychiatry, 160, 248-253.
Medienpädagogik sehr zu unterstützen        girls’ media consumption and the impact of different
                                                                                                          Thomas, Tanja (2007). Showtime für das »unter­
ist. Es wäre eine Chance, Sendungen         thin-ideal media on body image. Sex roles, 65(7-8),
                                                                                                          nehmerische Selbst«. Reflexion über Reality-TV als
                                            478-490.
wie GNTM für medienpädagogische                                                                           Vergesellschaftungsmodus. In Lothar Mikos (Hrsg.),
                                            Cafri, Guy, Yamamiya, Yuko, Brannick, Michael &               Mediennutzung, Identität und Identifikation. Die So-
Einheiten zu nutzen, um sich mit den        Thompson, J. Kevin (2005). The Influence of Sociocul­         zialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungspro-
Körperbildern in den Medien ausei-          tural Factors on Body Image: A Meta‐Analysis. Clinical        zess der Jugendlichen. Weinheim: Juventa.
                                            Psychology: Science and Practice, 12(4), 421-433.
nanderzusetzen oder durch kritische
                                            Derenne, Jennifer L. & Beresin, Eugene V. (2006). Body
Medienanalysen die Inszeniertheit von       image, media, and eating disorders. Academic Psy­             DIE AUTORINNEN
Castingshows zu verstehen. Wenn es          chiatry, 30, 257-261.

Jugendlichen gelänge, das Konzept der       Götz, Maya & Gather, Johanna (2013). Ich habe
                                            heute leider kein Foto für dich. Die Faszination
»Unternehmerin ihrer selbst« (u. a.         Germany’s Next Topmodel. In Maya Götz (Hrsg.), Die
                                            Fernsehheld(inn)en der Mädchen und Jungen. Ge-
Thomas, 2007) zu durchdringen und           schlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen
den eigenen Weg zwischen neolibe-           (S. 473-529). München: kopaed.
raler Selbstoptimierung, Achtsamkeit        Götz, Maya (Hrsg.) (2002). Alles Seifenblasen? Die Be-
                                            deutung von Daily Soaps im Alltag von Kindern und
und Ausformung der Individualität zu        Jugendlichen. München: kopaed.
finden, wäre dies auch eine präventive      Götz, Maya & Herche, Margit (2013). Wespentaille und
Maßnahme zur Vorbeugung von Ess-            breite Schultern. Der Körper der »globalen« Mädchen-
                                                                                                           Maya Götz, Dr. phil., ist Leiterin des
                                            und Jungencharaktere in animierten Kindersendungen.            IZI und des PRIX JEUNESSE INTERNA­
störungen.                                  In Maya Götz (Hrsg.), Die Fernsehheld(inn)en der Mäd-          TIONAL, München.
Das Wichtigste für viele Befragte mit       chen und Jungen. Geschlechterspezifische Studien
                                            zum Kinderfernsehen (S. 63-79). München: kopaed.               Caroline Mendel, M.A. Soziologie,
einer Essstörung ist aber: »Hört auf                                                                       Psychologie und Ethnologie, und
                                            Götz, Maya, Bulla, Christine & Mendel, Caroline (2012).
zu propagieren, dass es ›normal‹ sei,       »Bestimmt ein tolles Erlebnis!« Repräsentativbefra­            Sarah Malewski, B.A. Kommunika­
wie Models auszusehen, und jeder mit        gung von 6- bis 17-Jährigen zu ihren Vorstellungen
                                                                                                           tionswissenschaft, Pädagogik und
                                            vom »Erlebnis-Castingshowteilnahme«. LfM-Doku-
mehr Gewicht nicht den gesellschaft-        mentation Band 49. Abrufbar unter: https://www.lfm-            Betriebswirtschaftslehre, sind freie
lichen Normen entspricht, denn es           nrw.de/fileadmin/lfm-nrw/Publikationen-Download/
                                                                                                           Mitarbeiterinnen am IZI, München.
                                            LfM_Doku49_web.pdf [22.04.15]
sollte andersherum sein« (18-Jährige,

                                                                                                          28/2015/1                                             67
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