"DAFÜR MUSS ICH NUR NOCH ABNEHMEN" - DIE ROLLE VON GERMANY'S NEXT TOPMODEL UND ANDEREN FERNSEHSENDUNGEN BEI PSYCHOSOMATISCHEN ESSSTÖRUNGEN

 
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FORSCHUNG

»Dafür muss ich nur noch
abnehmen«
Die Rolle von Germany’s next topmodel und anderen
Fernsehsendungen bei psychosomatischen Essstörungen
Maya Götz/Caroline Mendel/Sarah Malewski

In einer IZI-Studie wurden 241 Men-         dünner als die Durchschnittsfrau, sind      in die Essstörung verstärkt. Die Hin-
schen (vorwiegend Mädchen und               sie mittlerweile um rund 23 % schmaler      tergründe für die Entwicklung schwer
junge Frauen), die wegen einer Ess-         (Derenne & Beresin, 2006). Die Folge:       psychosomatischer Ausprägungen ei-
störung in therapeutischer Behand-          Nur schätzungsweise 4 % aller Frauen        ner Essstörung sind deutlich komplexer
lung sind, befragt, ob bzw. welche          wären aufgrund ihrer körperlichen           als der Wunsch, einem inneren, viel
Fernsehsendungen einen Einfluss auf         Möglichkeiten überhaupt in der Lage,        zu dünnen Ideal zu genügen (s. auch
ihre Krankheit haben.                       dem aktuellen Schlankheitsideal zu          Lahusen in dieser Ausgabe).
                                            entsprechen. Letztendlich entspricht        Es sind vielmehr subjektiv-sinnhafte
Essstörungen gehören in den westli-         nur eine von 40.000 Frauen in Größe,        Prozesse der Medienrezeption und -an-
chen Industrieländern zu den häufigs-       Figur und Gewicht den Anforderungen         eignung, die in die Lebensbewältigung
ten psychosomatischen Erkrankungen          eines professionellen Models (Hawkins       und Alltagsgestaltung eingebunden
von Mädchen und jungen Frauen. Nur          et al., 2004). Die Darstellung über-        sind (vgl. Mikos, 2008). Studien mit
jedes dritte Mädchen zwischen 13 und        schlanker Mädchen und Frauen be-            Menschen mit einer Essstörung, die der
19 Jahren kann von sich sagen, es fühle     ginnt bereits in den Kindermedien. In       Bedeutung von Fernsehen im Kontext
sich gar nicht zu dick, bei jedem dritten   Zeichentricksendungen beispielsweise        von Essstörungen im Detail nachgehen,
Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren           haben 3 Viertel der Mädchenfiguren          gibt es bisher nur wenige. Sie zeigen,
gibt es Hinweise auf Essstörungen           einen Körper, der dünner ist als der        dass Fernsehen Teil des alltäglichen
(KiGGS, 2006). Gut 2 von 100 Mäd-           von Barbie und der auf natürlichem          Handelns und in Beginn und Verlauf
chen haben eine schwere psychoso-           Wege überhaupt nicht zu erreichen ist       der Krankheit integriert ist. So fühlen
matische Krankheit wie Magersucht,          (Götz & Herche, 2013).                      sich junge Frauen insbesondere in der
Bulimie oder Binge-Eating entwickelt.       Sehen Mädchen diese Bilder von              Entstehungsphase der Krankheit ge-
Hinzu kommt noch einmal etwa die            Körpern, die sie selbst nie erreichen       genüber dem dünnen Schönheitsideal
doppelte Zahl an Essstörungen, die sich     werden, ist in experimentellen Studien      der Medien oft unterlegen, hilflos und
nicht eindeutig einer der Hauptformen       nachweisbar, dass bei einigen Mädchen       von den Bildern gefangen. Im Verlauf
zuordnen lassen (Swanson et al., 2011).     die Zufriedenheit mit dem eigenen           der Krankheit holen sie sich dabei
Die Hintergründe der jeweiligen Krank-      Körper spontan zurückgeht (z. B. Bell &     durchaus auch Anleitungen, wie sie
heit sind komplex. Sie äußert sich im       Dittmar, 2011). Entscheidend dabei          ihr Gewicht manipulieren können,
Essverhalten, das, vereinfacht gesagt,      ist, inwieweit Mädchen und Frauen           nutzen es als Flucht oder als Infor-
manipuliert wird, damit sich die Be-        das Ideal eines sehr dünnen Körpers         mations- und Vergleichsquelle, wenn
troffenen nicht mehr so minderwertig        internalisiert haben (Harrison, 2013).      etwas über ihre Krankheit berichtet
fühlen (s. Lahusen in dieser Ausgabe).      Körperunzufriedenheit wiederum ist          wird. In der Phase der aktiven Be-
Gut belegt ist, dass Medien Frauen          ein nachgewiesener Risikofaktor für         wältigung der Essstörung spielen die
überwiegend mit einem sehr schlanken        Essstörungen (The McKnight Investi-         Enttarnung der Medienstereotypen
Körper abbilden (zusammenfassend            gators, 2003; Cafri et al., 2005). Es ist   und die Abgrenzung gegenüber den
z. B. Kiehl, 2010). Über die Jahrzehnte     hierbei kein einfacher Reiz-Reaktions-      untergewichtigen Schönheitsbildern,
sind die Foto- und Laufstegmodels           Mechanismus, durch den die mediale          dem »Diätenterror« und den wider-
dabei immer dünner geworden. Waren          Überhöhung von untergewichtigen             sprüchlichen Werbebotschaften eine
vor 30 Jahren Fotomodels nur ca. 8 %        Foto- und Laufstegmodels den Weg            deutlichere Rolle (Baumann, 20091).

                                                                                        28/2015/1                           61
FORSCHUNG

Bei der Fernsehnutzung entwickeln                                                                     Die Bedeutung von bestimmten                 als Ausgleich zur psychosomatischen
sich also u. a. essstörungsspezifische                                                                Fernsehsendungen bei der Ent-                Störung, damit sich die Betroffenen
Motive. Sendungen dienen als Motiva-                                                                  stehung von Essstörungen                     zumindest kurzzeitig besser fühlten.
tion, Anerkennung und Rechtfertigung                                                                                                               In einer Reihe von Fällen wurden
für das eigene Handeln, aber auch als                                                                 Bei der Hälfte der Befragten lag der Be-     Fernsehsendungen aber auch zum
Informationsquelle für Tipps und als                                                                  ginn der Essstörung im Alter zwischen        Trigger, mit dem sich die Dynamik der
Anleitung zur Optimierung des essge-                                                                  12 und 15 Jahren, bei einem weiteren         Krankheit erst richtig entwickelte. Als
störten Verhaltens. Fernsehen kann als                                                                Fünftel zwischen 16 und 17 Jahren.           Sendungstitel wird ungestützt vor al-
Ersatz oder Ergänzung einer Therapie                                                                  Wie die meisten Jugendlichen sahen           lem eine Sendung genannt: Germany’s
dienen und schafft manchmal Räume,                                                                    sie auch in dieser Zeit Fernsehen. Die       Next Topmodel (Pro7). Mit deutlichem
um zumindest zeitweise nicht über                                                                     mit Abstand meistgesehenen Sendun-           Abstand folgen Sendungen wie Ex­
das Thema »Essen« nachdenken zu                                                                       gen waren Germany’s Next Topmodel            trem Schön!, Extrem Schwer (beide
müssen (Märschel, 20072). Bisher fehlen                                                               (GNTM) und die Daily Soap Gute Zei­          RTL2) oder Kochsendungen (Abb. 1).
Studien, die der Bedeutung einzelner                                                                  ten, schlechte Zeiten (GZSZ), was dem        Zunächst ein Blick auf die weiteren
Formate im Kontext der Krankheit                                                                      Trend in der Altersgruppe entspricht.        Fernsehsendungen, die im Kontext
nachgehen und durch eine breiter                                                                      Gesprächsthema mit den FreundInnen           der Krankheit unterschiedliche Funk-
angelegte Stichprobe auch eine quanti-                                                                waren insbesondere Castingshows,             tionen aufwiesen.
tative Einschätzung ermöglichen. Hier                                                                 allen vorweg GNTM.
setzt die vorgestellte Studie an und                                                                  Die Frage, ob es eine Fernsehsendung         Extrem Schön! – Endlich ein
geht der Rolle der Medien und insbe-                                                                  gab, die sie in besonderer Weise be-
                                                                                                                                                   neues Leben
sondere einzelner Fernsehsendungen                                                                    einflusst hat, bestätigen fast 3 Viertel
bei Essstörungen aus der Perspektive                                                                  (71 %) der Antwortenden. Fernsehsen-         – Sich überlegen fühlen, aber
der Betroffenen nach.                                                                                 dungen spielen also nicht immer eine         auch Druck, denn alles ist
                                                                                                      bedeutsame Rolle. Wenn dies aber der         möglich
                                                                                                      Fall war, so wird aus den qualitativen
Die Studie                                                                                            Aussagen zur Frage, wie die Sendung          In der Makeover-Sendung Extrem
                                                                                                      die Krankheit beeinflusst hat, deutlich:     Schön! wird eine Person begleitet,
In Zusammenarbeit mit dem Bundes-                                                                     Die Sendung wurde meist als Verstär-         die Schönheitsoperationen an sich
fachverband Essstörungen e. V. (BFE)                                                                  kung der eigenen krank machenden             vornehmen lässt. Gezeigt werden
führte das IZI eine Befragung von                                                                     Gedanken beschrieben. Sie trugen             alle Details, die als zur Veränderung
akut von Essstörungen Betroffenen                                                                     dazu bei, sich noch minderwertiger           notwendig angesehen werden – von
durch. Anonyme Fragebogen mit                                                                         zu fühlen, und zeigten auf, wie sich das     schlechten Zähnen bis zu herabhän-
zumeist offenen Fragen boten Raum,                                                                    eigene Gewicht noch gezielter mani-          genden Bäuchen und Brüsten. Die
die eigenen Wahrnehmungen zusam-                                                                      pulieren ließe. Manchmal dienten sie         beteiligten Ärzte berichten über die
menzufassen. Quantifizierend wurde                                                                                                                 nahezu unbegrenzten Möglichkeiten
                                           n = 157 Befragte zwischen 11 und 57 Jahren, Angaben in %

an mehreren Stellen konkret nachge-                                                                   Germany's Next Topmodel                39    ästhetischer Eingriffe und den Stand
fragt, um so Vergleichsmöglichkeiten                                                                           keine Sendung            22
                                                                                                                                                   der Behandlung. Am Ende sind Familie
zu früheren IZI-Studien zu schaffen. In                                                                                                            und Freunde dabei, wenn sich die ope-
                                                                                                                Extrem schön!       6
die Auswertung gingen 241 Befragte                                                                                                                 rierte Person das erste Mal vor einem
                                                                                                                Extrem schwer 4
ein, die zurzeit wegen einer Essstörung                                                                                                            Spiegel sieht.
therapeutisch begleitet werden bzw. in                                                                        Kochsendungen 3                      Die Rezeption der Sendung gab einigen
betreuten Wohngruppen leben.3 Die                                                                                                                  der Frauen mit Essstörung ein gutes
                                                                                                                         GZSZ 3
Stichprobe setzt sich fast ausschließ-                                                                                                             Gefühl, weil sie im »Look-downwards-
                                                                                                                 Der Bachelor 3
lich aus Mädchen und jungen Frauen                                                                                                                 Prinzip« auf die ProtagonistInnen he-
(96 %) zusammen, hinzu kommen                                                                                 The Biggest Loser 2                  runterblicken konnten. Dies erhöhte
10 junge Männer. Einige der Betroffe-                                                                      The Big Bang Theory 2                   dann das eigene Selbstwertgefühl:
nen (12 %) sind unter 16 Jahre, fast die                                                                                                           »Extrem Schön! hat mir immer das
                                                                                                                                0       20    40
Hälfte ist zwischen 16 und 21 Jahren.                                                                                                              Gefühl gegeben, zumindest schöner als
                                                                                                       Abb. 1: Sendungen, die die eigene
Die Befragten haben zum größten Teil                                                                   Krankheit besonders beeinflussten
                                                                                                                                                   die armen Würstchen in der Sendung
eine diagnostizierte Magersucht (85 %),                                                                (ungestützt, Mehrfachnennungen              zu sein« (19-Jährige, Magersucht).
hinzu kommen Bulimie und Essstörun-                                                                    möglich): GNTM (39 %); alle weiteren        Gleichzeitig bestärkte die Sendung
gen mit Essanfällen, zum Teil auch in                                                                  Sendungen liegen unter 6 %                  sie in dem Gefühl der Notwendigkeit
Kombination miteinander.4                                                                                                                          und Möglichkeit der grenzenlosen

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FORSCHUNG

Optimierbarkeit des Körpers und             Das perfekte Dinner                         sich eine damals 16-Jährige so ©starkIZI
der Vermutung, dass Operationen             – Um sich satt zu sehen                     wieder, dass sie ähnlich wie die Figur
der vermeintlich leichteste Weg zu                                                      handelte und eine Mager- und Ess-
einem besseren Selbstwertgefühl sein        Als krankheitsbegleitend werden             Brech-Sucht entwickelte. Im zweiten
könnten: »Es scheint alles machbar          einzelne Sendungen wie Das perfekte         Fall nahm eine damals 17-Jährige mit
zu sein, jeder Makel oder besser jede       Dinner (VOX) beschrieben, d. h. Koch-       Symptomen von Magersucht das erste
Individualität lässt sich korrigieren. Es   shows, bei denen KandidatInnen bei          Erbrechen der Fernsehfigur Lilly zum
zeigt auch, wie sehr das Äußere die         den Vorbereitungen und der Durch-           Anlass, sich »auch zu erbrechen«, was
Psyche beeinflusst (soziale Isolation       führung eines Dinners von anderen           dann in die Ess-Brech-Sucht führte.
etc.). Es entstanden bei mir Über-          TeilnehmerInnen begleitet und bewer-        Die Bedeutung der regelmäßigen
legungen zur Anmeldung, weil nur            tet werden. Diese Art der Kochsendung       Rezeption von Daily Soaps kann bei
mit Operationen würde ich endlich           kann im Verlauf der Krankheit ganz          Jugendlichen und jungen Erwachse-
den Weg aus der Essstörung finden«          eigene Funktionen übernehmen, wie           nen ganz unterschiedlich ausfallen.
(26-Jährige, Magersucht).                   eine 17-Jährige mit Magersucht be-          Sie reicht von einem distanzierten
                                            schreibt: Ich sah »Kochsendungen (Das       Anschauen oder sogar Dekonstru-
Extrem Schwer – Mein Weg in                 große Backen, Das perfekte Dinner), um      ieren bis hin zu tiefen parasozialen
                                            mich ›satt‹ zu sehen. Sachen, die ich       Beziehungen und der Chance, Gefühle
ein neues Leben und The Biggest
                                            gerne essen würde, aber auf keinen          ausleben zu können, die sie sich sonst
Loser                                       Fall darf, weil ich dann noch fetter        nicht zugestehen (Götz, 2002). Im Fall
– Informationen und »Look-                  werde.« Die Sendung holt Menschen           der Aneignung des Handlungsstrangs
downwards-Prinzip«                          mit Essstörung bei ihrem typischen          »Lilly« bei GZSZ waren es vermutlich
                                            »Kreisen um das Thema Essen« ab,            identifikatorische Prozesse. Die beiden
Bei Extrem Schwer und The Biggest Lo­       bietet imaginäre »Ersatznahrung«            jungen Frauen fanden sich vermutlich
ser (Sat.1) werden Menschen bei einem       und stabilisiert damit auf ganz eigene      in der sensiblen und schüchternen Lilly
zum Teil als Wettkampf inszenierten         Weise das krankhafte Handeln: »Als          Seefeld wieder. Die sehr gute Schülerin,
Prozess der Gewichtsreduktion beglei-       ich fast vollständig aufgehört habe zu      immer bemüht, das Richtige zu tun, hat
tet. Die befragten Frauen (und einige       essen, habe ich sämtliche Kochsen-          durch ihre schwierige Familiensituation
Männer) mit Essstörungen fanden hier        dungen gesehen, die im (deutschen)          seelisch viel zu tragen, ist unglücklich
diverse konkrete Tipps, wie sie selbst      Fernsehen ausgestrahlt wurden. Ich          verliebt und wird als hässliches Entlein
weiter abnehmen können: »Ich habe           entwickelte eine absolute Obsession         kaum von anderen wahrgenommen.
viel über Gewicht und Ernährung ge-         für alles, was mit dem Thema Essen zu       Vermutlich wurde sie zum idealisierten
lernt. Aber auch über Bewegung: Wie         tun hat. Selbst heute, wo ich halbwegs      Spiegel, in dem sich die beiden befrag-
viel muss ich joggen, um einen Scho-        vernünftig und regelmäßig esse, kann        ten jungen Frauen in ihrem eigenen
koriegel abzubauen?« (18-Jährige, Ma-       ich diese nur schwer ablegen« (27-Jäh-      seelischen Leiden wiederfanden und
gersucht). Dabei empfanden sich einige      rige, Magersucht).                          dadurch anerkannt sahen. Die Soap
der Befragten noch zusätzlich unter                                                     erzählt glaubhaft von den Konflikten
Druck gesetzt: »Weil man sieht, wie         Gute Zeiten, schlechte Zeiten               der Fernsehfigur Lilly, und als diese
die Menschen dort abnehmen: durch                                                       den Weg wählt, sich 2 Finger in den
                                            – Die Geschichte von Lilly
Sport. Darauf folgte dann ein schlech-                                                  Hals zu stecken, um eine kalorienreiche
tes Gewissen und der Wunsch, auch           In 2 Fällen kam es vor, dass die bei jun-   Nahrung, die sie ihrer Mutter zuliebe
so abnehmen zu können« (16-Jährige,         gen Zielgruppen viel gesehene Daily         gegessen hatte, wieder loszuwerden,
Magersucht und Ess-Brech-Sucht).            Soap GZSZ (RTL) zum konkreten Anlass        folgen sie ihr in diesem Handlungsmus-
Parallel entstand bei Einzelnen aber        genommen wurde, sich zum ersten Mal         ter. So positiv diese in Beratung mit
auch ein Look-downwards-Effekt,             selbst herbeigeführt zu übergeben.          FachexpertInnen (Dick und Dünn e. V.)
indem sie sich überlegen fühlten und        Dies war dann jeweils auch der Anfang       entwickelte Geschichte zur Aufklärung
dadurch das anorexietypische Gefühl         der mittlerweile diagnostizierten Ess-      und Sensibilisierung auch ist, so kann es
der Handlungsmächtigkeit im Abneh-          Brech-Sucht. Medialer Anlass war ein        in Einzelfällen eben dennoch auch zu
men verstärkten: »Weil ich mir da als       Handlungsstrang mit der Figur Lilly         Nachahmungseffekten kommen.
Magersüchtige natürlich unglaublich         Seefeld, in dem ab Sommer 2012 über         Die medialen Bezüge zu GZSZ, Extrem
stark vorkam. Es hat mich also in           2 Jahre die Problematik der Bulimie         Schön! oder Extrem Schwer etc. sind
meiner Magersucht bestätigt und             erzählt wurde. In der eigentlich zum        dabei Einzelfälle, die aber wichtige
dazu gebracht, dass ich weitermache«        Zwecke der Aufklärung und Sensibi-          Hinweise auf eine mögliche Rolle von
(22-Jährige, Magersucht).                   lisierung angelegten Geschichte fand        Fernsehsendungen im Kontext von Ess-

                                                                                        28/2015/1                            63
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                                       störungen geben. Quantitativ um ein                 der Kandidatin am Ende ein Foto, ist
                                       Vielfaches häufiger wird jedoch eine                dies das Zeichen, dass sie noch nicht
                                       Sendung genannt, die von 39 % der                   ausscheiden muss. Der Marktanteil
                                       hier Antwortenden ungestützt als be-                (MA) bei den 12- bis 22-jährigen Mäd-

                                                                                                                                         © picture alliance/dpa
                                       sonders beeinflussend für ihre eigene               chen und jungen Frauen liegt je nach
                                       Krankheit bezeichnet wird: Germany’s                Staffel um die 40 % (Abb. 3). Seit Jahren
                                       Next Topmodel.                                      findet sich die Sendung in den Jahres-
                                                                                           hitlisten dieser Altersgruppe und 75 %
                                                                                           der Topmodel-Seherinnen unterhalten
                                                                                                                                                                  Abb. 2: Der richtige »Walk« ist ein
                                       Germany’s Next Topmodel                             sich am nächsten Tag mit der Freun-                                    zentrales Element in GNTM (hier:
                                       – Normen, Ideale und der                            din über die Sendung (Götz & Gather,                                   Entscheidungsshow 2014)
                                       ständige Druck, selbst                              2013). Heidi Klum ist bei Kindern und
                                                                                           Jugendlichen die beliebteste Medien-
                                       schuld zu sein
                                                                                           figur 2014 (Trend Tracking Kids, 2014).                                GNTM stellt wie keine andere Sendung
                                       Die Sendung Germany’s Next Topmo­ Sie hat bei Jugendlichen einen sehr                                                      junge Frauen und ihre Entwicklung in
                                       del (GNTM) ist eine Castingshow, die hohen Bekanntheitsgrad und insbe-                                                     den Mittelpunkt, und zwar unabhän-
                                       seit 2006 jedes Jahr 3 bis 4 Monate sondere Castingshow-VielseherInnen                                                     gig von romantischen Beziehungen.
                                       bei Pro7 gesendet wird. Die Format- haben das Gefühl, von ihr könne man                                                    Die Sendung bietet diverse Typen als
                                       rechte für Topmodel gehören dem lernen, wie man Kritik übt. Sie hätten                                                     Identifikationspersonen an, die vor
                                       US-amerikanischen Medienkonzern sie auch gerne als Mentorin und gut die                                                    Herausforderungen in einem für die
                                       CBS Corporation, der die Sendung Hälfte hätte Heidi Klum sogar gerne als                                                   Altersgruppe hoch attraktiven Setting
                                       in über 40 Länder verkaufen konnte. Mutter (Götz, Bulla & Mendel, 2012).                                                   und an attraktiven Orten spielt. Durch
                                       Nun bereits in der zehnten Staffel In der hier vorgestellten Studie sticht                                                 den Wettkampf- und Bewertungscha-
                                       ist in Deutschland Heidi Klum die die Sendung GNTM in allen Fragen                                                         rakter der Sendung entsteht Spannung
                                       Hauptmoderatorin. Sie ist die zentrale als besonders bedeutsam heraus. Auf                                                 und gleichzeitig die Chance, selbst mit-
                                       Figur der Jury, agiert als Trainerin und die offene Frage, ob es eine Sendung                                              zuraten, zu bewerten und in Peergroup
                                       ist das personifizierte Vorbild für die gebe, die das Schönheitsideal der Ge-                                              und Familie über die Kandidatinnen
                                       Kandidatinnen. In der Sendung selbst sellschaft widerspiegele, nennen 83 %                                                 »abzulästern«. Dadurch, dass die Kan-
                                       werden aus über 10.000 Bewerberin- ungestützt (!) GNTM. Gut 3 Viertel der                                                  didatinnen in der Sendung weit über die
                                       nen zunächst fast 2 Dutzend junge Befragten sehen die Sendung, viele seit                                                  Grenzen des bisher Bekannten hinaus-
                                       Frauen ausgewählt, die im Verlauf der über 5 Jahren, zum Teil bereits seit der                                             gehen müssen, werden auch die jungen
                                       Show auf 3 Finalistinnen reduziert Grundschule. Es ist das Format, das die                                                 ZuschauerInnen herausgefordert, selbst
                                       werden. In jeder Sendung müssen sich eigene Krankheit am häufigsten »sehr                                                  zu überlegen, wie sie in dieser Situation
                                       die Kandidatinnen Herausforderun- stark« beeinflusst hat und die große                                                     gehandelt hätten. Dies sind Formen
                                       gen stellen und sich bei »Castings« Mehrheit (85 %) stimmt der Aussage                                                     der Identitätsarbeit, bei denen bereits
                                       und »Fotoshootings« beweisen. Den zu, dass GNTM Essstörungen wie Ma-                                                       in früheren Erhebungen der dringende
                                       Höhepunkt stellt jeweils der einzeln gersucht und Bulimie verstärken kann.                                                 Verdacht aufkam, es handle sich hierbei
                                       präsentierte »Livewalk« (Abb. 2) vor Was macht GNTM für Mädchen und                                                        eher um Identitätsarbeit mit Fallstricken
                                       der Jury dar. Überreicht Heidi Klum junge Frauen mit einem Risiko für                                                      (Götz & Gather, 2013). Denn scheinbar
                                                                                                                 Essstörungen so ge-                              sind die Kandidatinnen, respektive
                                                       Zuschauer gesamt MA (%)       Frauen 12-22 MA (%)
                                                                                                                 fährlich? Warum hat                              Zuschauenden, durchaus handlungs-
                                                                                                                 – bei aller Macht der                            mächtig und können sich durch Selbst-
menarbeit mit der GfK/TV Scope 5.1/media

                                                           52,5 54,0
© media control GmbH, © AGF in Zusam-

                                        50%           50,6                   47,2                                Auswahl, Interpreta-                             bekenntnis, Selbstexploration und
                                                                       43,6               41,4            42,3
                                        40%    38,8                                41,0          37,7
                                                                                                                 tion und Aneignung                               Selbstmodellierung (Thomas, 2007)
                                        30%
                                                                                                                 der Inhalte (Mikos,                              gestalten. Gestaltungsobjekt ist dabei
                                                                                                                 2008) – diese Sen-                               der eigene Körper, Orientierung und
                                        20%
                                                           12,9 13,1                                             dung solch eine                                  Wertmaßstab sind aber nicht etwa In-
                                                                              10,3
                                        10%     8,9 11,9                10,1       9,0 8,8       8,5      8,0    Wirkungskraft?                                   dividualität oder Lebensglück, sondern
control GmbH

                                          0                                                                      Es sind zunächst                                 neoliberale Werte des Markt­erfolgs.
                                            2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014              2015
                                                                                                   (bis einschl. die Punkte, die die                              Junge Frauen werden zu »Unternehme-
                                                                                                     16.04.15)
                                                                                                                 Sendung für viele                                rinnen ihrer selbst« (zusammenfassend
                                       Abb. 3: Einschaltquoten von GNTM nach Staffeln                            Mädchen-Fans                                     Stehling, 2015), wobei es stets nur um
                                                                                                                 attraktiv macht: 5                               den untergewichtigen Körper und seine

                                       64                             28/2015/1
FORSCHUNG

Präsentation und die Anpassung an die                                                                                   Kandidatinnen in der Sendung vor dem
Werte anderer geht. Dies spiegelt sich                                                                                  Spiegel und erzählen, sie seien hier und
auch in den Aussagen der jungen Frau-                                                                                   da zu dick, sehen die jungen Frauen vor
en, die durch das Format ihre Krankheit                                                                                 dem Fernseher mit erhöhter Aufmerk-
als verstärkend erlebt haben, wider.                                                                                    samkeit auf den eigenen Körper und
                                                                                                                        entdecken an ihrem eigenen Körper
GNTM setzt unerreichbare                                                                                                noch mehr unzureichende Stellen.
Normen
                                                                                                                        Sich anpassen
»Ein vermeintlich perfektes Äußeres wird als    © picture alliance/dpa
das Allerwichtigste dargestellt; nur wer dünn                                                                           »Dafür muss ich nur noch abnehmen.«
ist, kommt eine Runde weiter und gehört                                                                                 (14-Jährige, Magersucht)
dazu.« (19-Jährige, Magersucht)
                                                                                                                        Aufbauend auf einem überkritischen
Die Sendung stellt Äußerlichkeiten ins                                                                                  Verhältnis zum eigenen Körper, der
Zentrum von Erfolg und Anerkennung.                                                                                     Idealisierung sehr dünner Körper
                                                                         Abb. 4: Für Mädchen besonders
Dabei inszeniert die Sendung aus-                                                                                       folgend und sich im Vergleich dazu
                                                                         attraktiv: vom schüchternen Mädchen
schließlich körperliche Ausnahmeer-                                      aus Ostfriesland zum Topmodel: Luisa           als defizitär betrachtend, beschreibt
scheinungen junger Frauen (Abb. 4) mit                                   Hartema                                        eine ganze Reihe der Mädchen, wie
einem Mindestmaß von 1,72 m und                                                                                         sie versuchten, sich dem inszenierten
einer maximalen Kleidergröße 36. Es                                                                                     Fernsehideal anzunähern. Das zentrale
werden »massenhaft schöne, perfekte                                      se). »Dann wünscht man sich, genauso           Erzählmuster der Sendung: Es ist nur
Mädchen auf einem Haufen gezeigt, die                                    wie diese Mädchen auszusehen, und ist          eine Frage der Disziplin, vor allem der
alles fürs Schönsein geben« (17-Jährige,                                 gleichzeitig auch irgendwie sauer auf          emotionalen, aber auch der Essdisziplin.
Magersucht). Dies verzerrt den Blick für                                 sich selbst, nicht diese Willensstärke         Die jungen Frauen vor dem Fernseher
die Realität und die realen Vielfalt von                                 zu haben oder den Ehrgeiz« (17-Jährige,        beobachten nun ganz genau, »wenn die
Körpermaßen, in denen der Mensch                                         Ess-Brech-Sucht). Die unhinterfragten          Models Essen zubereiten« (17-Jährige,
an sich vorkommt. Es entsteht »das                                       Normen und die vielen körperlichen             Magersucht), wie viel und was die Kan-
Gefühl, es gibt so viele tolle, dünne,                                   Ausnahmeerscheinungen lassen bei               didatinnen essen. Wird eine Kandidatin
disziplinierte Mädchen, die damit etwas                                  den Befragten den Eindruck entstehen,          für ihr Naschen oder dafür, dass sie
erreichen und vor allem toll aussehen!«                                  es läge nur an ihnen, sich der scheinba-       Pommes gegessen hat, ermahnt und
(17-Jährige, Magersucht). Aussehen – in                                  ren Normalität anzupassen.                     beim nächsten Shooting als Versagerin
absoluten Ausnahmeerscheinungen                                                                                         inszeniert, wirkt dies auch nachhaltig
– wird mit Erfolg und Lebensglück                                        Sich vergleichen                               disziplinierend auf die jungen Frauen
gleichgesetzt und so zum Normalfall                                                                                     vor dem Fernseher. Am schwierigsten
und absolut erstrebenswerten Ziel. Es                                    »Da die Frauen alle extrem schlank waren,      wurde es, wenn die Kandidatinnen (oder
                                                                         vergleiche ich mich mit ihnen öfters. So hat
entsteht die Logik: »Jeder, der nicht                                                                                   Heidi Klum) kalorienreiche Nahrung
                                                                         auch meine Krankheit angefangen.« (14-Jäh-
mindestens so aussieht, ist hässlich, un-                                rige, Magersucht)                              aßen und die jungen Frauen vor dem
zulänglich und dick! Dadurch entstehen                                                                                  Fernseher für sich frustriert feststellen
starke Minderwertigkeitskomplexe«                                        Es beginnen Vergleichsprozesse, be-            mussten: »Was die trotzdem manchmal
(18-Jährige, Magersucht).                                                sonders in Situationen, in denen kör-          essen und ich von so wenig zunehme«
                                                                         perbetonte Kleidung getragen wird. Je          (17-Jährige, Magersucht).
Der Wunsch, auch so                                                      »mehr Haut gezeigt wurde und wenn              Der Frust, das Unwohlsein und die
                                                                         es um sexy Bilder ging, also Wert auf          Minderwertigkeitsgefühle, die während
auszusehen
                                                                         Proportionen gelegt wird« (16-Jähri-           der Rezeption entstehen, führen jedoch
»Weil man gerne so aussehen würde, wie                                   ge, Magersucht), desto mehr fühlen             (leider) nicht dazu, einfach abzuschalten
die Models, und dann abnimmt und dann                                    viele der Befragten sich zum Vergleich         oder Rezeptionsmuster voller Wider-
in die Krankheit reingerät.« (16-Jährige,
                                                                         aufgefordert. Dieser Vergleich ist dann        stand gegen die Eigenlogik der Sendung
Magersucht)
                                                                         zum Teil deutlich auf einzelne Körper-         zu entwickeln. Gerade bei leistungsstar-
In den Beschreibungen der Bedeutung                                      teile wie ein »flacher Bauch« fokussiert       ken, anpassungsbereiten Mädchen, die
von GNTM im Kontext der eigenen Ess-                                     oder dreht sich um Fragen wie »Wie             viel Energie für die Optimierung bis
störung ist eine typische Ausprägung                                     genau kann man Knochen sehen, wie              hin zum Perfektionismus aufbringen
der Wunsch, auch »so auszusehen«                                         schlank scheinen die Arme zu sein?«            können – also typische Kennzeichen
(17-Jährige über ihre anorektische Pha-                                  (29-Jährige, Magersucht). Stehen die           essstörungsgefährdeter Menschen –,

                                                                                                                        28/2015/1                            65
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entwickelt sich typischerweise eine               liegenden Problem kann dann leicht         führen. Entsprechend verwundert es
andere Logik. Eine 18-Jährige mit Ma-             eine Eigendynamik entwickeln, sodass       nicht, dass 70 Patientinnen dieser Be-
gersucht beschreibt prototypisch:                 es zur Abspaltung der negativen Ge-        fragung der Sendung Germany’s Next
»Viele der Mädchen, die bei Germany’s Next        fühle oder der emotional belastenden       Topmodel einen »sehr starken Einfluss«
Topmodel mitmachen, sind einfach so dünn          Lebensereignisse kommen kann. Doch         und weitere 72 immerhin noch »etwas
(wahrlich nicht alle, aber dennoch einige),       die abgespaltenen Gefühle und Erleb-       Einfluss« auf ihre Krankheit bescheini-
machen nicht extrem viel Sport oder achten
                                                  nisse sind durch die Verdrängung nicht     gen. Denn Menschen suchen sich das
extrem auf ihre Ernährung. Da kam bei mir
die Frage auf, warum bin ich dann nicht so?       verschwunden, sondern schlummern           symbolische Material, in dem sie ihre
Ich kam schnell zu der Einsicht, dass mich die-   vielmehr weiter unter der Oberfläche       handlungsleitenden Themen finden
se Frage nicht weiterbringt, und habe (nicht      (s. Lahusen in dieser Ausgabe).            und sich und ihre Identität weiterent-
nur deswegen!) angefangen abzunehmen,             Treffen diese Mädchen und jungen           wickeln können. GNTM wird zur Iden-
extrem viel Sport zu machen. In meinem
                                                  Frauen in einer solchen Krise auf die      titätsarbeit eingesetzt. Gerade wenn
Kopf war/ist fest verankert: Wenn ich dünn
bin, dann ist alles einfacher. Das ganze Leben.   Sendung GNTM, akzeptieren sie nicht        die jungen Frauen dann bestimmte
Was ja auch in gewisser Weise wahr ist. Ich       nur die Werte und unerreichbare            Persönlichkeitsprofile haben und sich
möchte sagen, ich bin nicht wegen GNTM            Norm, sondern empfinden sich als           von dem Konzept »Unternehmerin
magersüchtig geworden, dennoch hat es             minderwertig und entwickeln den star-      ihrer selbst« angesprochen fühlen,
eine Rolle gespielt. Und heute schaue ich es      ken Wunsch, sich dieser scheinbaren        kann der Weg der Selbstoptimierung
bewusst NICHT mehr an! Denn es würde die
Magersucht wieder so richtig pushen.«             Normalität anzupassen: Denn in GNTM        des eigenen Körpers und Verhaltens
                                                  sind Erfolg und Anerkennung mit be-        sie in eine schwere psychosomatische
                                                  dingungsloser Anpassung verbunden.         Störung führen.
Das Krankmachende in der                          Jede Anforderung, jedes Casting, jede
Logik von GNTM                                    Challenge, jedes »Sich-von-Fremden-
                                                  körperlich-gestalten-Lassen« ist voller    Konsequenzen
Die besondere Wirksamkeit der Sen-                Begeisterung anzunehmen und es muss
dung für Mädchen und Frauen mit Prä-              alles »für den Kunden« bzw. Heidi          Mindest-BMI, mehr Vielfalt und
disposition liegt noch auf einer tieferen         Klum gegeben werden. Wahrnehmun-           höhere Sensibilität auch bei
Ebene. Denn was die Befragten trotz               gen von eigenen Empfindungen wie           GNTM
aller Offenheit und Reflektiertheit im            Müdigkeit und Kälte oder Gefühle wie
Rahmen der hier gewählten Methode                 Scham, Ekel, Wut oder Angst müssen         Wir gaben den Befragten die Chance,
nicht in derselben Kürze berichten                unterdrückt und vom Handeln ent-           selbst Konsequenzen an die Medien-
können: Sie befanden sich zu Beginn               koppelt werden. Anerkennung gibt es        industrie zu formulieren. Insgesamt
der Essstörung in einer Krisensituation.          nur für die Verdrängung. Das System        fordern sie ein breiteres Spektrum
Denn bei dieser psychosomatischen Er-             zu stören oder sich hier gar kritisch zu   an Körperlichkeiten und natürlichen
krankung steht selten das angestrebte             äußern, führt, wenn es nicht zufällig      Menschen in den Medien, deren Bilder
Schönheitsideal im Zentrum des ei-                der Attraktivität der Sendung dient,       nicht durch Photoshop verändert wer-
gentlichen Problems. Es geht um tiefe             zum vorprogrammierten Ausschluss.          den. Mehrfach kam auch der Wunsch
Krisen und Unsicherheiten, Erlebnisse             Sendung und Krankheit haben also           nach »mehr Aufklärung über Essstö-
oder Lebenssituationen, die den Betrof-           nicht nur auf der Oberfläche von           rungen, keine Verteufelung von Leuten,
fenen als nicht bewältigbar erscheinen.           Schönheitsnorm und Körperzentrie-          die eine haben« (16-Jährige, Mager-
Um trotz der Machtlosigkeit gegenüber             rung eine sehr ähnliche Grundlogik:        sucht) auf. Neben dokumentarischen
den äußeren Geschehnissen ihre Hand-              Das erstrebenswerte Ziel ist es, die ei-   Formen sind fiktionale Erzählformen
lungsfähigkeit aufrechtzuerhalten,                gentlichen Wahrnehmungen, Gefühle          hier sicherlich ein lohnenswerter Weg.
verlagern die Betroffenen ihre Wahr-              und Bedürfnisse zurückzustellen, um        Die besondere Herausforderung dabei
nehmung von den inneren Welten auf                sich perfekt an die Anforderungen          wird immer der Balanceakt zwischen
die äußeren Bereiche Körper und Essen.            und Normen anderer anzupassen und          Verständniswecken und der Anleitung
Durch die Manipulation des Gewichts               sie in ihrem Anliegen nicht zu stören.     zum krankhaften Umgang mit den
können sie sich als weniger wertlos               Wird dieses implizite Grundmuster          eigenen Problemen bleiben.
empfinden und versuchen gewisser-                 der Sendung zur Handlungsmaxime,           Bezüglich der Sendung GNTM reichen
maßen, wieder handlungsmächtig zu                 kann es in einer Identitätskrise und bei   die Vorschläge von der Forderung, die
werden – wenn schon nicht gegenüber               entsprechenden psychischen Disposi-        »Sendung Germany‘s Next Topmodel
der äußeren Welt, dann wenigstens ge-             tionen wie Leistungsbereitschaft, An-      einzustellen, in der der Wettkampf
genüber sich selbst. Dieser ungesunde             passungsbereitschaft oder einem Hang       um einen unmenschlich ›perfekten‹
Weg des Umgangs mit einem tiefer                  zum Perfektionismus in die Krankheit       Körper auf unwürdige Weise insze-

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niert wird« (32-Jährige, Magersucht),      Magersucht). Daraus abgeleitet entsteht                        Harrison, Kristen (2013). Media, body image, and ea­
über die Bitte, die Kandidatinnen          die konkrete Forderung nach einem                              ting disorders. In Dafna Lemish (Hrsg.), The Routledge
                                                                                                          International Handbook of Children, Adolescents and
menschenwürdiger zu behandeln und          Mindest-BMI (für Models und Schau-                             Media (S. 224-231). London & New York: Routledge.
nicht für jeden kleinen Fehltritt zu       spielerinnen) und dass »›Size Zero‹                            Hawkins, Nicole, Richards, P. Scott, Granley, H. Mac
kritisieren. Aus Sicht der Rezeptions-     vom Markt verschwindet!« (17-Jährige,                          & Stein, David M. (2004). The impact of exposure to
                                                                                                          the thin-ideal media image on women. Eating disor-
forschung wäre mehr Sensibilität im        Magersucht). Denn kranke Körper zu                             ders,12(1), 35-50.
Umgang mit Kritik an den Körpern der       idealisieren, bedeutet, Krankheit zu                           Iconkids & Youth (2014). Trend Tracking Kids®. Ergeb-
Kandidatinnen zentral. Eine vermehrte      verherrlichen.                                                 nisse zu High Interest Themen bei 6- bis 19-jährigen
                                                                                                          Kindern und Jugendlichen in Deutschland. München:
Wertschätzung von Individualität und                                                                      Iconkids & Youth.
Eigenwilligkeit (auch gegenüber Heidi       ANMERKUNGEN                                                   Kiehl, Katrin (2010). Risikofaktoren für Essstörungen
                                                                                                          unter besonderer Berücksichtigung medialer Einfluss-
Klum) wäre ein Zeichen von Qualität.                                                                      faktoren. Abrufbar unter: http://epub.uni-regensburg.
                                            1
                                                Interviewerhebung mit 45 Frauen mit Essstörungen
Zudem wäre eine gezielte Kontextua-             von 2003/2004                                             de/19703/1/Dissertation_Katrin_Kiehl.pdf [02.04.15]
lisierung für die ZuschauerInnen hilf-      2
                                                Interviewerhebung mit 14 Frauen mit Magersucht            KiGGS (2006). Studie zur Gesundheit von Kindern und
                                                                                                          Jugendlichen in Deutschland. Abrufbar unter: http://
reich, wodurch vermittelt wird, dass es     3
                                                	Der Kontakt wurde über Mitglieder der Bundes­            www.kiggs.de/ [02.04.15]
sich bei den Kandidatinnen um körper-            fachverbandes, meist Therapeuten und Ärzte der
                                                                                                          Märschel, Sarina (2007). Welchen Hunger stillen Medi­
                                                 Erkrankten hergestellt. Die Erhebung fand zwischen
liche Ausnahmeerscheinungen handelt              November 2014 und Februar 2015 statt.                    en? Funktionen von Medien im Leben von Frauen mit
                                                                                                          Essstörungen. In Senta Pfaff-Ruediger & Michael Meyen
und dass die geforderten Anpassungs-        4
                                                Weitere 7 an der Befragung Teilnehmende mit Adi­          (Hrsg.), Alltag, Lebenswelt und Medien. Qualitative
und Verdrängungsmechanismen show-               positas werden bei den vorgestellten Ergebnissen          Studien zum subjektiven Sinn von Medienangeboten
                                                quantitativ und qualitativ nicht weiter berücksichtigt.   (S. 125-150). Münster: LIT.
bzw. businessspezifisch sind und nicht      5
                                                	Abgefragt wurden die Gebrauchswerte der Sendung          Mikos, Lothar (2008). Film- und Fernsehanalyse. 2.
unbedingt gesundheitsfördernd. Eine              in Rezeption und Aneignung, Items, die auch als          Auflage. Stuttgart: UVK.
                                                 Vergleichswerte aus einer Repräsentativstudie zu
einfließende Aufklärung zum Thema                »GNTM-SeherInnen allgemein« (Götz & Gather,              Stehling, Miriam (2015). Die Aneignung von Fernseh-
Magersucht wäre zudem thematisch                 2013) zur Verfügung standen.                             formaten im transkulturellen Vergleich. Eine Studie am
                                                                                                          Beispiel des Topmodel-Formats. Wiesbaden: Springer.
passend und würde, gerade weil die
                                                                                                          Swanson, Sonja A., Crow, Scott J., Le Grange, Daniel,
Sendung viele Mädchen in einem sen-         LITERATUR                                                     Swendsen, Joel & Merikangas, Kathleen R. (2011). Preva­
siblen Alter erreicht, ein Zeichen von                                                                    lence and correlates of eating disorders in adolescents:
                                                                                                          Results from the national comorbidity survey repli­
Verantwortung.                              Baumann, Eva (2009). Die Symptomatik des Me-                  cation adolescent supplement. Archives of General
                                            dienhandelns. Zur Rolle der Medien im Kontext der             Psychiatry, 68(7), 714-723.
Von einer Befragten wird eine gezielte      Entstehung, des Verlaufs und der Bewältigung eines
                                                                                                          The McKnight Investigators (2003). Risk factors for the
Förderung der Medienkompetenz ein-          gestörten Essverhaltens. Köln: Herbert von Halem.
                                                                                                          onset of eating disorders in adolescent girls: results of
gefordert, ein Ansatz, der aus Sicht der    Bell, Beth Teresa & Dittmar, Helga (2011). Does media         the McKnight longitudinal risk factor study. American
                                            type matter? The role of identification in adolescent         Journal of Psychiatry, 160, 248-253.
Medienpädagogik sehr zu unterstützen        girls’ media consumption and the impact of different
                                                                                                          Thomas, Tanja (2007). Showtime für das »unter­
ist. Es wäre eine Chance, Sendungen         thin-ideal media on body image. Sex roles, 65(7-8),
                                                                                                          nehmerische Selbst«. Reflexion über Reality-TV als
                                            478-490.
wie GNTM für medienpädagogische                                                                           Vergesellschaftungsmodus. In Lothar Mikos (Hrsg.),
                                            Cafri, Guy, Yamamiya, Yuko, Brannick, Michael &               Mediennutzung, Identität und Identifikation. Die So-
Einheiten zu nutzen, um sich mit den        Thompson, J. Kevin (2005). The Influence of Sociocul­         zialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungspro-
Körperbildern in den Medien ausei-          tural Factors on Body Image: A Meta‐Analysis. Clinical        zess der Jugendlichen. Weinheim: Juventa.
                                            Psychology: Science and Practice, 12(4), 421-433.
nanderzusetzen oder durch kritische
                                            Derenne, Jennifer L. & Beresin, Eugene V. (2006). Body
Medienanalysen die Inszeniertheit von       image, media, and eating disorders. Academic Psych-           DIE AUTORINNEN
Castingshows zu verstehen. Wenn es          iatry, 30, 257-261.

Jugendlichen gelänge, das Konzept           Götz, Maya & Gather, Johanna (2013). Ich habe
                                            heute leider kein Foto für dich. Die Faszination
der »Unternehmerin ihrer selbst« (u.        Germany’s Next Topmodel. In Maya Götz (Hrsg.), Die
                                            Fernsehheld(inn)en der Mädchen und Jungen. Ge-
a. Thomas, 2007) zu durchdringen und        schlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen
den eigenen Weg zwischen neolibe-           (S. 473-529). München: kopaed.
raler Selbstoptimierung, Achtsamkeit        Götz, Maya (Hrsg.) (2002). Alles Seifenblasen? Die Be-
                                            deutung von Daily Soaps im Alltag von Kindern und
und Ausformung der Individualität zu        Jugendlichen. München: kopaed.
finden, wäre dies auch eine präventive      Götz, Maya & Herche, Margit (2013). Wespentaille und
Maßnahme zur Vorbeugung von Ess-            breite Schultern. Der Körper der »globalen« Mädchen-
                                                                                                           Maya Götz, Dr. phil., ist Leiterin des
                                            und Jungencharaktere in animierten Kindersendungen.            IZI und des PRIX JEUNESSE INTERNA­
störungen.                                  In Maya Götz (Hrsg.), Die Fernsehheld(inn)en der Mäd-          TIONAL, München.
Das Wichtigste für viele Befragte mit       chen und Jungen. Geschlechterspezifische Studien
                                            zum Kinderfernsehen (S. 63-79). München: kopaed.               Caroline Mendel, M.A. Soziologie,
einer Essstörung ist aber: »Hört auf                                                                       Psychologie und Ethnologie, und
                                            Götz, Maya, Bulla, Christine & Mendel, Caroline (2012).
zu propagieren, dass es ›normal‹ sei,       »Bestimmt ein tolles Erlebnis!« Repräsentativbefra­            Sarah Malewski, B.A. Kommunika­
wie Models auszusehen, und jeder mit        gung von 6- bis 17-Jährigen zu ihren Vorstellungen
                                                                                                           tionswissenschaft, Pädagogik und
                                            vom »Erlebnis-Castingshowsteilnahme«. LfM-Doku-
mehr Gewicht nicht den gesellschaft-        mentation Band 49. Abrufbar unter: https://www.lfm-            Betriebswirtschaftslehre, sind freie
lichen Normen entspricht, denn es           nrw.de/fileadmin/lfm-nrw/Publikationen-Download/
                                                                                                           Mitarbeiterinnen am IZI, München.
                                            LfM_Doku49_web.pdf [22.04.15]
sollte andersherum sein« (18-Jährige,

                                                                                                          28/2015/1                                             67
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