Danke, dass ich den Krieg nochmal hören darf

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Danke, dass ich den Krieg nochmal hören darf | norient.com               23 Oct 2021 03:27:41

    Danke, dass ich den Krieg
    nochmal hören darf
    by Thomas Burkhalter

    Drei Uhr in der früh. Der Sternenhimmel dröhnt, vibriert. Es
    ist, als würde er über mir zusammenbrechen. Irgendwo da
    oben im Dunkeln fliegen israelische Kriegsflugzeuge. Wo
    genau? Keine Ahnung. Links? Rechts? Irgendwo. Aber ich
    höre sie kommen, und wegfliegen. Ich höre mit jeder Pore.
    Immer und immer wieder durchbrechen sie die Schallmauer:
    Zuerst eine Mark erschütternde Detonation, dann knallt es
    drei, vier Mal. Erleichterung, wenn diese Explosionen endlich
    stoppen, Angst davor, dass es wieder kracht.

    Nach gut anderthalb Stunden ist endlich Ruhe; die Flugzeuge sind abgezogen.
    Nur das übliche Surren der elektrischen Drähte und Transformatoren ist noch
    zu hören. Und mitten in diesem Surren plötzlich ein gigantischer Knall.
    Dumpf. Tief. Mit enormem Nachhall von den Bergen. Abgefeuert von einem
    israelischen Kriegsschiff, das irgendwo draußen auf dem Meer liegt, nehme
    ich an. Meine Partnerin und ich eilen zum Fernseher – Südbeirut ist getroffen,
    sagt CNN. Wir werden Libanon verlassen, über die Nordgrenze, entscheiden
    wir spontan. In Syrien werden wir abwarten, bis dieser Krieg vorbei ist, dann
    zurückkehren. Ich sollte jetzt auf die Terrasse raus und diese Nacht mit
    meinem MP3-Rekorder aufnehmen, dokumentieren. Doch ich wage nicht,
    schaulustig zu sein. Es soll nicht meine letzte Aufnahme sein, denke ich,
    plötzlich abergläubisch geworden. Seit Monaten sammle ich nun schon
    Musik, Geräusche und politische Reden aus dem libanesischen Bürgerkrieg
    (1975 – 1990). Ich interviewe Musikerinnen und Musiker, die im Bürgerkrieg

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    geboren wurden, und untersuche, wie die Hörerinnerungen aus ihrer Kindheit
    und Jugend ihr heutiges musikalisches Schaffen prägen. Diese Aufnahme
    aber lasse ich sausen.

    Inzwischen ist die Sonne aufgegangen. Vögel zwitschern. Es ist, als hätten sie
    die Flugzeuge verdrängt. Allein die gigantische, schwarze Rauchfahne am
    Horizont zeugt davon, dass Krieg ist. Im Taxi fahren wir an die libanesische
    Nordgrenze. Immer wieder schaue ich zum Meer hin, habe Angst, dass da
    draussen irgendwo ein Kriegsschiff liegt und mit einem riesigen Knall die
    Strasse wegbombt – die Strasse nach Damaskus wurde gestern zerstört; will
    Israel das Land komplett zuschliessen? Jedes Geräusch lässt mich
    hochfahren. Das wird noch zwei Tage lang so sein. Die Ohren sind sensibler
    als sonst. «Ist Krieg gutes Hörtraining?», habe ich einen Musiker noch vor ein
    paar Tagen gefragt, nachdem er mir mit leuchtenden Augen eifrig erzählt
    hatte, wie er als Kind jeden Flugzeugtyp, jede Bombe, jede Rakete, jedes
    Kaliber allein vom Sound her hatte benennen können. Er habe genau gewusst,
    ob von ihm weg oder auf ihn zu gefeuert wurde. «Machte es ziiisssssch, so
    flog die Bombe genau auf dein Haus zu und du musstest schleunigst an einen
    sicheren Ort.»

    Die syrischen Beamten an der Grenze sind ausgesprochen freundlich. Aber
    sie haben alle Zeit der Welt. Eine Freundin aus Holland wird hier in ein paar
    Tagen vier lange Stunden auf ihr Visum warten. Wir sind früh dran, zum
    Glück. Nach einer Stunde fahren wir weiter, ins syrische Küstenstädtchen
    Tartus, wo wir bald auch ankommen. Wir sind erschöpft, traurig, wütend. Das
    Rauschen des Meeres hier, das Palaver in den Männercafés, das «Welcome»;
    der Buben und Mädchen, alles stört mich. Schon bald sitzen wir im Internet-
    Café – wie fast immer in den nächsten Tagen.

    Mazen Kerbaj hat einen Web-Blog aufgeschaltet:
    mazenkerblog.blogspot.com. «Danke, dass ich den Krieg noch einmal hören
    darf», schreibt er zynisch. Kerbaj wurde 1975 geboren, mit dem libanesischen
    Bürgerkrieg. Er sei nostalgisch nach jener Zeit, sagte er mir in Interviews:
    «Jeder sehnt sich zurück nach seiner Kindheit, und meine Kindheit spielte
    sich nun mal im Krieg ab. Ich kannte nichts anderes.» Kerbaj ist heute Pionier
    der frei improvisierten Musik in Beirut. Bekannt ist er zudem für seine Comics

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    und Karikaturen – auf seinem Blog liefert er jetzt Kostproben seiner Kunst im
    Stundentakt. Eben spielte er noch mit seiner Trompete in Europa, auch in der
    Schweiz. In diesen Tagen hätte er eigentlich in die USA fliegen sollen, was
    wohl nicht klappen wird – der Flughafen ist kaputt gebombt. Kerbaj’s
    Soloauftritte mit der Trompete haben mich immer wieder beeindruckt. Kerbaj
    nutzt alle möglichen Spieltechniken: Er spielt mit und ohne Mundstück,
    manchmal bläst er durch einen langen Schlauch, den er sich um den Bauch
    schlingt, oft nimmt er dabei seine Trompete senkrecht zwischen die Beine,
    legt Blechdosen auf den Trichter und variiert zwischen Blas-, Saug- und
    perkussiven Geräuschen. Auf seiner Solo CD «brt vrt zrt krt t» hören wir seine
    Trompete zischen, grunzen, gurgeln, in höchsten und tiefsten Lagen, oft
    mehrstimmig, rhythmisch immer präzis. Der Trompetensound im Stück
    «Tagadagadaga» erinnert an die Salven eines Maschinengewehres. In «Taga
    of Daga» rattern die Rotoren eines Hubschraubers, scheint es. Es war der
    befreundete österreichische Trompeter Franz Hautzinger, der Kerbaj auf die
    Ähnlichkeiten zwischen seinen Sounds und Kriegsmaschinen aufmerksam
    gemacht hatte. Seither grübelt Kerbaj darüber nach, wie denn die
    Kriegssounds aus seiner Kindheit mit seiner heutigen Musik
    zusammenhängen. Früher habe er gegen die libanesische High Society, gegen
    Konservatorium und klassische Trompetenschule, rebellieren wollen, jetzt
    merke er, dass es nicht nur dieses Abgrenzen war, dass ihn zu John Coltrane,
    Evan Parker, zu Peter Brötzmanns Album «Machine Gun – Automatic Gun for
    Fast and Continuous Firing» und zu anderen Musikern des Free Jazz und der
    frei improvisierten Musik hingezogen hatte. «Wahrscheinlich imitiere ich auf
    meiner Trompete die Geräusche aus meiner Kindheit. Ich habe zudem eine
    spezielle Beziehung zu Stille. Stille ist zwar ein Synonym für Frieden, aber
    Stille war immer auch bedrohlich: Ein Warten auf den nächsten
    Bombenhagel.» Wie genau die Beziehung zwischen seinen Erinnerungen und
    seiner heutigen Musik beschaffen ist, das konnten weder Kerbaj noch ich
    erklären. Ich werde wohl ein paar Bücher zu Soundpsychologie lesen, dachte
    ich noch.

    Der Fernseher im Internet-Café zeigt das Ausmass der Katastrophe: Ein
    zerbombtes Wohnhaus, mitten in der Stadt. Ein gigantischer Krater, mitten in
    der Strassenkreuzung. Und immer wieder die gigantischen Rauchwolken über
    dem Flughafen. Ich lese Online-News: BBC, Reuters, den libanesischen Daily
    Star, die israelische Zeitung Haaretz. Neben mir spielt ein Junge Karate-Spiele
    auf dem Computer. Ich halte diese schrillen, hohen Frequenzen kaum aus. Via
    Internet-Telefon erreiche ich Rana Eid. «Ich will schlafen, Kaffee trinken,
    sterben, Haschisch rauch, Musik hören, …» hat sie vor zwei Jahren auf ihrer
    CD rezitiert, eine Art Monolog mit Geräuschen aus Beirut. Jetzt klingt sie
    aufgelöst, beinahe hysterisch. Eid vertont fast alle wichtigen libanesischen
    Filme – es werden immer mehr, hätte ich vorgestern noch geschrieben. Als
    der Himmel während der israelischen Invasion 1982 vibrierte und Bomben auf
    Westbeirut fielen, da hat sich Eid als Kind jeweils einen Walkman über die
    Ohren gestülpt und Musik gehört: Die majestätischen Ornamentierungen der

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    ägyptischen Diva Umm Kulthum, die besänftigenden Lieder der Libanesin
    Fairuz, und die politisierten Musiktheater ihres Sohnes Ziad Rahbani. Eids
    Vater war Kommunist. Grosse, bärtige, ungepflegte Männer seien jeweils in
    der Wohnstube gesessen und hätten mit lauten Stimmen heftig diskutiert,
    erinnert sie sich. Zuerst hätte sie Angst gehabt, dann sei sie mehr und mehr in
    die Welt ihres Vaters eingetaucht und hätte die politischen Lieder von Marcel
    Khalife, Ahmad Kabour und Khaled el Haber auswendig gelernt. Nach dem
    Krieg wollte sie keine Musik mehr hören. Während ihres Studiums an der Uni
    aber begann sie mit Freunden, Bekannten und Fremden über
    Kriegserinnerungen zu sprechen. Sie nahm die Gespräche auf. «Mich
    fasziniert, wie Spannung und Lage einer Stimme wechseln, wenn ein Mensch
    erzählt», erklärte sie in einem Interview. Später begann Eid, die Geräusche
    ihrer Stadt aufzunehmen – Geräusche, an die ich jetzt auch zurückdenke:
    Fussgänger, die dem Taxifahrer zurufen, wohin sie fahren wollen. Mal
    bestimmt und laut, mal zögernd, schüchtern: «Achrafieh!», «Basta»,
    «Mathaf», «Tabaris!». Das spezielle Quietschen der Reifen auf dem Beiruter
    Asphalt, das so anders klingt als bei uns. Hupgeräusche aus allen Richtungen
    – in Beirut fährst du mit den Ohren, hat Mazen Kerbaj einmal gesagt.
    Stotternde Mercedes-Motoren, die ihre besten Tage vor zwanzig Jahren
    hatten, als sie noch Schweizer Strassen befuhren. Das Surren der vielen
    elektrischen Drähte, das mich in den ersten Tagen in Beirut nicht Einschlafen
    liess. Das Klingen der Kirchenglocken, der Ruf des Muezzins zum Gebet. Das
    Hämmern und Bohren aus dem rasant wachsenden Stadtzentrum, das die
    halbe Stadt überzieht. Und vieles mehr. Eid wollte Sound-Archiv ihrer Stadt
    aufbauen, daraus sei allerdings leider nie was geworden. Bald arbeitete Eid
    immer erfolgreicher als Sound-Designerin für Film und Video. Sie gab
    Workshops für die Sound-Software «Pro Tools». Das Ohr sei ihr wichtiges
    Organ, sagte sie einmal. Mit ihrer Arbeit versuche sie langsam die Wunden
    des Krieges zu heilen. «Ich weiss nicht, wie ich dieses Toben am Himmel
    aushalten soll», sagt sie jetzt am Telefon: «Alle Erinnerungen kommen
    zurück. Ich will weg hier und will gleichzeitig bleiben. Da ist meine Familie. Ich
    weiss nicht, was ich tun soll.»

    Der Fernseher wurde inzwischen auf «Al Manar» umgeschaltet, den Hizbullah
    Sender. Nasrallah erklärt Israel den Krieg. Wie kann er das, frage ich mich. Ist
    er selbstzerstörerisch? Oder kümmert er sich kein bisschen um seine Heimat?
    Auf seine Rede folgen Videoclips. Laute, schrecklich pompöse Musik. Auf
    jeden Schlag zeigt der Clip einen Bombeneinschlag. Hizbullah-Krieger laden
    ihre Kanonen, die so unberechenbar nach Nordisrael hinein fliegen – ganz im
    Gegensatz zu den israelischen Raketen, die genau treffen, aber selten das
    richtige Ziel. Frauen mit Kopftüchern verwerfen ihre Hände über dem Kopf
    und schreien ihren Schmerz über den Verlust eines Nahestehenden in die
    Welt hinaus. Ein kräftiger, arabischer Chor preist die Stärke und Tapferkeit
    der Krieger und singt von Land und Boden. Am Ende des Clips schwenkt die
    Kamera auf den Felsendom in Jerusalem, das ultimative Ziel. «Uns geht es
    gut, wir sind in unserer Wohnung in den Bergen. Hier ist es sicher. Wir sehen

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    uns bald», schreibt Cynthia Zaven – sie macht Soundinstallationen – per
    SMS. Vor dem Café zieht eine Schar jugendlicher Syrer vorbei: «Hizbullah,
    Nasrallah, Bashar al-Assad!», skandieren sie.

    Ich denke an Raed Yassin. Letzte Woche habe ich einen ganz Tag lang mit
    ihm diskutiert und Musik ausgetauscht. In seinem dreiundzwanzig Minuten
    langen Werk «Featuring Hind Rostan» hat er Musik, politische Reden,
    Kriegsgeräusche, Werbespots, Radio-Jingles und Fernsehmelodien aus dem
    libanesischen Bürgerkrieg zu einer eindringenden Soundcollage verpackt.
    Hörerinnerungen, die viele Libanesinnen und Libanesen aus ihrem Gedächtnis
    streichen wollten, die aber noch immer sehr nah sind. Es sei sehr schwierig
    gewesen, diese Archivaufnahmen überhaupt zu bekommen, erzählte Yassin.
    «Auch die Radio- und Fernsehstationen mögen nicht in jene Zeit
    zurückschauen.» Im Stück hören wir die christlichen Milizenführer Samir
    Geagea und Bachir Gemayel reden, manchmal unterbrochen durch den
    letztes Jahr ermordeten Kommunisten-Führer Georges Hawi oder den Clan-
    Leader der Drusen, Walid Jumblatt. Dazwischen immer wieder Fetzen von
    Funk, Jazzrock, Synthesizer Pop, die damals in Beirut gespielt wurden – trotz
    Krieg: Discos und Clubs florierten in jener Zeit; die Partygemeinde wollte
    tanzen, wollte vergessen. Werbespots von verschiedenen Radiostationen
    bereichern die Collage. Sie stehen in absurdem Kontrast zum Alltag, in dem
    die libanesischen Krieger und Zivilisten in jener Zeit lebten: «Ich habe selten
    Zeit, herumzusitzen», sagt eine amerikanische Stimme, «und ich habe selten
    Zeit für eine richtige Mahlzeit. Darum esse ich Snickers. Ohne Snickers geht’s
    nicht.»

    Es soll während des Bürgerkriegs rund zweihundert Radiostationen gegeben
    haben. Jede Gemeinschaft, jede Miliz hatte ihren eigenen Sender, der laufend
    informierte, wer welche strategischen Schritte gemacht hatte, wer getötet
    worden war, welche Strasse gerade befahrbar war und welche nicht. Nach
    dem Krieg wurde das Fernsehen wichtiger. Wenn ich jetzt, inzwischen im
    Hotelzimmer, durch «Future TV», «LBC», «Télé Liban», «NBN» und andere
    libanesische und arabische Sender zappe, finde ich denselben Mix, den ich in
    «Featuring Hind Rostan» gehört habe. Schlechte Popvideos, schlechte
    Seifenopern und immer wieder Krieg. Einfach alles dreissig Jahre später.

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    «Hi Tom, wir haben wieder ein Blutbad hier», schreibt Gharo Gdanian von der
    Death Metall Band Weeping Willow per SMS: «Ich bin zuhause und dresche
    wütend auf meine Gitarre ein. Hoffe auf bessere Zeiten.» Noch heute träume
    er manchmal vom Krieg. Er schaue Horrorfilme, Happyends möge er nicht,
    hat Gdanian vor einer Woche erzählt: «Meine Musik spielt auf der dunklen
    Seite des Lebens, der Song Remains of a Bloodbath handelt von Beiruts
    wüster Vergangenheit. Ich habe in meinem Leben einiges gesehen.»

    Weeping Willow ist – oder war? – der extreme, laute Flügel einer
    aufstrebenden, subkulturellen Musikszene in Beirut. Am anderen Ende der
    Skala war vielleicht Ziyad Sahhab. Mit ihm habe ich eben noch das Stück «Ma
    ana bahibb ar-Rawwaq» analysiert. Eine arabische Oud, ein arabischer
    Qanoun, eine Geige, Gitarre und E-Bass spielen diese so wunderbar verzierte
    und doch behutsam sich entwickelnde Melodie. Sahhab singt über sie hinweg
    mit seiner tiefen, Leonard Cohen Stimme, dass er aus Fehlern lernen und sich
    in Ruhe weiterentwickeln möchte. Sahhab versucht, seinen persönlichen
    künstlerischen Weg zu finden. Wie viele Musiker hier: Zeid Hamdan mit seinen
    Trip-Hop Gruppe Soap Kills und seiner Post-Rock Band «The New
    Government»; Hayaf Yassine mit seiner selbstgebauten Santur, auf der er alte
    arabische Musik spielt; Rayess Bek, der davon rappt, dass sich die
    verschiedenen Religionsgemeinschaften in Libanon noch immer voller
    Misstrauen begegnen; die Pianistin Joelle Khoury, die immer wieder
    internationale Komponisten und Musiker zu Workshops einlud und vor zwei
    Wochen mit einem Orchester aus klassischen Musikern, Free Jazzern und
    Jazzern Kompositionen von John Cage spielte. Nach dem Konzert war sie
    überglücklich und meinte, dies seien die seltenen Momente, für die es sich
    gelohnt habe, so lange zu kämpfen. Alle diese Musiker – und einige mehr –
    gründeten eigene CD-Labels, vernetzten sich international und entschieden
    sich dafür, in Libanon zu bleiben und etwas aufzubauen. Sie waren in guter
    Gesellschaft. Die Zivilgesellschaft wurde grösser, unabhängige
    Medienplattformen wie indymedia Beirut, die Schwulen- und Lesben NGO
    Helem, Naturschutzorganisationen und viele mehr sprachen Tabus und neue
    Themen an. Sie wollten Schritt für Schritt vorwärts gehen, glaubten aber
    nicht mehr an die grossen politischen Fragen. Zwar beteiligten sich an den
    Massendemonstrationen, die im letzten Frühjahr zur Bildung einer neuen

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    Regierung führten, aber sie trauten den Politikern nicht, die bereits im Krieg
    dirigiert hatten und sich in letzter Zeit versöhnlich zeigten. Den National
    Dialogue, der in den letzten Monaten immer wieder alle politischen Clan-
    Führer des Landes – inklusive Nasrallah – an einen Tisch geführt hatte,
    empfanden viele als Theater. Es scheint, sie hatten Recht. Liefen die
    Reformen zu langsam? Wird Libanon jetzt dafür bestraft? Oder wäre dieser
    Krieg ohnehin nicht zu verhindern gewesen?

    Diese aktive Szene ereichte immer breitere Bevölkerungsschichten. Sie war
    drauf und dran, dieses Land zu verändern. Der eher düstere intellektuelle Film
    «A Perfect Day» von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige etwa wurde in den
    Multiplex-Kinos der grossen Beiruter Shopping Malls gezeigt, im Herzen also
    der libanesischen Konsumwelt, die vielen Intellektuellen und Künstler so auf
    die Nerven geht. «Mit extremem Konsum verdrängen die Libanesinnen und
    Libanesen die Erinnerungen an den Bürgerkrieg», schreibt Samir Khalaf,
    Soziologe und Professor an der Amerikanischen Universität Beirut. Die jungen
    Künstler haben dieses und andere Tabuthemen immer öfter angesprochen.
    Sie haben es geschafft, damit erste Brücken zur breiteren Bevölkerung zu
    schlagen. Diese Brücken – wie auch jene aus Stein – sind nun erst einmal
    brutal kaputt gebombt worden.

    Waren all die Aufbaubestrebungen für die Katz? Ich ärgere mich über die
    Weltgemeinschaft, die redet und redet, und nichts tut. Und wenn, dann das
    Falsche!? Humanitäre Hilfe nach Libanon, gleichzeitig Waffen nach Israel.
    Inzwischen sind wir in Amman. Im books@café, dem lokalen Szenetreff,
    finden wir Zeid Hamdan. Er habe in Beirut ein Benefizkonzert organisiert, sagt
    er. Und jetzt sei er hier, um arbeiten zu können. Übermüdet sieht er aus.
    Demnächst spiele er mit «The New Government» in Kairo: «Wir müssen Geld
    sammeln, für die über 500’000 Vertriebenen». Auch Mazen Kerbaj arbeitet
    ununterbrochen. Er hat auf «Kriegsmusik» umgestellt und improvisiert auf
    seiner Trompete zu den Sounds der Bomben – die israelischen Piloten nennt
    er Soundkünstler. Immer und immer wieder trifft er sich mit Raed Yassine und
    Sharif Sehnaoui. Wie soll es nur weitergehen, mit der freien Impro Szene
    Beirut?

    Wir ziehen noch diese Woche nach Damaskus weiter, entscheiden wir. Zurück
    in Richtung Libanon. Der Schlüssel zu unserer Beiruter Wohnung steckt noch
    in unserem Koffer; wir hoffen noch immer, dass wir ihn bald wieder
    rausnehmen können.

    Dieser Artikel ist in der Wochenzeitung «Die Zeit» erschienen.

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    → Published on July 31, 2006

    → Last updated on October 20, 2020

    Thomas Burkhalter is an anthropologist/ethnomusicologist (PhD), AV-artist, and
    writer from Bern (Switzerland). He is the founder and director of Norient, the Norient
    Space (Norient.com), and the founder and strategic director of the Norient Film
    Festival (NFF). He co-directed documentary films (e.g. “Contradict”, Berner
    Filmpreis 2020 + Al-Jazeera Witness) and AV/theatre/dance performances, is the
    author and co-editor of several books, teaches regularly at universities, and runs
    workshops for arts institutions. His experimental radio feature, «Gqom Edits – A
    Durban Visit», was nominated for Prix Europa in 2017. Currently, he is working on a
    new music project, and on the experimental podcast series’ Timezones and South
    Asian Sound Stories with musicians from the UK, Bangladesh, India, and Pakistan.

    → Topics

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    Countries: Lebanon

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