Das entfremdete Leben - Schnittstelle zwischen Mitgefühl und abstraktes Denken

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Das entfremdete Leben      -   Schnittstelle zwischen Mitgefühl und abstraktes
Denken*

Arno Gruen

Pfarrei Zünch-Liebfrauen, 1 8.0 1 .2013 .

Die Architektur des Bewusstseins ist nicht nur vernachlässigt worden, sie ist
übertüncht von der Annahme, dass unser Bewusstsein ganz selbstverständlich
durch Feinddenken bestimmt ist. Alle anderen Bewusstseinzustäinde werden
deswegen als naiv eingestuft und gelten darum als wertlos für das weitere
Nachdenken. Feinddenken jedoch basiert auf den frühesten Verhaltensmustern,
die ausgelöst werden, wenn ein Säugling von Reizüberflutung so überwältigt
wird, dass er sich von seiner Umwelt zurückziehen muss und so seine
existentielle Menschlichkeit nicht aufbauen kann. Das bedeutet, sie zu verlieren.

Es ist eine Tatsache, dass die Dichter dies immer gewusst haben. Der
amerikansche Dichter Gary Snyder (2011) sagte : ,,Es gibt einen Geisteszustand,
 der von dem rein ekstatischen unterschieden werden muss, in welchem die
 unmittelbarsten und persönlichsten Wahrnehmungen mit den archetypi schen
 und rituellen B eziehungen der menschlichen Gesell sch aft. zum Weltall
 verschmelzen. Dichtung, die daraus gemacht ist, ist nicht ,automatisch', sie ist
jedoch häufig mühelos, und sie schliesst das Vergnügen eines gelegentlichen
geistigen Einfallsreichtums und der Anspielungen nicht aus. Meine besten
Gedichte fliessen aus einem solchen Zustand...". Die Architektur des
Bewusstseins, die daraus entsteht, basiert auf Annäherung und nicht Rückzug.
Sie gründet auf Zuwendung zu anderen Menschen, auf einem unmittelbaren und
weit verzweigten Gefühl für die Person und ihre Menschlichkeit, und nicht auf
Rückzug und Feinddenken.

*Basiert auf des Authors:
                          ,,Dem Leben entfremdet: Warum wir wieder lernen
müssen zu empfinden", Klett-Cotta 2013.
Viele Anthropologen haben das Denken und Fühlen von Völkern, die unberührt
 von unserer Zivilisation bleiben konnten, beschrieben, ohne zu erkennen, dass es
 um grundsätzliche Unterschiede im Bewusstsein geht, die eine Architektur, das
 heisst den Aufbau oder Nicht-Aufbau, der Empathie, betreffen. Diamond (1979)
 und Sorenson (1998 ,2006), sind zwei Autoren, die jedoch dieser Erkenntnis
 nahe kommen. Sorenson beschreibt auch den Zusammenprall dieser zwei
 Bewusstseinsformen und ihre Inkompatibiltät (1995). Auf der Basis seiner
jahrelangen Forschungen beschreibt er das Bewusstsein der sogenannten
 Primitiven, also von unserer Zivilisation unberührten völkern, als
 Eines, das auf Annäherung und Hinwendung beruht, da es auf einem integrierten
 Vertrauen zwischen Menschen aufgebaut ist. Und dieser Aufbau basiert auf
 einer Kinder- und -Säuglingspflege, in der ein Kleinkind in andauerndem
 Körperkontakt mit der Mutter oder ihren Freunden blieb. Diese Babys reagierten
 auf diese empathische taktile Stimulation mit eigenen taktilen
Antworten. Weder schreien noch wimmern solche Kinder, sondern sie berühren
 die bemutternde Person auf taktile Art. Auf diese Weise kommt eine
hochentwickelte präverbale Kommunikation zustande, eine Art der
Bewusstheit, wie wir sie gar nicht kennen. Unter diesen Umständen tritt
Geschwisterrivalität nicht auf. ,,Wenn Nahrung, Komfort und Stimulation
dauernd vorhanden sind, müssen die Kleinkinder nicht hilflos warten, bis ihre
Bedürfnisse erfüllt werden." Es entwickelt sich auch kein emotionales
Bedürfnis, das sich für seine Befriedigung auf abstrakte Erwartungen der Eltern
fokussieren muss. Das sich hier entwickelnde Bewusstsein unterscheidet sich
von unserem ganz grundsätzlich. Es sind nicht nur abstrakte Erwartungen, die
bei uns für eine Divergenz der Bewusstseinsentwicklung sorgen, sondern auch
die Totalität einer ganz anderen Stimulussituation von Geburt an. Die
Lernerfahrungen, die ein Säugling macht, sind eng verbunden mit der Totalität
der Stimuluswerte, die in dem Beziehungsgefiige zwischen dem Säugling und
seiner Umwelt herrschen. Um die Welt empathisch zu erproben, muss es dem
Säugling möglich sein, sich seiner Umwelt zuzuwenden. Dies kann nur dann
geschehen, wenn seine Beziehun g zur stimulierenden Umwelt durch niedrige
Intensitätswerte gekennzeichnet i st. Schne irla zeigte ( I 959), dass eine
zweigabelige organische Basis für die emotionelle Sinnesstimulusstimulation
schon bei der Geburt existiert. Niedrige Stimulusintensitäten lösen Reaktionen
der Annäherung aus; hohe Stimulusintensitäten bewirken dagegen das
ZuriJ'ckziehen. Dadurch entsteht eine Förderung der empathischen Vorgänge,
vorausgesetzt, dass zwischen Säugling und Mutter Zuwendung existiert. Dieses
Entgegenkommen garantiert dem Kind, dass es nicht von einem Übermass an
Stimulation überwältigt wird. J.L. Fuller (1967) zeigt in seiner Arbeit über
Reizverminderung, dass ein Lebewesen nichts lernen kann, wenn es ihm
unmöglich wird, sich in einer Stimulussituation auf deren essentielle
Bestandteile zu konzentrieren, indem es andere Elemente ignorieren kann. Eine
Mutter, die ihr Kind intuitiv vor Reizüberflutung beschützt, legt so in ihm den
Grundstock, aus seinem eigenen Selbst heraus lernen zu können. Das Eigene
bedeutet hier immer die empathische Wahrnehmung. Diese jedoch
verschwindet, wenn Reizüberflutung zur dauernden Erfahrung einer
Hilflosigkeit führt, die das Kind mit Stimulusintensitäten überhäuft und zum
Rückzug zwingt.

Dies bewirkt eine Bewusstseinsentwicklung, die vom Feinddenken geprägt ist
und das Empathische unterdrückt. Die organische strukturelle Grundlage dafür
wurde von Weaver und Welch sehr klar belegt. Weaver und seine Mitarbeiter
zeigten 2004, dass das Gen NGFI-7 A, das die Reaktion auf Stress ermöglicht,
nicht ausgeschüttet werden kann, wenn die mütterliche Zuwendung ungenügend
war. Martha Welch (2004 a,b) wies nach, dass das Anti-Stress-Neuropeptid
Secretin nicht ausgeschüttet wird, wenn ein Kind keine mütterliche Zuwendung
erhält. Wut, Hilflosigkeit und verhinderte oder unterdrückte empathische
Entwicklung sind das Resultat.

Das Bewusstsein des Kindes wird dann von der Erfahrung der Hilflosigkeit
beherrscht. Dann entwickeln sich entweder Zweifel über sich selber und die
Suche nach dem Verlorenen, oder die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein
werden vom Bewusstsein verdrängt und abgespalten. Das heisst, dass alles, was
im Zustand der Hilflosigkeit erlebt wurde, wie Angst, Leid und Empathie,
welche zum Menschlichsein führten, ausgeschaltet werden. Das resultierende
Bewusstsein erhält diese Spaltung aufrecht, indern es Hilflosigkeit zum Objekt
von Ablehnung und Hass macht. Es ist die Hilflosigkeit, die einen bedroht, und
nicht die Situation, die sie verursacht hat. In diesem Bewusstsein rächt man sich
dauernd an allem, was die eigene Hilflosigkeit hervomrfen könnte. Deswegen
wird ßie auch verachtet. Diese Verachtung und die dahinter liegende verneinte
eigene Angst fördern die Notwendigkeit einer kompensierenden Ideologie der
Macht und des Herrschens. Auf diese Weise treten Opfer auf die Seite ihrer
Unterdrücker, um neue Opfer zu finden; ein endloser Prozess, durch den ein
Bewusstsein geschaffen wird, das den Menschen verunmenschlicht. Ein
unablässiger Drang nach Henschaft, Erfolg und Leistung tritt an die Stelle der
Menschlichkeit und schafft ein Bewusstsein, das auf abstrakten Formeln wie
Wachstum, Grösse und Profit basiert. Das Verheerende ist daher oft, dass dieses
Bewusstsein empathi sches Mitfühlen nachahmt, al so Lippenbekenntniss e zur
Empathie macht, um dann im Namen des Fortschritts diesen zu verfälschen.
Und so werden Güte und Anteilnahme missbraucht, um andere Menschen in
Abhängigkeit zu halten.

Dies bedeutet, dass ein Bewusstsein, das auf abstrakte kognitive Formeln
aufgebaut ist, mit den Hoffnungen der Unterdrückten spielt, die Herrschenden,
mit denen sie sich identifizieren, würden ihr Leiden mildern. Diese
Identifizierung mit ihren Unterdrückern, die ihre Entstehung den ungleichen
Machtverhältnissen zwischen Kind und Eltern in unserer Kultur verdankt, ist ein
Aspekt dieses Bewusstseins, welches aus dieser Unverhältnismässigkeit
entsteht.

Wie anders verhält es sich, wenn auf Kinder eingegangen wird, wenn Säuglinge
und Kleinkinder andauernden körperlichen Kontakt mit ihren Müttern oder
deren Freunden erleben. Sie werden auf dem Schoss gehalten, wenn ihre Mütter
sitzen, auf der Hüfte, unter dem Arm, gegen den Rücken oder auf die Schultern
platziert, wenn die Mutter steht. Die Babys werden nie hingelegt, auch nicht
während des Kochenso oder wenn schwere Ladungen zurechtgerückt werden. Da
ist immer ein Platz für das Kind gegen den Körper der Mutter oder derenErsatz.
So entbehren sie nie den interaktiven körperlichen Kontakt. Sorensen beschreibt
dies für Völker in der Central Range von New Guinea, Jean Liedloff für die
Yequena in der Region des venezolanischen Flusses Caroni (1980). Der
körperliche Kontakt wurde zu einer Körpersprache, die, weil sie auf
unmittelbarer Berührung basierte, eine Sprache der direkt erlebten Wahrheit
war. Wenn Kinder in diesen Kulturen später verbale Sprache entwickeln,
werden ihre Worte immer vollständig wahrgenommen und nie als
Kindersprache verniedlicht und damit abgetan. ,,Baby talk" war unbekannt
(Daniel Everett 2009). Diese Ausdrucksform ist eine Verniedlichung der
Sprache des Kindes und eine An das Reden von Kleinkinder nicht ernst
zunehmen. Wir, in unserer Kultur, degradieren unsere Kinder durch diese
scheinbar,,nette und liebende Art", mit ihnen umzugehen. Everett (S. 278)
schreibt, dass die Pirahä im Amazonasurwald von Brasilien ihre Kinder als
gleichberechtigt behandeln und deswegen ihr Sprechen als verantwortungsvolle
Kommunikation wahrnehmen. Auf diese Weise wird das Reden für diese Kinder
zu einer verantwortungsvollen Tat, wodurch ihr Bewusstsein frei ist von
Verdrehungen, Täuschungen, Ausreden und Prahlerei.

In westlichen Kulturen dagegen ist die verbale Stimulation und nicht
empathische taktuelle Berührung ein Hauptanliegen, weil dadurch eine
kognitive Entwicklung gefördert wird, welche die Ideologie einer scheinbaren
Unabhängigkeit und Selbstsicherheit unterstützt. Aber, wie die
amerikanische Anthropologin Meredith Small (1997) zeigt, sind
 "amerikanische Eltern sich nicht bewusst das Babies bei der Geburt
neurologisch noch nicht vollkommen entwickelt sind, das diese Entwicklung
erst durch eine symbiotische Beziehung zwischen den Erwachsenen und dem
Säugling vollendet wird. Stadtdessen wollen sie, dass diese Bindung so schnell
wie möglich unterbunden wird, um das Baby zu Unabhängigkeit zu bringen.
Diese Ideologie sorgt dafür, dass Eltern in einen ständigen Konflikt mit ihren
Babies sind". Hier haben wir die Basis einer Bewusstseinsentwicklung, die das
Empathische verdrängt und Terror und Hilflosigkeit zu ihrem Fundament macht.
Aus Unabhängigkeit und Selbstsicherheit lässt sie Triebe entstehen, welche den
entstehenden Terror und Hilflosigkeit verneinen müssen. Das bedeutet, dass die
Unabhängigkeit und Selbstsicherheit, die wir züchten, eine Fata Morgana sind,
denn dahinter steckt eine Angst, die nicht zugelassen werden darf. Das heisst,
dass der versteckte Motor Unsicherheit und Verletzbarkeit ist, weil die
empathische Zuwendung gestört ist .

Es sind die Dichter, die uns immer wieder auf diese Wahrheiten aufmerksam
machen. Ein gutes Beispiel stammt aus dem babylonischen Text des
Gilgamesch-Epos. Im 3. Jahrtausend v. Chr. herrschte dieser mesopotamische
König in der Stadt Uruk. Er sah sich als zu einem Drittel menschlich und zu
zwei Dritteln göttlich. Das Epos berichtet von seinen Heldentaten und seiner
Suche nach Unsterblichkeit, alles Wege, eine grundsätzliche Unsicherheit zu
kompensieren. Aber die Dichter des Epos erkannten etwas anderes wenn sie
schrieben: ,,Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du
nicht finden! Als die Götter die Menschheit erschufen, wiesen sie ihr den Tod
zu, nahmen das Leben in ihre Hand." (Geneviöve Lüscher,20II). Sie sahen der
Unsicherheit und Verletzlichkeit, welche die Zivilisation mit sich bringt, ins
Auge.

Unser Bewusstsein ist ein anders als dasjenige der,,Primitiven". Sie sind
eingebettet im Gefüge ihrer Gemeinschaft. Dies hat in den ,,zivilisierten"
Kulturen zu der Annahme geführt, dass der ,,Primitive" ein blosser Reflex seiner
Gruppe sei. Was viele Anthropologen und andere Geisteswissenschaftler nicht
verstanden, war, dass Individualismus und die Verbundenheit mit der
Gemeinschaft keine Gegensätze sind. Widerspruch ist eine Funktion unserer
abstrakten Denkart, weil wir glauben, dass sich Unabhängigkeit und
Gemeinschaft widersprechen, dass Gemeinschaften Verlust der Individualität
bedeutet. Trotzdem beschreiben Anthropologen immer wieder die Vielfalt der
Persönlichkeiten bei primitiven Völkern.Im Vergleich zu ihnen sind wir eng
und stereotyp. Wenn wir uns diese Unterschiede näher ansehen, merken wir,
dass die Unabhängigkeit, von der wir so besessen sind, mit der Angst vor Nähe
einher geht. Da bei uns Terror und Hilflosigkeit so endemisch sind, ist die
o,Liebe", die wir erfahren, oft eine Gefahr, weil sie dazubenutzt wird, uns den
Erwartungen der Eltern anzupassen und das Eigene zu verdrängen. Die
Ideologie unserer Unabhängigkeitserziehung negiert das Eigene des Kindes. Wir
glauben gar nicht, dass Kinder von sich aus unabhängig sein können. Die Angst,
die unsere Erziehung erzeugt,führt deshalb zur Angst vor Nähe, weil sie das
Eigene unterdrückt. Dadurch wird Nähe zur Gefahr. So ist Unabhängigkeit bei
uns durch das Vermeiden von Nähe gekennzeichnet. Nicht so bei den
,,Primitiven", deren früheste empathische Berührungswelt von Sicherheit und
Zuwendung geprägt ist. Bei uns dagegen wird Liebe zur Gefahr. Was dann als
,,Liebe" erlebt wird, ist nicht Liebe für die Individualität des anderen, sondern
Eigenliebe. Es ist ein narzissistisches Spiegelbild, das man dem anderen
aufsetzt, weil die Liebe frir den anderen zu einer Gefahr in der frühsten Kindheit
wurde.
Dass Individualismus und Einheitsgefühl mit der Gruppe als Widerspruch
gelten, folgt aus der Abstraktion, die unser Bewusstsein prägt. Gemäss ihrer
Logik sind diese zwei im Widerspruch, weil wir Gruppenzugehörigkeit als
Verlust des Eigenen erleben. Das stimmt natürlich bei uns, da wir konditioniert
sind, mitzumachen, um nicht als Aussenseiter zu gelten. In unserer
rationalisierten, von abstrakten Ideen über unser erwünschtes Wesen geformten
Zivilisation haben wir es mit standardisierten Personen zu tun und nicht mit
einer natürlichen Vielfalt. Das Individuum läuft dauernd Gefahr, sich in einer
Funktion oder einem Statusideal aufzulösen (Goffmann 2006). Wir, die wir uns
für so individualistisch halten, verwechseln die Konstruktion einer Persona mit
der eigenständigen Entwicklung eines Selbst.

Dies steht in grossem Gegensatzzur Persönlichkeitsentwicklung bei den
Urvölkern, welche auf empathischer Zuwendung basien. ,,Jeder denkbaren An
der Verwirklichung oder Ausserung der Persönlichkeit wird in der primitiven
Gesellschaft freier Spielraum gewährt", schrieb Paul Radin (1957) , ein
Anthropologe mit enorrner Felderfahrung. Bei ihnen wird ,,über keinen Aspekt
der menschlichen Persönlichkeit als solcher ein rnoralisches Urteil
abgegeben...".

Diamond ( Seite 121) fast Radins Standpunkt so zusammen: ,,Geh völlig nach
aussen, doch kenne dich selbst und nimm die Folgen deiner eigenen
Persönlichkeit und deiner Handlungen auf dich." Das trifft auf die
Verbundenheit von Gemeinschaft und Individualität zu und zugleich auch auf
die damit verbundene Verantwortung für das eigene Sein. Bei uns, wo wir mit
einer Geisteshaltung durchdränkt sind, die uns o,ungebunden" und unbeteiligt
sein lässt, bleiben wir geteilt und ohne die innere Einheit der empathisch
Gebundenen.

Im Namen des Individualismus produziert die Zivilisation Persönlichkeiten, die
sich auf stereotype Weise gegen empathisches Erleben wehren und dadurch
grundsätzlich voneinander isoliert sind. Da ihre Rollenspiele dem öffentlichen
Verhalten gelten, produzieren sie ein scheinbar der Gemeinschaft gewidmetes
Leben. Und so wird, unter dem Deckmantel des Gemeinschaftlichgesinnten dem
Geseltschaftlichen dauernd Gewalt angetan. ,,Eine Öffentlichkeit", schrieb
Kirkegaard (1962),,,ist weder... eine Gemeinschaft, noch eine Gesellschaft...".
Dieses sich öffentlich Geben ist, wie Diamond es so schmerzhaft ausdrückte,,,
eine Verdinglichung, eine Projektion unseres unvollständigen Lebens...". Unser
Bewusstsein nimmt dies aber als eine universale An des Seins an. Die
Identifizierung des ,,Ichs" mit Ausserlichkeiten führt zu einem Verhalten,
welches den Besitz von Dingen dem gleichsetzt, wer man ist, also zu einem
imaginären Sein. Das ist magisches Denken, das aber als Wirklichkeit erlebt
wird und deswegen als Beweis gilt für unsere Überlegenheit gegenüber dem
magischen Denken der Urvölker. Für diese jedoch hat Magie mit Beziehung zu
tun, mit einem Versuch, andere oder die Natur zu beeinflussen. Das ist anders
als die Magie, die erreicht, dass man die Welt und sich selber, wie Martti Siirala
(1972) es formulierte, auf halluzinatorische Weise in Besitz nimmt.

Ein Bewusstsein, das auf Abstraktionen basiert und das Empathische verdrängt,
entfernt den Menschen von der Realität. Es führt zu den uns zerstörenden
gewalttätigen und gewaltigen Kriegen, welche die Geschichte der Zivilisationen
charakterisieren. Es resultiert in einer grundsätzlichen Unverantwortlichkeit den
Menschen gegenüber, die aber vollkommen verdeckt ist durch ein Heldentum,
das die ihm unterliegende Hilflosigkeit verneint. Diese Hilflosigkeit und der sie
begleitende Terror sind das Resultat ungenügender Zuwendung von Geburt an.
Es geht nicht darum, primitive Formen auf zivilisierte Strukturen aufzupfropfen
oder sich in die primitive Vergangenheit zlrückzuziehen, oder ein
vermeintliches verlorenes Paradies zurückzugewinnen, es geht darum, zu lernen,
dass ein empathisches Bewusstsein dem Menschen ermöglicht, sich mit seiner
Geschichte wieder zu vereinigen. Aber um das zu bewerkstelligen müssen wir
erst erkennen, dass es diese zwei Arten des Bewusstseins gibt.

Eibl -Eibe sfel dt (I97 0), Verhaltensforscher am Max-Pl anck-Institut für
Völkerkunde in München, beschreibt eine Interaktion zwischen einer Eipo-
Mutter in West-Neuguinea und ihren zwei Kindern. Sie lässt Hilflosigkeit,
Ohnmacht und Terror gar nicht aufkommen, weil die Mutter des Kindes
Fähigkeit die Umwelt von sich aus zu bewegen unterstützt und nicht
unterdrückt. Es ist die oft unbedachte Unterdrückung der eigenen Möglichkeiten
des Kindes, welches Hilflosigkeit und auch Angst schürt. Die Kinder dieser
Muffer, ein Junge von ungefähr drei Jahren und eine jüngere Schwester, fangen
an zu schreien, weil das Mädchen nach dem Tarostück greift, das ihr Bruder
gerade isst. Die Mutter eilt sofort herbei, und der Junge reicht ihr das Tarostück.
Sie bricht es in zwei Teile und gibt beide dem Jungen zurück. Er bemerkt
erstaunt, dass er jetzt zwei Stücke hat und gibt eines seiner Schwester. Wir
hätten es anders gemacht, indem wir die zwei Stücke von uns aus verteilt hätten,
um den Kindern auf diese Weise das Teilen beizubringen. Wir glauben im
Grunde nicht, dass ein Kind von sich aus teilen könnte. So handeln wir
entsprechend unseren Vorurteilen und schränken unsere Wirklichkeit ein. Eine
derart verformte Wirklichkeit der menschlichen ,,Natur" wird so permanent
weitergegeben.

 Indem wir die Möglichkeiten des Kindes nicht erkennen, missachten wir seine
 Grenzen, infantilisieren es und machen es abhängig und es bleibt voller Zweifel
 über sich selber. Wie anders verhält es sich in den thailändischen Dörfern, die
 Sorensen beobachtete: ,,Mit dem Wachstum der Kleinkinder begannen sich ihre
 Interessen auf die vorhandenen Materialien, Objekte und Aktivitäten zu
 erstrecken. Sie verfügten über eine unglaubliche Freiheit, momentanen Einfällen
 und Interessen nachzugehen. Zuerst hielten sie mit einer Hand noch die Mutter,
 die andere streckten sie aus. Dann machten sie kurze Ausflüge, die sie immer
 weiter weg von der Mutter führten. ...Obschon die Mutter oder ein Geschwister
 manchmal nickten, um ein Kleinkind zu ermutigen, das über ein Fortkommen
 verunsichert schien, intervenierten sie nicht, noch steuerten sie das Interesse
 oder die eingeschlagene Richtung der Babys. Sie blieben genau dort, wo sie
 waren und setzten ihre Tätigkeit fort - aber als eine Bastion der Sicherheit zu
 der die kleinen Kinder zurückkehren konnten, um Trost, Unterstützu{tg oder ein
 Gefühl von Sicherheit zu bekommen. Obschon die älteren Menschen die Babys
nicht auf ihren Exkursionen begleiteten, waren sie immer bereit zu helfen, in
jeder Hinsicht. Die Kleinkinder machten bei den Tätigkeiten der älteren
Menschen mit; diese jedoch nahmen nicht an ihren Aktivitäten teil." Hier sehen
 wir wie die Erwachsenen das Eigene des Kindes von Anfang an respektieren
und sein Wachstum unterstützen. Indem wir Anweisungen geben, verhüten wir
die Entwicklung eines Bewusstseins, das auf empathischer Wahrnehmung
aufbaut.
t0

Was passiert, wenn diese zwei so widersprüchlichen Bewusstseinsformen
aufeinanderprallen? Liedloff beschreibt, wie einige Mitglieder der Yequanas,
die in die Zivilisation eintauchen mussten wegen einer medizinischen
Spitalbehandlung, bei ihrer Rückkehr verändert waren. Es brauchte längere Zeit,
um zum eigenen Selbst zurückzufinden. Sorenson verfolgt diese Verwandlungen
genauer, da er das Aufeinanderprallen ganz direkt beobachten konnte ( 1995,
1998). Er war auf den Phi Phi Inseln in Thailand, als mehrere Gruppen von
Touristen aus Korea und Taiwan dort für einige Stunden landeten. Was ihn so
schockierte war, wie die integrierten selbstlosen Gemeinschaften der
Inselbewohner sich in einen beliebigen verteidigungsaggressiven
Bewusstseinszustand verwandelten unter dem Druck eines Kompetiven,
ag gres siv zerspl itterten Sozial verhaltens der Touri sten.

Was er für Phi Phi Inselbewohner beschreibt, beobachtete er auch in New
Guinea; ,,die selbstlose Einheit, die so sicher und selbstheilend schien,
verschwand, um einer Einheit Platz zu machen, die log um zu leben. Diese
Erfahrung ging mit epidemischer Schlaflosigkeit einher, mit nächtelang wildem
Tanz,die Augen verengten sich und bekamen einen leeren Blick,
Sprachlosigkeit verschiedener Art trat auf, plötzliche Epidemien von
Entfremdung, Wahrnehmungslücken, Hyperkinese, Verlust sinnlichen Erlebens,
Liebesverlust sowie Impotenz. Angesichts der andauernden Konfrontation mit
Zorn,Täuschung oder Gier erlosch ein Bewusstsein, das auf Empathie aufbaute.
Sklaverei trat an die Stelle des Mitleids, Gier ersetzte Grosszügigkeit, und eine
primitive Sexualität die herzliche Harmonie." Hier können wir genau diejenigen
Symptome des Malaise beobachten, das so viele Menschen in unserer
Zivili sation betrifft: die Psychosomatik körperlicher Schmerzen, Kopfweh,
Rückenweh, Schlaflosigkeit, Impotenz und überhöhte sexuelle Aktivitat.

Wir sehen hier, was ein reduziertes Bewusstsein mit sich bringt, nur glauben wir
nicht, dass unsere Beschwerden eine fundamentale Ursache in unserem
Bewusstsein haben. Im Gegenteil, wir glauben sogar, dass die immer
ausuferndere Sexualität ein Zeichen von Männlichkeit und Stärke ist. Dass die
überwältigende Zahl von Rückenbeschwerden und Kopfschmerzen mit
unsäglicher Wut zu tun hat, wird zwar erkannt, nicht aber, dass unsere Art des
Bewusstseins mit der Erzeugung dieser Wut zu tun hat. Dies zu erkennen würde
1l

bedeuten, an das Fundament unserer      die Empathie unterdrückende Zivilisation
zu gelangen und Wettbewerb, Egoismus, Profitdenken, Wachstum und Leistung
in Frage zu stellen. Wir müssen deshalb unseres Bewusstsein zu einer
Integration des Cognitiven und des Empathischen zurücKühren.

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