"Versorgt und bestra/" - IG-Sozialhilfe

 
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"Versorgt und bestra/" - IG-Sozialhilfe
“Versorgt und bestra/”
 Zur Sozialgeschichte und Aufarbeitung
 fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in
              der Schweiz
  Vortrag im Kafi Klick, Zürich, am 10. Dezember
2017, zum internaGonalen Tag der Menschenrechte
                        von
       Dr. Thomas Huonker, Historiker, Zürich
            www.kinderheime-schweiz.ch
                  www.thata.ch
     www.uek-administra:ve-versorgungen.ch
"Versorgt und bestra/" - IG-Sozialhilfe
“Versorgt und bestra/” - ein Titel, der zu
einigen Fragen und Präzisierungen Anlass gibt.
“Versorgt”? Der Volksmund bevorzugte die
Formulierung “versenkt”. Sicher war der
deklarierte und im Prinzip der Lage des
Betroffenen angemessene Zweck einer
Anstaltseinweisung die fürsorgliche Versorgung,
die Sicherung der Lebensgrundlagen, Nahrung,
Kleidung, Wohnraum, Bildung, bei Hilflosen und
Kranken auch Betreuung und Pflege.
Es gab jedoch strukturelle Aspekte, welche
diese deklarierten fürsorgerischen Ziele
saboGerten und ins Gegenteil verkehrten.
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Zerstörerische und diskriminierende Aspekte der
“Armenversorgung”:
Die “Versorgung” dieser Art in “RePungsanstalten”,
“Armenerziehungsanstalten”, Armenhäusern, “Armen-
anstalten”, Zwangsarbeitsanstalten und “Arbeits-
erziehungsanstalten” war im Kern “armenpolizeilicher”
Natur und betraf vorwiegend die Unterschichten.
Für die Menschen in schwierigen SituaRonen aus der
Oberschicht gab es FamiliensRTungen, Internate,
Sanatorien der gehobenen Art. Viele Probleme wie
MiPellosigkeit oder Arbeitslosigkeit haPen diese zudem
viel seltener. Reiche, die nicht arbeiteten, sondern ein
“ausschweifendes” Luxusleben führten, kamen in der
Schweiz nicht in die Zwangsarbeitsanstalt.
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Genauso zerstörerisch wie er heute auf die IV, die
AHV und die Sozialhilfe wirkt, ebenso oder, da
auf Referem Gesamtniveau, noch zerstörerischer
wirkte auch früher der Steuersparwille.

Die “Versorgung” musste so billig sein wie
möglich, Essen und Kleideung der “Versorgten”
waren o/ Frass und Lumpen. O/ ging die
Zwangsarbeit, meist in der Landwirtscha/, auf
Kosten der Bildung. Die Folge: Schlechte
berufliche PerspekGven.
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“Bestra/”? Eigentlich sollte eine “Versorgung”
keine Bestrafung sein, sondern Fürsorge, Hilfe.
Weil die “Versorgung” aber, vor allem im Fall der
administraRv “Versorgten”, teilweise direkt in
Zuchthäusern und Strafanstalten (wie Belle-chasse,
Realta, Hindelbank), teilweise unter ähn-lichem
Regime in anderen Anstalten vollzogen wurde,
wirkte sie, und dies durchaus beabsichRgt, als
Strafe, obwohl gar keine Stra/atbestände
vorlagen, nur Zuschreibungen wie “renitent”,
“liederlich” oder “arbeitsscheu”. Sie versah die
“Versorgten” lebenslänglich mit einem SGgma,
einer negaGven Abstempelung.
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Die “lebenslängliche Hauptstrafe” für die
Opfer von fürsorgerischen Zwangsmass-
nahmen, die sie sRgmaRsierten, ihre Integ-
rität verletzten, die mit DemüRgungen und
Missbrauch, mit seriellem Kasernenbetrieb,
Uniformierung und Kommando-Erziehung
verbunden waren, diese lebenslängliche
Folge war und bleibt ihre seelische
TraumaGsierung. Eine Einschränkung und
Beschädigung der ganzen Persönlichkeit,
die nur mit Glück und guter Therapie
einigermassen auszuhalten ist.
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Formen von fürsorgerischer “Versorgung”:
Fremdplatzierung, Verdingkinder: seit dem
MiPelalter
Waisenhaus, Zuchthaus: in Zürich seit 1637
KorrekGonsanstalten, Zwangsarbeitsanstalten,
AdministraGve Versorgung:
In Zürich seit 1874 (Vorläufer in Kappel ab 1836)
Irrenhaus, psychiatrische Klinik:
in Zürich seit 1870 (vorher “Taublöcher”)
ZwangssterilisaGonen, ZwangskastraGonen:
in Zürich seit 1890
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Die traurige Lage der behördlich an die billigsten
Plätze verbrachten schweizerischen Verdingkinder
wurde in der Literatur seit 1837 thematisiert – doch in
der Sozialgeschichte erst seit 1990, auf breiterer
Ebene erst seit 2004.
Holzschnitt von Emil Zbinden, 1937
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„Man ging herum, betrachtete die
Kinder von oben bis unten, die
verblüB dastanden, betrachtete
ihre Bündelchen und öffnete sie
auch und betastete die Kleidchen
Stück für Stück; fragte nach, pries
an, gerade wie auf einem Markt.“
(Go`helf, Bauernspiegel, 1837)
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Ein Berner Armeninspektor inspiziert den
Zustand eines Verdingmädchens (1940)
Foto: Paul Senn
Verdingkinder
waren, wie
Heimkinder,
oft Opfer von
Misshandlung
und sexueller
Gewalt.
Nur in einigen
sehr krassen
Fällen wurden
die Pflegeltern
dafür verurteilt.

Foto
Paul Senn 1944
Die bei Bauern billigst
                       untergebrachten
                       Pflegekinder aus armen
                       Familien, die schon ab 5
                       oder 6 Jahren, vor, nach
                       und auch an Stelle des
                       Schulbesuchs, in Stall, Feld
                       und Haus harte Arbeit ohne
                       Lohn verrichten mussten,
                       hiessen Verdingkinder.

Foto Paul Senn, 1944   Dieser Junge („Chrigel“)
                       wurde von seinen
                       Pflegeltern sexuell
                       missbraucht.
Schwabengänger
Saisonale Kindersklaven aus schweizerischen und
österreichischen Alpentälern arbeiteten von
Frühling bis Herbst im Allgäu, die letzten bis in die
1940er Jahre.

Grafik von 1848
Kinderarbeit in der Industrie ist in der Schweiz
(mit Ausnahmen) seit 1877 verboten. Sie ist
seit langem Thema der Sozialgeschichte und
wird in Schulbüchern erwähnt.

                                        Arbeitende
                                        Kinder in
                                        der
                                        Textil-
                                        industrie
                                        um 1870
Seidenzwirnerei der Mädchenanstalt
Tagelswangen bei Zürich um 1920
Im 18. Jahrhundert wurden in Zürich und Bern palastartige
Waisenhäuser errichtet, aber nur für die Kinder der Patrizier.
Beide wurden um 1900 zu Polizeikasernen umfunktioniert,
Die Waisen, darunter nun auch immer mehr „Sozialwaisen“,
die z.B. nur einen verbliebenen, vermögenslosen Elternteil
hatten, kamen in bescheidenere Waisenhäuser am
Stadtrand.
                                                     Waisen-
                                                     haus
                                                     Zürich,
                                                     heute
                                                     Polizei-
                                                     wache
                                                     Urania
Auch das 1783 erbaute Waisenhaus für
Stadtbürger in Bern ist heute Sitz des
Polizeikommandos.
Im Waisenhaus Bern trugen die Knaben um 1910 Uniform und
erhielten guten Schulunterricht. Viele von ihnen konnten eine
Lehre machen, im Unterschied zu den meisten Verdingkindern.
Kinder in Heimen, im 19. Jahrhundert oft „Rettungsanstalten“
genannt, unterstanden ebenfalls strenger Zucht mit teilweise
sadistischen Strafen, insbesondere auch für Bettnässer.
Sexueller Missbrauch durch ältere Zöglinge, aber auch durch
                                                 Heimleiter
                                                 und Perso-
                                                 nal, blieb
                                                 meist straf-
                                                 los.

                                                 Frühturnen
                                                 im Waisen-
                                                 haus
                                                 Zürich,
                                                 um 1900
Johann Georg Blocher (1811-1899)
Wie viele andere Anstalts-
leiter und Armenlehrer war
auch Johann Georg Blocher,
ein Einwanderer aus
Deutschland, ein Absolvent
des 1820 gegründeten
Kinderheims mit
Armenlehrerschule im
Schloss Beuggen bei
Säckingen, einer gemein-
samen Unternehmung von
evangelischen PieRsten
aus Basel und aus
Deutschland.
Johann Georg Blocher (1811-1899) über einen
Erziehungsversuch an einem Zögling im Zürcher
Erziehungsheim Freienstein:
„In meinem Zimmer wollte ich ihn
züch:gen, aber er wehrte sich so mit
Wut, dass bald er, bald ich auf dem
Boden lag. Ich führte ihn ins Gefängnis,
holte einen Strick, um ihn zu binden,
aber er riss aus und enNloh zum unteren
Fenster hinaus, den Rebberg hinab durch
Freienstein, GoQ weiss wohin!“
Morgentoilette im Knabenerziehungsheim Schloss Kasteln AG
um 1920
Die Seraphischen Liebeswerke

                       Es gibt in allen deutschsprachigen und in
                       weiteren Ländern seraphische Liebes-
                       werke; sie wurden vom Kapuzinerpater
                       Cyprian Fröhlich gegründet.
In der Schweiz waren sie in vielen Kantonen aktiv, am aktivsten in
Solothurn. Das Seraphische Liebeswerk Solothurn (SLW) gab die
Zeitschrift „Der seraphische Kinderfreund“ heraus, vermittelte
unzählige Plätze für Verding-, Pflege- und Adoptivkinder und
betrieb mehrere eigene Kinderheime.
Die Gotthelf-Stiftung und die
Armenerziehungsvereine

Diese und andere Organisationen waren spezialisiert
auf die Vermittlung von Verdingkindern auf
Bauernhöfe.
Die Gotthelf-Stiftung war in Stadt und Kanton Bern
aktiv, die Armenerziehungsvereine in den Kantonen
Solothurn, Baselland, Aargau und Thurgau.
Weitere Organisationen vermittelten vor allem
Adoptivkinder.
...und all die anderen...
Neben den staatlichen Akteuren: (Vormundschafts-
behörden (heute KESB), Jugendämter, Jugend-
anwaltschaften, Leiter staatlicher Kinderheime und
Erziehungsanstalten, Schulärzte etc.) als Einweisende
betrieben in der Schweiz eine Vielzahl religiöser oder
anderer privater Institutionen Kinderheime, so die
Ingenbohler Schwestern, die Menzinger
Schwestern, die Baldegger Schwestern, die
Schulbrüder ,die Salentianer, die Benediktiner,
weiter der evangelikal orientierte Verein Gott hilft,
die Heilsarmee, die Anthroposophen.
Bis in die 1960er Jahre erhielten oft auch Privatpersonen ohne
spezielle Ausbildung eine staatliche Bewilligung zum Betrieb
eines kleineren Kinderheims.
Viele Heimkinder,
vor allem in den
billigen
Armenerziehungs-
heimen, leisteten
ebenfalls strenge
Kinderarbeit.

Mädchenerziehungs-
heim Heimgarten
Bülach bei Zürich, 1920
Kindergespann vor landwirtscha/licher
Maschine. Ort unbekannt,Bern, um 1910
Knaben im Erziehungsheim Sonnenberg, Kriens bei
Luzern, 1944   Foto: Paul Senn
Knaben im Erziehungsheim Sonnenberg, Kriens LU,
1944 Foto Paul Senn
Die Knaben erhielten nur
sonntags vollständige Kleidung,
wurden auf sehr schmale Kost
gesetzt, haPen harte landwirt-
schaTliche Arbeiten zu
verrichten.

Die Kampagne der linken,
gewerkschaTsnahen Zeitung
“Die NaRon” mit dem
Chefredaktor Peter Surava
(Pseudonym von Hans Werner
Hirsch, 1912-1995) gegen das
Heimregime führte 1944 zur        Zöglinge der Anstalt für
Schliessung. Ehemalige Zöglin-    schwererziehbare katholische
ge haben erreicht, dass eine      Knaben Sonnenberg, Luzern.
Gedenktafel dazu informiert.      Foto Paul Senn, 1944.
Die strenge,
meist landwirt-
schaftliche
Kinderarbeit
ausserfamiliär
Erzogener in
Heimen und auf
Bauernhöfen
fand erst in den
1970er Jahren
ein Ende, und
zwar wegen der
Mechanisierung
dieser Arbeiten.

Foto
Paul Senn 1944
Rechts: Knaben der Knabenerziehungsanstalt Niederbipp,
Bern, auf dem Kartoffelacker. Foto Paul Senn, 1944

Links: Arbeit auf den Kartoffelfeldern des Kinderheims
Landorf , Bern, um 1970.
Nach Fluchtversuchen wurde der Schädel der Kinder kahlrasiert.
Die Arbeit der Heimkinder senkte deren Unterhaltskosten, ging aber
auf Kosten ihrer Schulbildung und damit ihrer Berufsausbildung und
ihres späteren Einkommens.
Carl Albert Loosli (1877-1959)
Ulrich Wille junior
(1877-1959)

Die sozialen und poliRschen
AnRpoden C.A. Loosli und
Ulrich Wille junior, welche
genau dieselbe Lebenszeit
im gleichen Land verbrach-
ten, machen deutlich, dass
es nicht einfach einen
„Zeitgeist“ gibt.
Die Stiftung Pro Juventute

Die Stiftung Pro Juventute wurde 1912 gegründet,
mit dem Privileg, postalische Sondermarken
ducken zu dürfen.
Der Mitgründer der Stiftung Pro
Juventute und deren
Stiftungskommissionspräsident
bis zu seinem Tod (1959) Ulrich
Wille junior (geb. 1877), war ein
bekennender Anhänger Hitlers
und Mussolinis.

In Willes Zürcher Villa hielt
Hitler im September 1923 einen
Vortrag vor Schweizer
Industriellen. Der Auftritt brachte
Hitler 30‘000.- Franken ein, die
er für den Münchner
Putschversuch verwendete.
Die Jenischen
Die Stiftung Pro Juventute, aber auch andere Organisationen
und Behörden, rissen von 1926 bis 1973 und darüber hinaus
systematisch jenische Kinder aus ihren Familien. Sie wurden als
„erblich minderwertig“ hingestellt. Die kritische Sozialwissenschaft
thematisierte dies ab 1979.

                                                Foto:
                                                Hans Staub
                                                1953
Jenische Familie in der
Schweiz um 1930

„Wer die Vagan:tät er-
folgreich bekämpfen
will, muss versuchen,
den Verband des fah-
renden Volkes zu spren-
gen, er muss, so hart
das klingen mag, die
FamiliengemeinschaY
auseinanderreissen.“
(Alfred Siegfried 1943)
Dr. Alfred Siegfried (1890-1972)   Der Gründer und
                                   Leiter des so
                                   genannten
                                   „Hilfswerks für
                                   die Kinder der
                                   Landstrasse“,
                                   betrieben im
                                   Zentralsekretariat
                                   der Pro Juventute
                                   von 1926 bis 1973,
                                   bringt jenische
                                   Kinder in ein Heim
                                   (1953).

                                   Foto: Hans Staub
Jenische gibt es in der Schweiz, wie auch in Deutschland,
Österreich und Frankreich, seit Jahrhunderten. Dieser
jenischen Frau wurden 5 Kinder weggenommen.
Foto Hans Staub, 1953
Dr. Alfred
Siegfried war
1924 wegen
Unzucht mit
einem Schüler
verurteilt wor-
den, arbeitete
aber von 1926
bis 1958 als
Vormund
hunderter
jenischer
Mündel im
Auftrag der
Stiftung Pro
Juventute.
Foto 1953
Hans Staub
Die Jenischen waren 1905 durch den Graubündner Psychiater Josef
Jörger, einen Jünger August Forels, gefördert von Ernst Rüdin,
kollektiv als „erblich minderwertig“ diffamiert worden.
Sowohl die schweizerische Pro Juventute wie der deutsche
Rassenkundler Robert Ritter übernahmen diese Auffassung.

                                Josef Jörger diffamierte und
                                nullifizierte die Jenischen
                                mit dem Codenamen
                                „Familie Zero“.
Aus einer
Schweizer
Broschüre zur
„Eugenik“ (1939).
Stammbaum
Primo:
„Gute Wahl“
Stammbaum Zero
(nach Josef Jörgers
Forschungen an
Jenischen) aus
einer Schweizer
Broschüre zur
„Eugenik“ (1939):
„Schlechte Wahl“
Ebenfalls 1971 / 1973 erschien in der Zeitschrift
„Beobachter“ eine Artikelreihe von Hans Caprez zum
Vorgehen der Pro Juventute gegen die Jenischen mit
Aussagen von jenischen Müttern und ihrer zwecks
Auflösung der jenischen Familien in Heime
verbrachten Kinder. 1973 stoppte die Stiftung ihre
Aktion.
Hans
Caprez am
6. Oktober
2012; neben
ihm eine als
Kind in Hei-
me gesperr-
te Jenische.
Ehemalige jenische Mündel fordern an einer
Pressekonferenz der Pro Juventute ihre Akten und die
historische Aufarbeitung. (5. Mai 1986)
Am 3. Juni 1986 entschuldigte sich
Bundespräsident Alfons Egli für die gezielten
Kindwegnahmen aus jenischen Familien.
Seit 1997 sind die Jenischen in der Schweiz als
nicht-territoriale Sprachminderheit anerkannt. Ihre
Kultur und Sprache wird, allerdings minimal, gefördert.
Sie kämpfen auch in Deutschland und Österreich –
bisher vergeblich - um Anerkennung und
Gleichberechtigung.

Die schweizerischen Jenischen, die Opfer der
systematischen Familienzerstörungen wurden,
erhielten 1988 eine so genannte
„Wiedergutmachung“
 (zwischen 2000.- und maximal 20‘000.- Fr. pro
Person).
Diverse biologisRsch und “eugenisch” respekRve
“rassenhygienisch” denkende Schweizer WissenschaTler
stuTen auch Nicht-Jenische als “erblich belastet” und
“erblich minderwerRg” ein. Das haPe schwerwiegende
Konsequenzen.

Aus einem Gutachten von
Prof. Eduard Montalta,Heilpädagoge,
und Dr. Hans Wehrle, Psychiater, aus dem Jahr 1967
Professor Eduard
Montalta
(1907-1986)
Dr. Marie Meierhofer
(1909-1998) im Jahr 1984
An Kindern in Zürcher
Kinderheimen erforschte
In den Jahren 1958-1962
die KinderärzRn
Marie Meierhofer die
Erscheinungsformen
des Hospitalismus an
Kleinkindern, die mechanisch,
seriell, möglichst effizient und
kostengünsRg betreut wurden,
dabei jedoch emoRonal und
betreffend Körperkontakt
zu kurz kamen.
Sie entwickelten stereotype
Bewegungen, lagen teilnahmslos
und depressiv in ihren
GiPerbePchen und liPen später
unter seelischen Schäden und
Defiziten in der Sozialkompetenz.

Foto: Marie Meierhofer
Die Heimkampagne von 1971/1972 kritisierte die historisch
überholten Hierarchien und archaischen Strafmechanismen der
Heime und Anstalten in der Zeit der weltweiten Jugendrevolte, der
Blütezeit der Hippies und der Rockmusik.
Konzertplakat für
                      FlugblaP der
Jimi Hendrix, Mai
                      Heim-
1968 in Zürich
                      kampagne
                      1971
                    Erziehungsanstalt Aarburg

                                            55
Das ehemalige Heimkind LouisePe Buchard- Molténi
2003 im Hungerstreik vor dem
Erziehungsdepartement des Kantons Waadt
Die administrativ Versorgten
Administrativjustiz hebelte Grundrechte aus
Zwangsmassnahmen im Sozialbereich erfolgten in der
Schweiz
per Behördenverfügung, ohne Gerichtsentscheide, und dies
bis zur Aufhebung der entsprechenden Zwangsgesetze 1981.
Diese Revision war eine Spätfolge der verzögerten
Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention
von 1952 durch die Schweiz (1974).
Es handelte sich um Administrativjustiz ohne
Gewaltenteilung, ohne Recht auf Verteidigung und ohne
verwaltungsunabhängiges Rekursverfahren.
Auf dieser Administrativjustiz basierten insbesondere die
Einweisungen in Zwangsarbeitsanstalten und in
Zwangserziehungsheime (administrative Versorgung), aber
auch psychiatrische Internierungen und
Zwangssterilisationen (in der Schweiz von 1890 bis um 1970
praktiziert)
Zellengang der Männerstrafanstalt Bellechasse,
Kanton Fribourg. Hier wurde 1948 ein administrativ
internierter 16jähriger wegen eines Fluchtversuchs zu
3 Mördern, darunter ein ehemaliger SS-Mann, in eine
Viererzelle gesperrt.
Schlafsaal “administraRv Versorgter” in Bellechasse FR,
um 1940
Cachot Bellechasse FR, BâRment / Männerabteilung, Zustand vor
1948
Douche forcée, Bellechasse FR, BâRment/ Männerabteilung,
Zustand vor 1948
Zwangsarbeiter und Aufseher in Witzwil, BE, um 1914

Abbau von Torf
Aufseher und Insassen in der Strafanstalt (auch für admini-
istraRv Internierte) Witzwil 1917
Direktor OPo Kellerhals (rechts)
amRerte in Witzwil von
1893 -1937

                                   Dir. Dr. Hans
                                   Kellerhals jun. um
                                   1960 mit Insassen
                                   auf dem Mont Vully

                                                        65
Gefängnistrakt der Frauenstrafanstalt Hindelbank, Kanton Bern. Hier
wurden bis 1981 im gleichen Gebäude wie Schwer-kriminelle
minderjährige Mädchen jahrelang administrativ interniert, die kein Delikt
begangen hatten. Das Stigma der Zuchthäuslerin begleitete sie fortan
durchs Leben, obwohl sie nie gerichtlich verurteilt worden waren.
Den Eltern von Ursula Müller-Biondi machten die Behörden weis, ihre
Tochter komme in ein Erziehungsinstitut; sie zahlten – bis zum ersten
Besuch – gutgläubig die Unterbringungskosten.
Oben: Zellentrakt Frauenstrafanstalt Bellechasse
Unten: Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf
entschuldigte sich am 10. September 2010 bei der
ehemals als Jugendliche in Strafanstalten administrativ
Versorgten Ursula Müller-Biondi und ihren
Mitinternierten.
Die besten SchriTsteller der Schweiz:
entmündigt und psychiatrisiert
Robert Walser (1878-1956) Friedrich Glauser (1896-1938)
Zwangsjacke
OT beruhten auch
therapeuRsche
Massnahmen der
Psychiatrie auf
Zwang: Deckelbad,
Insulin- und
Cardiazolschock,
Elektroschock,
Lobotomie.
Auguste Forel (1848-1931)
veranlasste als Direktor des          Paul Pflüger (1865 –
Burghölzli und Zürcher Uniprofessor   1947) , reformierter
die ersten ZwangssterilisaRonen       Pfarrer und SP-Stadtrat in
und ZwangskastraRonen an              Zürich, war ein Anhänger
PsychiatriepaRenten                   von “Eugenik” und
in Europa. Er war Mitglied der        “Rassenhygiene”.
SozialdemokraRschen Partei.
Ernst Rüdin
                                                 (1874 bis
                                                 1952)
                                                 und Mitarbei-
                                                 tende
                                                 1938
Nicht alle, aber die meisten und die grausamsten Exponenten von
“Eugenik” und “Rassenhygiene” standen poliRsch rechts. Der aus St.
Gallen stammende Psychiater Ernst Rüdin, von 1925 bis 1928
Direktor der Psychiatrischen Klinik Basel, zog nach Deutschland und
war ab 1933 ein führender Organisator des medizinischen
Netzwerkes, das im Nazireich nach der ZwangssterilisaGon
Hunder`ausender schliesslich die Ermordung weiterer
Hunder`ausender geisGg kranker und behinderter Menschen
durchführte, also von der “Eugenik” zur “Euthanasie” überging.
Der staatenlose Sinto
Josef Anton R.,
geboren 1905, wurde
mit 12 Jahren von
seiner Familie
getrennt und 1934 in
Bern kastriert.
Foto um 1970 in der
Anstalt Kappel ZH, wo
er 1972 starb .

                        73
Diese Frau wurde in den 1920er
Jahren wegen angeblicher
“erblicher MinderwerRgkeit”
zwangssterilisiert. Sie verbrachte
lange Jahrzehnte in Kliniken
als GraRsarbeitskraT. In der
Schweiz wurden zwischen 1890
und 1981 Tausende, überwiegend
Frauen, aus “eugenischen”
respekRve “rassenhygieni-
schen” Erwägungen heraus
unfruchtbar gemacht oder
anderswie an der Familien-
gründung gehindert
(Eheverbote).
„Wiedergutmachung“ resp. Entschädigung:
Viele gescheiterte Anläufe gegen eine
jahrzehntelange Blockade.
2004 lehnte das Parlament eine ursprünglich auf
90‘000.- Franken angesetzte Entschädigung für
Zwangssterilisierte selbst nach Reduktion auf
15‘000.- Franken ab. Einzelne Betroffene, vor
allem ehemalige Heimkinder, machen zur Zeit den
Versuch, substantielle Entschädigungsforderungen,
teilweise in Millionenhöhe, gerichtlich zu erlangen.
Bisher scheiterten sie. Vier Organisationen
Fremdplatzierter verlangten im Juni 2013
gemeinsam eine pauschale Abgeltung von
120‘000.- Franken pro betroffene Person.
Am 11. April 2013 entschuldigten sich
Bundesrätin Simonetta Sommaruga sowie
Vertreter von Kantonen, Gemeinden,
Heimverbänden, Bauernverband und Kirchen
bei den ehemaligen Verding- und
Heimkindern, administrativ Eingewiesenen
und bei den Opfern anderer fürsorgerischer
Zwangsmassnahmen wie
Zwangssterilisationen und Zwangsadoptionen.
Sie versprachen auch finanzielle Abgeltung.
Anlässlich ihrer Entschuldigung am 11. April 2013
diskuRerte BundesräRn SimonePa Sommaruga
mit Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.
Am 13. Juni 2013 fand in Bern die erste Sitzung des
paritätischen Runden Tischs für die Opfer fürsorge-
rischer Zwangsmassnahmen statt. Zuerst geleitet
von Alt-Ständerat Hansruedi Stadler, später durch
Prof. Dr. Luzius Mader vom Bundesamt für Justiz.
Seit 2000 hat das Thema öffentlichem Interesse
gewonnen. Es gibt jetzt auch viel Forschung dazu.

Wichtig ist es, diese Themen in den Schulbüchern
angemessen zu berücksichtigen und dabei die
Mechanismen des Vorgehens und der
Verfehlungen darzulegen.

Das ist eine wichtige Hilfe, um der Gefahr, teilweise
auch der Realität, entgegenzuwirken, dass auch
heutige sowie zukünftige Zwangsmassnahmen im
Sozialbereich, ich denke da vor allem an die
Flüchtlingspolitik, ausgrenzend, diskriminierend und
zerstörerisch wirken.
Ohne das Engagement und die
Selbstermächtigung der Betroffenen, das
erlittene Unrecht öffentlich zu thematisieren, vor
allem auch mittels selbst herausgegebenen
Büchern und Texten im Internet, wäre es
nicht zu dieser Entwicklung gekommen.

Umgekehrt war es auch wichtig, dass sich die
sozialgeschichtliche Forschung der Methodik
von oral history und der Würdigung der
Quellen „von unten“ öffnete.

Wichtig war und bleibt der Druck der Medien
auf politische (auch forschungspolitische)
Instanzen.
Interessant ist die Frage nach der nationalen
Ungleichzeitigkeit in der Thematik.
Länder wie Kanada, Australien, Irland gingen
voran. Vor allem das Vorgehen Irlands ist
vorbildlich.

Die skandinavischen Länder zogen nach, auch
Deutschland und Österreich. Die reiche
Schweiz hinkt hinterher, vor allem betreffend
Zahlung an die Opfer.

Als Ruhe vor dem Sturm erscheint die Lage in
Ländern wie Frankreich, Italien, Spanien sowie
in vielen anderen Gebieten.
2014 beschloss das Parlament auf Antrag von
SP-Ständerat Paul Rechsteiner die Einrichtung
einer Unabhängigen Expertenkommission zur
     wissenschaTlichen Aufarbeitung der
administraRven Versorgung in der Schweiz. Sie
arbeitet seit 2015 und wird ihre Resultate 2019
                  präsenReren.

        Erste Resultate sehen Sie auf
       hPp://www.uek-administraRve-
               versorgungen.ch
Guido Fluri war selber Pflege- und Heimkind. Er kaufte
„sein“ Kinderheim, dort wurde am 1. Juni 2013 eine
Gedenkausstellung eingerichtet.
Das Kinderheim Mümliswil wurde 1939 durch Hannes
Meyer erbaut, den zweiten Bauhausdirektor.
Meyer war selber im Waisenhaus Basel aufgewachsen.
Noch 2014 lehnte das Schweizer Parlament
selbst symbolische Zahlungen an die Opfer
fürsorgerischer Zwangsmassnahmen ab.

Deshalb startete Guido Fluri 2014 die so
genannten WiedergutmachungsiniGaGve. Sie
forderte 500 Millionen Franken für die Opfer,
die selber auch UnterschriTen sammelten.
Der Bundesrat machte einen
Gegenvorschlag und kürzte die Summe auf
300 Millionen.
Das Parlament sRmmte zwar zu, setzte aber
zusätzlich eine Obergrenze von Fr. 25’000.-
pro Opfer fürsorgerischer
Zwangsmassnahmen fest.
Die IniRaRve wurde zurückgzogen.
Seit 30. September 2016 gilt das
“Bundesgesetz über die Aufarbeitung der
fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und
Fremdplatzierungen vor 1981”
(AFZFG)
Eine Kommisson soll ab Frühjahr 2018 auf
Gesuch der Opfer hin die Auszahlungen
vornehmen.
Die Zahl der noch lebenden Opfer wurde 2014 auf
12’000 bis 15’000 geschätzt.
Es wurden aber bisher erst rund 4000 Gesuche
eingereicht. Weshalb?
- Da viele ehemalige Opfer sehr alt sind, sind
inzwischen viele gestorben, ohne etwas zu erhalten.
- Für andere ist das Einreichen eines Gesuchs bei einer
Amtsstelle eine zu hohe bürokraGsche Schwelle,
obwohl Anlaufstellen eingerichtet wurden (Opferhilfe,
Staatsarchive).
-Andere, die es wirtschaTlich geschat haben, oT unter
Verheimlichung ihrer Geschichte, wollen sich für
25’000.- Franken nicht einem aufwühlenden coming-
out unterziehen.
Nach dem bisherigen Wortlaut des Gesetzes wird,
wenn weniger als 12’000 Gesuche eingehen,
wegen der vom Parlament implanRerten
Obergrenze ein grosser Teil, vielleicht sogar mehr
als die Häl/e, des zugesprochenen Betrags von
300 Millionen nicht wie beabsichGgt und
gefordert an die Opfer, sondern an den Bund
zurückgehen, der zur Zeit Budgetüberschüsse
erzielt.
Die Verzögerung und der Parlamentarier-Trick
mit der Obergrenze würde somit bedeuten,
dass Bund und Kanton weit billiger als
kommuniziert davon kommen und die Opfer
sich einmal mehr ausgetrickst und nicht ernst
genommen fühlen müssen.

Ein ehemaliges Opfer hat diese ganze
Herabsetzungsverfahren (IniRaRve: 500
Milionen; Bundesrat: 300 Millionen, Parlament:
womöglich noch Refer) als moderne
Mindersteigerung bezeichnet.
Der Verein Fremdplatziert (VFP)
www. Fremdplatziert.ch
hat in einer MedienmiPeilung vom 22. Juni 2017
gefordert, dass der ganze Betrag von 300
Millionen für die Betroffenen verwendet wird,
entweder durch Erhöhung des Beitrags (mi`els
Streichung der Obergrenze) an die einzelnen
Opfer oder durch andere Zuwendungen an die
Betroffenen (z.B. Hilfe zur Selbsthilfe).
Das fordern auch viele nicht-organisierte
Betroffene.
Nach 31 Jahren Forschung und Menschenrechts-
arbeit im Bereich Minderheitsrechte und
fürsorgerische Zwangsmassnahmen bin ich der
Meinung, die jahrzehntelange Behinderung der
wissenschaTlichen und gesellschaTlichen Auf-
arbeitung sei ein Teil des Skandals.
Ich danke allen, die dazu beitrugen, diese
Blockade zu durchbrechen.
Schadenersatz und Genugtuung (nicht verspätete
symbolische Abfindungen) wären schon 1981 fällig
gewesen, als die menschenrechtswidrigen
Versorgungsgesetze aufgehoben wurden, und als
noch viel mehr Betroffene am Leben waren.
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