"Versorgt und bestra/" - IG-Sozialhilfe
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“Versorgt und bestra/” Zur Sozialgeschichte und Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in der Schweiz Vortrag im Kafi Klick, Zürich, am 10. Dezember 2017, zum internaGonalen Tag der Menschenrechte von Dr. Thomas Huonker, Historiker, Zürich www.kinderheime-schweiz.ch www.thata.ch www.uek-administra:ve-versorgungen.ch
“Versorgt und bestra/” - ein Titel, der zu einigen Fragen und Präzisierungen Anlass gibt. “Versorgt”? Der Volksmund bevorzugte die Formulierung “versenkt”. Sicher war der deklarierte und im Prinzip der Lage des Betroffenen angemessene Zweck einer Anstaltseinweisung die fürsorgliche Versorgung, die Sicherung der Lebensgrundlagen, Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Bildung, bei Hilflosen und Kranken auch Betreuung und Pflege. Es gab jedoch strukturelle Aspekte, welche diese deklarierten fürsorgerischen Ziele saboGerten und ins Gegenteil verkehrten.
Zerstörerische und diskriminierende Aspekte der “Armenversorgung”: Die “Versorgung” dieser Art in “RePungsanstalten”, “Armenerziehungsanstalten”, Armenhäusern, “Armen- anstalten”, Zwangsarbeitsanstalten und “Arbeits- erziehungsanstalten” war im Kern “armenpolizeilicher” Natur und betraf vorwiegend die Unterschichten. Für die Menschen in schwierigen SituaRonen aus der Oberschicht gab es FamiliensRTungen, Internate, Sanatorien der gehobenen Art. Viele Probleme wie MiPellosigkeit oder Arbeitslosigkeit haPen diese zudem viel seltener. Reiche, die nicht arbeiteten, sondern ein “ausschweifendes” Luxusleben führten, kamen in der Schweiz nicht in die Zwangsarbeitsanstalt.
Genauso zerstörerisch wie er heute auf die IV, die AHV und die Sozialhilfe wirkt, ebenso oder, da auf Referem Gesamtniveau, noch zerstörerischer wirkte auch früher der Steuersparwille. Die “Versorgung” musste so billig sein wie möglich, Essen und Kleideung der “Versorgten” waren o/ Frass und Lumpen. O/ ging die Zwangsarbeit, meist in der Landwirtscha/, auf Kosten der Bildung. Die Folge: Schlechte berufliche PerspekGven.
“Bestra/”? Eigentlich sollte eine “Versorgung” keine Bestrafung sein, sondern Fürsorge, Hilfe. Weil die “Versorgung” aber, vor allem im Fall der administraRv “Versorgten”, teilweise direkt in Zuchthäusern und Strafanstalten (wie Belle-chasse, Realta, Hindelbank), teilweise unter ähn-lichem Regime in anderen Anstalten vollzogen wurde, wirkte sie, und dies durchaus beabsichRgt, als Strafe, obwohl gar keine Stra/atbestände vorlagen, nur Zuschreibungen wie “renitent”, “liederlich” oder “arbeitsscheu”. Sie versah die “Versorgten” lebenslänglich mit einem SGgma, einer negaGven Abstempelung.
Die “lebenslängliche Hauptstrafe” für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmass- nahmen, die sie sRgmaRsierten, ihre Integ- rität verletzten, die mit DemüRgungen und Missbrauch, mit seriellem Kasernenbetrieb, Uniformierung und Kommando-Erziehung verbunden waren, diese lebenslängliche Folge war und bleibt ihre seelische TraumaGsierung. Eine Einschränkung und Beschädigung der ganzen Persönlichkeit, die nur mit Glück und guter Therapie einigermassen auszuhalten ist.
Formen von fürsorgerischer “Versorgung”: Fremdplatzierung, Verdingkinder: seit dem MiPelalter Waisenhaus, Zuchthaus: in Zürich seit 1637 KorrekGonsanstalten, Zwangsarbeitsanstalten, AdministraGve Versorgung: In Zürich seit 1874 (Vorläufer in Kappel ab 1836) Irrenhaus, psychiatrische Klinik: in Zürich seit 1870 (vorher “Taublöcher”) ZwangssterilisaGonen, ZwangskastraGonen: in Zürich seit 1890
Die traurige Lage der behördlich an die billigsten Plätze verbrachten schweizerischen Verdingkinder wurde in der Literatur seit 1837 thematisiert – doch in der Sozialgeschichte erst seit 1990, auf breiterer Ebene erst seit 2004. Holzschnitt von Emil Zbinden, 1937
„Man ging herum, betrachtete die Kinder von oben bis unten, die verblüB dastanden, betrachtete ihre Bündelchen und öffnete sie auch und betastete die Kleidchen Stück für Stück; fragte nach, pries an, gerade wie auf einem Markt.“ (Go`helf, Bauernspiegel, 1837)
Verdingkinder waren, wie Heimkinder, oft Opfer von Misshandlung und sexueller Gewalt. Nur in einigen sehr krassen Fällen wurden die Pflegeltern dafür verurteilt. Foto Paul Senn 1944
Die bei Bauern billigst untergebrachten Pflegekinder aus armen Familien, die schon ab 5 oder 6 Jahren, vor, nach und auch an Stelle des Schulbesuchs, in Stall, Feld und Haus harte Arbeit ohne Lohn verrichten mussten, hiessen Verdingkinder. Foto Paul Senn, 1944 Dieser Junge („Chrigel“) wurde von seinen Pflegeltern sexuell missbraucht.
Schwabengänger Saisonale Kindersklaven aus schweizerischen und österreichischen Alpentälern arbeiteten von Frühling bis Herbst im Allgäu, die letzten bis in die 1940er Jahre. Grafik von 1848
Kinderarbeit in der Industrie ist in der Schweiz (mit Ausnahmen) seit 1877 verboten. Sie ist seit langem Thema der Sozialgeschichte und wird in Schulbüchern erwähnt. Arbeitende Kinder in der Textil- industrie um 1870
Seidenzwirnerei der Mädchenanstalt Tagelswangen bei Zürich um 1920
Im 18. Jahrhundert wurden in Zürich und Bern palastartige Waisenhäuser errichtet, aber nur für die Kinder der Patrizier. Beide wurden um 1900 zu Polizeikasernen umfunktioniert, Die Waisen, darunter nun auch immer mehr „Sozialwaisen“, die z.B. nur einen verbliebenen, vermögenslosen Elternteil hatten, kamen in bescheidenere Waisenhäuser am Stadtrand. Waisen- haus Zürich, heute Polizei- wache Urania
Auch das 1783 erbaute Waisenhaus für Stadtbürger in Bern ist heute Sitz des Polizeikommandos.
Im Waisenhaus Bern trugen die Knaben um 1910 Uniform und erhielten guten Schulunterricht. Viele von ihnen konnten eine Lehre machen, im Unterschied zu den meisten Verdingkindern.
Kinder in Heimen, im 19. Jahrhundert oft „Rettungsanstalten“ genannt, unterstanden ebenfalls strenger Zucht mit teilweise sadistischen Strafen, insbesondere auch für Bettnässer. Sexueller Missbrauch durch ältere Zöglinge, aber auch durch Heimleiter und Perso- nal, blieb meist straf- los. Frühturnen im Waisen- haus Zürich, um 1900
Johann Georg Blocher (1811-1899) Wie viele andere Anstalts- leiter und Armenlehrer war auch Johann Georg Blocher, ein Einwanderer aus Deutschland, ein Absolvent des 1820 gegründeten Kinderheims mit Armenlehrerschule im Schloss Beuggen bei Säckingen, einer gemein- samen Unternehmung von evangelischen PieRsten aus Basel und aus Deutschland.
Johann Georg Blocher (1811-1899) über einen Erziehungsversuch an einem Zögling im Zürcher Erziehungsheim Freienstein: „In meinem Zimmer wollte ich ihn züch:gen, aber er wehrte sich so mit Wut, dass bald er, bald ich auf dem Boden lag. Ich führte ihn ins Gefängnis, holte einen Strick, um ihn zu binden, aber er riss aus und enNloh zum unteren Fenster hinaus, den Rebberg hinab durch Freienstein, GoQ weiss wohin!“
Morgentoilette im Knabenerziehungsheim Schloss Kasteln AG um 1920
Die Seraphischen Liebeswerke Es gibt in allen deutschsprachigen und in weiteren Ländern seraphische Liebes- werke; sie wurden vom Kapuzinerpater Cyprian Fröhlich gegründet. In der Schweiz waren sie in vielen Kantonen aktiv, am aktivsten in Solothurn. Das Seraphische Liebeswerk Solothurn (SLW) gab die Zeitschrift „Der seraphische Kinderfreund“ heraus, vermittelte unzählige Plätze für Verding-, Pflege- und Adoptivkinder und betrieb mehrere eigene Kinderheime.
Die Gotthelf-Stiftung und die Armenerziehungsvereine Diese und andere Organisationen waren spezialisiert auf die Vermittlung von Verdingkindern auf Bauernhöfe. Die Gotthelf-Stiftung war in Stadt und Kanton Bern aktiv, die Armenerziehungsvereine in den Kantonen Solothurn, Baselland, Aargau und Thurgau. Weitere Organisationen vermittelten vor allem Adoptivkinder.
...und all die anderen... Neben den staatlichen Akteuren: (Vormundschafts- behörden (heute KESB), Jugendämter, Jugend- anwaltschaften, Leiter staatlicher Kinderheime und Erziehungsanstalten, Schulärzte etc.) als Einweisende betrieben in der Schweiz eine Vielzahl religiöser oder anderer privater Institutionen Kinderheime, so die Ingenbohler Schwestern, die Menzinger Schwestern, die Baldegger Schwestern, die Schulbrüder ,die Salentianer, die Benediktiner, weiter der evangelikal orientierte Verein Gott hilft, die Heilsarmee, die Anthroposophen. Bis in die 1960er Jahre erhielten oft auch Privatpersonen ohne spezielle Ausbildung eine staatliche Bewilligung zum Betrieb eines kleineren Kinderheims.
Viele Heimkinder, vor allem in den billigen Armenerziehungs- heimen, leisteten ebenfalls strenge Kinderarbeit. Mädchenerziehungs- heim Heimgarten Bülach bei Zürich, 1920
Kindergespann vor landwirtscha/licher Maschine. Ort unbekannt,Bern, um 1910
Knaben im Erziehungsheim Sonnenberg, Kriens bei Luzern, 1944 Foto: Paul Senn
Knaben im Erziehungsheim Sonnenberg, Kriens LU, 1944 Foto Paul Senn
Die Knaben erhielten nur sonntags vollständige Kleidung, wurden auf sehr schmale Kost gesetzt, haPen harte landwirt- schaTliche Arbeiten zu verrichten. Die Kampagne der linken, gewerkschaTsnahen Zeitung “Die NaRon” mit dem Chefredaktor Peter Surava (Pseudonym von Hans Werner Hirsch, 1912-1995) gegen das Heimregime führte 1944 zur Zöglinge der Anstalt für Schliessung. Ehemalige Zöglin- schwererziehbare katholische ge haben erreicht, dass eine Knaben Sonnenberg, Luzern. Gedenktafel dazu informiert. Foto Paul Senn, 1944.
Die strenge, meist landwirt- schaftliche Kinderarbeit ausserfamiliär Erzogener in Heimen und auf Bauernhöfen fand erst in den 1970er Jahren ein Ende, und zwar wegen der Mechanisierung dieser Arbeiten. Foto Paul Senn 1944
Rechts: Knaben der Knabenerziehungsanstalt Niederbipp, Bern, auf dem Kartoffelacker. Foto Paul Senn, 1944 Links: Arbeit auf den Kartoffelfeldern des Kinderheims Landorf , Bern, um 1970. Nach Fluchtversuchen wurde der Schädel der Kinder kahlrasiert. Die Arbeit der Heimkinder senkte deren Unterhaltskosten, ging aber auf Kosten ihrer Schulbildung und damit ihrer Berufsausbildung und ihres späteren Einkommens.
Carl Albert Loosli (1877-1959)
Ulrich Wille junior (1877-1959) Die sozialen und poliRschen AnRpoden C.A. Loosli und Ulrich Wille junior, welche genau dieselbe Lebenszeit im gleichen Land verbrach- ten, machen deutlich, dass es nicht einfach einen „Zeitgeist“ gibt.
Die Stiftung Pro Juventute Die Stiftung Pro Juventute wurde 1912 gegründet, mit dem Privileg, postalische Sondermarken ducken zu dürfen.
Der Mitgründer der Stiftung Pro Juventute und deren Stiftungskommissionspräsident bis zu seinem Tod (1959) Ulrich Wille junior (geb. 1877), war ein bekennender Anhänger Hitlers und Mussolinis. In Willes Zürcher Villa hielt Hitler im September 1923 einen Vortrag vor Schweizer Industriellen. Der Auftritt brachte Hitler 30‘000.- Franken ein, die er für den Münchner Putschversuch verwendete.
Die Jenischen
Die Stiftung Pro Juventute, aber auch andere Organisationen und Behörden, rissen von 1926 bis 1973 und darüber hinaus systematisch jenische Kinder aus ihren Familien. Sie wurden als „erblich minderwertig“ hingestellt. Die kritische Sozialwissenschaft thematisierte dies ab 1979. Foto: Hans Staub 1953
Jenische Familie in der Schweiz um 1930 „Wer die Vagan:tät er- folgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fah- renden Volkes zu spren- gen, er muss, so hart das klingen mag, die FamiliengemeinschaY auseinanderreissen.“ (Alfred Siegfried 1943)
Dr. Alfred Siegfried (1890-1972) Der Gründer und Leiter des so genannten „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“, betrieben im Zentralsekretariat der Pro Juventute von 1926 bis 1973, bringt jenische Kinder in ein Heim (1953). Foto: Hans Staub
Jenische gibt es in der Schweiz, wie auch in Deutschland, Österreich und Frankreich, seit Jahrhunderten. Dieser jenischen Frau wurden 5 Kinder weggenommen. Foto Hans Staub, 1953
Dr. Alfred Siegfried war 1924 wegen Unzucht mit einem Schüler verurteilt wor- den, arbeitete aber von 1926 bis 1958 als Vormund hunderter jenischer Mündel im Auftrag der Stiftung Pro Juventute. Foto 1953 Hans Staub
Die Jenischen waren 1905 durch den Graubündner Psychiater Josef Jörger, einen Jünger August Forels, gefördert von Ernst Rüdin, kollektiv als „erblich minderwertig“ diffamiert worden. Sowohl die schweizerische Pro Juventute wie der deutsche Rassenkundler Robert Ritter übernahmen diese Auffassung. Josef Jörger diffamierte und nullifizierte die Jenischen mit dem Codenamen „Familie Zero“.
Aus einer Schweizer Broschüre zur „Eugenik“ (1939). Stammbaum Primo: „Gute Wahl“
Stammbaum Zero (nach Josef Jörgers Forschungen an Jenischen) aus einer Schweizer Broschüre zur „Eugenik“ (1939): „Schlechte Wahl“
Ebenfalls 1971 / 1973 erschien in der Zeitschrift „Beobachter“ eine Artikelreihe von Hans Caprez zum Vorgehen der Pro Juventute gegen die Jenischen mit Aussagen von jenischen Müttern und ihrer zwecks Auflösung der jenischen Familien in Heime verbrachten Kinder. 1973 stoppte die Stiftung ihre Aktion. Hans Caprez am 6. Oktober 2012; neben ihm eine als Kind in Hei- me gesperr- te Jenische.
Ehemalige jenische Mündel fordern an einer Pressekonferenz der Pro Juventute ihre Akten und die historische Aufarbeitung. (5. Mai 1986)
Am 3. Juni 1986 entschuldigte sich Bundespräsident Alfons Egli für die gezielten Kindwegnahmen aus jenischen Familien.
Seit 1997 sind die Jenischen in der Schweiz als nicht-territoriale Sprachminderheit anerkannt. Ihre Kultur und Sprache wird, allerdings minimal, gefördert. Sie kämpfen auch in Deutschland und Österreich – bisher vergeblich - um Anerkennung und Gleichberechtigung. Die schweizerischen Jenischen, die Opfer der systematischen Familienzerstörungen wurden, erhielten 1988 eine so genannte „Wiedergutmachung“ (zwischen 2000.- und maximal 20‘000.- Fr. pro Person).
Diverse biologisRsch und “eugenisch” respekRve “rassenhygienisch” denkende Schweizer WissenschaTler stuTen auch Nicht-Jenische als “erblich belastet” und “erblich minderwerRg” ein. Das haPe schwerwiegende Konsequenzen. Aus einem Gutachten von Prof. Eduard Montalta,Heilpädagoge, und Dr. Hans Wehrle, Psychiater, aus dem Jahr 1967
Professor Eduard Montalta (1907-1986)
Dr. Marie Meierhofer (1909-1998) im Jahr 1984
An Kindern in Zürcher Kinderheimen erforschte In den Jahren 1958-1962 die KinderärzRn Marie Meierhofer die Erscheinungsformen des Hospitalismus an Kleinkindern, die mechanisch, seriell, möglichst effizient und kostengünsRg betreut wurden, dabei jedoch emoRonal und betreffend Körperkontakt zu kurz kamen. Sie entwickelten stereotype Bewegungen, lagen teilnahmslos und depressiv in ihren GiPerbePchen und liPen später unter seelischen Schäden und Defiziten in der Sozialkompetenz. Foto: Marie Meierhofer
Die Heimkampagne von 1971/1972 kritisierte die historisch überholten Hierarchien und archaischen Strafmechanismen der Heime und Anstalten in der Zeit der weltweiten Jugendrevolte, der Blütezeit der Hippies und der Rockmusik.
Konzertplakat für FlugblaP der Jimi Hendrix, Mai Heim- 1968 in Zürich kampagne 1971 Erziehungsanstalt Aarburg 55
Das ehemalige Heimkind LouisePe Buchard- Molténi 2003 im Hungerstreik vor dem Erziehungsdepartement des Kantons Waadt
Die administrativ Versorgten
Administrativjustiz hebelte Grundrechte aus Zwangsmassnahmen im Sozialbereich erfolgten in der Schweiz per Behördenverfügung, ohne Gerichtsentscheide, und dies bis zur Aufhebung der entsprechenden Zwangsgesetze 1981. Diese Revision war eine Spätfolge der verzögerten Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1952 durch die Schweiz (1974). Es handelte sich um Administrativjustiz ohne Gewaltenteilung, ohne Recht auf Verteidigung und ohne verwaltungsunabhängiges Rekursverfahren. Auf dieser Administrativjustiz basierten insbesondere die Einweisungen in Zwangsarbeitsanstalten und in Zwangserziehungsheime (administrative Versorgung), aber auch psychiatrische Internierungen und Zwangssterilisationen (in der Schweiz von 1890 bis um 1970 praktiziert)
Zellengang der Männerstrafanstalt Bellechasse, Kanton Fribourg. Hier wurde 1948 ein administrativ internierter 16jähriger wegen eines Fluchtversuchs zu 3 Mördern, darunter ein ehemaliger SS-Mann, in eine Viererzelle gesperrt.
Schlafsaal “administraRv Versorgter” in Bellechasse FR, um 1940
Cachot Bellechasse FR, BâRment / Männerabteilung, Zustand vor 1948
Douche forcée, Bellechasse FR, BâRment/ Männerabteilung, Zustand vor 1948
Zwangsarbeiter und Aufseher in Witzwil, BE, um 1914 Abbau von Torf
Aufseher und Insassen in der Strafanstalt (auch für admini- istraRv Internierte) Witzwil 1917
Direktor OPo Kellerhals (rechts) amRerte in Witzwil von 1893 -1937 Dir. Dr. Hans Kellerhals jun. um 1960 mit Insassen auf dem Mont Vully 65
Gefängnistrakt der Frauenstrafanstalt Hindelbank, Kanton Bern. Hier wurden bis 1981 im gleichen Gebäude wie Schwer-kriminelle minderjährige Mädchen jahrelang administrativ interniert, die kein Delikt begangen hatten. Das Stigma der Zuchthäuslerin begleitete sie fortan durchs Leben, obwohl sie nie gerichtlich verurteilt worden waren. Den Eltern von Ursula Müller-Biondi machten die Behörden weis, ihre Tochter komme in ein Erziehungsinstitut; sie zahlten – bis zum ersten Besuch – gutgläubig die Unterbringungskosten.
Oben: Zellentrakt Frauenstrafanstalt Bellechasse Unten: Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf entschuldigte sich am 10. September 2010 bei der ehemals als Jugendliche in Strafanstalten administrativ Versorgten Ursula Müller-Biondi und ihren Mitinternierten.
Die besten SchriTsteller der Schweiz: entmündigt und psychiatrisiert Robert Walser (1878-1956) Friedrich Glauser (1896-1938)
Zwangsjacke OT beruhten auch therapeuRsche Massnahmen der Psychiatrie auf Zwang: Deckelbad, Insulin- und Cardiazolschock, Elektroschock, Lobotomie.
Auguste Forel (1848-1931) veranlasste als Direktor des Paul Pflüger (1865 – Burghölzli und Zürcher Uniprofessor 1947) , reformierter die ersten ZwangssterilisaRonen Pfarrer und SP-Stadtrat in und ZwangskastraRonen an Zürich, war ein Anhänger PsychiatriepaRenten von “Eugenik” und in Europa. Er war Mitglied der “Rassenhygiene”. SozialdemokraRschen Partei.
Ernst Rüdin (1874 bis 1952) und Mitarbei- tende 1938 Nicht alle, aber die meisten und die grausamsten Exponenten von “Eugenik” und “Rassenhygiene” standen poliRsch rechts. Der aus St. Gallen stammende Psychiater Ernst Rüdin, von 1925 bis 1928 Direktor der Psychiatrischen Klinik Basel, zog nach Deutschland und war ab 1933 ein führender Organisator des medizinischen Netzwerkes, das im Nazireich nach der ZwangssterilisaGon Hunder`ausender schliesslich die Ermordung weiterer Hunder`ausender geisGg kranker und behinderter Menschen durchführte, also von der “Eugenik” zur “Euthanasie” überging.
Der staatenlose Sinto Josef Anton R., geboren 1905, wurde mit 12 Jahren von seiner Familie getrennt und 1934 in Bern kastriert. Foto um 1970 in der Anstalt Kappel ZH, wo er 1972 starb . 73
Diese Frau wurde in den 1920er Jahren wegen angeblicher “erblicher MinderwerRgkeit” zwangssterilisiert. Sie verbrachte lange Jahrzehnte in Kliniken als GraRsarbeitskraT. In der Schweiz wurden zwischen 1890 und 1981 Tausende, überwiegend Frauen, aus “eugenischen” respekRve “rassenhygieni- schen” Erwägungen heraus unfruchtbar gemacht oder anderswie an der Familien- gründung gehindert (Eheverbote).
„Wiedergutmachung“ resp. Entschädigung: Viele gescheiterte Anläufe gegen eine jahrzehntelange Blockade. 2004 lehnte das Parlament eine ursprünglich auf 90‘000.- Franken angesetzte Entschädigung für Zwangssterilisierte selbst nach Reduktion auf 15‘000.- Franken ab. Einzelne Betroffene, vor allem ehemalige Heimkinder, machen zur Zeit den Versuch, substantielle Entschädigungsforderungen, teilweise in Millionenhöhe, gerichtlich zu erlangen. Bisher scheiterten sie. Vier Organisationen Fremdplatzierter verlangten im Juni 2013 gemeinsam eine pauschale Abgeltung von 120‘000.- Franken pro betroffene Person.
Am 11. April 2013 entschuldigten sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga sowie Vertreter von Kantonen, Gemeinden, Heimverbänden, Bauernverband und Kirchen bei den ehemaligen Verding- und Heimkindern, administrativ Eingewiesenen und bei den Opfern anderer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen wie Zwangssterilisationen und Zwangsadoptionen. Sie versprachen auch finanzielle Abgeltung.
Anlässlich ihrer Entschuldigung am 11. April 2013 diskuRerte BundesräRn SimonePa Sommaruga mit Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.
Am 13. Juni 2013 fand in Bern die erste Sitzung des paritätischen Runden Tischs für die Opfer fürsorge- rischer Zwangsmassnahmen statt. Zuerst geleitet von Alt-Ständerat Hansruedi Stadler, später durch Prof. Dr. Luzius Mader vom Bundesamt für Justiz.
Seit 2000 hat das Thema öffentlichem Interesse gewonnen. Es gibt jetzt auch viel Forschung dazu. Wichtig ist es, diese Themen in den Schulbüchern angemessen zu berücksichtigen und dabei die Mechanismen des Vorgehens und der Verfehlungen darzulegen. Das ist eine wichtige Hilfe, um der Gefahr, teilweise auch der Realität, entgegenzuwirken, dass auch heutige sowie zukünftige Zwangsmassnahmen im Sozialbereich, ich denke da vor allem an die Flüchtlingspolitik, ausgrenzend, diskriminierend und zerstörerisch wirken.
Ohne das Engagement und die Selbstermächtigung der Betroffenen, das erlittene Unrecht öffentlich zu thematisieren, vor allem auch mittels selbst herausgegebenen Büchern und Texten im Internet, wäre es nicht zu dieser Entwicklung gekommen. Umgekehrt war es auch wichtig, dass sich die sozialgeschichtliche Forschung der Methodik von oral history und der Würdigung der Quellen „von unten“ öffnete. Wichtig war und bleibt der Druck der Medien auf politische (auch forschungspolitische) Instanzen.
Interessant ist die Frage nach der nationalen Ungleichzeitigkeit in der Thematik. Länder wie Kanada, Australien, Irland gingen voran. Vor allem das Vorgehen Irlands ist vorbildlich. Die skandinavischen Länder zogen nach, auch Deutschland und Österreich. Die reiche Schweiz hinkt hinterher, vor allem betreffend Zahlung an die Opfer. Als Ruhe vor dem Sturm erscheint die Lage in Ländern wie Frankreich, Italien, Spanien sowie in vielen anderen Gebieten.
2014 beschloss das Parlament auf Antrag von SP-Ständerat Paul Rechsteiner die Einrichtung einer Unabhängigen Expertenkommission zur wissenschaTlichen Aufarbeitung der administraRven Versorgung in der Schweiz. Sie arbeitet seit 2015 und wird ihre Resultate 2019 präsenReren. Erste Resultate sehen Sie auf hPp://www.uek-administraRve- versorgungen.ch
Guido Fluri war selber Pflege- und Heimkind. Er kaufte „sein“ Kinderheim, dort wurde am 1. Juni 2013 eine Gedenkausstellung eingerichtet.
Das Kinderheim Mümliswil wurde 1939 durch Hannes Meyer erbaut, den zweiten Bauhausdirektor. Meyer war selber im Waisenhaus Basel aufgewachsen.
Noch 2014 lehnte das Schweizer Parlament selbst symbolische Zahlungen an die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen ab. Deshalb startete Guido Fluri 2014 die so genannten WiedergutmachungsiniGaGve. Sie forderte 500 Millionen Franken für die Opfer, die selber auch UnterschriTen sammelten.
Der Bundesrat machte einen Gegenvorschlag und kürzte die Summe auf 300 Millionen. Das Parlament sRmmte zwar zu, setzte aber zusätzlich eine Obergrenze von Fr. 25’000.- pro Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen fest. Die IniRaRve wurde zurückgzogen.
Seit 30. September 2016 gilt das “Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981” (AFZFG) Eine Kommisson soll ab Frühjahr 2018 auf Gesuch der Opfer hin die Auszahlungen vornehmen.
Die Zahl der noch lebenden Opfer wurde 2014 auf 12’000 bis 15’000 geschätzt. Es wurden aber bisher erst rund 4000 Gesuche eingereicht. Weshalb? - Da viele ehemalige Opfer sehr alt sind, sind inzwischen viele gestorben, ohne etwas zu erhalten. - Für andere ist das Einreichen eines Gesuchs bei einer Amtsstelle eine zu hohe bürokraGsche Schwelle, obwohl Anlaufstellen eingerichtet wurden (Opferhilfe, Staatsarchive). -Andere, die es wirtschaTlich geschat haben, oT unter Verheimlichung ihrer Geschichte, wollen sich für 25’000.- Franken nicht einem aufwühlenden coming- out unterziehen.
Nach dem bisherigen Wortlaut des Gesetzes wird, wenn weniger als 12’000 Gesuche eingehen, wegen der vom Parlament implanRerten Obergrenze ein grosser Teil, vielleicht sogar mehr als die Häl/e, des zugesprochenen Betrags von 300 Millionen nicht wie beabsichGgt und gefordert an die Opfer, sondern an den Bund zurückgehen, der zur Zeit Budgetüberschüsse erzielt.
Die Verzögerung und der Parlamentarier-Trick mit der Obergrenze würde somit bedeuten, dass Bund und Kanton weit billiger als kommuniziert davon kommen und die Opfer sich einmal mehr ausgetrickst und nicht ernst genommen fühlen müssen. Ein ehemaliges Opfer hat diese ganze Herabsetzungsverfahren (IniRaRve: 500 Milionen; Bundesrat: 300 Millionen, Parlament: womöglich noch Refer) als moderne Mindersteigerung bezeichnet.
Der Verein Fremdplatziert (VFP) www. Fremdplatziert.ch hat in einer MedienmiPeilung vom 22. Juni 2017 gefordert, dass der ganze Betrag von 300 Millionen für die Betroffenen verwendet wird, entweder durch Erhöhung des Beitrags (mi`els Streichung der Obergrenze) an die einzelnen Opfer oder durch andere Zuwendungen an die Betroffenen (z.B. Hilfe zur Selbsthilfe). Das fordern auch viele nicht-organisierte Betroffene.
Nach 31 Jahren Forschung und Menschenrechts- arbeit im Bereich Minderheitsrechte und fürsorgerische Zwangsmassnahmen bin ich der Meinung, die jahrzehntelange Behinderung der wissenschaTlichen und gesellschaTlichen Auf- arbeitung sei ein Teil des Skandals. Ich danke allen, die dazu beitrugen, diese Blockade zu durchbrechen. Schadenersatz und Genugtuung (nicht verspätete symbolische Abfindungen) wären schon 1981 fällig gewesen, als die menschenrechtswidrigen Versorgungsgesetze aufgehoben wurden, und als noch viel mehr Betroffene am Leben waren.
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