Jörg Widmann Das Gesicht im Spiegel
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Jörg Widmann Das Gesicht im Spiegel Jörg Widmann. Ein Endspiel. Der Komponist Jörg Widmann über seine Oper Das Gesicht im Spiegel Gab es eine Affinität zur Oper bei Ihnen? Sind sie als Kind oder Heranwachsender regelmäßig in die Oper gegangen? Meine ersten musikalischen Erlebnisse waren kammermusikalischer Natur. In die Oper bin ich als Kind nicht oft, aber wenn, sehr gerne gegangen. Bald wünschte ich mir Klavierauszüge von den großen Mozart-Opern und konnte mich nicht satthören daran. An eine Freischütz- Aufführung erinnere ich mich sehr genau. Noch heute bin ich fasziniert von der phänomenalen Instrumentation und dem dramatischen Geist dieser Partitur. Aber gerade als Klarinettist schätze ich den Komponisten Carl-Maria von Weber natürlich besonders. Hat Ihre Neigung zum Genre Oper angehalten, oder hat sich das Gefühl einer Distanz eingestellt? Beides. Wenn man einmal vom Theater infiziert ist, kommt man nicht mehr davon los. Natürlich stellt sich auch Distanz ein, bis hin zur offenen Ablehnung. Das ist ein natürlicher Prozess. Es gab plötzlich Dinge, die mich befremdeten: Nicht dass die Sänger auf der Bühne singen, sondern warum sie so singen. Bei manchen Sängern wusste man nicht, welchen der fünf chromatischen Töne innerhalb ihrer Vibrato-Amplitude sie eigentlich meinen; das Grundrepertoire der Gesten empfand ich ebenfalls als sehr eingeschränkt; und eine bestimmte Form von - wie ich es nennen würde - Pathos auf Knopfdruck irritierte mich zunehmend. Zu dieser Skepsis gesellten sich Fragen nach der Unmöglichkeit von Sprache, Textvertonung und des Apparates. Sie haben sich diesem Apparat nun anvertraut. Bedeutete die abendfüllende Oper eine Verlockung auf Neues für Sie, oder überwog die Angst, zu viele Zugeständnisse an den Apparat machen zu müssen? Es gibt vielleicht tausend Gründe gegen die Oper, aber für mich ist die Obsession, für das Theater zu schreiben, stärker als alle Einwände. Es ist der Traum von einem anderen Singen, einem anderen Spiel. An diesem Traum arbeitet man sich ab und scheitert streng genommen immer anders am eigenen Anspruch. Man möchte zunächst doch immer ein anderes Stück schreiben, als das, was letztendlich heraus kommt. Jedes Stück entwickelt eine Eigendynamik. Wenn man mir vor ein paar Jahren vorausgesagt hätte, ich würde eine Oper wie Das Gesicht im Spiegel machen, in der es bei aller Komplexität ein festes Libretto mit einem regelrechten Plot und einer festen Handlung gibt, dann hätte ich daran nicht geglaubt. Ich kann mir auch ein Musiktheater vorstellen, in dem ich mit Figuren ohne Text- und Handlungsbegründung umgehe. Bei Ihnen existiert eine Vorstufe zur Oper: Sie haben Schauspielmusik komponiert, also Musik für Personen oder Charaktere, die aber nicht singen. War das eine hilfreiche Vorübung? Als ich mit Dieter Dorn an den Kammerspielen an Cymbelin arbeitete, hatte ich noch nie zuvor für das Schauspiel gearbeitet, und nun sollte es gleich Musik für ein fünfstündiges Drama sein. Es war, wie wenn man in kaltes Wasser geworfen würde. An einer entscheidenden Stelle begriff ich, dass ein Trommelschlag, mezzopiano und portato gespielt,
adäquater wirkte als alle Musik, die ich vorher entworfen hatte. So haben wir das meiste wieder gestrichen, weil es zu illustrativ war und beide Ebenen neutralisiert hätte: Für sich war das vielleicht gute Musik, aber zusammen mit der Szene hoben sich die beiden medialen Ebenen gegenseitig auf. Das war ein heilsamer Schock. Kurz darauf machten wir noch eine der schwärzesten antiken Tragödien überhaupt, Euripides' Hekabe. Für uns war das eine ganz andere Form, fast eine Vorstufe zur Oper mit einem Orchestergraben vor der Bühne und mit Frauenchor. Bei dieser Arbeit habe ich unendlich viel gelernt. Vor allem eines: Theater ist für mich ein Traumort. Deshalb muss ich mir die Bedingungen dort selbst schaffen. Es war für mich bei der Komposition für das Gesicht im Spiegel daher wichtig, die Sänger zu kennen. Ich bin sogar von ihnen ausgegangen. Dann sollte ich für das Cuvilliés- Theater schreiben, dessen Räumlichkeit ich mir erst aneignen musste. Mir wurde klar: Wenn ich in diesem kaum nachklingenden Raum eine trockene Instrumentation wählte, würde ich die Trockenheit verdoppeln. Also musste ich durch meine Instrumentation andere Bedingungen in dem Raum schaffen, um die Akustik gewissermaßen auszutricksen. Deshalb kämpfte ich auf den fünfhundert Seiten Partitur unter anderem auch ständig gegen die dortige Akustik an, ich musste mir meinen Klang erkämpfen. Wenn ich für Orchester im Konzertsaal schreibe, gehe ich eher kammermusikalisch vor. Gesicht im Spiegel ist dagegen meine in vertikaler Hinsicht wohl üppigste Partitur. Als Sir Peter Jonas Ihnen den Auftrag für diese Oper gab, wollte auch er sie ein wenig auszutricksen: Er wollte verhindern, dass Sie, wie es die meisten Ihrer Kollegen heute immer noch tun, bei einem vorgegebenen Stoff der Weltliteratur von Euripides über Shakespeare bis zu Grabbe anknüpfen. Er wollte von Ihnen eine Oper über das aktuelle Heute. War Ihnen dieser Gedanke nahe oder eher fremd? Stückideen gären permanent in mir. Der Wunsch nach einem Musiktheater über den sehr spezifischen Wahnsinn unserer Zeit hat sich über die Jahre hinweg konkretisiert. Insofern rannte Sir Peter Jonas bei mir offene Türen ein. Deshalb war es mir wichtig, dass der Librettist und das Regieteam, also Roland Schimmelpfennig und Falk Richter, aus meiner Generation stammen. Wir teilen Ängste, Skepsis, aber auch Freude in Bezug auf unsere Zeit. Roland Schimmelpfennigs Libretto setzt sich mit einer heutigen Thematik auseinander. Gleichzeitig gibt es archetypische Situationen und menschliche Grundkonstellationen, wie sie schon bei den antiken Griechen vorkommen. War das für Sie eine Herausforderung, ganz abgesehen von der Aktualität des Themas? Der Wunsch nach einem künstlichen Wesen ist nicht nur ein alter Menschheitstraum, sondern auch ein alter Theatertraum. In seinem Libretto greift Schimmelpfennig bewusst auf Archetypen zurück. Aber heute verhält es sich mit diesen entschieden anders: Wir stehen vielleicht technisch kurz davor, ein künstliches Wesen verwirklichen zu können. Diese wahnsinnige Situation hat es bei den Griechen oder bei E.T.A. Hoffmann noch nicht gegeben. Ebenso verschärft ist heute der rein wirtschaftliche Aspekt, der daher das erste Drittel unseres Stückes beherrscht. Das hat mich sehr herausgefordert, weil diese Stellen düster und schwarz sind und immer wieder ins Groteske kippen. Das sind dann häufig Situationen, denen ich nur mit zorniger Komik begegnen kann. Ein weiterer Wunsch von Ihnen an den Librettisten war die Mitwirkung eines Kinderchors. Das warf Fragen auf, denen Sie mit der Feststellung begegneten: Kinder wissen mehr. Wenn ein Dreißigjähriger ohne eigene Kinder das sagt, dann vergrößert sich das Rätselhafte des Statements noch. Was steckt dahinter? Kinder haben ein hohes subversives Potential. Zum Beispiel erinnere ich mich daran, als während meiner Schulzeit ein Kind leise zu summen begann. Es folgten chorische Einsätze der Mitschüler über den Klassenraum verteilt - ein irisierend, schaurig-schöner Klangprotest. Eine
noch stärkere Opposition kann ich mir klanglich kaum vorstellen. Dabei ist sie von nahezu feiner Qualität und viel stärker als jede affirmative Art der Geräuscherzeugung. Bei meinem ersten Treffen mit Sir Peter Jonas gab er mir nur eine Einschränkung: Kein Opern- Chor. So habe ich dann gerade über einen Chor nachgedacht, so wie man einem kleinen Kind sagt: Fass nicht auf die heiße Herdplatte, weil du dich verbrennen wirst. Und dann fasst das Kind natürlich auf die Platte. Das erste, was ich Schimmelpfennig sagte, war deshalb, dass ich einen Kinder-Chor bräuchte, weil ich bestimmte rituelle Bewegungsabläufe und Gänge oder sogar Szenen, von der Brandmauer bis nach vorne an die Rampe, im Kopf hatte. Das Denken und Nachdenken über Theater beginnt oder begann in dem Fall bei mir auf einer klanglich- räumlichen Ebene. Die Kinder haben in unserem Stück die verstörendsten Texte. Die Phase beispielsweise, in der Justine lernt, wird vom Chor konterkariert. Sie sind hier Schulkinder, die das Alphabet lernen. Aber ihr Alphabet besteht ausschließlich aus technischen Begriffen, ist eine Auflistung von Marken und Computer-Fachbegriffen. Kinder wachsen heute in einer solchen Umwelt auf. Des weiteren geben die Kinder nicht nur die Tageszeiten wieder, sondern auch das jeweilige Klima im Stück. Sie tauchen in der Szenenabfolge immer auf, wenn man sie im Grunde nicht gebrauchen kann. Sie verheißen oft die unheilvollen Momente. Deshalb beginnen und beenden sie auch die Oper. Und gerade am Schluss, bei der zentralen a-Moll-Stelle, wenn Justine kurz vor ihrem Schrei in den Spiegel blickt, erklingen sehr bewusst Orchester und Chor das einzige Mal in der Oper vertikal an einem Punkt zusammen. Es fasziniert mich sehr, dass gerade Kinder diese zentrale Aussage treffen. Die Kinder singen die negativsten, unheilvollsten Texte, auf den Inhalt und das Schicksalhafte in Ihrer Oper bezogen? Ja! Man weiß einfach nicht genau, wer sie sind: Börsen- und Wirtschaftsleute, geklonte Wesen oder einfach nur Kinder? In meiner Musik ist es häufig so, dass im harmonischen Kontext gerade die scheinbar tonalsten Akkorde die größtmögliche Dissonanz darstellen. Plötzlich wird eine einfache Oktave etwas völlig Neues. Die Kinder benutzen dieses Intervall, wenn Milton emotional am höchsten erregt ist, und gewinnen als Wirkung einen bitteren Ruhepunkt hinzu. Es kommt auf den Kontext an, wie bestimmte Intervalle gesetzt werden und an unerwarteter Bedeutung gewinnen. So wird die scheinbare Harmlosigkeit der Kinder in meiner Oper gebrochen. Sie schlägt immer wieder ins Diabolische um. Und das können nur Kinder so drastisch leisten. Deren Artikulations-Repertoire ist viel avancierter als das der vier Protagonisten: Glissandi, Verrückungen, perkussive Klänge, dichte Geräuschstrukturen und ähnliches. Sie hätten sich oft gewundert, haben Sie eingangs gesagt, über die Art, wie Sänger in der Oper singen. Wie werden sie bei Ihnen singen? Die Sänger finden sich in den Vokalparts meiner Partitur quasi labyrinthisch gefesselt wieder. Sie haben in Bezug auf jeden Parameter wie Tonhöhe, Dynamik, Gestus und Klangfarbe eine Überfülle an Information zu bewältigen. Wie das Pedal in einem komplexen Klavierstück ist beispielsweise die Artikulation und Färbung von Vibrati und Non-Vibrati in den Vokalparts zig-fach abgestuft. Es gibt noch dazu ein ganzes Arsenal von Übergangstechniken von einer Färbung zur nächsten. Bruno und Justine müssen komplizierte mikrotonale, viertel- und dritteltönige melodische Riesenbögen bewältigen. Patrizias Part ist über weite Strecken im Geräuschhaften angesiedelt. Milton muss die Balance zwischen Brüllen, Schreien und Singen finden. Die häufigste Vortragsbezeichnung für alle vier ist: ordinario gesungen - molto espressivo ma non-vibrato. Dem Sänger bleibt nur eines: Er muss all diese Fesseln sprengen, frei davon werden. Sie fordern ein breitgefächertes Schlagwerk-Instrumentarium in dieser Partitur. Die Schlagzeugliste ist umfangreich, bekommt aber kein Übergewicht in der Partitur. Die
Orchesterbesetzung insgesamt war sehr wichtig. Es gibt keine Bratschen, dafür vier Geigen, drei Celli, einen Kontrabass, doppeltbesetztes Holz, einfach besetztes Blech, aber zwei Hörner. Als wichtigste Instrumente haben sich Akkordeon und Klarinette herausgestellt, die zunächst für Patrizia und später immer mehr für Justine stehen. Dabei sind die Flächenklänge beider Instrumente etwas nicht konkret Ortbares. Der Klang wird zwar an einem bestimmten Ort hergestellt, schwebt aber im Raum - gerade so wie Justine auch. Darüber hinaus gibt es Gitarren aller Arten, Banjos, eine Bandurria, die bei mir perkussiv eingesetzt werden, so wie auch das Klavier fast immer geräuschhaft in die Partitur integriert ist und fast nie als Tasteninstrument eingesetzt wird. Noch einmal zur inhaltlichen Situation: Zu was ist der sogenannte Klon nütze, was bedeutet er für Sie? Er ist in meiner Oper eine Art Ersatzteillager, er soll Profit bringen und Arbeit erleichtern. Was keiner ahnt: Er mutiert zum Albtraum. Die Erfinder dagegen glauben, sie hätten ihn im Griff. Die sechste Szene (wir nennen sie "Pressekonferenz") gibt sich als ein Sammelsurium aus Politikerreden, die suggerieren wollen, alles laufe nach Plan. Hier ist mir die Phrasenhaftigkeit derer wichtig, die sich des Klons bedienen wollen. Heute stehen so häufig Menschen im Maßanzug an Pulten und sprechen in antiquierter Weise von Innovation. Diese Diskrepanz interessiert mich an der Klonidee. Der Bio-Ingenieur Milton spielt hingegen den Schöpfer. Patrizia und Bruno bedeutet das Ganze eine zunächst rein geschäftliche Angelegenheit. Wenn sie mehr Geld verdienen könnten mit Waffen, würden sie diese produzieren. Aber sie werden von der Erfindung überrumpelt, weil sie nicht ahnen konnten, dass Justine als äußeres Ebenbild von Patrizia auch deren Erinnerung erben und sich in Bruno verlieben würde. Für mich ist Justine der einzige Mensch in diesem Stück. Sie ist in ihren Gefühlsäußerungen ungeschützt, so wie jeder Mensch, der das erste Mal liebt, vollkommen überwältigt wird. Justine erlebt alles in exzessiver Weise, auch in der Szene, als ihr ein Bein abgehackt wird. Es wächst ihr zwar gleich wieder nach, aber sie empfindet unvorhergesehenerweise Schmerz dabei. Ihre Empfindungswelt ist somit eine zutiefst menschliche, und ich habe alle Energie aufgewandt, um dieses Wesen so menschlich wie möglich zu zeichnen - ohne es zu idealisieren. Justine ist im Grunde ein ausgesprochen kindliches Wesen - darin besteht ihre Verbindung zum Kinderchor. Aber in einem Punkt ist sie der Kinderwelt fern. Die Kinder spielen einmal im Pausenhof Krieg. Sie überwältigen Justine, sie beginnt zu bluten. Sie bekommt eine erste Ahnung vom Erwachsensein. Ich habe daher in der Partitur als anmerkende Hinweise "Erster Verlust" und "Fast zu ernst" (Stücktitel aus Schumanns Kinderszenen) eingesetzt. Die drei anderen Figuren reagieren roboterhaft auf Justine, die in dem Stück seelisch eine enorme Entwicklung durchläuft: vom Embryo zum sprechenden Kind, von der pubertierenden Liebenden bis zur erwachsenen Frau. In dem Moment, als sie, von Patrizia gezwungen, erkennt, dass sie keine eigenständige Existenz ist, ist ein zentraler Erkenntnispunkt erreicht: Sie weiß nun, dass sie keine eigene Identität besitzt. Sie entscheidet sich, dass sie nicht mehr leben will, wenn sie schon kein Mensch ist oder sein soll. Aber selbst dieser Wunsch bleibt ihr verwehrt. Ist die Botschaft Ihrer Oper politisch? Die Oper ist kein Stück "pro" oder "anti" Gentechnik. Schimmelpfennig hat dieses Thema sehr poetisch gefasst. Es besitzt eine schwebende Leichtigkeit. Wenn ich vorher von den Ängsten, Nöten und Freuden eines jungen Menschen gesprochen habe, meine ich, dass all dies in diesem Stück, zum Teil subkutan, zum Teil überdeutlich zum Ausdruck kommt. Eine konkrete politische Botschaft vermittelt es jedoch nicht. Es hilft nichts, dem Menschen vorzuschreiben, wie er, etwa in der Forschung, handeln soll. Wenn man ihm etwas verbietet, wird er es gerade tun. Schimmelpfennigs Ausgangsposition war immer die Frage: Was wäre wenn? Darüber wollten wir beide ein Spiel machen. Und als Musikdramatiker interessiert mich natürlich, dass
ein Endspiel daraus wird. Der Anfang des Stücks ist von der übergroßen Hoffnung getragen, dass sich alles ändern werde. Wenn man dann auf den Schluss sieht, sehen wir, dass alle Figuren wie Geschlagene den Schauplatz verlassen. Bruno ist tot, Justine will sterben und darf es nicht, Patrizia und Milton ziehen sich ins Tagesgeschäft zurück, um die Maschine zu verbessern. Das ist alles andere als eine große Verheißung, ist vielmehr extrem ernüchternd. Aber es gibt in unserer heutigen Gesellschaft Dinge, zu denen die Musik, das Theater nicht schweigen darf. Und das, was ich durch meine Musik sage, lässt sich verbal nicht in einen Slogan fassen. Das Gespräch führten Rainer Karlitschek und Hanspeter Krellmann zur Uraufführung
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