DAS GESICHTSVERHÜLLUNGSVERBOT IM STRAFVERFAHREN - KRIPOZ

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KriPoZ 2 | 2020                     99

                              Das Gesichtsverhüllungsverbot im Strafverfahren

           von Prof. Dr. Wolfgang Mitsch*

Abstract                                                                  schlechts – mit Textilien bedecken. Welch schwere Demü-
Von den zahlreichen Maßnahmen zur Modernisierung des                      tigung es für eine Frau bedeuten kann, gewaltsam ge-
Strafverfahrens1 hat die Ergänzung des § 176 GVG um                       zwungen zu werden, die Betrachtung ihres Gesichts durch
den neuen Absatz 2 im Gesetzgebungsverfahren den ge-                      fremde Menschen zu dulden, kann sich unsere aufgeklärte
ringsten Diskussionsbedarf erzeugt. In der öffentlichen                   und säkularisierte Gesellschaft offenbar schwer vorstel-
Expertenanhörung vor dem Bundestagsausschuss für                          len. Wird doch in unserer von „westlichen Werten“
Recht und Verbraucherschutz haben sich die Sachverstän-                   durchdrungenen Demokratie jede Form der Verhüllung
digen zu diesem Punkt überhaupt nicht geäußert2 bzw. le-                  des Körpers muslimischer Frauen als Resultat von Unter-
diglich kurze zustimmende Stellungnahmen abgegeben.3                      drückungsmechanismen eines irrational rückständigen il-
Deswegen sucht der am Thema Interessierte vergeblich                      liberalen Patriarchats angesehen, angesichts dessen die
nach Informationen über einige mit § 176 Abs. 2 GVG zu-                   Muslima nur froh sein kann, von der ihr aufgezwungenen
sammenhängende Folgefragen, die weder gesetzlich nor-                     Einschnürung ihres Körpers befreit zu werden.5
miert noch erkennbar diskutiert worden sind. Auch die
Kommentare zu StPO und GVG geben beispielsweise                           Among the numerous measures to modernize the criminal
keine präzise Auskunft darüber, wie denn das Gebot des                    proceedings1, the addition of paragraph 2 to Section 176
unverhüllten Erscheinens vor dem Richter praktisch                        GVG (Judicature Act) has generated little need of discus-
durchgesetzt wird, wenn die betroffene Frau sich weigert,                 sion in the legislative process. In the public hearing of ex-
der Aufforderung zur Entfernung der Verhüllung nachzu-                    perts before the Committee on Legal Affairs and Con-
kommen. Schon vor Einführung des § 176 Abs. 2 GVG                         sumer Protection of the Bundestag, the experts did not
durfte nach einhelliger Ansicht der Vorsitzende Richter                   comment on this matter at all2, or merely provided brief
auf der Grundlage des § 176 GVG ein Verhüllungsverbot                     statements of support.3 For this reason, those interested in
anordnen.4 Das Gesetz enthielt aber ein solches Verbot                    the topic are looking in vain for information on some fol-
nicht und schon gar nicht Verfahrensvorschriften zur                      low-up questions related to Section 176 (2) GVG, which
Durchsetzung seiner Befolgung. An letzterem hat das Mo-                   have neither been legally standardized nor discussed in a
dernisierungsgesetz nichts geändert. Soll der Richter not-                recognizable way. Even the commentaries on the Code of
falls selbst mit unmittelbarem Zwang – also mit Gewalt –                  Criminal Procedure and the GVG do not provide precise
eine renitente Zeugin oder Angeklagte ihrer Gesichtsver-                  information on how the requirement of unveiled appear-
hüllung entledigen? Es versteht sich von selbst, dass allen               ance before the judge is enforced in practice if the woman
Beteiligten peinliche Situationen erspart bleiben und Es-                 concerned refuses to comply with the request to remove
kalationen vermieden werden müssen. Männliche Voll-                       the veil. The article deals in particular with the personal
strecker der Verbotsdurchsetzung müssen davor geschützt                   scope of the ban on veiling and its implementation.
werden, sich durch Erfüllung ihrer Pflicht in die Gefahr
zu begeben, berechtigten oder unberechtigten Vorwürfen                    I. Einleitung
sexueller Übergriffigkeit (§§ 177, 184 i StGB) – „me too“
– ausgesetzt zu sein. Umgekehrt muss die betroffene Frau                  Der mit dem Verhüllungsverbot verbundene Eingriff in
selbstverständlich vor ebensolchen Grenzüberschreitun-                    die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
gen geschützt werden. Daher wäre beispielsweise eine                      (Art. 2 Abs. 1 GG) und auf Religionsausübung (Art. 4
flankierende Regelung sinnvoll gewesen, die ähnlich wie                   Abs. 2 GG) wird im Strafverfahren durch das Interesse an
§ 81 d StPO sicherstellt, dass es nicht im Ermessen des                   einer funktionierenden Strafrechtspflege gerechtfertigt.
Richters liegt, welche Justizwachtmeisterperson mit der                   Dieses Allgemeingut hat Verfassungsrang, ist eine effizi-
gewaltsamen Enthüllung der Frau – sofern diese über-                      ente Strafrechtspflege doch unverzichtbare Bedingung ei-
haupt zulässig ist – beauftragt wird. Nicht nur diese Re-                 nes rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesens. Sowohl zur
gelungslücke verweist auf die mangelnde Sensibilität der                  Identifizierung der Person als auch zur Ermöglichung op-
am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten für die heikle                      timaler Wahrheitsfindung (Beweiswürdigung) durch das
Konfliktlage, die ein Verhüllungsverbot gegenüber Perso-                  Gericht ist es erforderlich, dass das zuständige Strafver-
nen heraufbeschwört, die ihr Antlitz aus religiösen Grün-                 folgungsorgan das vollständig unverhüllte Gesicht der
den zur Abwehr von – lüsternen oder nicht lüsternen – Bli-                Person betrachten kann.6 Dies bezieht sich in erster Linie
cken anderer Menschen – insbesondere männlichen Ge

                                                                          3
*   Der Verfasser ist Professor für Strafrecht an der Universität Pots-       So die Sachverständigen Caspari und Mosbacher. Für überflüssig
    dam.                                                                      hielt das Verbot der Vertreter des Deutschen Anwaltvereins.
1                                                                         4
    Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10. 12. 2019,            Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 176 GVG Rn. 7a.
                                                                          5
    BGBl I Nr. 46, S. 2121.                                                   Richtigstellend Hecker, ZRP 2019, 151 (152).
2                                                                         6
    So die Vereinigung Berliner Strafverteidiger, der Deutsche Richter-       Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Ver-
    bund sowie die Sachverständigen Heidenreich, Jahn und Maier.              braucherschutz, S. 46
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         auf Angeklagte und Zeuginnen. Erwähnenswert ist dar-                        Maßnahmen sind zwar nicht von vornherein ungeeignet,
         über hinaus, dass das Verfahren auch durch die Verhül-                      aber gegebenenfalls im konkreten Fall nicht ausreichend.
         lung des Gesichts einer Richterin oder Schöffin rechtlich                   Im Übrigen müsste grundsätzlich die Zulässigkeit einer
         relevant beeinträchtigt werden kann. Bleibt dadurch bei-                    Aufforderung zur Selbstenthüllung in Bezug auf Personen
         spielsweise verborgen, dass die Richterin während einer                     geklärt werden, bei denen dies mit dem nemo-tenetur-
         Zeugenvernehmung schläft, entgeht der Verteidigung                          Prinzip in Konflikt geraten könnte. Ähnlicher Regelungs-
         möglicherweise die Chance, einen bedeutsamen Revisi-                        bedarf besteht bei Personen, denen ein Zeugnisverweige-
         onsgrund (§ 338 Nr. 1 StPO)7 geltend zu machen. Auch                        rungs- und Untersuchungsverweigerungsrecht zusteht.
         kann die Wahrnehmung der Mimik als Quelle für Schluss-
         folgerungen auf eine etwaige Besorgnis der Befangenheit                     II. Sachlicher Geltungsbereich des Verhüllungsver-
         (§ 24 StPO) behindert sein, weil niemand sehen kann, wie                    bots
         eine Richterin hinter ihrem Schleier beispielsweise wäh-
         rend der Ausführungen des Verteidigers höhnisch das Ge-                     1. Sitzung
         sicht verzieht. Es gibt also genügend gute Gründe für ein
         Verhüllungsverbot im Strafverfahren. Da der Vorsitzende                     Standort im GVG und Wortlaut der Vorschrift verbinden
         im Einzelfall Ausnahmen von dem Verbot gewähren                             den Anwendungsbereich des Verhüllungsverbots im
         kann, ist die gesetzliche Abwägungsentscheidung nicht                       Strafverfahren mit der Hauptverhandlung. Das ist sicher,
         starr, sondern flexibler Handhabung zugänglich. Daher                       obwohl die Strafprozessordnung den Ausdruck „Sitzung“
         kann dem Verhältnismäßigkeitsgebot angemessen Rech-                         nicht verwendet. Mehrfach wird aber auf den „Sitzungs-
         nung getragen werden. Dennoch würde eine umgekehrte                         saal“ (§ 243 Abs. 2 S. 1 StPO) und das „Sitzungszimmer“
         Kann-Vorschrift dem Grundrechtsschutz besser gerecht:                       verwiesen (§§ 231b Abs. 1 S. 1, 247 S. 1, 247a Abs. 1 S. 3,
         „Der Vorsitzende kann an der Verhandlung beteiligten                        Abs. 2 S. 1 StPO). Zudem rekurriert § 176 Abs. 2 GVG
         Personen die Verhüllung ihres Gesichts untersagen, wenn                     auf die „Verhandlung“. Kein Teil der Hauptverhandlung
         und soweit die Kenntlichmachung des Gesichts zur Iden-                      und somit auch keine „Sitzung“ ist die Beratung des Ge-
         titätsfeststellung oder zur Beweiswürdigung notwendig                       richts gem. §§ 192 ff GVG.10 Demnach kann der Vorsit-
         ist“.8 Vor allem müsste die Einzelfallanordnung begrün-                     zende in diesem Kontext eine Schöffin jedenfalls nicht auf
         det werden, wovon die nunmehr in Kraft befindliche Re-                      der Grundlage des § 176 Abs. 2 GVG auffordern, die Ge-
         gelung den Vorsitzenden entbunden hat.9                                     sichtsverhüllung abzulegen. Zudem gibt es dafür – anders
                                                                                     als in der Hauptverhandlung – auch keinen sachlichen
         Die angreifbare und bei gründlicher Prüfung sich als ver-                   Grund. Wird gegen eine nicht anwesende Angeklagte ver-
         fassungsrechtlich zumindest bedenklich erweisende ge-                       handelt (§§ 231 Abs. 2 ff. StPO), besteht insoweit für
         setzgeberische Grundentscheidung soll hier nicht weiter                     diese kein Verhüllungsverbot, zumal sie dann auch keine
         hinterfragt werden, ebenso nicht ihre Begründung. Erör-                     „an der Verhandlung beteiligte Person“ ist.
         terungsbedürftig sind aber einige konsekutive Fragen, auf
         die das Gesetz keine befriedigende – nämlich gar keine –                    2. Sonstige Teile des Verfahrens
         Antwort gibt. Insgesamt gesehen übt der Gesetzgeber
         auch nach Einführung des § 176 Abs. 2 GVG kritikwür-                        § 180 GVG erweitert den Anwendungsbereich des § 176
         dige Zurückhaltung zum Schaden derjenigen, die § 176                        Abs. 2 GVG auf richterliche Amtshandlungen außerhalb
         Abs. 2 GVG entweder anwenden müssen oder von seiner                         der Hauptverhandlung. Dies betrifft z.B. vorweggenom-
         Anwendung betroffen sind. Zu viel einzelfallbezogene                        mene Teile der Hauptverhandlung gem. § 223 StPO und
         Rechtsgestaltung überlässt das Gesetz dem richterlichen                     § 225 StPO.11 Vernehmungen durch Polizeibeamte oder
         Ermessen ohne jegliche Richtungsweisung, Anleitung                          die Staatsanwaltschaft sind in den Anwendungsbereich
         oder Beschränkung. Die Rechtslage ist deshalb durch er-                     des § 176 Abs. 2 GVG nicht einbezogen. Obwohl die jetzt
         hebliche Rechtsunsicherheit geprägt. Das schlägt sich so-                   eingeführte positivgesetzliche Bekräftigung des Verhül-
         gar in der Gesetzesbegründung nieder, wo unter Hinweis                      lungsverbots einen Umkehrschluss aufdrängt, macht die
         auf §§ 177, 178 GVG behauptet wird, der Vorsitzende for-                    Ungleichbehandlung teleologisch keinen Sinn. Die Not-
         dere zur Einhaltung des Verbots auf und könne gegebe-                       wendigkeit einer sicheren Identitätsfeststellung und die
         nenfalls Ordnungsmittel androhen. Ob der Vorsitzende                        Bedürfnisse der Wahrheitsfindung sind in diesen Verneh-
         gegenüber Personen, die an der Verhandlung beteiligt                        mungssituationen nicht schwächer als bei richterlichen
         sind, diese Maßnahmen androhen darf, ist fraglich. Zur                      Vernehmungen. Auf Grund der unsicheren Rechtslage
         Anordnung jedenfalls ist nur das Gericht zuständig und                      dürfte es sich in den praktisch seltenen Fällen empfehlen
         ein Beschluss erforderlich, §§ 177 S. 2, 178 Abs. 2 GVG.                    den Ermittlungsrichter (§ 162 StPO) einzuschalten.
         Zudem bewirken weder die Entfernung aus dem Sitzungs-
         zimmer noch die Ordnungshaft oder das Ordnungsgeld
         faktisch eine Enthüllung der verhüllten Person. Diese

         7                                                                           9
             Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 338 Rn. 14.                                    Claus, NStZ 2020, 57 (62).
         8                                                                           10
             Wer dem oder der Vorsitzenden selbst zur Pflicht macht, das Ge-              Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 193 GVG Rn. 2.
                                                                                     11
             sicht nicht zu verhüllen, bleibt auf Grundlage dieses Gesetzestextes         Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 223 Rn. 18.
             eben so offen wie generell die Anwendung des § 176 GVG gegen-
             über dem Vorsitzenden. Dass sich die Sitzungspolizei „auf alle An-
             wesenden“ erstreckt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 176 GVG
             Rn. 10), bestätigt die Berechtigung der Frage, gibt darauf aber keine
             Antwort.
Mitsch – Das Gesichtsverhüllungsverbot im Strafverfahren                                                        KriPoZ 2 | 2020                       101

III. Persönlicher Geltungsbereich                                         Rechtsgrundlage sogar den unmittelbaren physischen Zu-
                                                                          griff auf Körpersubstanz wie das Rasieren oder Abschnei-
1. Beschuldigte                                                           den der Gesichts- und Kopfbehaarung getragen.15 Dann
                                                                          dürfte eine auf das Gesicht beschränkte Teilentkleidung
Im Fall unmittelbarer Anwendung des § 176 Abs. 2 GVG                      erst recht zulässig sein. Dem Schweigerecht des Beschul-
erfasst das Verhüllungsverbot „an der Verhandlung betei-                  digten korrespondiert kein Recht, die Duldung von Wahr-
ligte Personen“. Dies sind alle Personen, die nicht Teil der              heitsfindungsmaßnahmen zu verweigern, von denen er le-
„Öffentlichkeit“ iSd § 169 GVG sind und deren Anwesen-                    diglich passiv als Augenscheinsobjekt betroffen ist. Mit
heit im Gerichtssaal daher bei nichtöffentlichen Verhand-                 dem nemo-tenetur-Prinzip steht das in Einklang.16 Zwar
lungen keiner Zutrittsgestattung gem. § 175 Abs. 2 S. 1                   sind dem Arzterfordernis unterliegende körperliche Ein-
GVG bedarf. In erster Linie ist die Angeklagte adressiert,                griffe i.S.d. § 81a Abs. 1 S. 2 StPO keine Vorgänge, die in
deren physische Anwesenheit unverzichtbare Vorausset-                     der Hauptverhandlung stattfinden. Der unmittelbare An-
zung einer rechtmäßig durchführbaren Hauptverhandlung                     wendungsbereich des § 176 Abs. 2 GVG ist davon also
ist, § 230 StPO. Zum Zwecke der Identitätsfeststellung                    nicht betroffen. Einfache körperliche Untersuchungen
(§ 243 Abs. 1 S. 2 StPO) wird es unumgänglich sein, dass                  i.S.d. § 81a Abs. 1 S. 1 StPO17, die das Gericht selbst vor-
die erschienene Person ihr Gesicht dem Gericht – und nur                  nehmen kann, sind aber nicht nur theoretisch denkbar,
dem Gericht – unverhüllt zeigt. Alle anderen im Ge-                       sondern müssten auf der Rechtsgrundlage des § 81c StPO
richtssaal anwesenden Personen haben hingegen kein                        angesichts des zu mutmaßenden Ausmaßes körperlicher
Recht, das Gesicht der Angeklagten zu sehen, insbeson-                    Misshandlung von Frauen durch männliche Bezugsperso-
dere die als Repräsentanten der Öffentlichkeit erschiene-                 nen praktisch häufig vorkommen. Von Schlägen, Stichen,
nen Zuhörer einschließlich der Medienvertreter. Die An-                   Verbrennungen, Verbrühungen usw. herrührende Wun-
geklagte hält sich nicht freiwillig im Gerichtssaal auf, ein              den und Narben im Gesicht per Inaugenscheinnahme fest-
anderer Selbstschutz ihres Rechts am eigenen Bild als die                 zustellen, obliegt auf Grund des Unmittelbarkeitsprinzips
Verhüllung ihres Gesichts steht ihr nicht zur Verfügung.12                zuvörderst dem erkennenden Gericht.18 Dass eine ange-
Strafrechtlicher Schutz gegen ungenehmigte Bildaufnah-                    klagte Frau derartige Spuren im Gesicht trägt, kann man
men etwa durch Erweiterung des § 201a StGB gewährt                        sich vorstellen, wenn ihr eine Tat vorgeworfen wird, die
der Gesetzgeber, der an anderer Stelle („Upskirting“) mit                 z.B. der Verteidigung gegen Angriffe eines „Haustyran-
großem Eifer Angriffe auf den Privatbereich pönalisiert,                  nen“ diente.
Angeklagten bislang nicht.13 Ein über den Zweck der
Identitätsfeststellung hinausgehendes Festhalten am Ver-                  2. Zeugin
hüllungsverbot ist nicht erforderlich und wäre verfas-
sungswidrig. Daher hat der Vorsitzende der Angeklagten                    Die Zeugin mit verschleiertem oder verhülltem Gesicht ist
nach Feststellung ihrer Identität zu gestatten, die Verhül-               der praktisch bedeutsamste Anwendungsfall des § 176
lung wieder anzulegen. Das gilt auch für eine Angeklagte,                 Abs. 2 GVG. Die Begründetheit des Verbots in dieser
die Angaben zur Sache machen will. Da sie die Aussage                     Konstellation steht außer Frage. Nicht nur die Richter,
komplett verweigern kann (§ 243 Abs. 5 S. 1 StPO), darf                   sondern auch Staatsanwalt, Angeklagter und Verteidiger
sie auch die Bedingung stellen, nur mit verhülltem Ge-                    – nicht dagegen die Zuhörer, die für Wahrheitsfindung
sicht auszusagen. Ein Gericht, das auf dieses Angebot                     nicht zuständig sind19 – haben ein Recht darauf, der Zeu-
nicht einginge, verstieße gegen seine Pflicht zur optimalen               gin ins Gesicht sehen zu können, während sie ihre Aus-
Aufklärung. Die Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeits-                    sage macht. Problematisch ist die Behandlung von Zeu-
diagnose, die mit dem Unterdrücken nonverbaler Signale                    ginnen mit Zeugnisverweigerungsrecht. Macht eine Zeu-
verbunden ist, muss hingenommen werden. Die „Kann“-                       gin nach Feststellung ihrer Identität von ihrem Zeugnis-
Vorschrift des § 176 Abs. 2 S. 2 GVG ist verfassungskon-                  verweigerungsrecht Gebrauch, gibt es keinen Grund, von
form auszulegen. Sobald der Eingriff in die Grundrechte                   ihr überhaupt noch Anwesenheit im Gerichtssaal zu ver-
(Art. 2 Abs. 1, Art. 4 GG) nicht mehr erforderlich ist, muss              langen. Die anlässlich ihrer Anwesenheit sich bietende
er unverzüglich beendet werden.                                           faktische Gelegenheit in ihrem unverhüllten Gesicht zu le-
                                                                          sen und daraus irgendwelche Erkenntnisse zu gewinnen,
Gegen den Willen der Angeklagten darf ihr die Gesichts-                   hat keine rechtliche Grundlage. So wenig die Tatsache der
bedeckung abgenommen werden, wenn dies zur Durch-                         Zeugnisverweigerung Gegenstand richterlicher Beweis-
führung einer gemäß § 81a StPO zulässigen körperlichen                    würdigung sein kann20, so wenig steht das Gesicht der
Untersuchung erforderlich ist.14 Die h.M. sieht von dieser                Zeugin als Quelle von durch Beobachtung gewonnenen

12                                                                        19
     Restriktionen des strafrechtlichen Bildnisschutzes durch enge Ge-         Abwegig ist der Hinweis auf § 169 GVG in der Stellungnahme der
     staltung des § 201a StGB werden in der Literatur mit dem „viktimo-        Bundesarbeitsgemeinschaft für Lehrerinnen und Lehrer des Rechts
     dogmatischen“ Selbstschutzprinzip erklärt, Eisele, JR 2005, 6 ff.         an Fachhochschulen (BAGHR) zum Referentenentwurf (a.a.O., S.
13
     Dazu Mitsch, ZRP 2014, 137 (140).                                         2): „Es ist wenig nachvollziehbar, einerseits den Unmittelbarkeits-
14
     Trück, in: MüKo-StPO, Bd. 1 (2014), § 81 a Rn. 34.                        grundsatz als eine der Prozessmaximen zu bezeichnen (§ 250 StPO)
15
     Murmann, in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch zum Strafverfah-               und den Grundsatz der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen
     ren, 2008, III Rn. 296.                                                   (§ 169 GVG) zu statuieren, andererseits jedoch die Realisierung die-
16
     Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl. (2006), Rn. 433; Murmann,           ser Grundsätze im Kernstück eines Strafverfahrens, der Hauptver-
     in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch, III Rn. 288.                           handlung, durch sich verhüllende, verschleierte oder sich maskie-
17
     Trück, in: MüKo-StPO, § 81a Rn. 7; Murmann, in: Heghmanns/                rende oder sonst unkenntlich machende, sich aus der Öffentlichkeit
     Scheffler, Handbuch, III Rn. 292.                                         in die Unkenntlichkeit zurückziehende Verfahrensbeteiligte, zu-
18
     Trück, in: MüKo-StPO, § 81a Rn. 27; Murmann, in: Heghmanns/               meist Angeklagte, zu vereiteln und letztlich auszuhebeln.“
                                                                          20
     Scheffler, Handbuch, III Rn. 293.                                         Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 261 Rn. 20.
102   KriPoZ 2 | 2020

         Informationen zur Verfügung. Der Vorsitzende muss da-             dient, allenfalls zur Feststellung ihrer Identität die Ge-
         her gemäß § 176 Abs. 2 S. 2 GVG das gesetzliche Verhül-           sichtsverhüllung entfernen müssen. Daher darf einer ver-
         lungsverbot aufheben. Erklärt die Zeugin sich bereit mit          schleiert erschienenen Zeugin nicht bereits vor Beginn der
         verhülltem Gesicht zur Sache auszusagen, muss das Ge-             Verhandlung der Zutritt zum Sitzungszimmer verwehrt
         richt diese Bedingung akzeptieren, es sei denn der Ver-           werden, um sie damit zur Enthüllung zu nötigen. Soweit
         zicht auf diesen Beweisaufnahmeakt steht im Einklang              das Verlangen eines unverhüllten Gesichts berechtigt ist,
         mit der Aufklärungspflicht. Gesichtsenthüllung zum Zwe-           stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die Aufforderung
         cke der Augenscheinseinnahme in Bezug auf Tatspuren               zur aktiven Selbstenthüllung oder zur Duldung einer von
         (Kratzer, Blutergüsse, Narben usw.) braucht eine zeugnis-         fremder Hand vollzogenen Beseitigung vorzugswürdig
         verweigerungsberechtigte Zeugin nicht zu dulden. Dies             ist. Das hängt davon ab, welche Variante für die be-
         folgt aus § 81c Abs. 3 StPO, da richtiger Ansicht nach            troffene Frau die geringere Zumutung darstellt. Zu be-
         auch die schlichte Körperoberflächenbetrachtung mit blo-          rücksichtigen ist, dass aktive Selbstentblößung aggressive
         ßem Auge eine körperliche Untersuchung ist. Hat die Zeu-          Reaktionen im Umfeld der Frau (z.B. Beschimpfung als
         gin kein Zeugnisverweigerungsrecht und demzufolge                 „Hure“) herausfordern könnte. In Anbetracht dessen mag
         auch kein Untersuchungsverweigerungsrecht, sollte die             der Zugriff durch unmittelbaren Zwang das geringere
         Beseitigung der Gesichtsverhüllung gem. § 81d StPO nur            Übel darstellen. Umgekehrt kann es auch sein, dass Vater,
         durch eine weibliche Person vollzogen werden.                     Brüder, Ehemann, Bräutigam der Frau es als Schande
                                                                           empfinden, wenn sie es zulässt, von fremden Händen be-
         3. Verteidigerin                                                  rührt und entkleidet zu werden. Fingerspitzengfühl ist also
                                                                           gefragt und der Vorsitzende tut gut daran, die Frau selbst
         Von einer Verteidigerin, deren Identität festgestellt wor-        entscheiden zu lassen, welcher Form der Verwirklichung
         den ist, das Weglassen der Gesichtsverhüllung zu verlan-          des Enthüllungsgebots sie sich beugen will. Im Fall der
         gen, wäre ein ungerechtfertigter Eingriff in ihre Grund-          Weigerung wird die Ausübung von Zwang unvermeidbar
         rechte. Neben den oben schon genannten Art. 2 Abs. 1 GG           sein.
         und Art. 4 GG wäre auch Art. 12 Abs. 1 GG betroffen. Ein
         durchgreifender Grund für ein Enthüllungsgebot ist                2. Unmittelbarer Zwang
         schlicht nicht vorstellbar. Die Verfehltheit der gesetzli-
         chen Umkehrung von Regel und Ausnahme durch § 176                 Die Untätigkeit des Gesetzgebers, der zwar mühelos ein
         Abs. 2 GVG wird an diesem Beispiel in aller Schärfe               Verhüllungsverbot errichten konnte, sich aber jeglicher
         sichtbar.                                                         Durchführungsbestimmungen enthalten hat, ist zu bedau-
                                                                           ern und zu kritisieren. Wenn vor Einführung des § 176
         4. Sonstige                                                       Abs. 2 GVG schon beklagt wurde, dass in konkreten Ein-
                                                                           zelfällen Rechtsunsicherheit bezüglich des „Ob“ eines
         Im Verfahren gegen Jugendliche verlangt § 176 Abs. 2              Verhüllungsverbots herrschte, dann wird dieser Zustand
         GVG auch von der gem. § 67 Abs. 3 JGG anwesenden                  mangelnder Handlungsanleitung durch das Gesetz hin-
         Mutter des Angeklagten unverhülltes Erscheinen vor Ge-            sichtlich des „Wie“ erst recht zu beanstanden gewesen
         richt. Als Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertrete-        sein. Daran hat sich nun nichts geändert; vielmehr wurde
         rin ihres angeklagten Kindes ist sie am Verfahren betei-          die Lage für die Rechtsanwendungspraxis verschlechtert,
         ligt. Ein sachlicher Grund für die Enthüllungspflicht exis-       da das nicht an sachliche Voraussetzungen gebundene ge-
         tiert indessen nicht. Der Vorsitzende muss deshalb gemäß          setzliche Verbot den Handlungsdruck erhöht hat. Früher
         § 176 Abs. 2 S. 2 GVG die Verhüllung gestatten. Auch              konnte der Vorsitzende, der unsicher war, auf welche
         hier erweist sich die Konstruktion des Verbots mit Erlaub-        Weise eine verhüllte Frau in rechtmäßiger Weise enthüllt
         nisvorbehalt als die schlechtere Lösung. Welchen Grund            werden kann, sich aus der Affäre ziehen, indem er von ei-
         jenseits der Identitätsfeststellung es geben soll, einer Ne-      ner Verbotsanordnung absah. Dieser Ausweg ist nun
         benklägerin die Verhüllung ihres Gesichts zu verbieten,           durch § 176 Abs. 2 S. 1 GVG versperrt. Wie verworren
         ist unerfindlich.                                                 die Rechtslage ist, zeigt die Vielfalt der zu § 58 Abs. 2
                                                                           StPO vertretenen Auffassungen. Obwohl diese Vorschrift
         IV. Durchsetzung des Verbots                                      eindeutig allein die Pflichtenstellung des Zeugen nor-
                                                                           miert, wird aus ihr vereinzelt eine Mitwirkungspflicht des
         1. Zwang zur Selbstenthüllung                                     Beschuldigten abgeleitet21, eine Auffassung, die im Lichte
                                                                           des § 81b StPO22 kaum haltbar erscheint. Ausführungen
         Die Ausführungen zum persönlichen Anwendungsbereich               zum Verfahren bei einer gesichtsverhüllten Beschuldigten
         des § 176 Abs. 2 GVG haben schon zu Genüge bestätigt,             findet man freilich nirgends. Letztlich ist daher hier wie
         dass das gesetzliche Verbot gegen das Erforderlichkeits-          sonst bei der Ausführung von Anordnungen nach § 176
         prinzip verstößt und allenfalls eine verfassungskonforme          Abs. 1 GVG das Eingreifen von Justizwachtmeistern das
         Handhabung der Ermächtigung zur Gewährung von Aus-                Instrument zur Überwindung des Widerstandes. Dabei
         nahmen diesbezügliche Bedenken besänftigen kann. Kon-             darf auf der Grundlage des UZwG unmittelbarer Zwang
         kret folgt daraus, dass Verfahrensbeteiligte, deren Anwe-         angewendet werden.23 Man kann nur hoffen, dass derar-
         senheit in der Verhandlung nicht der Wahrheitsfindung             tige Praxis nie notwendig sein wird.

         21                                                                23
              Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 58 Rn. 9.                           Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 176 Rn. 14.
         22
              Zur Duldungspflicht des Beschuldigten auf dieser Grundlage
              Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 81b Rn. 10.
Mitsch – Das Gesichtsverhüllungsverbot im Strafverfahren                                               KriPoZ 2 | 2020                103

V. Schutz der unverhüllten Frau

Die mit der Gesichtsenthüllung verbundene Beeinträchti-                  VI. Schluss
gung der betroffenen Frau muss selbstverständlich sach-
grundkonform begrenzt werden. Nur soweit die Darbie-                     Ein früherer Bundespräsident hatte einmal gesagt: „Der
tung des unverhüllten Gesichts zur Erreichung eines die                  Islam gehört zu Deutschland“. Was auch immer man von
Enthüllung rechtfertigenden Zweckes erforderlich ist,                    dieser Äußerung halten mag; in dem Gesetzgebungsver-
kann von der Frau das Ertragen dieser Situation verlangt                 fahren zur Modernisierung des Strafverfahrens war davon
werden. Technisch mögliche Milderungen sind zu gewäh-                    nichts zu merken. In den Stellungnahmen zum Geset-
ren, es sei denn die betroffene Frau verzichtet darauf aus-              zesentwurf überwogen Desinteresse und mangelndes
drücklich. Denkbar, aber gewiss übermäßig, weil zum                      Problembewusstsein. Die ausnahmslos männlichen Sach-
Schutz nicht erforderlich, wäre ein vorübergehender Aus-                 verständigen in der öffentlichen Anhörung vor dem Bun-
schluss der Öffentlichkeit. Dafür böte § 171 b GVG in sei-               destagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz er-
ner geltenden Fassung keine Grundlage, wenngleich die                    weckten mit ihren schriftlichen Statements nicht den Ein-
ratio legis dem Fall gewiss korrespondiert. Der Eingriff in              druck intensiven Nachdenkens über die Thematik. Den
die Öffentlichkeitsmaxime wäre aber wohl unverhältnis-                   wenigen kritischen Kommentaren, in denen die Neurege-
mäßig, sofern das Recht am eigenen Bild durch Errich-                    lung als „überflüssig“ bezeichnet wurde24, ist nur teil-
tung eines Sichtschutzes im Gerichtssaal, der jedenfalls                 weise zuzustimmen. Besser als der vorherige gesetzliche
den Zuhörern den Blick auf das unverhüllte Gesicht ver-                  Zustand ist § 176 Abs. 2 GVG schon. Noch besser wäre
wehrt, ausreichend gewahrt werden kann. Für eine vo-                     jedoch eine Klarstellung dahingehend, dass ein Auftritt
rübergehende Entfernung des Angeklagten aus dem Sit-                     mit unverhülltem Gesicht allein zum Zwecke der Identi-
zungszimmer reicht die aktuell geltende Fassung des                      tätsfeststellung oder Beweiswürdigung verlangt werden
§ 247 StPO allenfalls dann, wenn einer der verhüllungs-                  darf und einer ausdrücklichen und begründungspflichti-
unspezifischen Gründe (z.B. Wahrheitsgefährdung) mit                     gen Anordnung des Vorsitzenden – mit der Möglichkeit
dem Zwang zur unverhüllten Aussage verknüpft ist. Dass                   der Anrufung des Gerichts gem. § 238 Abs. 2 StPO – be-
ansonsten nur ein „erheblicher Nachteil für das Wohl“ und                darf. Was in § 176 Abs. 2 S. 1 GVG zur Regel erklärt
auch das lediglich bei Zeugen unter 18 Jahren, beachtlich                wurde, ist tatsächlich die Ausnahme und deshalb sollte die
ist (§ 247 S. 2 StPO), bestätigt, dass das Schutzbedürfnis               gemäß § 176 Abs. 2 S. 2 GVG dem Vorsitzenden anheim-
einer Frau, die gegen ihren Willen ihr Gesicht unverhüllt                gestellte Gewährung von Ausnahmen vom Gesetzgeber in
zeigen muss, als ausreichender Entfernungsgrund nicht                    eine Regel umgeformt werden.
vorgesehen ist. Hier wäre eine Erweiterung des Normtex-
tes durch den Gesetzgeber wünschenswert.

24
     Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes zum Referenten-
     entwurf, S. 5: „Es handelt sich um Symbolpolitik“; Stellungnahme
     Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, S. 9: „“rein po-
     pulistisch begründet“; Stellungnahme Deutscher Anwaltsverein,
     S. 22: „gesetzgeberischer Aktionismus“.
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