DAS GESICHTSVERHÜLLUNGSVERBOT IM STRAFVERFAHREN - KRIPOZ
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KriPoZ 2 | 2020 99 Das Gesichtsverhüllungsverbot im Strafverfahren von Prof. Dr. Wolfgang Mitsch* Abstract schlechts – mit Textilien bedecken. Welch schwere Demü- Von den zahlreichen Maßnahmen zur Modernisierung des tigung es für eine Frau bedeuten kann, gewaltsam ge- Strafverfahrens1 hat die Ergänzung des § 176 GVG um zwungen zu werden, die Betrachtung ihres Gesichts durch den neuen Absatz 2 im Gesetzgebungsverfahren den ge- fremde Menschen zu dulden, kann sich unsere aufgeklärte ringsten Diskussionsbedarf erzeugt. In der öffentlichen und säkularisierte Gesellschaft offenbar schwer vorstel- Expertenanhörung vor dem Bundestagsausschuss für len. Wird doch in unserer von „westlichen Werten“ Recht und Verbraucherschutz haben sich die Sachverstän- durchdrungenen Demokratie jede Form der Verhüllung digen zu diesem Punkt überhaupt nicht geäußert2 bzw. le- des Körpers muslimischer Frauen als Resultat von Unter- diglich kurze zustimmende Stellungnahmen abgegeben.3 drückungsmechanismen eines irrational rückständigen il- Deswegen sucht der am Thema Interessierte vergeblich liberalen Patriarchats angesehen, angesichts dessen die nach Informationen über einige mit § 176 Abs. 2 GVG zu- Muslima nur froh sein kann, von der ihr aufgezwungenen sammenhängende Folgefragen, die weder gesetzlich nor- Einschnürung ihres Körpers befreit zu werden.5 miert noch erkennbar diskutiert worden sind. Auch die Kommentare zu StPO und GVG geben beispielsweise Among the numerous measures to modernize the criminal keine präzise Auskunft darüber, wie denn das Gebot des proceedings1, the addition of paragraph 2 to Section 176 unverhüllten Erscheinens vor dem Richter praktisch GVG (Judicature Act) has generated little need of discus- durchgesetzt wird, wenn die betroffene Frau sich weigert, sion in the legislative process. In the public hearing of ex- der Aufforderung zur Entfernung der Verhüllung nachzu- perts before the Committee on Legal Affairs and Con- kommen. Schon vor Einführung des § 176 Abs. 2 GVG sumer Protection of the Bundestag, the experts did not durfte nach einhelliger Ansicht der Vorsitzende Richter comment on this matter at all2, or merely provided brief auf der Grundlage des § 176 GVG ein Verhüllungsverbot statements of support.3 For this reason, those interested in anordnen.4 Das Gesetz enthielt aber ein solches Verbot the topic are looking in vain for information on some fol- nicht und schon gar nicht Verfahrensvorschriften zur low-up questions related to Section 176 (2) GVG, which Durchsetzung seiner Befolgung. An letzterem hat das Mo- have neither been legally standardized nor discussed in a dernisierungsgesetz nichts geändert. Soll der Richter not- recognizable way. Even the commentaries on the Code of falls selbst mit unmittelbarem Zwang – also mit Gewalt – Criminal Procedure and the GVG do not provide precise eine renitente Zeugin oder Angeklagte ihrer Gesichtsver- information on how the requirement of unveiled appear- hüllung entledigen? Es versteht sich von selbst, dass allen ance before the judge is enforced in practice if the woman Beteiligten peinliche Situationen erspart bleiben und Es- concerned refuses to comply with the request to remove kalationen vermieden werden müssen. Männliche Voll- the veil. The article deals in particular with the personal strecker der Verbotsdurchsetzung müssen davor geschützt scope of the ban on veiling and its implementation. werden, sich durch Erfüllung ihrer Pflicht in die Gefahr zu begeben, berechtigten oder unberechtigten Vorwürfen I. Einleitung sexueller Übergriffigkeit (§§ 177, 184 i StGB) – „me too“ – ausgesetzt zu sein. Umgekehrt muss die betroffene Frau Der mit dem Verhüllungsverbot verbundene Eingriff in selbstverständlich vor ebensolchen Grenzüberschreitun- die Grundrechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gen geschützt werden. Daher wäre beispielsweise eine (Art. 2 Abs. 1 GG) und auf Religionsausübung (Art. 4 flankierende Regelung sinnvoll gewesen, die ähnlich wie Abs. 2 GG) wird im Strafverfahren durch das Interesse an § 81 d StPO sicherstellt, dass es nicht im Ermessen des einer funktionierenden Strafrechtspflege gerechtfertigt. Richters liegt, welche Justizwachtmeisterperson mit der Dieses Allgemeingut hat Verfassungsrang, ist eine effizi- gewaltsamen Enthüllung der Frau – sofern diese über- ente Strafrechtspflege doch unverzichtbare Bedingung ei- haupt zulässig ist – beauftragt wird. Nicht nur diese Re- nes rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesens. Sowohl zur gelungslücke verweist auf die mangelnde Sensibilität der Identifizierung der Person als auch zur Ermöglichung op- am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten für die heikle timaler Wahrheitsfindung (Beweiswürdigung) durch das Konfliktlage, die ein Verhüllungsverbot gegenüber Perso- Gericht ist es erforderlich, dass das zuständige Strafver- nen heraufbeschwört, die ihr Antlitz aus religiösen Grün- folgungsorgan das vollständig unverhüllte Gesicht der den zur Abwehr von – lüsternen oder nicht lüsternen – Bli- Person betrachten kann.6 Dies bezieht sich in erster Linie cken anderer Menschen – insbesondere männlichen Ge 3 * Der Verfasser ist Professor für Strafrecht an der Universität Pots- So die Sachverständigen Caspari und Mosbacher. Für überflüssig dam. hielt das Verbot der Vertreter des Deutschen Anwaltvereins. 1 4 Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10. 12. 2019, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. (2019), § 176 GVG Rn. 7a. 5 BGBl I Nr. 46, S. 2121. Richtigstellend Hecker, ZRP 2019, 151 (152). 2 6 So die Vereinigung Berliner Strafverteidiger, der Deutsche Richter- Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Ver- bund sowie die Sachverständigen Heidenreich, Jahn und Maier. braucherschutz, S. 46
100 KriPoZ 2 | 2020 auf Angeklagte und Zeuginnen. Erwähnenswert ist dar- Maßnahmen sind zwar nicht von vornherein ungeeignet, über hinaus, dass das Verfahren auch durch die Verhül- aber gegebenenfalls im konkreten Fall nicht ausreichend. lung des Gesichts einer Richterin oder Schöffin rechtlich Im Übrigen müsste grundsätzlich die Zulässigkeit einer relevant beeinträchtigt werden kann. Bleibt dadurch bei- Aufforderung zur Selbstenthüllung in Bezug auf Personen spielsweise verborgen, dass die Richterin während einer geklärt werden, bei denen dies mit dem nemo-tenetur- Zeugenvernehmung schläft, entgeht der Verteidigung Prinzip in Konflikt geraten könnte. Ähnlicher Regelungs- möglicherweise die Chance, einen bedeutsamen Revisi- bedarf besteht bei Personen, denen ein Zeugnisverweige- onsgrund (§ 338 Nr. 1 StPO)7 geltend zu machen. Auch rungs- und Untersuchungsverweigerungsrecht zusteht. kann die Wahrnehmung der Mimik als Quelle für Schluss- folgerungen auf eine etwaige Besorgnis der Befangenheit II. Sachlicher Geltungsbereich des Verhüllungsver- (§ 24 StPO) behindert sein, weil niemand sehen kann, wie bots eine Richterin hinter ihrem Schleier beispielsweise wäh- rend der Ausführungen des Verteidigers höhnisch das Ge- 1. Sitzung sicht verzieht. Es gibt also genügend gute Gründe für ein Verhüllungsverbot im Strafverfahren. Da der Vorsitzende Standort im GVG und Wortlaut der Vorschrift verbinden im Einzelfall Ausnahmen von dem Verbot gewähren den Anwendungsbereich des Verhüllungsverbots im kann, ist die gesetzliche Abwägungsentscheidung nicht Strafverfahren mit der Hauptverhandlung. Das ist sicher, starr, sondern flexibler Handhabung zugänglich. Daher obwohl die Strafprozessordnung den Ausdruck „Sitzung“ kann dem Verhältnismäßigkeitsgebot angemessen Rech- nicht verwendet. Mehrfach wird aber auf den „Sitzungs- nung getragen werden. Dennoch würde eine umgekehrte saal“ (§ 243 Abs. 2 S. 1 StPO) und das „Sitzungszimmer“ Kann-Vorschrift dem Grundrechtsschutz besser gerecht: verwiesen (§§ 231b Abs. 1 S. 1, 247 S. 1, 247a Abs. 1 S. 3, „Der Vorsitzende kann an der Verhandlung beteiligten Abs. 2 S. 1 StPO). Zudem rekurriert § 176 Abs. 2 GVG Personen die Verhüllung ihres Gesichts untersagen, wenn auf die „Verhandlung“. Kein Teil der Hauptverhandlung und soweit die Kenntlichmachung des Gesichts zur Iden- und somit auch keine „Sitzung“ ist die Beratung des Ge- titätsfeststellung oder zur Beweiswürdigung notwendig richts gem. §§ 192 ff GVG.10 Demnach kann der Vorsit- ist“.8 Vor allem müsste die Einzelfallanordnung begrün- zende in diesem Kontext eine Schöffin jedenfalls nicht auf det werden, wovon die nunmehr in Kraft befindliche Re- der Grundlage des § 176 Abs. 2 GVG auffordern, die Ge- gelung den Vorsitzenden entbunden hat.9 sichtsverhüllung abzulegen. Zudem gibt es dafür – anders als in der Hauptverhandlung – auch keinen sachlichen Die angreifbare und bei gründlicher Prüfung sich als ver- Grund. Wird gegen eine nicht anwesende Angeklagte ver- fassungsrechtlich zumindest bedenklich erweisende ge- handelt (§§ 231 Abs. 2 ff. StPO), besteht insoweit für setzgeberische Grundentscheidung soll hier nicht weiter diese kein Verhüllungsverbot, zumal sie dann auch keine hinterfragt werden, ebenso nicht ihre Begründung. Erör- „an der Verhandlung beteiligte Person“ ist. terungsbedürftig sind aber einige konsekutive Fragen, auf die das Gesetz keine befriedigende – nämlich gar keine – 2. Sonstige Teile des Verfahrens Antwort gibt. Insgesamt gesehen übt der Gesetzgeber auch nach Einführung des § 176 Abs. 2 GVG kritikwür- § 180 GVG erweitert den Anwendungsbereich des § 176 dige Zurückhaltung zum Schaden derjenigen, die § 176 Abs. 2 GVG auf richterliche Amtshandlungen außerhalb Abs. 2 GVG entweder anwenden müssen oder von seiner der Hauptverhandlung. Dies betrifft z.B. vorweggenom- Anwendung betroffen sind. Zu viel einzelfallbezogene mene Teile der Hauptverhandlung gem. § 223 StPO und Rechtsgestaltung überlässt das Gesetz dem richterlichen § 225 StPO.11 Vernehmungen durch Polizeibeamte oder Ermessen ohne jegliche Richtungsweisung, Anleitung die Staatsanwaltschaft sind in den Anwendungsbereich oder Beschränkung. Die Rechtslage ist deshalb durch er- des § 176 Abs. 2 GVG nicht einbezogen. Obwohl die jetzt hebliche Rechtsunsicherheit geprägt. Das schlägt sich so- eingeführte positivgesetzliche Bekräftigung des Verhül- gar in der Gesetzesbegründung nieder, wo unter Hinweis lungsverbots einen Umkehrschluss aufdrängt, macht die auf §§ 177, 178 GVG behauptet wird, der Vorsitzende for- Ungleichbehandlung teleologisch keinen Sinn. Die Not- dere zur Einhaltung des Verbots auf und könne gegebe- wendigkeit einer sicheren Identitätsfeststellung und die nenfalls Ordnungsmittel androhen. Ob der Vorsitzende Bedürfnisse der Wahrheitsfindung sind in diesen Verneh- gegenüber Personen, die an der Verhandlung beteiligt mungssituationen nicht schwächer als bei richterlichen sind, diese Maßnahmen androhen darf, ist fraglich. Zur Vernehmungen. Auf Grund der unsicheren Rechtslage Anordnung jedenfalls ist nur das Gericht zuständig und dürfte es sich in den praktisch seltenen Fällen empfehlen ein Beschluss erforderlich, §§ 177 S. 2, 178 Abs. 2 GVG. den Ermittlungsrichter (§ 162 StPO) einzuschalten. Zudem bewirken weder die Entfernung aus dem Sitzungs- zimmer noch die Ordnungshaft oder das Ordnungsgeld faktisch eine Enthüllung der verhüllten Person. Diese 7 9 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 338 Rn. 14. Claus, NStZ 2020, 57 (62). 8 10 Wer dem oder der Vorsitzenden selbst zur Pflicht macht, das Ge- Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 193 GVG Rn. 2. 11 sicht nicht zu verhüllen, bleibt auf Grundlage dieses Gesetzestextes Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 223 Rn. 18. eben so offen wie generell die Anwendung des § 176 GVG gegen- über dem Vorsitzenden. Dass sich die Sitzungspolizei „auf alle An- wesenden“ erstreckt (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 176 GVG Rn. 10), bestätigt die Berechtigung der Frage, gibt darauf aber keine Antwort.
Mitsch – Das Gesichtsverhüllungsverbot im Strafverfahren KriPoZ 2 | 2020 101 III. Persönlicher Geltungsbereich Rechtsgrundlage sogar den unmittelbaren physischen Zu- griff auf Körpersubstanz wie das Rasieren oder Abschnei- 1. Beschuldigte den der Gesichts- und Kopfbehaarung getragen.15 Dann dürfte eine auf das Gesicht beschränkte Teilentkleidung Im Fall unmittelbarer Anwendung des § 176 Abs. 2 GVG erst recht zulässig sein. Dem Schweigerecht des Beschul- erfasst das Verhüllungsverbot „an der Verhandlung betei- digten korrespondiert kein Recht, die Duldung von Wahr- ligte Personen“. Dies sind alle Personen, die nicht Teil der heitsfindungsmaßnahmen zu verweigern, von denen er le- „Öffentlichkeit“ iSd § 169 GVG sind und deren Anwesen- diglich passiv als Augenscheinsobjekt betroffen ist. Mit heit im Gerichtssaal daher bei nichtöffentlichen Verhand- dem nemo-tenetur-Prinzip steht das in Einklang.16 Zwar lungen keiner Zutrittsgestattung gem. § 175 Abs. 2 S. 1 sind dem Arzterfordernis unterliegende körperliche Ein- GVG bedarf. In erster Linie ist die Angeklagte adressiert, griffe i.S.d. § 81a Abs. 1 S. 2 StPO keine Vorgänge, die in deren physische Anwesenheit unverzichtbare Vorausset- der Hauptverhandlung stattfinden. Der unmittelbare An- zung einer rechtmäßig durchführbaren Hauptverhandlung wendungsbereich des § 176 Abs. 2 GVG ist davon also ist, § 230 StPO. Zum Zwecke der Identitätsfeststellung nicht betroffen. Einfache körperliche Untersuchungen (§ 243 Abs. 1 S. 2 StPO) wird es unumgänglich sein, dass i.S.d. § 81a Abs. 1 S. 1 StPO17, die das Gericht selbst vor- die erschienene Person ihr Gesicht dem Gericht – und nur nehmen kann, sind aber nicht nur theoretisch denkbar, dem Gericht – unverhüllt zeigt. Alle anderen im Ge- sondern müssten auf der Rechtsgrundlage des § 81c StPO richtssaal anwesenden Personen haben hingegen kein angesichts des zu mutmaßenden Ausmaßes körperlicher Recht, das Gesicht der Angeklagten zu sehen, insbeson- Misshandlung von Frauen durch männliche Bezugsperso- dere die als Repräsentanten der Öffentlichkeit erschiene- nen praktisch häufig vorkommen. Von Schlägen, Stichen, nen Zuhörer einschließlich der Medienvertreter. Die An- Verbrennungen, Verbrühungen usw. herrührende Wun- geklagte hält sich nicht freiwillig im Gerichtssaal auf, ein den und Narben im Gesicht per Inaugenscheinnahme fest- anderer Selbstschutz ihres Rechts am eigenen Bild als die zustellen, obliegt auf Grund des Unmittelbarkeitsprinzips Verhüllung ihres Gesichts steht ihr nicht zur Verfügung.12 zuvörderst dem erkennenden Gericht.18 Dass eine ange- Strafrechtlicher Schutz gegen ungenehmigte Bildaufnah- klagte Frau derartige Spuren im Gesicht trägt, kann man men etwa durch Erweiterung des § 201a StGB gewährt sich vorstellen, wenn ihr eine Tat vorgeworfen wird, die der Gesetzgeber, der an anderer Stelle („Upskirting“) mit z.B. der Verteidigung gegen Angriffe eines „Haustyran- großem Eifer Angriffe auf den Privatbereich pönalisiert, nen“ diente. Angeklagten bislang nicht.13 Ein über den Zweck der Identitätsfeststellung hinausgehendes Festhalten am Ver- 2. Zeugin hüllungsverbot ist nicht erforderlich und wäre verfas- sungswidrig. Daher hat der Vorsitzende der Angeklagten Die Zeugin mit verschleiertem oder verhülltem Gesicht ist nach Feststellung ihrer Identität zu gestatten, die Verhül- der praktisch bedeutsamste Anwendungsfall des § 176 lung wieder anzulegen. Das gilt auch für eine Angeklagte, Abs. 2 GVG. Die Begründetheit des Verbots in dieser die Angaben zur Sache machen will. Da sie die Aussage Konstellation steht außer Frage. Nicht nur die Richter, komplett verweigern kann (§ 243 Abs. 5 S. 1 StPO), darf sondern auch Staatsanwalt, Angeklagter und Verteidiger sie auch die Bedingung stellen, nur mit verhülltem Ge- – nicht dagegen die Zuhörer, die für Wahrheitsfindung sicht auszusagen. Ein Gericht, das auf dieses Angebot nicht zuständig sind19 – haben ein Recht darauf, der Zeu- nicht einginge, verstieße gegen seine Pflicht zur optimalen gin ins Gesicht sehen zu können, während sie ihre Aus- Aufklärung. Die Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeits- sage macht. Problematisch ist die Behandlung von Zeu- diagnose, die mit dem Unterdrücken nonverbaler Signale ginnen mit Zeugnisverweigerungsrecht. Macht eine Zeu- verbunden ist, muss hingenommen werden. Die „Kann“- gin nach Feststellung ihrer Identität von ihrem Zeugnis- Vorschrift des § 176 Abs. 2 S. 2 GVG ist verfassungskon- verweigerungsrecht Gebrauch, gibt es keinen Grund, von form auszulegen. Sobald der Eingriff in die Grundrechte ihr überhaupt noch Anwesenheit im Gerichtssaal zu ver- (Art. 2 Abs. 1, Art. 4 GG) nicht mehr erforderlich ist, muss langen. Die anlässlich ihrer Anwesenheit sich bietende er unverzüglich beendet werden. faktische Gelegenheit in ihrem unverhüllten Gesicht zu le- sen und daraus irgendwelche Erkenntnisse zu gewinnen, Gegen den Willen der Angeklagten darf ihr die Gesichts- hat keine rechtliche Grundlage. So wenig die Tatsache der bedeckung abgenommen werden, wenn dies zur Durch- Zeugnisverweigerung Gegenstand richterlicher Beweis- führung einer gemäß § 81a StPO zulässigen körperlichen würdigung sein kann20, so wenig steht das Gesicht der Untersuchung erforderlich ist.14 Die h.M. sieht von dieser Zeugin als Quelle von durch Beobachtung gewonnenen 12 19 Restriktionen des strafrechtlichen Bildnisschutzes durch enge Ge- Abwegig ist der Hinweis auf § 169 GVG in der Stellungnahme der staltung des § 201a StGB werden in der Literatur mit dem „viktimo- Bundesarbeitsgemeinschaft für Lehrerinnen und Lehrer des Rechts dogmatischen“ Selbstschutzprinzip erklärt, Eisele, JR 2005, 6 ff. an Fachhochschulen (BAGHR) zum Referentenentwurf (a.a.O., S. 13 Dazu Mitsch, ZRP 2014, 137 (140). 2): „Es ist wenig nachvollziehbar, einerseits den Unmittelbarkeits- 14 Trück, in: MüKo-StPO, Bd. 1 (2014), § 81 a Rn. 34. grundsatz als eine der Prozessmaximen zu bezeichnen (§ 250 StPO) 15 Murmann, in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch zum Strafverfah- und den Grundsatz der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ren, 2008, III Rn. 296. (§ 169 GVG) zu statuieren, andererseits jedoch die Realisierung die- 16 Hellmann, Strafprozessrecht, 2. Aufl. (2006), Rn. 433; Murmann, ser Grundsätze im Kernstück eines Strafverfahrens, der Hauptver- in: Heghmanns/Scheffler, Handbuch, III Rn. 288. handlung, durch sich verhüllende, verschleierte oder sich maskie- 17 Trück, in: MüKo-StPO, § 81a Rn. 7; Murmann, in: Heghmanns/ rende oder sonst unkenntlich machende, sich aus der Öffentlichkeit Scheffler, Handbuch, III Rn. 292. in die Unkenntlichkeit zurückziehende Verfahrensbeteiligte, zu- 18 Trück, in: MüKo-StPO, § 81a Rn. 27; Murmann, in: Heghmanns/ meist Angeklagte, zu vereiteln und letztlich auszuhebeln.“ 20 Scheffler, Handbuch, III Rn. 293. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 261 Rn. 20.
102 KriPoZ 2 | 2020 Informationen zur Verfügung. Der Vorsitzende muss da- dient, allenfalls zur Feststellung ihrer Identität die Ge- her gemäß § 176 Abs. 2 S. 2 GVG das gesetzliche Verhül- sichtsverhüllung entfernen müssen. Daher darf einer ver- lungsverbot aufheben. Erklärt die Zeugin sich bereit mit schleiert erschienenen Zeugin nicht bereits vor Beginn der verhülltem Gesicht zur Sache auszusagen, muss das Ge- Verhandlung der Zutritt zum Sitzungszimmer verwehrt richt diese Bedingung akzeptieren, es sei denn der Ver- werden, um sie damit zur Enthüllung zu nötigen. Soweit zicht auf diesen Beweisaufnahmeakt steht im Einklang das Verlangen eines unverhüllten Gesichts berechtigt ist, mit der Aufklärungspflicht. Gesichtsenthüllung zum Zwe- stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die Aufforderung cke der Augenscheinseinnahme in Bezug auf Tatspuren zur aktiven Selbstenthüllung oder zur Duldung einer von (Kratzer, Blutergüsse, Narben usw.) braucht eine zeugnis- fremder Hand vollzogenen Beseitigung vorzugswürdig verweigerungsberechtigte Zeugin nicht zu dulden. Dies ist. Das hängt davon ab, welche Variante für die be- folgt aus § 81c Abs. 3 StPO, da richtiger Ansicht nach troffene Frau die geringere Zumutung darstellt. Zu be- auch die schlichte Körperoberflächenbetrachtung mit blo- rücksichtigen ist, dass aktive Selbstentblößung aggressive ßem Auge eine körperliche Untersuchung ist. Hat die Zeu- Reaktionen im Umfeld der Frau (z.B. Beschimpfung als gin kein Zeugnisverweigerungsrecht und demzufolge „Hure“) herausfordern könnte. In Anbetracht dessen mag auch kein Untersuchungsverweigerungsrecht, sollte die der Zugriff durch unmittelbaren Zwang das geringere Beseitigung der Gesichtsverhüllung gem. § 81d StPO nur Übel darstellen. Umgekehrt kann es auch sein, dass Vater, durch eine weibliche Person vollzogen werden. Brüder, Ehemann, Bräutigam der Frau es als Schande empfinden, wenn sie es zulässt, von fremden Händen be- 3. Verteidigerin rührt und entkleidet zu werden. Fingerspitzengfühl ist also gefragt und der Vorsitzende tut gut daran, die Frau selbst Von einer Verteidigerin, deren Identität festgestellt wor- entscheiden zu lassen, welcher Form der Verwirklichung den ist, das Weglassen der Gesichtsverhüllung zu verlan- des Enthüllungsgebots sie sich beugen will. Im Fall der gen, wäre ein ungerechtfertigter Eingriff in ihre Grund- Weigerung wird die Ausübung von Zwang unvermeidbar rechte. Neben den oben schon genannten Art. 2 Abs. 1 GG sein. und Art. 4 GG wäre auch Art. 12 Abs. 1 GG betroffen. Ein durchgreifender Grund für ein Enthüllungsgebot ist 2. Unmittelbarer Zwang schlicht nicht vorstellbar. Die Verfehltheit der gesetzli- chen Umkehrung von Regel und Ausnahme durch § 176 Die Untätigkeit des Gesetzgebers, der zwar mühelos ein Abs. 2 GVG wird an diesem Beispiel in aller Schärfe Verhüllungsverbot errichten konnte, sich aber jeglicher sichtbar. Durchführungsbestimmungen enthalten hat, ist zu bedau- ern und zu kritisieren. Wenn vor Einführung des § 176 4. Sonstige Abs. 2 GVG schon beklagt wurde, dass in konkreten Ein- zelfällen Rechtsunsicherheit bezüglich des „Ob“ eines Im Verfahren gegen Jugendliche verlangt § 176 Abs. 2 Verhüllungsverbots herrschte, dann wird dieser Zustand GVG auch von der gem. § 67 Abs. 3 JGG anwesenden mangelnder Handlungsanleitung durch das Gesetz hin- Mutter des Angeklagten unverhülltes Erscheinen vor Ge- sichtlich des „Wie“ erst recht zu beanstanden gewesen richt. Als Erziehungsberechtigte und gesetzliche Vertrete- sein. Daran hat sich nun nichts geändert; vielmehr wurde rin ihres angeklagten Kindes ist sie am Verfahren betei- die Lage für die Rechtsanwendungspraxis verschlechtert, ligt. Ein sachlicher Grund für die Enthüllungspflicht exis- da das nicht an sachliche Voraussetzungen gebundene ge- tiert indessen nicht. Der Vorsitzende muss deshalb gemäß setzliche Verbot den Handlungsdruck erhöht hat. Früher § 176 Abs. 2 S. 2 GVG die Verhüllung gestatten. Auch konnte der Vorsitzende, der unsicher war, auf welche hier erweist sich die Konstruktion des Verbots mit Erlaub- Weise eine verhüllte Frau in rechtmäßiger Weise enthüllt nisvorbehalt als die schlechtere Lösung. Welchen Grund werden kann, sich aus der Affäre ziehen, indem er von ei- jenseits der Identitätsfeststellung es geben soll, einer Ne- ner Verbotsanordnung absah. Dieser Ausweg ist nun benklägerin die Verhüllung ihres Gesichts zu verbieten, durch § 176 Abs. 2 S. 1 GVG versperrt. Wie verworren ist unerfindlich. die Rechtslage ist, zeigt die Vielfalt der zu § 58 Abs. 2 StPO vertretenen Auffassungen. Obwohl diese Vorschrift IV. Durchsetzung des Verbots eindeutig allein die Pflichtenstellung des Zeugen nor- miert, wird aus ihr vereinzelt eine Mitwirkungspflicht des 1. Zwang zur Selbstenthüllung Beschuldigten abgeleitet21, eine Auffassung, die im Lichte des § 81b StPO22 kaum haltbar erscheint. Ausführungen Die Ausführungen zum persönlichen Anwendungsbereich zum Verfahren bei einer gesichtsverhüllten Beschuldigten des § 176 Abs. 2 GVG haben schon zu Genüge bestätigt, findet man freilich nirgends. Letztlich ist daher hier wie dass das gesetzliche Verbot gegen das Erforderlichkeits- sonst bei der Ausführung von Anordnungen nach § 176 prinzip verstößt und allenfalls eine verfassungskonforme Abs. 1 GVG das Eingreifen von Justizwachtmeistern das Handhabung der Ermächtigung zur Gewährung von Aus- Instrument zur Überwindung des Widerstandes. Dabei nahmen diesbezügliche Bedenken besänftigen kann. Kon- darf auf der Grundlage des UZwG unmittelbarer Zwang kret folgt daraus, dass Verfahrensbeteiligte, deren Anwe- angewendet werden.23 Man kann nur hoffen, dass derar- senheit in der Verhandlung nicht der Wahrheitsfindung tige Praxis nie notwendig sein wird. 21 23 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 58 Rn. 9. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 176 Rn. 14. 22 Zur Duldungspflicht des Beschuldigten auf dieser Grundlage Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 81b Rn. 10.
Mitsch – Das Gesichtsverhüllungsverbot im Strafverfahren KriPoZ 2 | 2020 103 V. Schutz der unverhüllten Frau Die mit der Gesichtsenthüllung verbundene Beeinträchti- VI. Schluss gung der betroffenen Frau muss selbstverständlich sach- grundkonform begrenzt werden. Nur soweit die Darbie- Ein früherer Bundespräsident hatte einmal gesagt: „Der tung des unverhüllten Gesichts zur Erreichung eines die Islam gehört zu Deutschland“. Was auch immer man von Enthüllung rechtfertigenden Zweckes erforderlich ist, dieser Äußerung halten mag; in dem Gesetzgebungsver- kann von der Frau das Ertragen dieser Situation verlangt fahren zur Modernisierung des Strafverfahrens war davon werden. Technisch mögliche Milderungen sind zu gewäh- nichts zu merken. In den Stellungnahmen zum Geset- ren, es sei denn die betroffene Frau verzichtet darauf aus- zesentwurf überwogen Desinteresse und mangelndes drücklich. Denkbar, aber gewiss übermäßig, weil zum Problembewusstsein. Die ausnahmslos männlichen Sach- Schutz nicht erforderlich, wäre ein vorübergehender Aus- verständigen in der öffentlichen Anhörung vor dem Bun- schluss der Öffentlichkeit. Dafür böte § 171 b GVG in sei- destagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz er- ner geltenden Fassung keine Grundlage, wenngleich die weckten mit ihren schriftlichen Statements nicht den Ein- ratio legis dem Fall gewiss korrespondiert. Der Eingriff in druck intensiven Nachdenkens über die Thematik. Den die Öffentlichkeitsmaxime wäre aber wohl unverhältnis- wenigen kritischen Kommentaren, in denen die Neurege- mäßig, sofern das Recht am eigenen Bild durch Errich- lung als „überflüssig“ bezeichnet wurde24, ist nur teil- tung eines Sichtschutzes im Gerichtssaal, der jedenfalls weise zuzustimmen. Besser als der vorherige gesetzliche den Zuhörern den Blick auf das unverhüllte Gesicht ver- Zustand ist § 176 Abs. 2 GVG schon. Noch besser wäre wehrt, ausreichend gewahrt werden kann. Für eine vo- jedoch eine Klarstellung dahingehend, dass ein Auftritt rübergehende Entfernung des Angeklagten aus dem Sit- mit unverhülltem Gesicht allein zum Zwecke der Identi- zungszimmer reicht die aktuell geltende Fassung des tätsfeststellung oder Beweiswürdigung verlangt werden § 247 StPO allenfalls dann, wenn einer der verhüllungs- darf und einer ausdrücklichen und begründungspflichti- unspezifischen Gründe (z.B. Wahrheitsgefährdung) mit gen Anordnung des Vorsitzenden – mit der Möglichkeit dem Zwang zur unverhüllten Aussage verknüpft ist. Dass der Anrufung des Gerichts gem. § 238 Abs. 2 StPO – be- ansonsten nur ein „erheblicher Nachteil für das Wohl“ und darf. Was in § 176 Abs. 2 S. 1 GVG zur Regel erklärt auch das lediglich bei Zeugen unter 18 Jahren, beachtlich wurde, ist tatsächlich die Ausnahme und deshalb sollte die ist (§ 247 S. 2 StPO), bestätigt, dass das Schutzbedürfnis gemäß § 176 Abs. 2 S. 2 GVG dem Vorsitzenden anheim- einer Frau, die gegen ihren Willen ihr Gesicht unverhüllt gestellte Gewährung von Ausnahmen vom Gesetzgeber in zeigen muss, als ausreichender Entfernungsgrund nicht eine Regel umgeformt werden. vorgesehen ist. Hier wäre eine Erweiterung des Normtex- tes durch den Gesetzgeber wünschenswert. 24 Stellungnahme des Deutschen Juristinnenbundes zum Referenten- entwurf, S. 5: „Es handelt sich um Symbolpolitik“; Stellungnahme Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, S. 9: „“rein po- pulistisch begründet“; Stellungnahme Deutscher Anwaltsverein, S. 22: „gesetzgeberischer Aktionismus“.
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