KONGRESS-HIGHLIGHTS vom DGN-Kongress 2021 3 - 6. November 2021 - Teva GmbH

 
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KONGRESS-HIGHLIGHTS vom DGN-Kongress 2021 3 - 6. November 2021 - Teva GmbH
KONGRESS-HIGHLIGHTS
vom DGN-Kongress 2021
3. – 6. November 2021
Kongress-Highlights vom
    DGN-Kongress 2021
    Der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
    (DGN) fand in diesem Jahr als Onlinekongress statt. Auch
    in diesem Kongressformat wurde der Kongress seinen hohen
    Ansprüchen an Aktualität und wissenschaftliche Exzellenz
    gerecht. Einer der zentralen Themenbereiche war die erst
    kürzlich aktualisierte und erweiterte S2k-Leitlinie zur Diagnose
    und Behandlung bei Multipler Sklerose sowie zu verwandten
    Krankheiten.

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Inhalt
Aktualisierte S2k-Leitlinie zur MS: Was ist neu?                            4

Individualisierte MS-Therapie: Noch viele Herausforderungen zu bewältigen   7

MS-Therapie: Nachhaltige Erfolge mit DMTs der Wirksamkeitskategorie 1       8

Multiple Sklerose: Gibt es eine Prodromalphase?                             10

Vaskuläres Risiko bei Migräne: Was ist zu bedenken?                         11

Migräne – immer noch eine mythenumwobene neurologische Erkrankung           13

Real-World-Daten zur Migräneprophylaxe mit Fremanezumab                     14

Hemiplegische Migräne: Ein Kolibri unter den primären Kopfschmerzen         16

Der MS-Patient in der COVID-19-Pandemie                                     17

COVID-19: Komplikationen der Impfung                                        18

Post-COVID-19-Syndrom: Was bisher bekannt ist                               19

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Aktualisierte S2k-Leitlinie zur MS:
    Was ist neu?
    Die von MS-Experten, Betroffenen und Vertretern nicht neuro-     So viel wie nötig, so wenig wie möglich
    logischer Fachgruppen gemeinsam entwickelte S2k-Leitlinie        Das bisherige Stufenschema der Immuntherapeutika wurde
    „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromye-         zu einem Wirksamkeitsschema weiterentwickelt. Anhand der
    litis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten      Wirksamkeitsdaten aus den Zulassungsstudien wurden die
    Erkrankungen“ soll Ärzten und Patienten die Entscheidung für     verfügbaren MS-Therapeutika in drei Wirksamkeitskategorien
    eine adäquate Behandlung erleichtern [1]. „Die Beteiligung       eingeteilt und der Krankheitsaktivität bzw. Prognosefaktoren
    von allen an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen und        zugeordnet (Abb. 1). Damit folge die empfohlene Therapiestra-
    die Minimierung von Interessenskonflikten entsprechen den        tegie dem Motto „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“.
    Anforderungen an eine zeitgemäße Leitlinie“, berichtete Prof.    Denn Langzeitdaten über 30 Jahren zeigten, dass 30 % der
    Dr. Bernhard Hemmer, federführender Autor der Leitlinie. Kon-    Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom (KIS) keine
    krete Empfehlungen zur Therapieentscheidung seien auch aus       manifeste MS entwickelten. Weitere 30 % entwickelten eine
    gesundheitsökonomischer Sicht relevant. „Die MS-Therapeutika     schubförmig verlaufende MS ohne alltagsrelevante Defizite. Bei
    stehen inzwischen auf Platz 2 der hochpreisigen Medikamente“,    40 % kam es zu einer sekundär progredienten MS. Prädiktoren
    so Hemmer. „5 % aller Medikamentenkosten in Deutschland          für eine Progression sind infratentorielle Läsionen zur Baseline
    werden durch MS-Therapeutika verursacht.“ Neu in die Leitlinie   und Läsionen in der tiefen weißen Substanz im ersten Jahr [2].
    aufgenommen wurden u.a. eine Vereinfachung von Diagno-           „Deshalb ist es wichtig, Patienten mit Progressionsrisiko frühzei-
    sekriterien gemäß den 2017 revidierten McDonald-Kriterien,       tig zu identifizieren und adäquat zu behandeln“, betonte der
    Empfehlungen zum differenzierten Einsatz von verlaufsmodifi-     Experte. Der frühzeitige Beginn mit einer Immuntherapie sei der
    zierenden Immuntherapien und erstmals auch zur Deeskalation.     Standard, so Hemmer. Für eine kleine Gruppe von Patienten,

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die keine Zeichen eines aktiven Verlaufs zeigen, könne aber                              von Glatirameracetat und Interferonen in der Erstlinientherapie
auch ein „Watchful Waiting“ in Betracht gezogen werden.                                  wegen der geringen Langzeitsicherheitsrisiken im Vergleich zu
Wichtig für die Therapieentscheidung seien eine engmaschige                              den hochaktiven Therapien und gebe auch der Nicht-Therapie
Überwachung und die Identifizierung von Krankheitsaktivität.                             (initiales Abwarten /Therapiestopp) einen breiten Raum. Er
                                                                                         befürchte, die Priorisierung der Medikamentensicherheit könne
Therapiesicherheit rückt in den Vordergrund                                              eine aktive Herangehensweise, auch da wo notwendig, ver-
Prof. Dr. Mathias Mäurer, Würzburg, setzte sich kritisch mit                             hindern oder verzögern. Ziele der MS-Therapien sollten aber
der neuen S2k-Leitlinie auseinander, insbesondere mit den                                die bestmögliche Krankheitskontrolle und die Erhaltung der
Aussagen zum Beginn der MS-Therapie und dem Therapie-                                    Lebensqualität sein, unter Berücksichtigung der Patientenwün-
algorithmus anhand von Wirksamkeitskategorien. Es könne                                  sche. Diese Grundlinie einer effizienten MS-Therapie werde
erhebliche Konsequenzen haben, wenn der Einsatz einer                                    durch die neue Leitlinie nicht konsequent genug umgesetzt.
hochaktiven Immuntherapie der MS verzögert werde. Die
Risiken von Nebenwirkungen müssten gegen die lebenslan-                                  Symposium „S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multip-
gen Auswirkungen einer bleibenden Behinderung infolge                                    len Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und
unzureichender Krankheitskontrolle abgewogen werden, so                                  MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“: zurück in die Zukunft“,
der Neurologe. Die Leitlinie gewichte hingegen das Primat                                4. November 2021
der Therapiesicherheit höher als das Primat der notwendigen
Krankheitskontrolle unter starker Berücksichtigung auch der
MRT-Befunde. Die Leitlinie favorisiere den bevorzugten Einsatz

Literatur
[1] S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ (AWMF-Registernummer
030/050); https://dgn.org/leitlinien/ll-030-050-diagnose-und-therapie-der-multiplen-sklerose-neuromyelitis-optica-spektrum-erkrankungen-und-mog-igg-assoziierten-erkrankungen/
[2] Chung KK et al. Ann Neurol 2020; 87: 63-74

                                                                                                                                                                                 5
Abb. 1: Therapiealgorithmus bei Ersteinstellung/Eskalation
    [modif. nach: S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose,
    Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“;
    AWMF-Registernummer 030/050, vollständige Hinweise zum Therapiealgorithmus sind der S2k-Leitlinie zu entnehmen]

       Asymptomatisch                                                          Klinisches Ereignis

                                     Demyelisierendes
           Radiologisch                                                 Klinisch                                 Schubförmig
                                     Ereignis unklarer
        isoliertes Syndrom                                        isoliertes Syndrom                           remittierende MS
                                        Signifikanz

                           Abwarten                                                           Immuntherapie prüfen

                                                                                          ungünstige Prognosefaktoren

                       Keine Therapie                                 Kategorie 1                  Kategorie 2               Kategorie 3
                      regelmäßige klini-                           Dimethylfumarat                   Cladribin              Alemtuzumab
                        sche (und MR-                              Glatirameroide                   Fingolimod              Natalizumab
                       tomographische)                              Interferon-beta                 Ozanimod                Ocrelizumab
                           Kontrolle                                  Teriflunomid                                          (Rituximab)*

                                                                                         anhaltende Krankheitsaktivität

    * off-label

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Individualisierte MS-Therapie:
Noch viele Herausforderungen zu bewältigen

Multiple Sklerose ist eine Erkrankung mit einem breiten Spektrum                     Schwankungen der NfL-Werte über die Zeit erschwerten die
an klinischen Verläufen. Auch heute sei es noch nicht möglich,                       routinemäßige Anwendung des Blutbiomarkers außerhalb von
eine MS mithilfe eines einfachen Tests sicher zu diagnostizieren,                    Studien als Gruppenparameter und die Entwicklung sinnvoller
bemängelte PD Dr. Mathias Buttmann, Bad Mergentheim: „Wir                            Therapiealgorithmen mit klaren Schwellenwerten [2].
haben mit dem Problem zu kämpfen, dass etwa 5 bis 10 %                               Dass die deutsche S2k-Leilinie [3] und die ECTRIMS/EAN-Leit-
der MS-Diagnosen wahrscheinlich Fehldiagnosen sind.“ Die                             linien [4] partiell unterschiedliche Therapieansätze empfehlen,
fortschreitende Lockerung der MS-Diagnosekriterien habe zwar                         kann zusätzlich für Verwirrung sorgen. „Im Kern geht es bei der
zu einer früheren Diagnosestellung geführt. Zugleich sei jedoch                      Therapieentscheidung immer um eine individuelle Nutzen-Risi-
die Gefahr von Fehldiagnosen gestiegen. In einer Langzeit-Be-                        ko-Abwägung“, unterstrich Buttmann. Die Berücksichtigung von
obachtungsstudie bei 120 Patienten mit einem KIS trat über                           Sicherheitsaspekten dürfe gegenüber dem Wirksamkeitsprofil nicht
30 Jahre hinweg bei 20 Patienten kein zweites Schubereignis                          zu kurz kommen. „Nicht alle Patienten brauchen eine hoch aktive
auf (weitere 10 verstarben aus anderen Gründen mit KIS ohne                          Therapie“, vielmehr müsse die Therapie individuell zugeschnitten
zuvor eine MS entwickelt zu haben), 80 Patienten entwickelten                        sein, so der Experte. Hochwertige randomisierte prospektive
eine MS und 26 dieser Patienten hatten eine Konversion zur                           Studien zu Therapiealgorithmen für die initiale Wahl einer früh-
SPMS; 16 MS-Patienten verstarben an MS-Komplikationen                                zeitigen hochaktiven Immuntherapie versus Basistherapeutika
[1]. Wie man diesem breiten Spektrum therapeutisch gerecht                           stünden noch aus. „Zum jetzigen Stand fehlt uns auch eine ehrliche
werden könne und durch eine individualisierte Behandlungs-                           Diskussion zu Nutzen und Risiken der hochaktiven Therapien.“
strategie einerseits eine Übertherapie und andererseits eine                         Nicht zu unterschätzen seien zudem die steigenden Gefahren und
Untertherapie vermeiden könne, sei noch unklar. Eine weitere                         Sicherheitsrisiken durch hochaktive Immuntherapeutika bei älteren
Herausforderung ist das Monitoring der Patienten im Lang-                            MS-Patienten, mahnte der Experte mit Verweis auf die Immuno-
zeitverlauf. Das Leichtkettenneurofilament (NfL) gilt zurzeit als                    seneszenz. So würden dringend validierte Strategien zur Frage
Hoffnungsträger unter den in der Erforschung befindlichen Bio-                       einer Therapiedeeskalation oder eines Therapiestopps benötigt.
markern, da hier die breiteste Datengrundlage existiere. Aber die
weite interindividuelle Spannbreite der NfL-Serumspiegel, eine                       Symposium „MS-Therapie im Wandel der Zeit“,
große Überlappung mit Gesunden und auch intraindividuelle                            5. November 2021
Literatur
[1] Chung et al. Ann Neurol 2020; 87: 63-74
[2] Huss A et al. Biomedicines 2020; 8: 312
[3] S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen“ (AWMF-Registernummer
030/050)
[4] Montalban X et al. Mult Scler 2018; 24: 96-120

                                                                                                                                                                          7
MS-Therapie:
    Nachhaltige Erfolge mit DMTs der Wirksamkeitskategorie 1
    Eine individualisierte Behandlung von Menschen mit MS stellt        gnose) war das Konversionsrisiko zur SPMS signifikant gerin-
    hohe Anforderungen an die Auswahl der immunmodulieren-              ger als bei einem späteren Therapiebeginn (HR 0,77; 95-KI
    den Therapie. Wichtige Entscheidungskriterien sind neben            0,61-0,98; p=0,03) und als in der unbehandelten Kohorte (HR 0,26;
    der Wirksamkeit auf alle relevanten Aspekte der Krankheitsak-       95-KI 0,15-0,45; p=0,001) [1].
    tivität auch das langfristige Sicherheitsprofil. Durch eine frühe   Diese Daten zur Verzögerung der sekundären Progredienz wer-
    Immuntherapie mit DMTs der Wirksamkeitskategorie 1 könne            den flankiert von Langzeitdaten mit Glatirameracetat über einen
    bei vielen Patienten eine langanhaltende Kontrolle der Krank-       Zeitraum von 27 Jahren [2]. Auch hier zeigte sich, dass ein
    heitsaktivität erreicht werden, berichtete Prof. Dr. Orhan Aktas,   früher Therapiestart die Zeit bis zur Krankheitsprogression (bestä-
    Düsseldorf. Eine Langzeitkohortenstudie ergab, dass die Thera-      tigt über 6 Monate) im Vergleich zu einem verzögerten Thera-
    pie mit Glatirameracetat oder Interferon beta (IFN)-Präparaten      piestart verlängert (median 9,8 Jahre versus 6,7 Jahre, HR 0,8;
    das Risiko für die Konversion zur sekundär progredienten MS         95 %-KI 0,5-1,1; p=0,1). Fast die Hälfte (48,0 %) der frühbehan-
    (SPMS) um 29 % im Vergleich zu unbehandelten Patienten              delten Patienten wies keine bestätigte Progression auf, verglichen
    reduziert (Hazard Ratio [HR] 0,71; 95 %-Konfidenzintervall [KI]     mit 37,3 % der verzögert behandelten Patienten [2].
    0,61-0,81; p
Abb. 2: Langzeittherapie mit Glatirameracetat über 27 Jahre
[modifiziert nach: Ford C et al. ECTRIMS 2019; Poster P656]

                                   Zeit bis zur bestätigten Progression

                              100 –
                                            GA früh          GA verzögert
 der Progression (6M-COP,%)

                               80 –
      Wahrscheinlichkeit

                               60 –

                               40 –                                                           HR: 0,8
                                                                                              (95 % Cl: 0,5-1,1)
                                                                                              p=0,1
                               20 –

                                0–

                                Jahr 0       Jahr 5       Jahr 10         Jahr 15   Jahr 20       Jahr 25          Jahr 30

                                                                                                                             9
Multiple Sklerose:
     Gibt es eine Prodromalphase?
     Die Pathogenese der MS ist nicht vollständig geklärt. Studien        Krankheitsspezifische periphere Immunsignatur
     haben in den letzten Jahren ein „MS-Prodrom“ heraufbeschwo-          Aber was passiert vor dem Auftreten der radiologischen Läsionen?
     ren, eine Phase mit unspezifischen Symptomen wie Fatigue,            Gibt es eine immunologische Prodromalphase? Diese Frage
     Depression, Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen u.a. als          untersuchte eine im Jahr 2012 gestartete MS-Zwillingsstudie.
     möglichen Vorboten der klinischen Manifestation einer MS [1,2].      Deutschlandweit wurden 89 eineiige Zwillingspaare einbezogen,
     „Aktuell gibt es aber kein definiertes MS-Prodrom – weder klinisch   von denen jeweils ein Zwilling an MS erkrankt, der andere aber
     noch kernspintomografisch, noch gibt es Biomarker“, berichtete       klinisch gesund ist. Die Zwillinge werden prospektiv beobachtet.
     PD Dr. Lisa Ann Gerdes, München. Es gebe auch keinen poly-           Dieser Ansatz ermöglicht es, bei idealer Kontrolle für genetische
     genetischen Risiko-Score oder prädiktive genetische Tests für        und frühe Umweltfaktoren nach MS-spezifischen Immunsignaturen
     eine individuelle Risikoabschätzung. Anders beim radiologisch        zu suchen. Überraschenderweise ließ sich bei den 141 unter-
     isolierten Syndrom (RIS): Personen mit RIS haben ein Risiko von      suchten Immunparametern der größte Teil der nachweisbaren
     >50 %, in den nächsten 10 Jahren an MS zu erkranken, wobei           Varianz durch den Einfluss des genetischen Hintergrunds erklären
     junges Alter bei RIS-Diagnose, oligoklonale Banden (OKB) und         [6]. Andere Faktoren, wie Alter, Geschlecht und eine manifeste
     infratentorielle oder spinale Läsionen mit einem höheren Risiko      MS, trugen zusammen mit weniger als 10 % zur Variabilität der
     assoziiert waren. [3]. Liegen die Risikofaktoren junges Alter        Immunsignaturen bei [6].
     (
Vaskuläres Risiko bei Migräne:
Was ist zu bedenken?
Migräne, insbesondere Migräne mit Aura, ist mit einem erhöh-        Hinweise für einen ungünstigen Einfluss der monoklonalen
ten Risiko für zerebrovaskuläre und kardiovaskuläre Ereignisse      anti-CGRP-Antikörper auf die kardiovaskuläre Ereignisrate bei
assoziiert, berichtete PD Dr. Lars Neeb, Berlin. Nach aktuellen     Migräne, betonte der Experte. Besonders gut belegt sei das
Daten aus der Women’s Health Stude liegt die Ereignisrate           kardiovaskuläre Nebenwirkungsprofil von Fremanezumab. Eine
(adjustiert für andere kardiovaskuläre Risikofaktoren) bei Frauen   gepoolte Analyse der Phase-III-Studien bei Migränepatienten
mit einer Migräne mit Aura bei 3,36 pro 1000 Personen-              mit vorbestehenden kardio-/zerebrovaskulären Risikofakto-
jahre im Vergleich zu 2,11 bei Frauen mit Migräne ohne Aura         ren oder kardiovaskulären Vorerkrankungen (n=2.842) zeigte
und Frauen ohne Migräne (p
Tabelle 1: Unerwünschte kardiovaskuläre Ereignisse bei
     Migränepatienten mit und ohne kardiovaskuläre Vorerkrankungen
     [Nahas SJ et al. AAN 2021; Poster P10.034]

     CVAEs wurden bei ≥1 Patient in allen Behandlungsgruppen bei Patienten mit und ohne Herz-Kreislauf-Vorerkrankungen berichtetb

                                     Vierteljährlich Fremanezumab              Monatlich Fremanezumab                    Placebo
                                       Mit kardio-         Ohne kardio­          Mit kardio-         Ohne kardio­          Mit kardio-      Ohne kardio­
                                        vaskulärer           vaskuläre            vaskulärer           vaskuläre            vaskulärer        vaskuläre
                                      Vorerkrankung        Vorerkrankung        Vorerkrankung        Vorerkrankung        Vorerkrankung     Vorerkrankung
                                         (n=167)              (n=776)              (n=158)              (n=796)              (n=153)           (n=792)
         ≥1 CVAE                           6 (4)               15 (2)               10 (6)               13 (2)                4 (3)           17 (2)
         Berichtete CVAEs bei ≥1 Patient in jeder Behandlungs-/Dosierungsgruppe
         Bluthochdruck                     4 (2)               5 (
Migräne – immer noch eine
mythenumwobene neurologische Erkrankung
Die Komplexität, die interindividuelle Heterogenität der Symptome      vaskuläre Risiko an, vor allem, wenn zusätzliche Risikofaktoren,
und die häufigen Komorbiditäten der Migräne bringen es mit             wie z. B. Rauchen, vorliegen [2]. Aus neurologischer Sicht spricht
sich, dass die Erkrankung häufig fehldiagnostiziert wird. Wie eine     laut Holle-Lee in der Regel nichts dagegen, Patientinnen mit einer
Erhebung bei 1.161 Patienten mit Erstdiagnose einer Migräne            Migräne mit Aura orale Kontrazeptiva zu verschreiben, sofern
zeigte, wussten rund drei Viertel der Betroffenen nicht, dass sie      weitere Risikofaktoren ausgeschlossen werden können. Sie rät
an Migräne leiden [1]. Die meisten Patienten (64 %) hielten ihre       zu Präparaten mit einer möglichst geringen Östrogendosis oder
Migräne für „Kopfschmerzen“. Bei jedem Zweiten war schon               reinen Gestagenpräparaten. Ob die „Pille“ Migräneattacken
eine zerebrale Bildgebung durchgeführt worden. Nur 8 % der             verursachen oder verstärken kann, ist nicht eindeutig geklärt,
zuvor konsultierten Hausärzte und 35 % der Spezialisten (meis-         lasse sich aber durch ein dreimonatiges Pausieren herausfinden.
tens Neurologen und/oder Kopfschmerzspezialisten) hatten die           Wenn sich die Migräne in dieser Zeit nicht verbessere, könne
Migräne richtig diagnostiziert [1]. Diese Defizite zeigen laut Prof.   die orale Kontrazeption fortgesetzt werden. „Der Einfluss der Pille
Dr. Dagny Holl-Lee, Essen, wie wichtig es ist, das Bewusstsein         auf die Migräne ist relativ klein“, so Holle-Lee.
für Migräne zu schärfen – nicht nur in der Bevölkerung, sondern        Weitere Mythen ranken sich um das Thema Kinderwunsch. Rund
auch in der Ärzteschaft. Wenn schließlich die Diagnose Migräne         20 % der Frauen mit Migräne, vor allem mit menstrueller Mig-
gestellt worden ist, müssen noch zahlreiche weitere Hürden und         räne, verzichten auf eine Schwangerschaft, da sie befürchten,
Mythen aus dem Weg geschafften werden.                                 die Migräne könnte sich in dieser Zeit verschlechtern und nicht
                                                                       medikamentös behandelt werden, ohne die Entwicklung des
Orale Kontrazeption und Schwangerschaft bei Migräne                    Kindes zu beeinträchtigen [3]. Große Registerstudien ergaben für
Einer dieser Mythen betrifft die Bereiche der oralen Kontrazeption     Akuttherapie der Migräne mit Triptanen in der Schwangerschaft
und der Schwangerschaft. „Wenn eine Migräne mit Aura vorliegt,         keinen Hinweis auf eine Gefährdung des Fötus [4]. Allerdings
wird vielen Patientinnen keine orale Kontrazeption verschrieben“,      benötigen viele Patientinnen während der Schwangerschaft gar
so Holle-Lee. Dabei sei bereits seit langem bekannt, dass das          keine Akutmedikation, da die Migräne nach dem ersten Trimenon
Schlaganfallrisiko unter oralen Kontrazeptiva bei jüngeren Frauen      besser wird, so die Expertin. Zudem plädierte sie dafür, das
keine große Rolle spiele [2]. Mit dem Alter steige das zerebro-        Potenzial nicht-pharmakologischer Therapiestrategien vollständig
                                                                       auszuschöpfen.
Literatur
[1] Viana M et al. Eur J Neurol 2020; 27: 536-541
[2] Farley TM et al. Contraception 1998; 57: 211-230                   Symposium „Kopfschmerz“, 3. November 2021
[3] Ishii R et al. Mayo Clin Proc 2020; 95: 2079-2089
[4] Amundsen S et al. Nat Rev Neurol 2015; 11: 209-219

                                                                                                                                             13
Real-World-Daten
     zur Migräneprophylaxe mit Fremanezumab
     Der monoklonale anti-CGRP-Antikörper Fremanezumab hat sich            waren mangelnde Wirksamkeit und Unverträglichkeit. 48,7 %
     in kontrollierten, randomisierten Phase-III-Studien als wirksam und   der Patienten mit 6-Monatsdaten erreichten nach Therapiebeginn
     allgemein gut verträglich erwiesen. Um die bisherige Datenlage        mit Fremanezumab eine Reduktion der monatlichen durchschnitt-
     um Erfahrungen aus dem klinischen Alltag zu erweitern, wurde          lichen Anzahl an Migränetagen von mindestens 50 %. (Abb.
     die nicht-interventionelle Studie FINESSE mit einer Gesamtstudien­    3). Von Baseline zu Monat 6 verringerte sich die monatliche
     dauer von 49 Monaten (25 Monate Rekrutierung, 24 Monate               durchschnittliche Anzahl an Migränetagen (gepoolt über EM
     Beobachtung) gestartet. In die prospektive Studie sollen insgesamt    und CM) von 12,7 auf 6,2 Tage/Monat und die Tage mit Ein-
     1.000 Patienten (Alter ≥ 18 Jahre) mit episodischer Migräne (EM)      nahme von akuter Migräne­medikation von 9,6 auf 4,4 Tage/
     oder chronischer Migräne (CM) in Deutschland und Österreich           Monat. Der MIDAS-Score verbesserte sich von 74,8 (Baseline)
     eingeschlossen werden, die vor Studieneinschluss eine Mig-            auf 32,8 bis Monat 6 und der HIT-6-Score von 65,9 auf 56,6.
     räneprophylaxe mit Fremanezumab begonnen haben. Primärer              Das Ausmaß der Reduzierung dieser Werte veranschaulicht die
     Endpunkt ist der Anteil der Patienten, die während des Zeitraums      wertvolle Verbesserung der krankheitsspezifischen Beeinträch-
     von 6 Monaten nach der ersten Dosis von Fremanezumab                  tigung, so Straube. Die Ergebnisse des 12-Monats-Follow-up
     eine Verringerung der monatlichen durchschnittlichen Anzahl an        werden 2022 erwartet.
     Migränetagen um mindestens 50 % erreichen. Sekundäre End-
     punkte berücksichtigen die Veränderung der monatlichen durch-         Straube A et al. Effectiveness of Fremanezumab for Preventive
     schnittlichen Anzahl an Migränetagen, der Tage mit Einnahme           Treatment in Migraine: The Non-Interventional FINESSE Study.
     akuter Migränemedikation sowie das Ausmaß migränebedingter            DGN 2021. E-Poster IP055
     Beeinträchtigung (MIDAS* und HIT-6**).
                                                                           * MIDAS: Migraine Disability Assessment Score
     Auf dem DGN-Kongress präsentierte Prof. Dr. Andreas Straube,          ** HIT-6: 6-Item Headache Impact Test

     München, die Ergebnisse der 1. Interimsanalyse (n=574; EM:
     58,4 %, CM: 41,6 %). Nahezu alle Patienten (97,6 %) hatten
     im Zeitraum von 10 Jahren vor Studieneinschluss mindestens
     eine prophylaktische Migränetherapie erhalten: Antidepres-
     siva (n=491), Antikonvulsiva (n=481), Betablocker (n=478),
     Kalzium­antagonisten (n=296), Onabotulinumtoxin A (n=236),
     Erenumab (n=147) und/oder Galcanezumab (n=9). Die häu-
     figsten Gründe für das Absetzen dieser präventiven Therapie

14
Abb. 3: FINESSE-Studie: Anteil der Patienten mit einer Reduktion
der monatlichen durchschnittlichen Anzahl an Migränetagen um mindestens 50 % in Monat 6
[Straube A et al. DGN 2021. E-Poster IP055]

                                   Reduktion der Migränetage über 6 Monate
                            70 –      ≥50 %
Hemiplegische Migräne:
     Ein Kolibri unter den primären Kopfschmerzen
     Schon die Diagnose einer klassischen Migräne kann im klinischen                        geringer als bei der klassischen Migräne. Interiktal seien die Pati-
     Alltag eine Herausforderung darstellen. Noch anspruchsvoller ist                       enten meist unauffällig, können aber auch epileptische Anfälle,
     aber die Diagnose seltener Manifestationsformen, wie Dr. Victoria                      Ataxie, pathologische Nystagmen oder kognitive Störungen
     Ruschil, Tübingen, an dem folgenden Fall deutlich machte:                              aufweisen. Bei der körperlichen Untersuchung sollte auch auf
     Eine 40-jährige Patientin ohne Vorerkrankungen leidet seit dem 11.                     zerebelläre Zeichen geachtet werden, riet Ruschil.
     Lebensjahr an wiederkehrenden Attacken mit visuellen Symptomen,                        Innerhalb der hemiplegischen Migräne werden ein sporadischer
     Sensibilitätsstörungen einer Körperhälfte und einer ipsilateralen                      und ein familiärer Typ unterschieden. Die familiäre hemiplegische
     transienten Hemiparese. Die Attacken treten ca. 8-mal jährlich auf.                    Migräne (FHM) ist eine monogene Erkrankung, der Mutationen
     Sie dauern von 30 Minuten bis zu mehreren Stunden. Während                             in transmembranären Ionenkanälen zugrunde liegen. Wenn ein
     oder nach der Aura setzt ein migränetypischer Kopfschmerz ein.                         Schlaganfall, strukturelle Läsionen und eine Epilepsie ausgeschlos-
     Die Patientin hat eine hemiplegische Migräne, eine seltene                             sen werden können, kann eine ausführliche Familiendiagnose
     Unterform der Migräne mit Aura. Charakteristisch für die hemi-                         den Verdacht auf eine FHM erhärten. Eine Genanalyse kann
     plegische Migräne ist das Auftreten motorischer Auren mit einer                        die Diagnose bestätigen.
     reversiblen motorischen Schwäche in Kombination mit mindes-                            Die Behandlung richtet sich nach den Empfehlungen zur klassi-
     tens einem weiteren Aura-Symptom wie einer visuellen Störung.                          schen Migräne mit Aura. Akuttherapeutisch können Triptane* nach
     Der Migräne-typische Kopfschmerz beginnt in der Regel nach                             Abklingen der Aura-Symptome und mit Einsetzen der Kopfschmer-
     den Aura-Symptomen, kann aber im Gegensatz zur klassischen                             zen eingesetzt werden [1]. Zur Prophylaxe der hemiplegischen
     Migräne bereits während der Aura auftreten. Die hemiplegische                          Migräne kommen Lamotrigin* oder Acetazolamid* – auch in
     Migräne manifestiert sich in der Regel vor dem 17. Lebensjahr                          Kombination mit Valproat* – in Betracht [1–3]. In Einzelfällen
     und damit früher als die klassische Migräne. „Es handelt sich                          kann auch mit Topiramat* ein Effekt erreicht werden [1,4]. Für
     um einen schweren Phänotyp, der neben der hemiplegischen                               die Anwendung von anti-CGRP-Antikörpern bei hemiplegischer
     Symptomatik auch mit Komplikationen wie Verwirrtheit, Fieber,                          Migräne gibt es laut Ruschil noch keine Daten.
     Anfällen und Bewusstseinsstörungen einhergehen kann“, so Ruschil.
     Mit durchschnittlich drei Attacken pro Jahr sei die Frequenz etwas                     Symposium „Kopfschmerz“, 3. November 2021

     Literatur
     [1] Diener H-C et al. Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie, 2018, Online: www.dgn.org/leitlinien
     [2] Pelzer N et al. Cephalalgia. 2014; 34: 708-711
     [3] Russel MB, Ducros A. Lancet Neurology 2011; 10: 457-470
     [4] Reuter U et al. Cephalalgia 2010; 30: 543-551
     * Diese Substanzen sind nicht für die hemiplegische Migräne zugelassen (Off-Label-Use).

16
Der MS-Patient in der COVID-19-Pandemie
Die Corona-Pandemie hat für das Management der MS zahl-                     mit Ocrelizumab oder Rituximab mit einem erhöhten Risiko für
reiche Fragen aufgeworfen. Einige der wichtigsten Fragen                    einen schweren COVID-19-Verlauf und Hospitalisierung assoziiert
können mittlerweile auf der Basis vorliegender Daten beantwortet            ist [3,4]. Die Risikoerhöhung war additiv zu den demografischen
werden (siehe Info-Kasten). Aus Sicht von Patienten und Ärzten              und klinischen Risikofaktoren. Alle anderen DMTs hatten keinen
stehe die Sorge vor neuen MS-Schüben und einem erhöhten                     statistisch signifikanten Effekt auf den COVID-Verlauf [4]. Die Ergeb-
COVID-19-Risiko im Vordergrund, berichtete Prof. Dr. Stefan                 nisse der Kohortenstudie aus Italien deuten darauf hin, dass eine
Bittner, Mainz. Eine retrospektive Studie deutet darauf hin,                Kortison-Pulstherapie in den letzten 30 Tagen das Risiko nochmals
dass SARS-CoV-2-Infektionen, ebenso wie andere Infekte, das                 erheblich steigert (Odds Ratio 5,24; 95 %-Konfidenzintervall
Risiko für neue MS-Schübe erhöhen können [1]. Umgekehrt                     2,20–12,53, p=0,001). Die Evidenz sei jedoch angesichts
haben Patienten mit MS zwar nicht per se ein erhöhtes Risiko für            der geringen Patientenzahl (26/844), die einen Kortisonpuls
schwere COVID-Verläufe und Hospitalisierung, wohl aber sind                 erhalten hatten, relativ schwach und müsse durch weitere Daten
MS-Betroffene gefährdet, wenn weitere Risikofaktoren hinzukom-              ergänzt werden, bemerkte Bittner.
men [2,3] – vor allem bei höherem Behinderungsgrad (EDSS                    Nach den bisher vorliegenden Daten scheint eine Impfung gegen
≥ 6), im Alter ≥60 Jahre und bei Vorliegen von Komorbiditäten               SARS-CoV-2 mit den mRNA-Vakzinen das Schubrisiko im Vergleich
wie Diabetes, Adipositas, Lungen- und Herzerkrankungen) [2].                zu ungeimpften MS-Patienten nicht signifikant zu erhöhen [5,6].
Ein möglicher Einfluss der MS-Immuntherapie auf den Krankheitsver-          Eine Impfung wird für MS-Betroffene grundsätzlich empfohlen. Bei
lauf von COVID-19 wurde in zwei großen Kohortenstudien unter-               Patienten, die mit anti-CD20-Antikörpern behandelt werden, ist
sucht, einer italienischen Kohortenstudie mit 844 RRMS-Patienten            jedoch mit einer eingeschränkten Wirksamkeit der Corona-Impfung
[3] und einer internationalen Studie mit 2.340 MS-Patienten [4].            zu rechnen, wobei aber die T-Zellantworten erhalten bleiben [7].
In beiden Studien wurden ca. 20 % der MS-Patienten mit bestä-
tigter SARS-CoV-19-Infektion wegen COVID-19 hospitalisiert. Die             Symposium „Multiple Sklerose: von genetischer Prädisposition
Studien zeigen übereinstimmend, dass eine Anti-CD20-Therapie                bis hin zur Progression“, 4. November 2021

 Löst eine SARS-Cov-2 Infektion in MS-Patienten Schübe aus?                 Ja [1]
 Haben MS-Patienten an sich ein erhöhtes Risiko für eine Infektion          Nicht generell, aber Patienten mit höherem Behinderungsgrad,
 oder schweren Verlauf?                                                     höherem Alter und mit Komorbiditäten [2,3]
 Führen DMT zu einem erhöhten Risiko für einen schweren COVID-19-Verlauf?   Belegt für anti-CD-20-Therapien, Hinweise für Kortisonstoßtherapie [3,4]
 Ist eine Impfung gegen SARS-CoV-2 bei MS sicher?                           Ja (kein Hinweis auf spezifisch erhöhtes Risiko) [5,6]
                                                                            Ja, aber eingeschränkt bei anti-CD20-Antikörpern &
 Ist eine Impfung gegen SARS-CoV-2 unter Immuntherapie wirksam?
                                                                            S1P-Rezeptor-Modulatoren (weitere?) [7]
Literatur
[1] Barzegar M et al. Mult Scler Relat Disord 2021; 52: 102947              [5] Achiron A et al. Mult Scler 2021; 27: 864-870
[2] Louapre C et al. JAMA Neurol 2020; 77: 1079-1088                        [6] Di Filippo et al. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2021;0 :1-3
[3] Sormani MP et al. Ann Neurol 2021; 89: 780-789                          [7] Apostolidis SA et al. Nat Med 2021; Sep 14. doi: 10.1038/s41591-021-01507-2
[4] Simpson-Yap S et al. Neurology 2021; 97: e1870-e1885

                                                                                                                                                              17
COVID-19:
     Komplikationen der Impfung
     Die Komplikationen der verschiedenen Impfstoffe gegen SARS-                       Eine Studie der DGN unter Leitung von Schulz hat ergeben, dass
     CoV-2 sind ein viel diskutiertes Thema. Prof. Dr. Jörg B. Schulz,                 bis April 2021 insgesamt 62 zerebrovaskuläre Ereignisse nach
     Aachen, trug zusammen, was bislang bekannt ist: Zu den                            einer COVID-19-Impfung aufgetreten sind [1]. 45 Patienten hatten
     potenziellen Komplikationen nach COVID-19-Impfungen zählen                        eine SHVT entwickelt, 9 Patienten eine primäre zerebrale Ischämie,
     neben Sinus- und Hirnvenenthrombosen (SHVT) auch vereinzelte                      4 Patienten intrazerebrale Blutungen und 4 andere neurologische
     Enzephalomyelitiden, Plexus-Neuritiden, Fazialisparesen, Guil-                    Ereignisse. Elf der 62 zerebrovaskulären Ereignisse (18,3 %)
     lain-Barré-Syndrome und anhaltende Kopfschmerz-Syndrome.                          hatten einen fatalen Ausgang [1]. Die bestätigten Ereignisse
     Die bisherige Datenlage spreche dafür, dass das Risiko von                        waren überwiegend (85,5 %, n=53) nach Immunisierung mit
     zerebrovaskulären Ereignissen, insbesondere die SHVT, insge-                      ChAdOx1 von AstraZeneca aufgetreten. Nach Immunisierung
     samt gering ist [1]. Bei den Vektor-Impfstoffen bestehe jedoch ein                mit dem BioNTech-Impfstoff BNT62b2 wurden 9 Fälle (14,5 %)
     höheres Risiko. Ursache ist eine Vakzin-induzierte immunologische                 und nach mRNA-12783 von Moderna kein zerebrovaskuläres
     thrombotische Thrombozytopenie (VITT) [2,3]. Klinisch ähnelt                      Ereignis gemeldet [1]. Allerdings seien bis zum Zeitpunkt der Date-
     die VITT einer Heparin-induzierten Thrombozytopenie (HIT). Der                    nerhebung (April 2021) nur 1,2 Mio. Dosen von mRNA-12783
     zugrundeliegende Mechanismus ist jedoch ein anderer [4]:                          verabreicht worden im Vergleich zu 16,2 Mio. von BNT62b2
     Ausgelöst durch das Vakzin entstehen zwischen Tag 4 und Tag                       und 4,6 Mio. Dosen von ChAdOx1, so Schulz. Frauen haben
     16 nach der Impfung Autoimmun-Antikörper gegen Plättchenfaktor                    unter ChAdOx1 ein 3,1-fach höheres Risiko für SHVT als Männer
     4 (PF4). Die Bindung der Autoantikörper an einen Komplex von                      (24,2 vs. 8,9/100.000 Personenjahre). Das Alter war in der
     PF4 und bisher noch unbekannten Polyanionen führen dann zu                        Erhebung kein eindeutiger Risikofaktor für SHVT (24/100.000 für
     einer Fc-Rezeptor-vermittelten Thrombozytenaktivierung [4]. „Beim
Post-COVID-19-Syndrom:
Was bisher bekannt ist
Bei Post-COVID-19 handelt es sich nach der aktuellen Definition                 besteht. Demgegenüber scheint kein Untergang von Nervenzellen
der WHO um eine persistierende oder neue Symptomatik, die                       oder Astrozyten für die Post-COVID-Symptome verantwortlich zu
innerhalb von 3 Monaten nach einer vorausgegangenen SARS-                       sein [4]. Außerdem konnte keine intrathekale SARS-CoV-2-Anti-
CoV-2 Infektion auftritt und seit 2 Monaten mit fluktuierendem                  körperproduktion im Liquor nachgewiesen werden [5]. „Es gibt
Auftreten besteht. Die Symptome umfassen Fatigue, Kurzatmigkeit,                also keinen Anhalt für eine anhaltende Schädigung des ZNS“,
Kognitionsstörung und 25 weitere Symptome [1]. „Das breite                      so Franke. Die Behandlung sei schwierig. Da man den Patienten
Symptomspektrum bei Post-COVID-19 unterstreicht die Notwen-                     keine spezifischen therapeutischen Optionen anbieten kann,
digkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit von Neurologen,                 plädiert sie für eine frühzeitige Einbindung der Psychosomatik.
Pneumologen, Kardiologen, Psychiatrie und Psychosomatik“,
berichtete Dr. Christiana Franke, Berlin. Die Neurologie hat einen              Symposium „COVID-19“, 3. November 2021
besonders hohen Stellenwert, vor allem bei der Evaluation von
kognitiven Defiziten, Fatigue, Kopfschmerzen sowie Hyposmie [2].
Daten der Post-COVID-Ambulanz der Charité Berlin zeigen, wie
sich Post-COVID-19 klinisch präsentiert [3]. Die Betroffenen sind
durchschnittlich 46 Jahre alt; 67 % sind Frauen; 90 % haben
einen milden COVID-19-Verlauf. Fatigue und kognitive Beein-
trächtigungen waren die häufigsten Symptome [3].
Und was steckt pathophysiologisch hinter Post-COVID-19? Ob
eine endothelial-mikrozirkulatorische Dysregulation, anhaltende
Inflammation bzw. Mikroglia-Aktivierung oder eine Virus-getriggerte
Autoantikörper-vermittelte Reaktion die Beschwerden verursache,
ist noch unbekannt. Vieles spricht laut Franke dafür, dass bei
mindestens einem Viertel der Patienten eine Immunbeteiligung

Literatur
[1] https://www.who.int/publications/i/item/WHO-2019-nCoV-Post_COVID-19_condition-Clinical_case_definition-2021.1
[2] Lopez-Leon S et al. Sci Rep 2021; 11: 16144
[3] Boesl F et al. Front Neurol 2021; 12: 738405
[4] Kanberg N et al. EBioMedicine 2021; 70: 103512
[5] Schweitzer F et al. Ann Neurol 2021 Nov 1. doi: 10.1002/ana.26262

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