Das Gründungspotenzial von Geflüchteten - Selbstständigkeit als Weg zur Arbeitsmarktintegration? - Bibliothek der ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
René Leicht, Carina Hartmann, Ralf Philipp FES diskurs Das Gründungspotenzial von Geflüchteten Selbstständigkeit als Weg zur Arbeitsmarktintegration?
FES diskurs Oktober 2021 Die Friedrich-Ebert-Stiftung Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerkschaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch: – politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft; – Politikberatung; – internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern; – Begabtenförderung; – das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek. Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung Die Abteilung Analyse, Planung und Beratung der Friedrich-Ebert-Stiftung versteht sich als Zu- kunftsradar und Ideenschmiede der Sozialen Demokratie. Sie verknüpft Analyse und Diskussion. Die Abteilung bringt Expertise aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Verwaltung und Politik zusammen. Ihr Ziel ist es, politische und gewerkschaftliche Entscheidungsträger_innen zu aktuellen und zukünftigen Herausforderungen zu beraten und progressive Impulse in die gesell- schaftspolitische Debatte einzubringen. FES diskurs FES diskurse sind umfangreiche Analysen zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Auf Grund- lage von empirischen Erkenntnissen sprechen sie wissenschaftlich fundierte Handlungsempfeh- lungen für die Politik aus. Über die Autor_innen Carina Hartmann ist Kulturbetriebswirtin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Mittelstandsforschung und Entrepreneurship der Universität Mannheim. Ihre Forschungsinteressen umfassen die sozialen Kontexte von zugewanderten Gründer_innen und unternehmerischer Diversität. Dr. René Leicht ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Bis 2019 leitete er den Forschungsbereich „Neue Selbständigkeit“ am Institut für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim. Als Senior Advisor befasst er sich dort insbesondere mit Integrations- und Migrationsforschung im Kontext von Existenzgründungen. Ralf Philipp beschäftigt sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mittelstandsfor- schung der Universität Mannheim mit der Dynamik und den neuen Formen selbstständiger Erwerbsarbeit. Für diese Publikation ist in der FES verantwortlich Dr. Robert Philipps hat bis Juni 2021 in der Abteilung Analyse, Planung und Beratung die Bereiche Unternehmen/Mittelstand und Verbraucherpolitik geleitet. Susan Javad ist in der Abteilung Analyse, Planung und Beratung für den Arbeitsbereich Migration und Integration verantwortlich.
FES diskurs René Leicht, Carina Hartmann, Ralf Philipp Das Gründungspotenzial von Geflüchteten Selbstständigkeit als Weg zur Arbeitsmarktintegration? 3 VORWORT 4 ZUSAMMENFASSUNG 6 1 EINLEITUNG 7 2 „REFUGEES – THE MOST UNLIKELY ENTREPRENEURS“ 7 2.1 Erklärung von Migrant and Refugee Entrepreneurship 8 2.2 Hürden für Gründungsaktivitäten von Geflüchteten 9 2.3 Chancen beruflicher Selbstständigkeit 9 2.4 Zwischen Marginalität und sozialem Aufstieg 12 3 MIGRATIONSFORMEN UND IHRE BEDEUTUNG FÜR SELBSTSTÄNDIGKEIT 12 3.1 Entwicklung von Selbstständigen mit eigener Migrationserfahrung 13 3.2 Bedeutung von Selbstständigen mit Fluchterfahrung 19 3.3 Was macht Geflüchtete zu beruflich Selbständigen? 23 4 UNDERDOGS – UND DOCH ERFOLGREICH? 23 4.1 Alter und Geschlecht 26 4.2 Qualifikationen 26 4.3 Märkte: Wirtschaftsbereiche und regionales Umfeld 29 4.4 Unternehmensgröße: Arbeitgeber_innen und Soloselbstständige 30 4.5 Einkommen 32 5 GRÜNDUNGSINTENTIONEN UND -HEMMNISSE VON NEUZUGEWANDERTEN MIT FLUCHTERFAHRUNG 32 5.1 Selbstständigkeitsorientierung: Gründungsintentionen und Gründungsaktivitäten 37 5.2 Hürden im Gründungsprozess 39 6 FAZIT UND AUSBLICK 42 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 43 Literaturverzeichnis
Friedrich-Ebert-Stiftung 2
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten FES diskurs 3 VORWORT Selbstständigkeit spielt auf dem deutschen Arbeitsmarkt Worten: Viele wollen gründen, aber deutlich weniger tun es mit rund zehn Prozent der Erwerbstätigen nur eine unterge- am Ende auch. ordnete Rolle. Auch zeigen die Zahlen unterschiedlicher Er- Positiv vermerkt werden muss gleichzeitig, dass diejenigen, hebungen, dass in Deutschland vergleichsweise zurückhal- die ihre Gründungsneigung dann doch umsetzen, nicht selten tend gegründet wird und die Gründungsbereitschaft in den mehr erwirtschaften können, als Geflüchtete in abhängiger vergangenen Jahren zurückging. Eine Vielzahl an politischen Beschäftigung verdienen. Selbstständigkeit und Gründung Initiativen hat immer wieder versucht, diese Zurückhaltung „lohnen“ sich also dann meist doch. Zusätzlich schaffen Grün- aufzuweichen und die Gründungsquote zu steigern, was bis der_innen mit Fluchthintergrund im Durchschnitt mehr Ar- zum Einsetzen der Corona-Pandemie auch langsam gelang. beitsplätze als Gründende, die freiwillig nach Deutschland Die Ratio hierbei war und ist: Man verspricht sich von einem gekommen sind. Sie leisten damit einen aktiven Beitrag zum Mehr an Gründungen eine gesteigerte wirtschaftliche Dyna- Funktionieren des deutschen Arbeitsmarkts und zur Siche- mik insgesamt mit positiven Effekten für Wachstum, Innovati- rung der Sozialsysteme. Und das ist ein Gewinn für alle! on und Beschäftigung und damit auch für die eigenständige Politisch Gestaltenden sei abschließend noch auf den Existenzsicherung der Arbeitsmarktteilnehmenden im Ganzen. Weg gegeben, dass es eine Vielzahl von Hebeln gibt, die Um- Viele der Menschen, die im Zuge der Fluchtmigration ab setzungslücke zwischen Gründungsneigung und tatsächli- 2013, und dann vor allem ab 2015, nach Deutschland kamen, cher Unternehmensgründung zu verkleinern. Gerade auch waren in ihren Heimatländern selbstständig bzw. kamen aus geflüchtete Frauen sollten dabei mehr – wie insgesamt beim Ländern, in denen Selbstständigkeit und Unternehmensgrün- Thema Arbeitsmarktintegration – vom Rand in den Fokus dungen sehr viel häufiger anzutreffen sind, als in der deut- aufrücken. schen Gesellschaft. Dazu kommt, dass sie nicht immer die Die vorliegende Studie versteht sich als ein Beitrag zur Voraussetzungen für eine schnelle und optimale Integration intensiven Debatte um gelingende Arbeitsmarktintegration in den deutschen Arbeitsmarkt mitbringen. Wären hier geflüchteter Menschen. Dass diese im Interesse aller in die- Selbstständigkeit und eine Unternehmensgründung nicht sem Land Lebenden ist, steht außer Frage. Selbstständigkeit eine naheliegende Option gerade für diese Zielgruppe? und Unternehmensgründungen sind hier eine wichtige Fa- Vor diesem Hintergrund erklären sich nun die Forschungs- cette, die es politisch noch besser zu ermöglichen gilt. Wir fragen, die dieser Studie zugrunde liegen. Sie möchte zum freuen uns, wenn die Studienergebnisse dazu ermutigen. einen Auskunft über das Gründungspotenzial unter Geflüch- teten geben. Zum anderen diskutiert die Studie Selbststän- digkeit über eine Unternehmensgründung für diese Personen- DR. ROBERT PHILIPPS gruppe als einen interessanten Weg gelingender Arbeits- SUSAN JAVAD marktintegration. Das Forschungs- und Autor_innen-Team der Abteilung Analyse, Planung und Beratung Universität Mannheim hat hierfür sowohl wissenschaftliche Friedrich-Ebert-Stiftung Literatur zur Thematik als auch einen großen, eigens für die Studie zusammengestellten und erhobenen Datenschatz ausgewertet und zeichnet so ein differenziertes Bild der Lage. Ohne dem Fazit der Studie jetzt viel vorwegnehmen zu wollen, kann festgehalten werden: Selbstständigkeit über eine Unternehmensgründung ist für Geflüchtete vorausset- zungsreich und es klafft hier eine signifikante Umsetzungslücke zwischen bekundeter Gründungsneigung bzw. -intention und der tatsächlichen Unternehmensgründung. In anderen
Friedrich-Ebert-Stiftung 4 ZUSAMMENFASSUNG Strategien zur beruflichen Integration von Geflüchteten be- schreiben unterschiedliche Wege zu Arbeit und Einkommen, aber der Mainstream an Maßnahmen fokussiert auf die Ein- gliederung durch eine lohnabhängige Beschäftigung. Dabei rückt in den Hintergrund, dass immer mehr Zugewanderte als Selbstständige arbeiten und sich ihren Arbeitsplatz selbst erschaffen. Wenig bekannt ist, inwieweit eine Unternehmens- gründung auch für geflüchtete Menschen eine erfolgver- sprechende Option darstellt. Supranationale Organisationen (z. B. EU, OECD, UN) empfehlen die Förderung von „Migrant and Refugee Entrepreneurship“, wobei sie jedoch die unter- schiedlichen Ausgangslagen, Chancen und Hürden von Ein- gewanderten mit und ohne Fluchterfahrung kaum themati- sieren. Im vorliegenden Beitrag wird deshalb untersucht, welches Gründungspotenzial Geflüchtete besitzen und zu welchen Ergebnissen der Schritt in die Selbstständigkeit führt. Dahinter steht auch die Frage, welche Implikationen unter- schiedliche Zuwanderungsmotive (vor allem Flucht, Arbeits- migration, Familiennachzug, Studium) für den Umfang und die Struktur beruflicher Selbstständigkeit haben. Unter allen Zugewanderten waren im Jahr 2019 rund 700.000 beruflich selbstständig. Dies sind neun Prozent aller erwerbstätigen Zugewanderten und entspricht einer Selbst- ständigenquote, die nur knapp unterhalb der von Herkunfts- deutschen liegt (zehn Prozent). Rückblickend ist ein Zehntel (68.000) dieser Selbstständigen einst aufgrund von „Flucht, Verfolgung oder Asyl“ zugezogen.1 Darunter sind jedoch wenige (ca. 5.000), die im Zuge der großen Fluchtbewegung seit 2013 kamen. Das wiederum ist nachvollziehbar, da der Planungs- und Handlungsspielraum von neu zugewanderten Geflüchteten durch Unwägbarkeiten, das Bleiberecht, obliga- torische Integrationskurse und diverse Auflagen und Restrik- tionen weit mehr als bei anderen Neuzugewanderten einge- schränkt ist. Während von den Erwerbstätigen, die seit 2013 freiwillig nach Deutschland kamen (z. B. wegen Arbeit, Famili- ennachzug oder Studium), mindestens fünf Prozent selbst- ständig sind, ist dies bei den in dieser Zeit hierher Geflüchteten nur bei zwei Prozent der Fall. Aber auch unter den Personen 1 Unter den rund 11 Millionen Zugewanderten im erwerbsfähigen Alter stellen die Personen mit Fluchterfahrung einen Anteil von 14 Prozent.
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten FES diskurs 5 mit Fluchtbiografie, die schon 10 bis 20 Jahre in Deutschland here Kohorten zeigt sich einerseits, dass Selbstständige mit sind, ist das Niveau unternehmerischer Aktivitäten noch ge- Fluchterfahrung überproportional im arbeits- und wettbewerbs ring. Erst mit noch längerem Aufenthalt (und damit auch aus- intensiven Handel und Gastgewerbe und weniger in wissens gestattet mit mehr Wissen und passenden rechtlichen Vo- intensiven Dienstleistungen angesiedelt sind. Andererseits raussetzungen) steigen die Selbstständigenquoten Geflüch- erzielen Geflüchtete, wenn sie selbstständig sind, im Durch- teter spürbar an. Sie übertreffen dann sogar die Quoten der- schnitt höhere Einkommen als ihre abhängig beschäftigten jenigen, deren Migration nicht erzwungen war. Den erst spät Pendants, was weniger für prekäre Verhältnisse, sondern für Gründenden ist es zu verdanken, dass die Selbstständigen- Chancen zum sozialen Aufstieg spricht. Zudem stellen die quote von Geflüchteten im Durchschnitt insgesamt acht Pro- Unternehmen der ehemals Geflüchteten häufiger als andere zent erreicht und damit nur einen Prozentpunkt unter derje- Gruppen noch zusätzlich Arbeitsplätze bereit, und sie erfüllen nigen aller Zugewanderten liegt. sogar etwas öfter als die von Personen deutscher Herkunft Das heißt, das Gründungspotenzial von Geflüchteten wird geführten Einzelunternehmen eine Arbeitgeberfunktion. mittelbar durch die Dauer des Aufenthalts bestimmt, denn Zusammengenommen erscheint es also gerechtfertigt, erst mit der Zeit können institutionelle Barrieren im Zugang Geflüchtete bei der Überwindung ungleich höherer Grün- zu Selbstständigkeit überwunden werden. Gleichzeitig steigen dungshürden und der Entwicklung selbstständigkeitsrelevan- die Chancen zum Erwerb gründungsrelevanter Ressourcen, ter Ressourcen zu unterstützen, auch wenn sich die Erfolge darunter Deutschkenntnisse, systemrelevantes Wissen, Er- auf individueller und gesellschaftlicher Ebene erst längerfris- kenntnisse über Märkte sowie Beziehungen zu Lieferant_innen tig zeigen. An erforderlichen Ambitionen zur Gründung und Kund_innen. Geflüchtete brauchen jedoch nicht nur einen mangelt es Geflüchteten nicht. Sie sind sogar stark ausge- längeren Anlauf für den Sprung in die Selbstständigkeit als prägt, wie eine Befragung von Neuzugewanderten zeigt. andere Zuwanderungsgruppen. Ihre Chancen werden zudem Rund die Hälfte aller Asylsuchenden äußert starke Intentionen, gemindert, da sie im Durchschnitt betrachtet schlechter ge- in Deutschland irgendwann ein eigenes Unternehmen zu bildet sind als freiwillig Zugezogene. Im deutschen Kontext ist gründen, und diese Ambitionen nehmen in den ersten Jah- das besonders relevant, denn der Zugang zu Selbstständig- ren nach Ankunft sogar tendenziell zu. 2 keit ist in vielen Berufen durch Bildungszertifikate institutionell reguliert und beschränkt (Handwerk, freie Berufe). Diejenigen jedoch, die – ob anerkannt oder nicht – prin- zipiell über höhere Qualifikationen und damit auch über mehr Wissen verfügen, sind mit doppelt so hoher Wahrscheinlich- keit selbstständig als die Geringqualifizierten – u. a. auch weil es bislang noch immer große Hürden bei der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen in Deutschland gibt. Bei gleicher Bildung und unter Kontrolle weiterer Einfluss- faktoren wie Alter, Geschlecht und Haushaltskontext machen sich Geflüchtete jedoch genauso oft selbstständig wie andere Zuwanderungsgruppen und sogar häufiger als Personen, die im Familiennachzug zugezogen sind. 2 Ob die Gründungsaktivitäten von Geflüchteten auch inte- 2 Letzteres ist teils auch im Kontext des Umstands zu sehen, dass im grationspolitisch sinnvoll sind, kann u. a. anhand des Profils Familiennachzug vor allem Frauen (rund 60 Prozent) kamen und die der Selbstständigen und dem wirtschaftlichen Beitrag ihrer Selbstständigenquoten von Frauen in allen Gruppen (unabhängig von Unternehmen beurteilt werden: In der Retrospektive auf frü- Herkunft und Zuwanderungsmotiv) niedrig ausfallen.
Friedrich-Ebert-Stiftung 6 1 EINLEITUNG Die Integration Geflüchteter in den Arbeitsmarkt wird noch Arbeitsverhältnisse gestellt. Unternehmen von Migrant_innen lange Jahre eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung werden häufig ökonomischen oder ethnischen Nischen zu- bleiben. Zwar ist unter denjenigen, die seit 2013 nach Deutsch- geordnet, insbesondere wenn sie aus der Not geboren sind land geflüchtet und hier geblieben sind, mittlerweile die Hälfte (Apitzsch 2006). Zwar sehen neuere Forschungsarbeiten einen erwerbstätig (Brücker et al. 2020), 3 aber gleichzeitig besteht Wandel in der Ressourcenausstattung der Zugewanderten Konsens, dass weitere Integrationsschritte erhebliche Anstren- und attestieren Migrantengründungen deshalb ein gewach- gungen erfordern, zumal auch die Qualifikationen nur teil- senes Wissens- und Innovationspotenzial (Leicht/Langhauser weise in den deutschen Arbeitsmarkt transferiert und dort 2014; Leicht et al. 2017; Sternberg et al. 2019). Allerdings stellt verwertet werden können (Kosyakova 2020). Hinzu kommt sich die Frage, inwieweit diese Befunde auf Personen mit die Covid-19-Pandemie, welche die Arbeits- und Lebenssitu- Fluchterfahrung übertragbar sind. Weit mehr als bei anderen ation von Neuzugewanderten zusätzlich erschwert (Falkenhain Zuwanderungsgruppen sind die beruflichen Perspektiven von et al. 2020), vor allem wenn dann in bestimmten Bereichen Geflüchteten durch unsichere Lebensverhältnisse, psychische weniger Arbeitsplätze angeboten werden. Belastungen, Isolation, inadäquate Ressourcen und rechtliche Fast sämtliche Studien zur beruflichen Integration Ge- Hürden erschwert (SVR 2017; Wiedner et al. 2017). Das sind flüchteter fokussieren explizit auf die Eingliederung in eine eher ungünstige Voraussetzungen für die Führung eines ei- abhängige Beschäftigung. Hingegen wird der Schritt in die genen Unternehmens. unternehmerische Selbstständigkeit als alternativer Pfad der Mit speziellem Fokus auf die Unterschiede in den Ausgangs- Arbeitsmarktintegration kaum in Betracht gezogen. Dieser lagen von Gründungswilligen mit und ohne Fluchterfahrung verkürzte Blickwinkel zeigt sich nicht nur in der Forschung hat sich auf internationaler Ebene neben der Migrant-Entre- und betrifft nicht nur Geflüchtete: Wirtschafts- und arbeits- preneurship-Forschung eine weitere Wissenschafts-Com- marktpolitische Initiativen, wie etwa das Fachkräfteeinwan- munity formiert, die sich den Besonderheiten von „Refugee derungsgesetz, zielen vor allem auf die Deckung des hohen Entrepreneurship“ widmet. Soweit sich Geflüchtete selbst- Arbeitskräftebedarfs der bestehenden Unternehmen. Hinge- ständig machen, werden hier andere Ursachen und Ergebnis- gen wird selten thematisiert, inwieweit durch Einwanderung se als bei den freiwillig Immigrierten vermutet. Mit konkre- auch neue Unternehmen und dadurch möglicherweise auch tem Blick auf die Geflüchteten in Deutschland interessieren Impulse für Innovation und neue Arbeitsplätze entstehen. daher Antworten auf die Fragen, (1) inwieweit Geflüchtete Immerhin ist in Deutschland bereits jetzt schon jede zehnte die Neigung und Fähigkeit besitzen, in Deutschland ein eige- Person mit Migrationshintergrund unternehmerisch engagiert nes Unternehmen zu gründen, und (2) wie erfolgverspre- (Leicht et al. 2021). Internationale Studien zeigen, dass viele chend der Weg in die berufliche Selbstständigkeit ist. Im Ge- neu Eingewanderte, vor allem wenn sie aus Ländern mit hohen nerellen interessiert die Frage, (3) ob sich die Strukturen in Selbstständigenquoten kommen, ihre Arbeitskraft nicht un- der beruflichen Selbstständigkeit von Geflüchteten und an- bedingt gegen Lohn, sondern eher auf eigene Rechnung an- deren Zuwanderungsgruppen unterscheiden bzw. inwieweit bieten möchten (Bizri 2017; Sak et al. 2018). erzwungene Migration zu anderen Ergebnissen führt. Allerdings wurde den Gründungen von Zugewanderten Diese Forschungsfragen sind von hoher politischer Rele- seit jeher große Skepsis entgegengebracht. Nicht selten wird vanz, zumal supranationale Organisationen wie UNHCR, Migrantenselbstständigkeit in die Nähe prekärer Lebens- und OECD oder die EU den Mitgliedstaaten eine Förderung von Refugee Entrepreneurship empfehlen (z. B. European Com- mission 2016, OECD 2018, UN 2018). 3 Bezogen auf die Ergebnisse der BAMF-IAB-SOEP-Geflüchtetenbefra- gung im zweiten Halbjahr 2018 – unter denjenigen, die von Jahresanfang 2013 bis Ende 2016 zugezogen sind, war rund ein Drittel erwerbstätig (Brücker et al. 2020: 14, Tabelle 8).
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten FES diskurs 7 2 „REFUGEES – THE MOST UNLIKELY ENTREPRENEURS“ Lange Zeit haben sich die Wirtschafts- und Sozialwissenschaf- gen und dem Aufenthaltsstatus beeinflusst werden (Waldin- ten hierzulande eher randständig für die Ursachen, Charakte- ger et al. 1990; Kloosterman/Rath 2001; Volery 2008). Aller- ristika und Wirkungen des unternehmerischen Engagements dings wurden die ungleichen Ausgangsbedingungen von von Zugewanderten interessiert, während Migrant Entrepre- Gründungswilligen, die nicht aus freien Stücken, sondern auf neurship beispielsweise im angloamerikanischen Raum eine der Suche nach humanitärem Schutz emigrierten, kaum sys- breit verankerte Forschungstradition besitzt. Doch in den ver- tematisch untersucht. Dies gilt aber generell für die Frage, gangenen Jahren stieg der Bedarf an wissenschaftlicher Ex- wodurch, warum und in welcher Weise sich Geflüchtete von pertise, da das Gründungsgeschehen in Deutschland insgesamt anderen Gruppen, die freiwillig zugewandert sind, unter- rückläufig ist und gleichzeitig zu einem beständig wachsen- scheiden. den Anteil durch Menschen mit Zuwanderungsgeschichte be- Auch wenn die Besonderheiten von Geflüchteten unter stimmt wird (Leicht/Langhauser 2014; Leifels/Metzger 2019; dem breiten Schirm der Migrant-Entrepreneurship-Forschung Sternberg et al. 2019; Sachs 2020; Leicht et al. 2021). Nicht schwer zu erkennen sind (Wauters/Lambrecht 2008; Heil- zuletzt hat das Thema aber auch durch die jüngere Dynamik brunn/Iannone 2020), bieten einzelne Ansätze zumindest der Einwanderung höhere Aufmerksamkeit erreicht. Die Zahl Anknüpfungspunkte, um zu erklären, aus welchen Gründen der nach Deutschland zugewanderten Personen im erwerbs- sich Personen mit einer Fluchtbiografie selbstständig machen fähigen Alter ist zwischen 2013 und 2019 um fast eineinhalb und welche Faktoren dabei hinderlich sind. Der „Disadvantage“- Millionen gestiegen. Da rund die Hälfte dieser Menschen als oder der „Blocked Mobility“-Theorie zufolge zählen zu den Schutzsuchende nach Deutschland kam, steht zur Diskussion, Treibern von Migrantenselbstständigkeit vor allem arbeits- in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen sich marktrelevante Ungleichheiten, Benachteiligungen, Diskrimi- Geflüchtete durch den Schritt in die Selbstständigkeit beruf- nierung und Arbeitslosigkeit; mithin also Push-Faktoren, die lich integrieren können. dazu animieren, sozialen Aufstieg und ein erträgliches Einkom- men über den Pfad der Selbstständigkeit zu suchen (Light 1979; Beaujot et al. 1994; Raijman/Tienda 2000; Li 2001; Jones/ 2.1 ERKLÄRUNG VON MIGRANT AND Ram 2003). Ergänzt werden solche Argumentationsmuster REFUGEE ENTREPRENEURSHIP durch „kulturelle“ Erklärungsansätze und mithin Pull-Faktoren, wobei davon ausgegangen wird, dass Migrant_innen auf Theoretisch und empirisch fundierte Forschungsarbeiten, die B asis herkunftsrelevanter Werthaltungen und Traditionen in- sich explizit mit dem Gründungspotenzial von Personen be- härente unternehmerische Neigungen besitzen (Light 1972; fassen, die zur Migration gezwungen waren, sind – auch im Gold 1992; Bauder 2008). Bei allem handelt es sich jedoch internationalen Kontext – bisher vergleichsweise rar (Heil- jeweils um Motivlagen, die für sich genommen lediglich brunn/Iannone 2020; Desai et al. 2020; Kone et al. 2020). Gründungsambitionen, aber nicht deren Umsetzung in er- Dies liegt teils daran, dass sich etablierte Ansätze zur Erklä- folgreiches Unternehmertum erklären (Volery 2008). rung und Beschreibung migrantischen Unternehmertums Das bloße Bestreben, beruflich auf eigenen Beinen zu lediglich am Rande mit der Frage auseinandersetzen, inwie- stehen, allein reicht kaum aus, um ein Unternehmen erfolg- weit die Neigung und Fähigkeit zu beruflicher Selbstständig- reich am Markt zu etablieren. Es bedarf zudem geeigneter keit durch das Motiv und die genauen Umstände der Migrati- Strategien, um ein Nachfragepotenzial zu entdecken und da- on beeinflusst werden (Heilbrunn 2018; Desai et al. 2020). rauf mit adäquaten Ressourcen zu reagieren. Diesbezüglich Dies verwundert, denn in der Migrant-Entrepreneurship- bietet die migrantenorientierte Gründungsforschung ver- Forschung ist unbestritten, dass die Chancen einer Gründung schiedene Erklärungsmodelle, die sich zum einen mit den un- stark von den verfügbaren Ressourcen und Gelegenheiten ternehmerischen Talenten, das heißt vor allem mit den Res- und diese wiederum auch von den Zuwanderungsbedingun- sourcen und Verhaltensweisen der Akteur_innen, und zum
Friedrich-Ebert-Stiftung 8 anderen mit den Strukturen, insbesondere mit den Märkten gründungsrelevante Ressourcen zu mobilisieren und die und Restriktionen, befassen (Waldinger et al. 1990; Light/ Märkte für ihre Zwecke zu nutzen. Gold 2000). Im Zentrum der „klassischen“ Ansätze steht die Ohnehin sind die Zugewanderten mit höheren Gründungs- Annahme, dass Migrant_innen insbesondere ethnisches und hürden als die Einheimischen konfrontiert (Carter et al. 2015), soziales Kapital (z. B. kulturelle Kompetenzen, Solidarität, doch mit einer Fluchtbiografie kommen noch weitere Hemm- Familienarbeit, Beziehungen) zum Einsatz bringen, um in adä- nisse hinzu. Genau diesen Umstand greift die Refugee-Entre- quaten Nischen oder Märkten zu agieren. Einem gängigen preneurship-Forschung auf und weist darauf hin, dass insbe- Interaktionsmuster zufolge erkennen sie die Chance, die sondere neu zugezogene Geflüchtete kaum in die sozialen Konsumbedürfnisse ihrer Landsleute mithilfe von Community- und institutionellen Strukturen des Ziellands eingebettet sind spezifischen Kompetenzen und Beziehungen ins Herkunfts- und zudem nur beschränkten Zugang zu Ressourcen und land zu befriedigen (Floeting et al. 2005). Bei genauerer Be- Netzwerken ihrer Community, sowohl im Aufnahme- als auch trachtung sind dies allerdings Mechanismen, die – wenn im Herkunftsland, besitzen. Daher ist auch umstritten, ob der überhaupt in Deutschland – nur unter bestimmten sozialen, Mixed-Embeddedness-Ansatz überhaupt genügt, das unter- wirtschaftlichen und räumlichen Kontextbedingungen, wie nehmerische Engagement von Geflüchteten konsistent zu etwa in einzelnen Branchen oder städtischen Quartieren, zur erklären (Heilbrunn/Iannone 2020). Ein entscheidendes Mo- Entfaltung kommen können (Leicht 2018). ment ist vor allem der Mangel an sozialem Kapital. Denn an- Von zentraler Bedeutung ist jedoch, dass die Modelle nur ders als freiwillige Migration erfolgt Flucht zumeist abrupt sehr begrenzt auch auf Geflüchtete anzuwenden sind; zumal und ungeplant, weshalb kaum Zeit und Möglichkeiten zum in einem Land wie Deutschland, in dem durch Wohnsitzauf- Aufbau von Beziehungen bleiben und die Geflüchteten häufig lagen 4 einer residentiellen Segregation von Asylsuchenden – auch von herkunftsbezogenen Netzwerken abgekoppelt und damit auch einer unternehmerisch förderlichen Freizü- sind (Fong et al. 2007; Wauters/Lambrecht 2008; Bizri 2017; gigkeit – tendenziell entgegengesteuert wird (SVR 2016). Collins 2017; Heilbrunn 2018; OECD 2018; Heilbrunn/Iannone Hinzu kommt eine hohe Heterogenität in Bezug auf die nati- 2020). Daher sind Gründungswillige zudem auch stärker auf onale Herkunft der Geflüchteten, was die Größe co-ethnischer Fremdkapital angewiesen (Rashid 2018; Freiling/Harima 2019), Märkte und damit die Tragfähigkeit einer Gründung tenden- was zu einer weiteren Zuspitzung der Probleme führt, wenn ziell verringert (Evans 1989). die zum Start notwendigen Gelder nicht über soziale Beziehun- gen akquiriert werden können und gleichzeitig die Banken Kredite verweigern, weil der Aufenthaltstitel ungeklärt und 2.2 HÜRDEN FÜR DIE GRÜNDUNGS die Rückzahlung nicht gesichert ist (Leicht et al. 2017; Metzger AKTIVITÄTEN VON GEFLÜCHTETEN 2018; Embiricos 2020). Weitere Hemmnisse ergeben sich insbesondere aus der Die dargestellten Beobachtungen zeigen beispielhaft, dass individuellen Ressourcenausstattung, da sich nur ein Teil der sich unternehmerisches Engagement nicht nur durch die per- Kompetenzen aus dem Herkunftsland transferieren und an- sönlichen Merkmale auf der Mikroebene erklären lässt, son- wenden lässt (Gold 1992; Fong et al. 2007; Wauters/Lambrecht dern insbesondere das Umfeld der Akteur_innen, das heißt 2008). So mangelt es an ankunftslandspezifischem und die Makro- oder Mesoebene eine entscheidende Rolle spielen. gründungsrelevantem Humankapital, da sich die meisten vor Diese Erkenntnis entspricht auch der Botschaft der Mixed- der Flucht gar nicht auf eine unternehmerische Tätigkeit vor- Embeddedness-Theorie (Kloosterman et al. 1999; Kloosterman/ bereitet oder entsprechendes Wissen, etwa über die Märkte Rath 2001), die sich mit der sozialen Einbettung der Selbst- oder Sprachkenntnisse, erworben haben. Zum anderen sind ständigen in unterschiedliche Kontextbedingungen befasst die herkunftsspezifischen Qualifikationen oftmals nicht für (Granovetter 1985). Das unternehmerische Verhalten wird einen Markteintritt verwertbar und finden auch im Gründungs- zum einen durch die Einbettung in die konkreten sozialen ökosystem nicht die erforderliche Resonanz (Hartmann/Güllü Netzwerkstrukturen, zum anderen aber durch den Einfluss 2020). Von daher ist unklar, inwieweit der in der Forschung des sozioökonomischen und politisch-institutionellen Um- vielfach belegte selbstständigkeitsfördernde Einfluss höhe- felds bestimmt. So sind Gründungen beispielsweise nicht nur rer Bildung auch bei Geflüchteten Wirkung zeigt. Es gibt auf die Unterstützung durch Familie, Freunde oder auf inner zwar Anzeichen dafür, dass Fluchtmigration unter bestimm- ethnische Solidarität angewiesen, auch das regionale Grün- ten Bedingungen zur Selbstselektion von Menschen mit dungsökosystem sowie die durch Kammern, Verbände und formal hoher Bildung führt (Guichard 2020). Unbeantwortet den Staat oder in bestimmten Branchen geregelten Rahmen- bleibt allerdings, inwieweit dies verstärkt solche Menschen bedingungen beeinflussen die Chancen beruflicher Selbst- mit unternehmerischen Fähigkeiten nach Deutschland bringt. ständigkeit. Solche Interdependenzen können Gründungen Hemmnisse im Gründungsprozess zeigen sich zudem im hemmen, etwa dann, wenn die Akteur_innen auf rechtliche Kontext lebensweltlicher Probleme, die bei Geflüchteten häufig Schranken oder Marktzugangshürden stoßen. Umgekehrt schwerer als bei anderen Zugewanderten wiegen. Denn betrachtet ist das Maß der Einbettung ein guter Indikator da- schließlich haben sie zunächst noch ganz andere Herausfor- für, in welchem Umfang und mit welchen Anstrengungen es derungen im Alltag, von der Wohnungssuche bis zur Kinder- Zugewanderten in der Aufnahmegesellschaft gelingen kann, betreuung, zu bewältigen – und nicht selten auch noch die psychischen Folgen der Flucht sowie der Fluchtursachen 4 Die auf dem Integrationsgesetz von 2016 beruhenden Wohnsitzauf (Wauters/Lambrecht 2008). lagen für Schutzsuchende werden in den einzelnen Bundesländern (aber Mit im Vordergrund der Liste an Gründungshürden stehen auch auf der Ebene von Kreisen und Städten) unterschiedlich angewandt. natürlich die institutionellen Barrieren. Sie sind zwar zwischen
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten FES diskurs 9 den Zielländern äußerst verschieden, werden aber beispiels- gungen und qualitative Studien können hier allenfalls Anhalts- weise von den Vereinten Nationen als zentrales Handlungs- punkte liefern: In einer Befragung von 40 Geflüchteten in feld bei der Optimierung von Refugee Entrepreneurship ge- Großbritannien berichtete beispielsweise die weit überwie- sehen (UN 2018). Mit Blick auf Deutschland ist hervorzuheben, gende Zahl von erheblichen Verbesserungen ihres Einkom- dass für Asylantragstellende mit Aufenthaltsgestattung eine mens, ihrer Qualifikationen und ihres sozialen Status durch selbstständige Beschäftigung während der Dauer eines laufen- die unternehmerische Tätigkeit (Lyon et al. 2007). den Asylverfahrens nicht möglich ist. Während Asylberech- tigte, Flüchtlinge und subsidiär Geschützte uneingeschränkt einer selbstständigen Tätigkeit nachgehen können, bedarf es 2.4 ZWISCHEN MARGINALITÄT UND im Fall von negativen Asylbescheiden (bei Abschiebeverbot, SOZIALEM AUFSTIEG Härtefällen, qualifizierten Geduldeten etc.) einer Erlaubnis zur Ausübung einer Selbstständigkeit. Hier liegt es im Ermessen Die beschriebenen Hürden im Zugang zu beruflicher Selbst- der Ausländerbehörde (in Abstimmung mit den Kammern oder ständigkeit sowie die aus unternehmerischen Aktivitäten re- anderen fachkundigen Körperschaften), ob eine Genehmigung sultierenden Chancen führen zu den (mehr oder weniger zur Ausübung einer Beschäftigung erteilt wird (Sänger et al. b ilanzierenden) Fragen, welche Konsequenzen dies für die 2016; Genge 2018). Doch selbst wenn die aufenthaltsgesetz- Bedeutung und Struktur von Refugee Entrepreneurship hat. lichen Zugangsvoraussetzungen für eine selbstständige Er- Zum einen interessieren Forschungsbefunde zur unterneh- werbsarbeit erfüllt sind, stehen den Geflüchteten unter Um- merischen Stärke von Geflüchteten und zum anderen, welche ständen branchenspezifische institutionelle Regulierungen, soziale und wirtschaftliche Zusammensetzung sich unter beispielsweise in zulassungspflichtigen Handwerksberufen ent- denjenigen abzeichnet, die sich im Aufnahmeland selbststän- gegen. dig machen konnten. Stärke unternehmerischer Aktivitäten 2.3 CHANCEN BERUFLICHER Mit Blick auf die dargestellten Gründungshürden erscheint es SELBSTSTÄNDIGKEIT eher verwunderlich, dass sich Geflüchtete unternehmerisch engagieren. „At first glance, refugees are the most unlikely Die Debatte um Refugee Entrepreneurship wäre ohne Belang, entrepreneurs. […] The challenges they face in starting a wenn sich neben den Gründungshürden nicht auch Chancen b usiness make it almost paradoxical that they do so well“ für sozialen Aufstieg durch den Schritt in die berufliche Selbst- (Collins 2017: 10). Tatsächlich lässt der mächtige Stapel an ständigkeit zeigen würden. Insbesondere supranationale poli- Gründungshürden zweifeln, ob es Geflüchteten überhaupt in tische Institutionen sehen die Förderung migrantischen Unter- sichtbarem Umfang gelingt, unternehmerische Ambitionen nehmertums als Erfolg versprechende Strategie zur Erhöhung umzusetzen. Das junge, sich formierende Forschungsfeld bietet der Chancen gesellschaftlicher Teilhabe (European Commissi- hierzu kaum Erkenntnisse, was auch ein Problem der Daten- on 2016; UN 2018). Mit Blick auf die politischen Empfehlungen lage und der Identifizierung von Geflüchteten ist. Insofern erscheint jedoch problematisch, dass äußerst selten zwischen handelt es sich überwiegend um qualitative Forschung (Heil- den Chancen Geflüchteter und anderer Zuwanderungsgrup- brunn/Iannone 2020). Die Befunde der wenigen quantitativ pen unterschieden wird (UN 2018). Eine Ausnahme bildet ausgerichteten Arbeiten klaffen auseinander, was voraussicht- eine Expertise der OECD (2018), die sich explizit mit der Un- lich nicht nur auf die Erhebungsinstrumente, sondern auch terstützung von Refugee Entrepreneurship befasst und dies- auf den jeweiligen Untersuchungszeitraum, auf die Herkunfts- bezüglich drei Argumente betont. Für Geflüchtete eröffne länder und die Aufenthaltszeit der Geflüchteten sowie vor sich durch Selbstständigkeit (1) ein alternativer Weg in den allem auf die unterschiedlichen Zuwanderungsstrukturen und Arbeitsmarkt, wodurch Einkommen generiert und die Lebens- Regulierungen in den Aufnahmeländern zurückzuführen ist. qualität erhöht werde. Zu den immateriellen Gewinnen zäh- Interessanterweise konnten in der vielfach zitierten Studie len (2) u. a. eine Erhöhung des Selbstvertrauens und der Selbst von Wauters/Lambrecht (2008) für das Jahr 2003 nur 152 organisation, was die Akkumulation kognitiver Ressourcen Refugee Entrepreneurs in ganz Belgien nachgewiesen werden, sowie das soziale Kapital und letztlich die Integrationsfähig- was einem Anteil von lediglich 1,5 Prozent an allen Geflüch- keit verbessert. Auch wenn Geflüchtete mit ihrem Gründungs- teten entspricht. 5 Im Licht der beschriebenen Zugangsbarrieren projekt scheitern, würden die Aktivitäten (3) die Beschäfti- erscheint die geringe Quote zunächst plausibel. Mittlerweile gungsfähigkeit erhöhen. jedoch hat die Fluchtmigration weltweit andere Ausmaße er- In vielen Teilen spiegeln sich in diesem Argumentations- langt. Aber auch Erhebungen unter den Fluchtkohorten der schema die in der Migrant-Entrepreneurship-Forschung dis- vergangenen Jahre deuten auf eher geringe Gründungsakti- kutierten Gründungsmotive wider, wie sie etwa durch die vitäten hin. Ein (kleines) Sample an befragten Syrer_innen in Disadvantage- oder die Blocked-Mobility-Theorien thematisiert Großbritannien, den Niederlanden und Österreich kommt zu werden (siehe oben). Wege aus der Arbeitslosigkeit, bessere dem Ergebnis, dass sich zusammengenommen nur 1,5 Pro- Jobs oder höhere Einkommen sind gewichtige und plausible zent in den Aufnahmeländern selbstständig gemacht haben Motive. Allerdings ist schwer nachzuweisen, in welchem Um- fang die Geflüchteten durch den Schritt in die Selbstständig- 5 Die Autoren halten es für möglich, dass der Social Security Service einen keit ihren Wunsch nach sozialem Aufstieg im Einzelnen auch beachtlichen Teil der Selbstständigen nicht erfasst, da sich viele im Bereich tatsächlich erfüllen, da es hierzu in Deutschland keine pas- der Schattenwirtschaft bewegen oder durch Einbürgerung aus der Regis- senden Längsschnittdaten gibt. Kleinere Retrospektivbefra- trierung fallen.
Friedrich-Ebert-Stiftung 10 (Betts et al. 2017), und dies obwohl rund ein Drittel der Be- Ob eine Person freiwillig oder erzwungen emigriert, beein- fragten in Syrien unternehmerisch tätig war (siehe auch im flusst zudem auch die persönliche Situation im Aufnahme- Folgenden). Im Kontrast dazu stehen die Ergebnisse einer ak- land und damit die Bereitschaft, sich unternehmerisch zu en- tuelleren und auf großzahligen Labor-Force-Daten beruhenden gagieren. Traumata, Angst, Unsicherheit und Stress sind auf Studie, die sich nicht auf die in jüngerer Zeit Zugewanderten, dem Weg in die Selbstständigkeit schlechte Begleiter. Ande- sondern auf alle Kohorten bezieht. Unter den Erwerbsperso- rerseits nehmen Geflüchtete unter Umständen höhere Risiken nen, die aus Gründen von Flucht und Asyl nach Großbritannien auf sich, weil sie im Fall einer gescheiterten Existenzgründung gekommen sind, sind 23 Prozent selbstständig, womit die auch weniger zu verlieren haben (Freiling/Harima 2019). Auf Selbstständigenquote weit höher liegt als die von Zuwande- Untersuchungen, die Persönlichkeitsmerkmale wie Risikonei- rungsgruppen, die aus anderen Motiven zugezogen sind gung, Leistungsorientierung, Resilienz oder Selbstwirksamkeit (Kone et al. 2020). Dieses hohe Niveau an unternehmerischer thematisieren, wird hier nicht eingegangen. Ansonsten wäre Aktivität zeigt sich auch unter Kontrolle zusätzlicher sozio zu diskutieren, ob Personen mit Fluchterfahrung grundsätzlich demografischer Faktoren und der Herkunftsländer. Eine mehr „unternehmerischen Spirit“ als andere Gruppen besitzen vergleichsweise hohe Selbstständigkeitsneigung besitzen (Fong et al. 2007; Obschonka et al 2018) oder aber aufgrund auch Geflüchtete in Australien, unter denen der Anteil an ihrer Arbeitsmarktposition schlicht eher entwickeln müssen. Steuerzahler_innen, die ihr Einkommen aus unternehmeri- Aus einer humankapital- und ressourcenorientierten Sicht scher Tätigkeit beziehen, höher als bei Einheimischen und ist vor allem entscheidend, welche Erfahrungen und welches anderen Zuwanderungsgruppen ist (Legrain/Burrich 2019). Wissen in den Gründungsprozess eingebracht werden. Eine Untersuchungen in den USA zeigen, dass dort etwa zehn elementare gründungsrelevante Ressource ist Selbstständig- Prozent der Geflüchteten selbstständig erwerbstätig sind keitserfahrung (Fong et al. 2007; Akee et al. 2013; Leicht et al. und ihre Gründungsquote nach zehn Jahren Aufenthaltszeit 2017; Mawson et al. 2019). Viele Geflüchtete kommen aus sogar über derjenigen der Einheimischen liegt (Kallick/ Ländern mit hohen Selbstständigenquoten, weshalb beispiels- Mathema 2016; Kerwin 2018). weise auch unter den seit 2013 nach Deutschland zugezoge- Mit Blick auf das Problem der sozialen Einbettung und nen Menschen rund ein Drittel Selbstständigkeitserfahrung der Gründungshemmnisse von Geflüchteten dürfte dieser besitzt (Brücker et al. 2016). Dies ist, nicht zuletzt auch auf- hohe Anteil an Selbstständigen überraschen. Er ist aber ein grund der Fluchtmigration aus arabischen und afrikanischen wichtiger Hinweis darauf, dass zwischen Neuzugewanderten Ländern, ein international beobachtbares Phänomen, wes- und schon länger etablierten Geflüchteten, mit gegebenen- halb qualitative Interviews nicht selten auf Entrepreneurs mit falls anderem sozialen und institutionellen Status bzw. besse- „unternehmerischer Biographie“ stoßen (Fong et al. 2007; rer sozialer Einbettung, unterschieden werden muss. Eine Freiling/Harima 2019). So stellt sich die Frage, ob Akteur_innen Gründungsvorbereitung erfordert in der Regel entsprechende mit unternehmerischen Vorkenntnissen dann im Aufnahme- Ressourcen und daher auch ein gewisses Maß an Zeit, um land häufiger selbstständig sind. Nach Wauters/Lambrecht Erfahrungen sowie das notwendige Wissen (Institutionen, (2006) ist diese Wahrscheinlichkeit in Belgien mehr als dop- Märkte, Netzwerke) zur nachhaltigen Führung eines Unter- pelt so hoch wie bei Personen ohne entsprechende Erfah- nehmens zu akkumulieren (Li 2001; Leicht et al. 2017). Daher rungen. 6 nimmt in der genannten britischen Studie (Kone et al. 2020) Während in der Gründungsforschung insgesamt dem auch die Aufenthaltsdauer deutlichen Einfluss auf die Wahr- Faktor Humankapital und dabei auch der beruflichen Bildung scheinlichkeit unternehmerischen Engagements, in einer Dif- eine zentrale Bedeutung für unternehmerischen Erfolg zuge- ferenzierung nach unterschiedlichen Zuwanderungsgruppen ordnet wird (Arum/Müller 2004), bietet die internationale allerdings mit unterschiedlicher Intensität: Während die Selbst- R efugee-Entrepreneurship-Forschung kaum Informationen ständigkeitsneigung von Zugewanderten, die zur Aufnahme darüber, welche Qualifikationen Selbstständige mit Fluchter- von Arbeit oder eines Studiums immigriert sind, verhältnis- fahrung besitzen.7 Das Gros der Arbeiten fokussiert – wie mäßig moderat mit der Aufenthaltszeit wächst, zeigt sich für auch in der Migrant-Entrepreneurship-Forschung insgesamt Personen, die als Asylsuchende kamen, ein steiler Anstieg. – auf Erfahrungs- und informelles Wissen, nicht zuletzt weil Es dauert jedoch zunächst mindestens fünf Jahre, bis sie erst viele Geflüchtete aus Ländern ohne etablierte Berufsbildungs- mal das unternehmerische Aktivitätsniveau der in Großbri- systeme kommen (Stoewe 2017). Ein Vergleich der Befunde tannien geborenen Menschen erreichen. mit der Situation in Deutschland ist aber ohnehin schwierig, da Qualifikationen hierzulande beim Zugang zu Selbststän- Strukturelle Zusammensetzung digkeit je nach Branche eine andere Bedeutung haben. Bis- Ein Teil der Refugee-Entrepreneurship-Forschung widmet lang liegen auch nur Erkenntnisse zum Bildungsniveau von sich der Frage, welches Profil die Selbstständigen und die Geflüchteten insgesamt und in der abhängigen Beschäftigung von ihnen geführten Unternehmen aufweisen; nicht zuletzt vor (Worbs/Bund 2016; Hartmann et al. 2018; Brenzel et al. auch, weil die strukturelle Zusammensetzung Hinweise bietet, 2019), aber nicht zu Selbstständigen. Jedoch zeigen Evaluati- inwieweit die unternehmerischen Aktivitäten von Geflüchte- onsdaten aus der wissenschaftlichen Begleitung von Projekten ten zu ihrer sozialen und ökonomischen Integration beitragen. Hinsichtlich der persönlichen Charakteristika sind relevante 6 Aus anderen Ländern liegen diesbezüglich keine Befunde, sondern Unterschiede zu anderen Zuwanderungsgruppen zu erwarten, lediglich theoriegeleitete Argumentationen vor (Lyon et al. 2008; Bizri da die Migrationsmotive und Aufenthaltsbestimmungen zu 2017). anderen Mechanismen der Selbst- und Fremdselektion und 7 Was auch an den unterschiedlichen institutionellen Anforderungen damit zu einer anderen sozialen Zusammensetzung führen. in den verschiedenen Aufnahmeländern liegt.
FES diskurs – Das Gründungspotenzial von Geflüchteten FES diskurs 11 zur Gründungsunterstützung von Geflüchteten, dass unter Gründungsaktivitäten von Geflüchteten: den Teilnehmer_innen der Anteil akademisch Gebildeter fast Zentrale Erkenntnisse aus der Literatur doppelt so hoch wie in der Grundgesamtheit ist (jumpp/ifm Chancen und Hemmnisse 2020). Die Chancen unternehmerischer Selbstständigkeit werden vor al- Auf welchen Märkten bringen die Geflüchteten ihre Res- lem darin gesehen, dass Geflüchtete einen Weg aus Arbeitslosig- sourcen zum Einsatz? Zunächst international betrachtet, stehen keit bzw. eine attraktivere Arbeit und ein höheres Einkommen fin- hierzu ausschließlich Informationen aus qualitativen Studien den sowie ihr Selbstver trauen, ihre Ressourcen und damit auch ihre Beschäftigungs- und Integrationsfähigkeit insgesamt verbes- zur Verfügung. Gemessen daran orientieren sich Geflüchtete sern. Ihre Gründungsaktivitäten werden aber durch den Mangel verständlicherweise auf Wirtschaftszweige, die niedrige Zu- an ankunftslandspezifischem Humankapital sowie finanziellem gangsbarrieren und in der Regel auch einen geringen (Finanz-) und sozialem Kapital gehemmt. Zudem erschweren die Lebensbe- Kapitaleinsatz erfordern. Die befragten Selbstständigen ar- dingungen, psychische Faktoren und institutionelle Barrieren den Zugang zu Selbstständigkeit. beiten überwiegend im Gastgewerbe und Handel sowie im Bereich einfacher persönlicher Dienstleistungen (Lyon et al. Unternehmerische Stärke und Zusammensetzung 2008; Wauters/Lambrecht 2006; Sak et al. 2018; Freiling/ Befunde zur quantitativen und qualitativen Stärke von Unterneh- Harima 2019). Dies bedeutet gleichzeitig, dass die Qualifika- men Geflüchteter zeichnen bislang kein einheitliches Bild. Ihre wir tschaftliche Bedeutung wird je nach Methoden, Untersu- tionsanforderungen und die Verdienstmöglichkeiten eher chungsraum und -zeitraum unterschiedlich eingeschätzt. Und so- gering sind. Hieraus sollten jedoch keine falschen Schlüsse weit geflüchtete Menschen gründen, werden ihre unternehmeri- gezogen werden, denn auch viele gut bzw. akademisch aus- schen Leistungen eher mit Skepsis betrachtet. gebildete Geflüchtete starten ihr Business in einfachen distri- butiven Dienstleistungen, etwa dann, wenn sie ihre Bildung nicht in das Ankunftsland transferieren und dort verwerten können (Lange et al. 2020). Auffällig ist, dass in einigen Stu- dien, die sich mit Business-Inkubatoren befassen, tendenziell mehr Gründungen aufgelistet werden, die dem Bereich mo- derner bzw. wissensintensiver Dienstleistungen zuzuordnen sind. Es handelt sich hierbei vorwiegend um Onlineplatt formen, Softwareentwickler_innen und ähnliche Leistungen (Meister/Mauer 2018), also mithin auch hier um Branchen mit relativ niedrigen Einstiegs- und Finanzierungshürden. Unternehmerischer Erfolg bemisst sich auch an der Unter- nehmensgröße und dem wirtschaftlichen Ertrag. Der hohe Anteil von Refugee Entrepreneurs im Handel und Gastgewerbe und der Umstand, dass es sich in vielen Fällen um Familien- unternehmen handelt, führen zu einem vergleichsweise hö- heren Personaleinsatz, zumindest in den schon länger eta- blierten Unternehmen. Einige Untersuchungen verweisen daher auf den sich längerfristig einstellenden Beschäftigungseffekt der Gründungen, während die Neuzugewanderten zunächst als Soloselbstständige tätig sind (Fong et al. 2007; Alrawa- dieh et al. 2018; Freiling/Harima 2019). Auf der Mikroebene der Individuen ist mangels Daten schwer zu prüfen, ob Ge- flüchtete als Selbstständige höhere Verdienste als vor ihrer Gründung erzielen (siehe oben), wobei dies sicher der Fall sein dürfte, wenn sie dadurch einer Arbeitslosigkeit entkom- men. Insgesamt bieten bisherige Studien kaum oder allen- falls grobe Anhaltspunkte, ob sich Selbstständigkeit auszahlt. Nach Wauters/Lambrecht (2006) liegt das Durchschnittsein- kommen von Selbstständigen mit Fluchtbiografie in allen Wirt- schaftssektoren deutlich unter dem aller Selbstständigen. Andererseits weist die Einkommensverteilung unter Geflüch- teten geringere Spreizungen als bei Selbstständigen insge- samt auf. Ein Vergleich mit anderen Zuwanderungsgruppen findet sich hier leider nicht, was auch für andere Studien gilt.
Friedrich-Ebert-Stiftung 12 3 MIGRATIONSFORMEN UND IHRE BEDEUTUNG FÜR SELBSTSTÄNDIGKEIT Wie hat sich die Gesamtzahl der Selbstständigen entwickelt, die Selbstständigen, die im Ausland geboren und im Verlauf ihres nach Deutschland zugewandert sind? Und wie viele Personen Lebens nach Deutschland zugewandert sind, um über die sind hierzulande beruflich selbstständig, die irgendwann aus Hälfte (plus 53 Prozent) bzw. um eine Viertel Million (243.000) Gründen der Flucht, Verfolgung, Vertreibung oder auf der Suche auf 701.000 gestiegen. Dagegen hat die Zahl der Selbststän- nach Asyl zugezogen sind? Wann und aus welchen Ländern digen deutscher Herkunft um 360.000 (minus zehn Prozent) sind sie nach Deutschland gekommen, und was hat zu ihrem abgenommen (siehe Abbildung 1). Schritt in die Selbstständigkeit beigetragen? Diese Fragen wer- Rechnet man die vergleichsweise geringe Zahl der Selbst- den nachfolgend anhand von Mikrozensuszahlen untersucht. ständigen ohne eigene Migrationserfahrung (zweite Genera- tion) hinzu, waren 2019 zusammen 791.000 Selbstständige mit Migrationshintergrund in Deutschland tätig. Damit hat Mikrozensus mittlerweile jede fünfte unternehmerisch engagierte Person In vielen Erhebungen und amtlichen Statistiken werden Personen, die (20 Prozent) ausländische Wurzeln. Noch Mitte vorletzten in Deutschland Schutz suchen, nicht nach dem Aufenthaltsstatus Jahrzehnts war dies nur bei 13 Prozent der Fall. Dieser Be- (Asyl, Flucht, Vertreibung), sondern näherungsweise nach ihrem Her- kunftsland (sogenannte „Asylhauptherkunftsländer“) erfasst. Seit 2017 deutungszuwachs hält schon länger an, wird aber im Gegen- stehen mit dem neuen Erhebungsprogramm des Mikrozensus nun auch satz zu früheren Zeiträumen nunmehr stärker durch die Effek- Informationen zum Zuwanderungsmotiv zur Verfügung, die für nach- te der Einwanderung bestimmt. Denn im gleichen Zeitraum folgende Analysen verwendet wurden. Der jährlich durchgeführte ist auch der Anteil von Zugewanderten unter den Erwerbs- Mikrozensus umfasst als Flächenstichprobe einen Prozent aller Haus- halte in Deutschland und ist, neben dem Zensus, die größte amtliche personen von 16 auf 19 Prozent gestiegen. Dieses Phäno- Repräsentativstatistik zur Beobachtung von Bevölkerung und Erwerbs- men wird auch durch die Entwicklung der abhängig Beschäf- tätigkeit. Er weist zudem seit 2005 detailliert den Migrationsstatus tigten mit eigener Migrationserfahrung ersichtlich. Ihre Zahl von Personen aus. Die Vorteile des Mikrozensus sind vor allem darin hat seit 2005 überproportional bzw. um 68 Prozent zugelegt zu sehen, dass er eine Vielzahl an erwerbs- und sozialstrukturellen Indikatoren besitzt und aufgrund der Auskunftspflicht die Zahl der (vgl. Abbildung 1). Das heißt, die erhöhte Zuwanderung, bei Ausfälle minimiert. Der Mikrozensus ist gleichzeitig eine der wenigen einem gleichzeitig (zumindest bis zur Covid-19-Pandemie) Datenquellen, mit der sich das Potenzial an Gründungen überhaupt florierenden Arbeitsmarkt, führte dazu, dass das Volumen bemessen lässt, da er im Gegensatz zu anderen Statistiken gleichzeitig an Zugewanderten, die einer abhängigen Beschäftigung die erforderlichen Daten über die Nichtselbstständigen enthält. nachgehen, rasanter gewachsen ist als die Zahl der Selbst- ständigen. Diese Entwicklung wirkt sich auf die Selbstständigenquote (als Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen) aus. 3.1 ENTWICKLUNG VON SELBSTSTÄNDIGEN Im Ausgangsjahr 2005 lag diese Quote unter den Zugewan- MIT EIGENER MIGRATIONSERFAHRUNG derten noch bei knapp unter zehn Prozent, stieg dann zwi- schen 2007 und 2012 etwas an, aber ging bis 2019 auf neun Zwischen 2005 und 2019 ging die Zahl der Selbstständigen Prozent, das heißt unter das Ausgangsniveau, zurück (siehe insgesamt geringfügig zurück. 8 Dabei ist jedoch die Zahl der Abbildung 1). Die Selbstständigenquote der ersten Generation liegt damit weiterhin knapp unterhalb derjenigen von Deut- schen ohne Migrationshintergrund (9,7 Prozent). Da aber auch 8 Die Gesamtzahl an Selbstständigen hat um 18.000 (minus 0,4 Prozent) Letztgenannte zurückgegangen ist, verliefen die Quoten abgenommen, wobei hier jedoch auch die zweite Generation, das heißt die beider Gruppen zuletzt in etwa gleichförmig, wenn auch auf in Deutschland geborenen Selbstständigen mit einem Elternteil ausländischer Herkunft mit einberechnet sind. Da wir den Fokus auf Geflüchtete richten, leicht unterschiedlichem Niveau. werden nachfolgend jedoch lediglich Selbstständige mit eigener Migrations- Mit Blick auf das Gründungspotenzial von Zugewanderten erfahrung (Zugewanderte bzw. die erste Generation) berücksichtigt. insgesamt lässt sich zunächst also zweierlei resümieren: Zum
Sie können auch lesen