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Marie Frühauf, Fabian Kessl Das verletzliche Subjekt als Anker politischer Korrektheit. Eine Problematisierung (sozial)pädagogischer Programme am Beispiel von Diversitätssensibilität und Kinderschutz in der bundesdeutschen Jugendhilfe Zusammenfassung: Political correctness (politische Korrektheit) meint eine Sensi- bilisierung für andere als die üblichen Wissensquellen. Vorherrschende Ausblen- dungen und Ausschließungen sollen dadurch wahrnehmbar gemacht werden. Im vorliegenden Beitrag werden jüngste Dynamisierungstendenzen politischer Kor- rektheit in den sozialpädagogischen Feldern in den Fokus gerückt. Am Beispiel der Diskussionen um eine Diversitätssensibilität sozialpädagogischer Fachkräfte und die Etablierung von Kinderschutz als verallgemeinerter Gewaltprävention lässt sich die Figur des verletzlichen Selbst als zentrale Begründungsfigur für Positionen politischer Korrektheit beleuchten. Kinder und Jugendliche werden dabei zu einer Gruppe vulnerabler Akteur*innen und Erwachsene als deren potenziell gefährliches Gegenüber konstruiert. Das erschwert allerdings die (sozial-)pädagogische Arbeit, denn die damit verbundenen pädagogischen Programme einer standardisierten Ge- fahrenabwehr und einer permanenten Selbstkorrektur werden mit einer grundle- genden Moralisierung verbunden, die die (selbst-)kritische und problematisierende Reflexion erschwert, während Gefahrenabwehr und Selbstkorrektur die konstitutiv risikohafte Dimension des pädagogischen Tuns zu verdrängen suchen. Abstract: Political correctness aims on a sensitivity for alternative sources of know- ledge, beyond the common and dominant ones. Processes of excluding and neglec- ting in the dominant hegemony shall thereby become visible. From the perspective of political correctness, current developments in the field of child and youth welfare are focused in the paper – in the cases of diversity education of professionals and of child protection. The conception of the subject as being vulnerable is from main relevance in both cases: children and youth are constructed as a group of such vulnerable sub- jects. This is troubling social work, because the daily work is first of all restructured as emergency management, in a standardized shape, and affected by a permanent self-monitoring of the professionals. Besides, those programs are based on a funda- mental moralisation, justifying emergency management and self-monitoring. Keywords: Politische Korrektheit, Verletzlichkeit/Vulnerabilität, Verwiesenheit, Jugendhilfe, Kinderschutz, Diversität 241
Politische Korrektheit – eine zeitdiagnostische Grundierung als analytische Betrachtungsfolie Political correctness (politische Korrektheit) meint eine Sensibilisierung für andere als die üblichen etablierten und kanonisierten Wissensquellen (vgl. Dunant 1994, S. VIIIf.). Das damit verfolgte Ziel ist es, vorherrschende Ausblendungen und Aus- schließungen (wieder) wahrnehmbar zu machen, ja diese möglichst zu vermeiden. Auf das aufklärende Potenzial einer solchen Sensibilisierung wird im Folgenden allerdings nicht weiter eingegangen (siehe dazu Abschnitt I. Political Correctness – Begriffliche Erkundungen in diesem Band). Im weiteren Text stehen vielmehr jüngste Dynamisierungstendenzen politischer Korrektheit in sozialpädagogischen Feldern im Zentrum der Betrachtungen, und insofern eine problematisierende (vgl. Foucault 1984/2000, S. 18) Perspektive politischer Korrektheit. Stuart Hall (1994, S. 166) verdeutlicht, dass politische Korrektheitspositionen einen Ausdruck einer bestimmten Form der Politik darstellen, wie sie sich in jün- gerer Zeit in post-industriellen und liberal-demokratischen Gesellschaften generell finden lässt. Für unsere Reflexionen zum Einsatzort und zur Logik politischer Korrektheitsdebatten in der (Sozial)Pädagogik ist dabei von Interesse, dass Hall dies zum Anlass für eine zeitdiagnostische Einordnung nimmt. Das Phänomen der political correctness wird für ihn zu einem Marker für eine Zeit, in der mit der Schwächung vormaliger sozialer Bewegungen der Arbeiterklasse sowie dem Aufkommen Neuer Sozialer Bewegungen eine Fragmentierung der politischen Landschaft in viele verschiedene Gruppen stattgefunden hat. In diesem Kontext würden insbesondere kulturelle und sprachliche Dimensionen von Macht und Politik (Fragen der hegemonialen und alternativen Lebensführung oder Fragen gerechter Schreibweisen) ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die damit verbundene Schwierigkeit sei allerdings, deren weitgehende Abkopplung von so- zialen und ökonomischen Aspekten (vgl. etwa Fraser 2001; Žižek 2009, S. 58–63; Halberstam 2015). Doch nicht nur das, zudem etabliere sich eine moralisierende Geste. Hall (1994, S. 168) spricht von einer „moralischen Selbstgerechtigkeit“ poli- tischer Korrektheitspositionen mit einem puritanischen Anstrich. Entsprechende Sprecher_innenpositionen fänden sich insbesondere in universitären Kontexten, also im akademischen Raum. Positionen der politischen Korrektheit seien dabei durch einen starken Nominalismus gekennzeichnet. Damit bezeichnet Hall eine politische Strategie, die an den Bezeichnungen ansetzt und von der Vorstellung ausgeht, dass eine alternative (sprachliche) Bezeichnung bereits das bezeichnete Phänomen zum Verschwinden bringen würde: Die Rede vom „Migrationshinter- grund“, so ließe sich Halls Analyse für den deutschsprachigen Kontext exemp- larisch übersetzen, wird als Mittel gegen den vorherrschenden strukturellen und institutionellen Rassismus präsentiert. Verbunden mit diesem Nominalismus sei 242
ein individualistisches Verständnis von Politik, das Phänomene wie Rassismus auf eine moralische Frage nach dem richtigen Verhalten einzelner Akteur_innen redu- ziert. Statt auf Mehrheiten und auf eine Identifikation mit bestimmten (politischen) Positionen zu setzen, gehe es eher um die Vorstellung einer avantgardistischen Minderheitsposition, die sich als fortschrittlicher als die – rassistische, sexistische oder homophobe – Mehrheit imaginiert. Politische Korrektheit diene dann aber eher der Festigung des eigenen, moralisch guten Selbstbildes: „politics as the lone, embattled individual ‚witnessing to the truth“ (ebd.). 1 Eine Dynamisierung politischer Korrektheit beobachten wir gegenwärtig auch im Feld der Jugendhilfe. Ihre Begründung finden solche Positionen in der Figur eines verletzlichen (vulnerablen) Subjektes. Halberstam hat diese mit Blick auf die Auseinandersetzungen um so genannte trigger warnings ebenfalls ausgemacht: Ein Instrument, das Schüler_innen oder Studierende vor vermeintlich traumatischen, weil gewaltvollen oder sexuellen (Lehr-)Inhalten schützen soll, da sich diese nega- tiv auf ihr Wohlbefinden, ja (re-)traumatisierend auf sie auswirken könnten. Dass entsprechende political correctness-Initiativen, gerade in universitären Kontexten, häufig von Studierenden ausgehen, erklärt Halberstam (2015) als Ausdruck einer gesteigerten Sensibilität der (vermeintlichen) Verletzlichkeit der Einzelnen sowie einer gleichzeitigen Wahrnehmung anderer Einzelner als potenziell bedrohlich und verletzend.2 Diese Sensibilität äußere sich aber nicht nur in Form moralischer Empörungen, sondern habe inzwischen sogar eine „triggered generation“ (ebd.) hervorgebracht. Analoge Gegenwartsanalysen sprechen von einer gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber den „innersten Idiosynkrasien“ (Žižek 2001, S. 513), oder von einer Verabsolutierung von „Kränkbarkeit“, „Verletzlichkeit“ und „well- being“ (Pfaller 2017, S. 48), die die Individuen auf ihre Befindlichkeiten reduzieren und damit entmündigen, entsubjektivieren und letztlich infantilisieren würden (vgl. ebd., S. 56; vgl. zum Argument der Infantilisierung auch Žižek 2001, S. 460). Empfindsamkeiten werden somit zum Ausgangspunkt politischer Aktivitäten, was im Effekt, so Halberstam (2015), eine „rhetoric of harm and trauma, that casts all social difference in terms of hurt feelings and that divides up politically allied subjects into hierarchies of woundedness“ produziere. Positionen politischer Korrektheit dieser Art erweisen sich somit auch als paternalistisch. Schließlich reduzieren sie die Anderen nicht nur auf ihre Befind- lichkeiten, sondern antizipieren häufig eine potenzielle Verletzlichkeit und Gewalt, ohne dass diejenigen, die es betreffen würde, unbedingt an den Auseinander- setzungen beteiligt wären (vgl. Halberstam 2017). Diese fehlende Bezugnahme verweist jedoch auf eine Spezifik dieses neuen Paternalismus: Er geht nicht von einer (pädagogischen) Autorität im klassischen Sinne (pater) aus, die ein bevor- mundendes Verhältnis zu ihren Zöglingen unterhält. Vielmehr handelt es sich um einen Paternalismus, der im Sinne eines Schutzes (z.B. von Studierenden) selber 243
eingefordert wird, um sich gegenüber den Pädagog_innen (z.B. Hochschullehren- den) vor bestimmten – gewaltvollen oder sexuellen – Lehrinhalten zu schützen. Scheinbar neutrale, aufklärende Warnungen sind es, von denen dann die Bevor- mundung ausgeht, indem die einzelnen darin ungefragt zu schutzbedürftigen und verletzlichen Subjekten gemacht werden. Politiken der Korrektheit tauchen also insbesondere in moralisierender, akade- misierter sowie paternalistischer Form auf. Dies gilt genauso, wenn auch teilweise in alternativer Form, für die von uns in den Blick genommene bundesdeutsche Jugendhilfe. Vor allem aber spielt die Dimension der Form für unsere Analyse an sich eine besondere Rolle – ohne dass einer formanalytischen Perspektive, die Form und Inhalt als voneinander konstitutiv getrennte Dimensionen verstehen würde, das Wort geredet werden soll. Aus den genannten zeitdiagnostischen und gegenwartsanalytischen Aspekten lässt sich nun eine analytische Folie zusammensetzen, die sich auf konkrete ge- sellschaftliche Entwicklungen legen lässt. Dementsprechend nutzen wir sie, um unseren Blick auf zwei Beispiele aus der bundesdeutschen Jugendhilfe zu werfen. Politische Korrektheit in (sozial)pädagogischen Programmen Wendet man sich den beiden Beispielen zu, der Etablierung einer verallgemei- nerten Gewaltprävention als Kinderschutz und der Schulung sozialpädagogischer Fachkräfte in Diversitätssensibilität, könnte deren Parallelisierung zunächst überraschen. Schließlich findet die verallgemeinerte Gewaltprävention als Kinder- schutz vor allem in Form einer veränderten Institutionalisierung ihren Ausdruck: Symbolisiert in der Standardisierung von Verdachtsmeldungen wird Kinderschutz, gerade im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), verstärkt zur verallgemeinerten, institutionalisierten Gefahrenabwehr. Demgegenüber zielen Programme zur di- versity-Sensibilisierung auf einzelne Fachkräfte, deren (individuelle) Haltung im pädagogischen Alltagsgeschäft beeinflusst werden soll: Die professionellen Fachkräfte sollen ihre Vorurteile und normativen Zuschreibungen gegenüber den (vielfältigen) Adressat_innen reflektieren, um Diskriminierung im Alltag zu ver- meiden. Nichtsdestotrotz stehen in beiden Fällen „Programme“ im Zentrum, d.h. „bestimmte Formen gesellschaftlicher Problematisierung“ (Kessl/Krasmann 2018; i.E.). Beiden Programmen, dem Kinderschutz wie der Diversitätssensibilisierung, ist darüber hinaus ein analoger Fokus gemeinsam: Erstens zielen sie, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise, auf die Veränderung des konkreten Handlungs- vollzugs sozialpädagogischer Fachkräfte. Die in der Logik des Kinderschutzes tätigen Fachkräfte (kinderschutzkompetente Pädagog_innen) stellen ebenso den Ansatzpunkt für ein verändertes fachliches Tun dar, wie die diversitätssensiblen 244
Fachkräfte, die am Ende einer Schulung stehen sollen (diversitätskompetente Pädagog_innen); zweitens ist in beiden Fällen dasselbe Ziel ausgeflaggt: Es geht um den Schutz der Adressat_innen. Ankerpunkt ist in beiden Fällen der/die (potenzielle) Adressat_in sozialpädagogischer Angebote als verletzliches Subjekt. Dieser gemeinsame Ankerpunkt wird im Folgenden zum Anlass genommen, die damit verbundene veränderte Ausgestaltung des pädagogischen Verhältnisses in diesen pädagogisch-programmatischen Ausrichtungen sichtbar zu machen. Dies geschieht von zwei Seiten: Während sich Korrektheit in der verallgemeinerten Gewaltprävention folglich eher „von oben“ in Form von flächendecken eingeführ- ten institutionalisierten Steuerungsphänomenen wie der Standardisierung von Verdachtsmeldungen manifestiert, ist sie in Bezug auf die Diversitätssensibilität eher „von unten“, d.h. dezentral und abhängig von der Initiative der jeweiligen Fachkräfte vor Ort und in deren Selbstregulierungsweisen lokalisiert. Etablierung einer verallgemeinerten Gewaltprävention als Kinderschutz Kinderschutz als verallgemeinerte Gewaltprävention ist ein Thema, das so alt ist, wie die öffentliche Jugendhilfe selbst. Ähnlich wie in dem berühmt gewordenen New Yorker Fall der fünfjährigen Mary Ellen, die Gewalt durch ihre Pflegeeltern ertragen musste (Eckhardt 1998, zit. nach Brandhorst 2015, S. 29), erfährt der Kinderschutz in den vergangenen Jahren anhand einzelner Fälle von Kindeswohl- gefährdung oder gar Kindstoden über deren öffentliche Thematisierung jedoch eine deutliche Dynamisierung. Konsequenz ist nicht zuletzt eine, teilweise grund- legende Umsteuerung der Kinderschutzarbeit im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) der kommunalen Jugendämter. Diese Re-Programmierung der öffentlichen Jugendhilfe als verallgemeinerte Gewaltprävention soll im weiteren Text nun als Movens politischer Korrektheit im (sozial)pädagogischen Handlungsfeld der Ju- gendhilfe in den Fokus gerückt werden. Kinder und Jugendliche weisen alters- und entwicklungsspezifische Sorgebedarfe auf. Diese kulturelle und politische Übereinkunft ist das Ergebnis der Kindheitskon- zepte, die die Moderne prägen (Ariès 1975). Die Notwendigkeit einer Gewährleistung von Kinderschutz ist die logische Folge einer solchen Überzeugung in die spezifische Sorgebedürftigkeit der nachwachsenden Generation: Die Kindheit stellt eine vulnera- ble (verletzliche) Lebensphase dar (vgl. Andresen/Koch/König 2015). Gegenüber der Erwachsenenphase bringt sie daher, so die Annahme, einen größeren Bedarf an Schutz mit sich. Kinderschutzprogramme werden deshalb, gerade auch in jüngerer Zeit, mit explizitem Verweis auf die konstitutive Vulnerabilität oder Verletzlichkeit von Kin- dern begründet (Ziegenhain et al. 2014). Ein solcher Begründungszusammenhang hat für unsere Frage nach politischer Korrektheit mindestens zwei Konsequenzen: (1.) Die 245
Annahme einer konstitutiven Vulnerabilität von Kindern schreibt diesen potenziell eine Position der Schwäche zu. (2.) Vulnerabilität unterstellt eine potenzielle Einheit- lichkeit aller Kinder, was wiederum eine Verallgemeinerung der Gewaltprävention mit sich bringt, da alle Kinder per se als potenzielle Opfer (Homogenisierung) und daraus eine gleichförmige Form des Opferschutzes (Standardisierung) abgeleitet wird. Konsequenz ist hier die Etablierung eines Generalverdachts gegen potenziell alle für das Aufwachsen verantwortlichen Personen. Der Hinweis auf die Verletzlichkeit des Menschen kann in einer politischen Ethik (vgl. Butler 2005), und damit verbunden in sorgetheoretischen Perspektiven, überzeugend auf die Verwiesenheit des Menschen auf andere Menschen aufmerksam machen. In ihrer Version als Begründungsfigur, z.B. von Kinderschutzprogrammen, erfährt das Konzept der Vulnerabilität allerdings eine deutliche Schlagseite. Die hier vorgenommene Unterscheidung in konstitutive Positionen der Stärke und der Schwäche (z.B. Erwachsene gegenüber Kindern) macht gerade die politisch-ethische und sorgetheoretische Pointe übersehen, dass das Mensch-Sein aufgrund seiner Ver- letzlichkeit in das „Leben anderer einbezogen (ist)“ (Butler, S. 45), und somit auf eine potenzielle „Gemeinsamkeit“ (ebd., S. 54) verweist. Denn geht man davon aus, dass Kinder sich per se in einer Position der Schwäche befinden, folgert daraus logisch, dass sich die für ihr Aufwachsen verantwortlichen Positionen ebenso grundlegend in einer Position der Stärke befinden. Sie verfügen in dieser Logik per se über die Entscheidungshoheit in sozialen Interaktionen und Konstellationen mit Kindern, stellen aber auch die Adressat_innen jeder Form der politischen und kulturellen An- rufung dar, was die Umsetzung von Kinderschutzzielen angeht. (Menschen-)Rechts- theoretisch lässt sich dagegen einwenden: Kinder geraten in solchen verkürzten Vulnerabilitätskonzepten nur als zu berücksichtigende, nicht als anzuerkennende Akteur_innen in den Blick (vgl. Kessl 2017; grundlegend Menke 2013; 2015). Kinderschutzbezogene Vulnerabilitätskonzepte befördern außerdem eine Homogenisierung der Gruppe der Kinder (‚Kind-Sein heißt verletzlich sein‘). Eine solche identitätspolitische Grundierung des Vulnerabilitätsverständnisses widerspricht aber ebenfalls dessen politisch-ethischer Konzeption: Diese geht zwar von einer potenziellen „Gemeinsamkeit“ (Butler 2015, S. 54) aller Menschen aufgrund ihrer konstitutiven Verletzlichkeit aus. Doch diese Möglichkeit der Ge- meinsamkeit darf nicht mit einer gegebenen Homogenität verwechselt werden. Ganz im Gegenteil: Die potenzielle Gemeinsamkeit der Menschen muss erst politisch erkämpft und durchgesetzt werden, und kann nicht als Ausgangspunkt angenommen werden, wie dies identitätspolitische Perspektiven mit ihrer Betonung der konstitutiven Gruppenzugehörigkeit (Kinder als vulnerable Akteure) unter- stellen. Diese Homogenitätsunterstellung verwischt aber auch die politisch-ethi- sche Pointe, dass Vulnerabilität als Verweis auf die Verwiesenheit des Menschen auf andere Menschen gerade deren Unterschiedlichkeit, also die Fremdheit des 246
Anderen (alter) im Vergleich zum Ich (ego), in den Blick rückt (Butler 2015, S. 63). Mit der Homogenitätsfigur wird innerhalb der Kinderschutzdebatten also eine weitere konzeptionelle Engführung produziert, da diese Einheitlichkeitsbehaup- tung, mindestens latent, übersehen macht, dass Kinder – erstens – erst in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit in Bezug auf Erwachsene wie auf andere Kinder als verletzlich zu bestimmen sind, nicht aus ihrer Zugehörigkeit zu einer vermeintlich einheitlichen Gruppe der Kinder heraus. Die Unterschiedlichkeit der Menschen ergibt sich eben nicht aus einer gruppenförmigen Homogenität unterschiedlich verletzlicher Gruppen, sondern aus der konstitutiven Differenz zwischen allen Menschen (Fremdheit zum Anderen). Zweitens ist diese Fremdheit zum Anderen als jeweils spezifische Konstellation der Verletzlichkeit von einzelnen Kindern zu berücksichtigen. Dies formt sich nicht zuletzt in der Tatsache der sehr unterschied- lichen Beeinflussung des jeweiligen kindlichen Alltags durch sozial-strukturelle und soziokulturelle Bedingungen (soziale Milieus) aus. Vergewissert man sich der aufgezeigten Engführungen des Vulnerabilitätskon- zeptes im Rahmen der Kinderschutzdebatten wird die Dynamik, die politische Korrektheitsfiguren hier erzeugen, weiter greifbar: Auch wenn im Unterschied zu den Studierendeninitiativen, die am Campus von Universitäten ihren eigenen Schutz gegenüber potenziellen triggern in Lehrmaterialien einfordern, Kinder nicht selbst die Akteur darstellen, die ihren Schutz einfordern, lässt sich doch eine hohe Ana- logie ausmachen. Auch im Kinderschutz wird eine generell gefährdete Generation (triggered generation) identifiziert, wenn nun auch von außen, die als Argument für die Vorrangigkeit des (Kinder-)Schutzes herangezogen wird. Der Kinderschutz dominiert gegenüber einer subjektbezogenen Gestaltung pädagogischer Orte und somit auch gegenüber einer Eröffnung von ergebnisoffenen (Selbst-)Bildungs- und subjektiven Entwicklungsmöglichkeiten. Die Neujustierung, insbesondere der öffentlichen Jugendhilfe, die z. B. in digital basierten Systemen der Bearbeitung von Verdachtsmeldungen einer Kindeswohlgefährdung ihren Ausdruck findet, befördert so durchaus auch einen neuen Paternalismus: Kinder werden in ihrer Position als potenzielle Opfer betrachtet, da sie einer Kindeswohlgefährdung ausgesetzt sein könn(t)en. Die verallgemeinerte Gewaltprävention entpuppt sich als Modell des „präventiven Opferschutzes“ (Kessl 2013, S. 113; grundlegend Krasmann 2003). Ein solcher Kinderschutz als „Gefahrenabwehrkonzept“ (Biesel 2011, S. 18) gerät aber nicht nur allzu leicht in die Gefahr, das fachliche Tun nur mehr unter sicher- heits- und damit verbundenen präventionspolitischen Perspektiven zu denken und zu betreiben denn unter (sozial)pädagogischen. Die Konsequenz der Beurteilung von Einzelfällen unter der standardisierten Gefährdungsbrille ist zudem eine tendenzielle Entmündigung und Entsubjektivierung der Kinder und ihrer Eltern. Die Durchsetzungskraft gewinnt der vorherrschende Kinderschutz in seiner Form als präventiver Opferschutz aus seiner, scheinbar offensichtlichen, moralischen 247
Überzeugungskraft: Welches Argument sollte es gegen einen Schutz von Kindern geben? War dies nicht, die Grundintention der Etablierung einer öffentlichen Ver- antwortung für das Aufwachsen von Kindern seit dem 19. Jahrhundert? Ja, mehr noch: Nehmen die vorherrschenden Kinderschutzkonzepte am Beginn des 21. Jahr- hunderts nicht die Forderungen der sozialen Bewegungen (v. a. Frauenbewegung und Heimkampagne/Heimrevolte) aus den 1960er und 70er Jahren auf? Das Dilemma einer solchen politischen Korrektheit, die Kinderschutzpositionen einnehmen, ist, dass sie pädagogische Bestrebungen befördern, die kindlichen Entwicklungsprozessen ihre Risikohaftigkeit nehmen wollen. Bildungsprozesse lassen sich aber nicht derart risiko-kalkulativ (vgl. Kessl/Richter 2006) regulieren. Sie erfordern statt einer verallgemeinerten Gewaltprävention die „Ermöglichung und Eröffnung von Bildungsräumen zur Ausbildung von Erfahrungsfähigkeit im wechselseitigen Austausch“ (ebd., S. 319) – eine pädagogische Aufgabe, die auch menschliche Fehlleistungen auf Seiten der Erwachsenen akzeptieren muss. Dies überhaupt zu denken, ist in gegenwärtig dominierenden Kinderschutzkonzepten bereits nicht mehr zulässig, weil jede potenzielle Fehlleistung schon vorab als mo- ralisch unzulässig gegeißelt ist. Politisch korrekt ist dagegen nur die Forderung nach einer verallgemeinerten Gewaltprävention. Eine Forderung, wie die hier formulierte, nach der Akzeptanz von Fehlleistungen wird demgegenüber sofort als Legitimation von möglichen Gewaltakten gegen Kinder zurückgewiesen. Im bundesdeutschen Kinderschutz greift also ein “progressiver Moralismus“ (Fraser 2017), den sich Kinderschutzbefürworter, in dem geschilderten Sinne auf die Fahnen schreiben können. Das schwierige, und eben risikobeladene Bildungsgeschäft, das mit seiner Aktivität der Bereitstellung von Bildungsräumen, und damit der Gestaltung von pädagogischen Orten, der Subjektivität des Einzelnen (Kindes) Raum geben möchte, wird ersetzt durch eine (digital) administrierte Gefahrenabwehr, gerade im ASD. Diese macht es auch nicht mehr notwendig, die individuellen Lebenslagen von Kin- dern und ihrer Familien in die professionelle Alltagsgestaltung mit einzubeziehen. Durchsetzen kann sich eine solche politische Korrektheitsdynamik im Bereich des Kinderschutzes nicht zuletzt, weil sie auch frühere oppositionelle Positionen aus den sozialen Bewegungen, zumindest semantisch, eingemeindet: War doch die justizielle Etablierung einer ‘präventiven Jugendhilfe‘ im SGB VIII (KJHG) auch ein Ergebnis des langen Kampfes von sozialen Bewegungen, die autoritäre (und gewaltförmige) Jugendhilfe der 1950er und 60er Jahre zu überwinden. Etablierung von Diversitätssensibilität Eine noch direktere Affinität zu bewegungspolitischen Kontexten weisen die Debatten um diversity auf. Sie lassen sich zunächst in einem ähnlichen Kontext 248
verorten, wie Hall dies für political correctness beschrieb: Im Zuge des cultural turns und der Pluralisierung und Fragmentierung verschiedenster politischer An- liegen taucht diversity als politisch-programmatisches Schlagwort auf, das politisch verschiedene Gruppenanliegen, theoretisch verschiedene ‚Differenzen‘ unter der allgemeinen Prämisse der Anerkennung vielfältiger Identitäten wieder zusam- menführen will. Auch in der Fachdebatte der Sozialen Arbeit werden verschie- dene „Differenzlinien“ (vgl. Leiprecht 2011a) bzw. Macht, Differenz und Identität thematisch (vgl. dazu Mecheril 2008; Mecheril und Plößer 2011; Leiprecht 2011a; Eggers 2013). Normativ geht es um die Frage, wie die Adressat_innen vor einem diskriminierenden und machtvollen Zugriff seitens der Sozialen Arbeit geschützt werden können, sodass damit ein gerechterer (Heite 2008, S. 77; Leiprecht 2011b, S. 7; Plößer 2013, S. 257 f.), weniger diskriminierender (Leiprecht 2011a, S. 40) oder auch weniger machtvoller (Mecheril 2008) Bezug auf diese ermöglicht wird. Auch wenn bisher kaum bekannt ist, in welchem Ausmaß diversity Eingang in die Kinder- und Jugendhilfe gefunden hat, lässt der rasch gewachsene Markt an Fort- bildungsangeboten (Mecheril 2007) auf eine zunehmende Relevanz von diversity im Sinne einer Kompetenzanforderung an Professionelle schließen. Es lässt sich nun fragen, inwiefern sich in der diversitätssensiblen Praxis auch Korrektheitsdynamiken manifestieren. Diese Frage wird im Folgenden im Hinblick auf die diversity-sensiblen Professionellen erörtert. Grundlage für die folgende Ar- gumentation bilden Interviews3, die mit Fachkräften aus verschiedenen Bereichen Sozialer Arbeit geführt wurden, die sich selber als „diversity-geschult“ bezeichnen bzw. auch bereits darin fortgebildet sind, also an Trainings teilgenommen haben. Korrektheit zeigt sich in den Interviews zunächst ebenfalls in einer moralisie- renden Form: Mittels des Aufstellens und Befolgens von Regeln wird die eigene Identität als korrekt, d.h. als moralisch gute Identität gefestigt, während andere in ihrem Verhalten zugleich als moralisch unkorrekt abgewertet werden. Themen in den Interviews sind hierbei etwa die Zuschreibung von Heteronormativität, die Setzung der bürgerlichen Kleinfamilie als Normalfall, oder auch die einer christlich-deutschen Normalität. So sollten etwa bestimmte Fragen gegenüber den Adressat_innen vermieden werden, die Normalvorstellungen beinhalten würden, die die Lebensrealität der Adressat_innen verfehle, sie aber auch einschränken oder verletzen könnten. Sven R., eine Fachkraft aus dem betreuten Wohnen, stellt zum Beispiel die Regel auf, man dürfe einen männlichen Jugendlichen nicht fragen, ob er eine Freundin habe, da dieser ja auch schwul oder asexuell sein könne, und er sich vielleicht nicht traue, sich zu outen. Er empört sich dementsprechend über eine Mitarbeiterin vom Jugendamt, die dies einen Jugendlichen gefragt habe und problematisiert, dass die Jugendämter bezüglich diversity oder queer hier „nicht auf dem neusten Stand“ (Interview 8, Z. 255) seien. Dementgegen versichert er selber, dass „wir halt alles offen lassen“ (Interview 8, Z. 253–267). Ohne die Relevanz 249
solcher Auseinandersetzungen mit Normalitätsannahmen zu bestreiten, lässt sich hier erkennen, wie mit der Formulierung solcher fachpolitischen Anliegen zugleich eine moralisierende Abwertung gegenüber anderen Professionellen einhergeht, wenn diese etwa als uninformiert und anachronistisch beschrieben werden („nicht auf dem neusten Stand“). Es wäre jedoch verkürzt, das Korrektheitsmoment nun in einem Set klarer und festgefügter Verhaltensregeln, was man sagen, fragen, tun darf, und einer entsprechenden Moralisierung der anderen Professionellen zu verorten. Statt einer Aufstellung klarer Sprachregeln, die angewendet und durchgesetzt wer- den, zeichnet sich der diversitätssensible Blick vielmehr durch die Einsicht aus, dass im Alltag permanent Diskriminierung und Ausgrenzung geschieht und sich auch die eigenen (diskriminierenden) Vorannahmen nicht endgültig unter Kontrolle bringen lassen.4 Daher bemühen sich die Professionellen weniger um feste Verhaltensregeln, sondern eher darum, das eigene Selbst permanent auf diskriminierende Zuschreibungen hin zu befragen. So äußert sich Melek D., eine sozialpädagogische Familienhelferin, mit den Worten: „[…] obwohl ich an zwei Trainings teilgenommen habe; der Arbeit; dennoch tapp ich selber in diese (.) Zuschreibungen; und auch Stereotypen; dass auch da ist die Gefahr immer noch“ (Interview 5, Z. 329–331). Nicht nur von den Anderen, sondern auch vom eigenen Selbst scheint potenziell immer eine Gefahr auszugehen. Professionelle nehmen sich dann weniger als Hel- fende gegenüber ihren Adressat_innen wahr, sondern vornehmlich als diejenigen, die die vielfältigen Jugendlichen im Alltag permanent gefährden und ausgrenzen. Dies hat eine ständige (Selbst-)Korrektur zur Folge: „sich eben auch selber auch infrage stellen“ (Interview 7, Z. 524) bzw. sich zu reflektieren: „ich finde wir soll- ten uns alle, (.) immer wieder reflektieren“ (Interview 1, Z. 935). Eine permanente Selbstbefragung ist daher das zentrale subjektivierende Moment, in welcher nun eine Adressierung der Kinder und Jugendlichen ohne gesellschaftlich-normative Anrufungen („alles offen lassen“), zum Ideal wird. Darüber wacht ein strenges Über-Ich. Die Korrektheitsanforderung liegt also weniger in der Verwendung einer korrekten Sprache, sondern in der Bereitschaft zu einer permanenten Infrage- stellung der eigenen Setzungen. Damit verbunden ist eine moralische Bewertung der eigenen und der Kategorisierungen von Kolleg_innen: Nimm jemand nicht eine ständige Selbstkorrektur vor, wird dies als überholt oder als „null reflektiert“ (Interview 2, Z. 696) abgewertet. Zeitdiagnostische Subjektdiagnosen, die an dieser Stelle nur angedeutet werden können, können über die Logik dieser politischen Korrektheitsdynamik aufklären. Im Anschluss an Žižek und Soiland lässt sich die permanente Selbst- befragung als charakteristisch für postödipale Subjektivitäten interpretieren, die sich, psychoanalytisch gesprochen, im Zuge des Untergangs der klassischen 250
väterlichen Autorität gebildet haben (Žižek 2001, S. 443, 500; Soiland 2014, S. 110–121). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass jeglicher Herrensignifikant, der der vielfältigen Welt ein ordnendes Prinzip auferlegen könnte, abgelehnt wird (Žižek 2009, S. 91f): „Heute fehlt gerade dieser allgemein anerkannte Bezugs- punkt, sodass wir in einen Prozess der radikal offenen und endlosen symbolischen (Neu-)Verhandlung und (Neu-)Erdichtung gestoßen sind, der sich nicht einmal auf den Anschein eines zugrunde liegenden Sets von vorausgesetzten Normen berufen kann“ (Žižek 2001, S. 459). Ohne damit einer Rückkehr zu patriarchalen Herren oder einer heteronorma- tiven Ordnung das Wort zu reden, lässt sich mit solchen Gegenwartsdiagnosen problematisieren, dass gegenwärtige Selbstverhältnisse, die über eine (normative) Offenheit strukturiert sind, keineswegs in einen herrschaftsfreien Zustand geführt haben, sondern genau diese Offenheit zur neuen zentralen ideologischen Anrufung geworden ist. Zu fragen wäre daher, inwiefern mit der permanenten Selbstkorrektur die Phantasie eines unbeschädigten, selbstidentischen vielfältigen Subjekts jenseits von jeglichen gesellschaftlichen Anrufungen steckt, und das Ausleben der eigenen Identität in spätkapitalistischen Gesellschaften längst zum Imperativ geworden ist (vgl. Soiland 2014, S. 110–114). Psychoanalytische Zeitdiagnosen sehen darin den Aufstieg eines Imperativs des Genießens, der nun im Sinne einer „sozialen Pflicht“ (Soiland 2014, S. 111) zur ordnenden Über-Ich-Instanz wird (ebd., vgl. McGowan 2004). Angesichts dessen stellt sich die Frage nach der damit verbundenen Ausgestal- tung des (korrekten) pädagogischen Verhältnisses. Hierzu ein weiterer Intervie- wausschnitt: Hanna R., eine Fachkraft aus dem betreuten Wohnen, empört sich an einer Stelle darüber, dass ihre Kolleg_innen mit den muslimischen Jugendlichen immer nur Weihnachten feiern würden. Stattdessen sollten die Jugendlichen viel- mehr so angenommen werden, „wie sie sind“ (Interview 2, Z. 862): Hanna R..: […] also wenn sie jetzt Muslima sind, dann nehm ich sie bitte als Muslima an. So [...] frage sie nicht unbedingt wie hast du Weihnachten gefeiert; mag ja sein dass sie vielleicht irgendwie sich mit irgendjemandem getroffen hat, oder so aber (.) grundsätzlich Weihnachten ist bei den meisten Jugendlichen jedenfalls bei uns, (.) ähm kein Thema. So wir feiern dann Weihnachten; prima; habt ihr mal @gefragt ob die jugendlichen Weihnachten@ feiern wollen? Die wollen dann schon, klar die wollen dann auf den Weihnachtsmarkt und die wollen auch Geschenke, und so (.) äh wollen sie dann schon haben, aber die feiern in den wenigsten Fällen mit ihren Familien Weihnachten (Interview 2, Z. 865–874). Auch hier wird wieder deutlich, dass die Berücksichtigung von diversity mit einer moralischen Adressierung der anderen Professionellen einhergeht. Die an sich wichtige Einsicht, dass eine christliche Normalität nicht für alle gilt, wird dabei in die Forderung übersetzt, die Jugendlichen so anzunehmen, „wie sie 251
sind“. Interessant ist an der zitierten Argumentation nun, dass die Position der muslimischen Jugendlichen kaum eine Rolle spielt: Entgegen der Behauptung, Weihnachten sei für die meisten kein Thema, wollen die Jugendlichen offenbar Weihnachten feiern. Sie wollen auf den Weihnachtsmarkt und sie wollen auch Geschenke, wie die Fachkraft bemerkt. Diese Wünsche der Jugendlichen werden jedoch in paradoxer Weise gerade in ihrem Namen übergangen. Der Wunsch der Fachkraft, Zuschreibungen zu vermeiden und etwas anderes als Weihnachten zu feiern, scheint hier von der Frage, ob sich die Jugendlichen verletzt fühlen, und wenn ja, wodurch, eher abgelöst zu sein. Zudem wird den Jugendlichen eine Ich-Konformität jenseits der normativen Zuschreibungen der Fachkräfte unter- stellt: Indem die (muslimischen) Jugendlichen so angenommen werden sollen, „wie sie sind“, wird bestritten, dass auch sie ein gespaltenes Verhältnis zu sich selber, zur eigenen Herkunft, zu bestimmten Zuschreibungen usw. einnehmen könn(t)en. Somit ist es gerade eine Korrektheitsphantasie, die an der Stelle dazu führt, dass die Jugendlichen weniger als Subjekte in Erscheinung treten können und ihre Artikulation Raum bekommt – wobei ‚Subjekt‘ an dieser Stelle weniger eine autonome oder gar voluntaristische Handlungseinheit beschreibt, sondern, im Anschluss an Lacanianisch- feministische Perspektiven, die Frage nach dem Begehren berührt, und damit nur ausgehend von einer grundsätzlichen Alteritäts- und Verwiesenheitsstruktur zu denken ist (vgl. dazu Soiland 2010; Soiland 2014, S. 105–109; Rendtorff 2014). Das Begehren meint hier etwas ‚im‘ Subjekt, das sich nicht mittels korrekter Formen zufrieden stellen lässt, sondern eher eine be- unruhigende Instanz darstellt, die jegliche Phantasie einer Selbstidentität, auch die plurale, vereitelt. Aus solchen Perspektiven erscheint die Unterstellung einer Ich-Konformität in der Vielfaltsphantasie somit eher als eine phantasmatische Auskleidung der grundsätzlichen Gespaltenheit und Verwiesenheit des Subjekts (Soiland 2014, S. 113). Wenngleich es sich in den Korrektheitsphantasien auch nicht um einen klassi- schen Paternalismus handelt, so sollte sichtbar geworden sein, dass die pädagogi- sche Beziehung in der Vorstellung einer diversitätssensiblen Arbeit doch eine eigentümlich bevormundende Ausgestaltung erhält, die paradoxer Weise im Namen von Differenz ohne den Anderen auskommt. Die Fachkräfte nehmen dabei gerade keine klassische Rolle einer väterlich-paternalistischen Autorität ein: Begründet über die potenzielle Bedrohung und Verletzlichkeit der vielfältigen Identitäten, geht diese bevormundende Geste von Gerechtigkeits- und Gleichheitsbestrebun- gen aus, die eigentlich eine Egalisierung herrschaftsförmiger und abwertender pädagogischer Beziehungen anvisieren. Liest man dies vor dem Hintergrund der Zeitdiagnose eines Genießens-Imperativs, erweist sich die Anrufung der Jugendlichen als daran anschlussfähig: Die bevormundende Geste steckt in der 252
Aufforderung, gerade jenseits von bevormundenden Autoritäten nun vielfältige Identitäten auszuleben und zu verwirklichen. Perspektive: Vulnerabilität als konstitutive Verwiesenheit, nicht als individuelles Moment Das Gemeinsame des Kinderschutzes als verallgemeinerter Gewaltprävention und der Diversitätssensibilisierung ist ihr Fokus auf die Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen und auf Erwachsene als potenziell Gefährliche. Unter Bezug darauf wird das Verhältnis zwischen pädagogischen Fachkräften und Adressat_innen auf eine spezifische Weise neu justiert. Beide Programme können als Versuche gelten, Machtverhältnisse in pädagogischen Beziehungen einzudämmen und Beschädi- gungen zu vermeiden. Im vorliegenden Text haben wir aber gezeigt, dass sie zu- gleich spezifische Formen der politischen Korrektheit in (sozial-)pädagogischen Feldern dynamisieren. Kinderschutz wie Diversitätssensibilisierung befördern eine deutliche Moralisierung, die Einwände gegen ihre verallgemeinerte Form erschwert. Das Problematische daran ist, dass eine solche Moralisierung die pädagogische Arbeit potenziell erschwert, da sie deren konstitutiv risikohafte Dimension durch eine standardisierte Gefahrenabwehr oder mittels einer perma- nenten Selbstkorrektur auszuschließen versucht. Erfolgreich ist diese Moralisie- rungstendenz nicht zuletzt dadurch, dass ihre Protagonist_innen es verstehen, kritische Impulse aus den Neuen Sozialen Bewegungen konzeptionell einzubinden und dabei aber gesellschaftliche Verhältnisse in eine permanente moralische Ver- dachtslogik übersetzen, die das Verhältnis der Fachkräfte untereinander neu an- ordnet. Die Kehrseite der Verheißung einer pädagogischen Beziehung jenseits von Verletzungen ist daher die zunehmende Wahrnehmung der sozialpädagogischen Fachkräfte unter sicherheits- und kontrollpolitischen Aspekten. Außerdem werden im Hinblick auf die Adressat_innen Prozesse der Homogenisierung (Kinderschutz) oder der Unterstellung von Ich-Konformität jenseits gesellschaftlicher Anrufungen (diversity) sichtbar, welche die Kinder und Jugendlichen gerade nicht in ihrer kons- titutiven Bezogenheit und Verwiesenheit verstehen. Als paternalistisch haben sich Korrektheitsdynamiken in Form von Standardisierung und Selbstregulation dabei insofern erwiesen, als die darin enthaltene Antizipation von Verletzlichkeit im Namen des Wohls der Kinder und Jugendlichen zugleich ohne diese auszukommen vermag. Eine Alternative besteht nun nicht darin, auf den Fokus auf Verletzlich- keit zu verzichten, sondern diesen im Sinne von Verwiesenheit und Bezogenheit angemessener zu konzipieren. Deutungsangebote in diese Richtung sehen wir in den aufgezeigten unterschiedlichen sorge- und subjekttheoretischen Perspektiven. 253
Anmerkungen 1 Hall geht es damit um nicht weniger als die Warnung vor einem Rückfall in avantgar- distische Politikkonzeptionen der 1970er Jahre. Dieser können sich deshalb durchset- zen, weil die Linke in den 1980er Jahren deutlich geschwächt worden sei (Hall 1994, S. 174–181). Halls Warnung gilt entsprechend solch einer autoritären Politik, die alte Autoritäten lediglich durch neue ersetzen wolle (ebd., S. 181f.). 2 Abgesehen davon ignoriert es auch wichtige Einsichten aus der Traumaforschung zur Komplexität von retraumatisierenden Triggern und der Schwierigkeit ihrer bewussten Vermeidung. 3 Das Material stammt aus einem laufenden Dissertationsprojekt (Marie Frühauf), in welchem leitfadengestützte, problemzentrierte Interviews mit Fachkräften aus unter- schiedlichen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe geführt wurden, die sich als diversity-geschult verstehen und bereits an unterschiedlichen diversity-Trainings teil- genommen haben. Alle Namen wurden anonymisiert. 4 So etwa Anna S..: „[..,] wir wissen ja allein durch die ganzen Studien, aber auch durch den Alltag in der Praxis; (.) dass es einfach ständig Ausgrenzung gibt, und diese Kin- der und Jugendlichen, oder auch wir Erwachsene, ständig Ausgrenzungserfahrungen machen“ (Interviews 6, Z. 178–181). Literatur Andresen, Sabine/Koch, Claus/König, Julia (Hrsg.) (2015): Vulnerable Kinder. Interdis- ziplinäre Annäherungen. Wiesbaden. Ariès, Philippe (1975): Geschichte der Kindheit. München. [Original: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime. Paris: 1960]. Biesel, Kay (2011): Wenn Jugendämter scheitern: Zum Umgang mit Fehlern im Kinder- schutz. Bielefeld. Brandhorst, Felix (2015): Kinderschutz und Öffentlichkeit. Der „Fall Kevin“ als Sensation und Politikum. Wiesbaden. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main [Origi- nal: Precarious Life. The Politics of Mourning and Violence. London.] Dunant, Sarah (1994): Introduction. What’s in a Word? In: Dunant, Sarah (Ed): The War of Words. The Political Correctness Debate. London, pp. VII-XV. Eggers, Maisha Maureen (2013): Diversity Matters: Thematisierungen von Gleichheit und Dif- ferenz in der rassismuskritischen Bildungs- und Soziale Arbeit. Online unter: queerag.rrz. unihamburg.de /test/Text_Diversity_Matters_Thematisierungen_von_Gleichheit_und_ Differenz_M.Eggers_2013.pdf [Abgerufen am 13.06.2018]. Foucault, Michel (1984/2000): Der Gebrauch der Lüste: Sexualität und Wahrheit, Band 2. Frankfurt am Main (6. Auflage). Fraser, Nancy (2001): Die halbierte Gerechtigkeit. Frankfurt am Main. Fraser, Nancy (2017): Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalis- mus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 62, Heft 2, S. 71–76. Halberstam, Jack (2015): You Are Triggering me! The Neo-Liberal Rhetoric of Harm, Dan- ger and Trauma. Online unter: https://bullybloggers.wordpress.com/2014/07/05/you- are-triggering-me-the-neo-liberal-rhetoric-of-harm-danger-and-trauma/ [Abgerufen am 13.06.2018]. 254
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