Das verletzliche Subjekt als Anker politischer Korrektheit. Eine Problematisierung (sozial)pädagogischer Programme am Beispiel von ...

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Marie Frühauf, Fabian Kessl

    Das verletzliche Subjekt als Anker politischer Korrektheit.
   Eine Problematisierung (sozial)pädagogischer Programme am
    Beispiel von Diversitätssensibilität und Kinderschutz in der
                   bundesdeutschen Jugendhilfe

Zusammenfassung: Political correctness (politische Korrektheit) meint eine Sensi-
bilisierung für andere als die üblichen Wissensquellen. Vorherrschende Ausblen-
dungen und Ausschließungen sollen dadurch wahrnehmbar gemacht werden. Im
vorliegenden Beitrag werden jüngste Dynamisierungstendenzen politischer Kor-
rektheit in den sozialpädagogischen Feldern in den Fokus gerückt. Am Beispiel
der Diskussionen um eine Diversitätssensibilität sozialpädagogischer Fachkräfte
und die Etablierung von Kinderschutz als verallgemeinerter Gewaltprävention lässt
sich die Figur des verletzlichen Selbst als zentrale Begründungsfigur für Positionen
politischer Korrektheit beleuchten. Kinder und Jugendliche werden dabei zu einer
Gruppe vulnerabler Akteur*innen und Erwachsene als deren potenziell gefährliches
Gegenüber konstruiert. Das erschwert allerdings die (sozial-)pädagogische Arbeit,
denn die damit verbundenen pädagogischen Programme einer standardisierten Ge-
fahrenabwehr und einer permanenten Selbstkorrektur werden mit einer grundle-
genden Moralisierung verbunden, die die (selbst-)kritische und problematisierende
Reflexion erschwert, während Gefahrenabwehr und Selbstkorrektur die konstitutiv
risikohafte Dimension des pädagogischen Tuns zu verdrängen suchen.
Abstract: Political correctness aims on a sensitivity for alternative sources of know-
ledge, beyond the common and dominant ones. Processes of excluding and neglec-
ting in the dominant hegemony shall thereby become visible. From the perspective of
political correctness, current developments in the field of child and youth welfare are
focused in the paper – in the cases of diversity education of professionals and of child
protection. The conception of the subject as being vulnerable is from main relevance
in both cases: children and youth are constructed as a group of such vulnerable sub-
jects. This is troubling social work, because the daily work is first of all restructured
as emergency management, in a standardized shape, and affected by a permanent
self-monitoring of the professionals. Besides, those programs are based on a funda-
mental moralisation, justifying emergency management and self-monitoring.
Keywords: Politische Korrektheit, Verletzlichkeit/Vulnerabilität, Verwiesenheit,
Jugendhilfe, Kinderschutz, Diversität

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Politische Korrektheit – eine zeitdiagnostische
                 Grundierung als analytische Betrachtungsfolie

Political correctness (politische Korrektheit) meint eine Sensibilisierung für andere
als die üblichen etablierten und kanonisierten Wissensquellen (vgl. Dunant 1994,
S. VIIIf.). Das damit verfolgte Ziel ist es, vorherrschende Ausblendungen und Aus-
schließungen (wieder) wahrnehmbar zu machen, ja diese möglichst zu vermeiden.
Auf das aufklärende Potenzial einer solchen Sensibilisierung wird im Folgenden
allerdings nicht weiter eingegangen (siehe dazu Abschnitt I. Political Correctness
– Begriffliche Erkundungen in diesem Band). Im weiteren Text stehen vielmehr
jüngste Dynamisierungstendenzen politischer Korrektheit in sozialpädagogischen
Feldern im Zentrum der Betrachtungen, und insofern eine problematisierende (vgl.
Foucault 1984/2000, S. 18) Perspektive politischer Korrektheit.
    Stuart Hall (1994, S. 166) verdeutlicht, dass politische Korrektheitspositionen
einen Ausdruck einer bestimmten Form der Politik darstellen, wie sie sich in jün-
gerer Zeit in post-industriellen und liberal-demokratischen Gesellschaften generell
finden lässt. Für unsere Reflexionen zum Einsatzort und zur Logik politischer
Korrektheitsdebatten in der (Sozial)Pädagogik ist dabei von Interesse, dass Hall
dies zum Anlass für eine zeitdiagnostische Einordnung nimmt. Das Phänomen
der political correctness wird für ihn zu einem Marker für eine Zeit, in der mit
der Schwächung vormaliger sozialer Bewegungen der Arbeiterklasse sowie dem
Aufkommen Neuer Sozialer Bewegungen eine Fragmentierung der politischen
Landschaft in viele verschiedene Gruppen stattgefunden hat. In diesem Kontext
würden insbesondere kulturelle und sprachliche Dimensionen von Macht und
Politik (Fragen der hegemonialen und alternativen Lebensführung oder Fragen
gerechter Schreibweisen) ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die damit
verbundene Schwierigkeit sei allerdings, deren weitgehende Abkopplung von so-
zialen und ökonomischen Aspekten (vgl. etwa Fraser 2001; Žižek 2009, S. 58–63;
Halberstam 2015). Doch nicht nur das, zudem etabliere sich eine moralisierende
Geste. Hall (1994, S. 168) spricht von einer „moralischen Selbstgerechtigkeit“ poli-
tischer Korrektheitspositionen mit einem puritanischen Anstrich. Entsprechende
Sprecher_innenpositionen fänden sich insbesondere in universitären Kontexten,
also im akademischen Raum. Positionen der politischen Korrektheit seien dabei
durch einen starken Nominalismus gekennzeichnet. Damit bezeichnet Hall eine
politische Strategie, die an den Bezeichnungen ansetzt und von der Vorstellung
ausgeht, dass eine alternative (sprachliche) Bezeichnung bereits das bezeichnete
Phänomen zum Verschwinden bringen würde: Die Rede vom „Migrationshinter-
grund“, so ließe sich Halls Analyse für den deutschsprachigen Kontext exemp-
larisch übersetzen, wird als Mittel gegen den vorherrschenden strukturellen und
institutionellen Rassismus präsentiert. Verbunden mit diesem Nominalismus sei

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ein individualistisches Verständnis von Politik, das Phänomene wie Rassismus auf
eine moralische Frage nach dem richtigen Verhalten einzelner Akteur_innen redu-
ziert. Statt auf Mehrheiten und auf eine Identifikation mit bestimmten (politischen)
Positionen zu setzen, gehe es eher um die Vorstellung einer avantgardistischen
Minderheitsposition, die sich als fortschrittlicher als die – rassistische, sexistische
oder homophobe – Mehrheit imaginiert. Politische Korrektheit diene dann aber
eher der Festigung des eigenen, moralisch guten Selbstbildes: „politics as the lone,
embattled individual ‚witnessing to the truth“ (ebd.). 1
    Eine Dynamisierung politischer Korrektheit beobachten wir gegenwärtig auch
im Feld der Jugendhilfe. Ihre Begründung finden solche Positionen in der Figur
eines verletzlichen (vulnerablen) Subjektes. Halberstam hat diese mit Blick auf die
Auseinandersetzungen um so genannte trigger warnings ebenfalls ausgemacht: Ein
Instrument, das Schüler_innen oder Studierende vor vermeintlich traumatischen,
weil gewaltvollen oder sexuellen (Lehr-)Inhalten schützen soll, da sich diese nega-
tiv auf ihr Wohlbefinden, ja (re-)traumatisierend auf sie auswirken könnten. Dass
entsprechende political correctness-Initiativen, gerade in universitären Kontexten,
häufig von Studierenden ausgehen, erklärt Halberstam (2015) als Ausdruck einer
gesteigerten Sensibilität der (vermeintlichen) Verletzlichkeit der Einzelnen sowie
einer gleichzeitigen Wahrnehmung anderer Einzelner als potenziell bedrohlich
und verletzend.2 Diese Sensibilität äußere sich aber nicht nur in Form moralischer
Empörungen, sondern habe inzwischen sogar eine „triggered generation“ (ebd.)
hervorgebracht. Analoge Gegenwartsanalysen sprechen von einer gesteigerten
Aufmerksamkeit gegenüber den „innersten Idiosynkrasien“ (Žižek 2001, S. 513),
oder von einer Verabsolutierung von „Kränkbarkeit“, „Verletzlichkeit“ und „well-
being“ (Pfaller 2017, S. 48), die die Individuen auf ihre Befindlichkeiten reduzieren
und damit entmündigen, entsubjektivieren und letztlich infantilisieren würden
(vgl. ebd., S. 56; vgl. zum Argument der Infantilisierung auch Žižek 2001, S. 460).
Empfindsamkeiten werden somit zum Ausgangspunkt politischer Aktivitäten, was
im Effekt, so Halberstam (2015), eine „rhetoric of harm and trauma, that casts all
social difference in terms of hurt feelings and that divides up politically allied
subjects into hierarchies of woundedness“ produziere.
    Positionen politischer Korrektheit dieser Art erweisen sich somit auch als
paternalistisch. Schließlich reduzieren sie die Anderen nicht nur auf ihre Befind-
lichkeiten, sondern antizipieren häufig eine potenzielle Verletzlichkeit und Gewalt,
ohne dass diejenigen, die es betreffen würde, unbedingt an den Auseinander-
setzungen beteiligt wären (vgl. Halberstam 2017). Diese fehlende Bezugnahme
verweist jedoch auf eine Spezifik dieses neuen Paternalismus: Er geht nicht von
einer (pädagogischen) Autorität im klassischen Sinne (pater) aus, die ein bevor-
mundendes Verhältnis zu ihren Zöglingen unterhält. Vielmehr handelt es sich um
einen Paternalismus, der im Sinne eines Schutzes (z.B. von Studierenden) selber

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eingefordert wird, um sich gegenüber den Pädagog_innen (z.B. Hochschullehren-
den) vor bestimmten – gewaltvollen oder sexuellen – Lehrinhalten zu schützen.
Scheinbar neutrale, aufklärende Warnungen sind es, von denen dann die Bevor-
mundung ausgeht, indem die einzelnen darin ungefragt zu schutzbedürftigen und
verletzlichen Subjekten gemacht werden.
    Politiken der Korrektheit tauchen also insbesondere in moralisierender, akade-
misierter sowie paternalistischer Form auf. Dies gilt genauso, wenn auch teilweise
in alternativer Form, für die von uns in den Blick genommene bundesdeutsche
Jugendhilfe. Vor allem aber spielt die Dimension der Form für unsere Analyse
an sich eine besondere Rolle – ohne dass einer formanalytischen Perspektive, die
Form und Inhalt als voneinander konstitutiv getrennte Dimensionen verstehen
würde, das Wort geredet werden soll.
    Aus den genannten zeitdiagnostischen und gegenwartsanalytischen Aspekten
lässt sich nun eine analytische Folie zusammensetzen, die sich auf konkrete ge-
sellschaftliche Entwicklungen legen lässt. Dementsprechend nutzen wir sie, um
unseren Blick auf zwei Beispiele aus der bundesdeutschen Jugendhilfe zu werfen.

         Politische Korrektheit in (sozial)pädagogischen Programmen

Wendet man sich den beiden Beispielen zu, der Etablierung einer verallgemei-
nerten Gewaltprävention als Kinderschutz und der Schulung sozialpädagogischer
Fachkräfte in Diversitätssensibilität, könnte deren Parallelisierung zunächst
überraschen. Schließlich findet die verallgemeinerte Gewaltprävention als Kinder-
schutz vor allem in Form einer veränderten Institutionalisierung ihren Ausdruck:
Symbolisiert in der Standardisierung von Verdachtsmeldungen wird Kinderschutz,
gerade im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), verstärkt zur verallgemeinerten,
institutionalisierten Gefahrenabwehr. Demgegenüber zielen Programme zur di-
versity-Sensibilisierung auf einzelne Fachkräfte, deren (individuelle) Haltung
im pädagogischen Alltagsgeschäft beeinflusst werden soll: Die professionellen
Fachkräfte sollen ihre Vorurteile und normativen Zuschreibungen gegenüber den
(vielfältigen) Adressat_innen reflektieren, um Diskriminierung im Alltag zu ver-
meiden. Nichtsdestotrotz stehen in beiden Fällen „Programme“ im Zentrum, d.h.
„bestimmte Formen gesellschaftlicher Problematisierung“ (Kessl/Krasmann 2018;
i.E.). Beiden Programmen, dem Kinderschutz wie der Diversitätssensibilisierung,
ist darüber hinaus ein analoger Fokus gemeinsam: Erstens zielen sie, wenn auch in
unterschiedlicher Art und Weise, auf die Veränderung des konkreten Handlungs-
vollzugs sozialpädagogischer Fachkräfte. Die in der Logik des Kinderschutzes
tätigen Fachkräfte (kinderschutzkompetente Pädagog_innen) stellen ebenso den
Ansatzpunkt für ein verändertes fachliches Tun dar, wie die diversitätssensiblen

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Fachkräfte, die am Ende einer Schulung stehen sollen (diversitätskompetente
Pädagog_innen); zweitens ist in beiden Fällen dasselbe Ziel ausgeflaggt: Es geht
um den Schutz der Adressat_innen. Ankerpunkt ist in beiden Fällen der/die
(potenzielle) Adressat_in sozialpädagogischer Angebote als verletzliches Subjekt.
    Dieser gemeinsame Ankerpunkt wird im Folgenden zum Anlass genommen,
die damit verbundene veränderte Ausgestaltung des pädagogischen Verhältnisses
in diesen pädagogisch-programmatischen Ausrichtungen sichtbar zu machen. Dies
geschieht von zwei Seiten: Während sich Korrektheit in der verallgemeinerten
Gewaltprävention folglich eher „von oben“ in Form von flächendecken eingeführ-
ten institutionalisierten Steuerungsphänomenen wie der Standardisierung von
Verdachtsmeldungen manifestiert, ist sie in Bezug auf die Diversitätssensibilität
eher „von unten“, d.h. dezentral und abhängig von der Initiative der jeweiligen
Fachkräfte vor Ort und in deren Selbstregulierungsweisen lokalisiert.

    Etablierung einer verallgemeinerten Gewaltprävention als Kinderschutz

Kinderschutz als verallgemeinerte Gewaltprävention ist ein Thema, das so alt ist,
wie die öffentliche Jugendhilfe selbst. Ähnlich wie in dem berühmt gewordenen
New Yorker Fall der fünfjährigen Mary Ellen, die Gewalt durch ihre Pflegeeltern
ertragen musste (Eckhardt 1998, zit. nach Brandhorst 2015, S. 29), erfährt der
Kinderschutz in den vergangenen Jahren anhand einzelner Fälle von Kindeswohl-
gefährdung oder gar Kindstoden über deren öffentliche Thematisierung jedoch
eine deutliche Dynamisierung. Konsequenz ist nicht zuletzt eine, teilweise grund-
legende Umsteuerung der Kinderschutzarbeit im Allgemeinen Sozialen Dienst
(ASD) der kommunalen Jugendämter. Diese Re-Programmierung der öffentlichen
Jugendhilfe als verallgemeinerte Gewaltprävention soll im weiteren Text nun als
Movens politischer Korrektheit im (sozial)pädagogischen Handlungsfeld der Ju-
gendhilfe in den Fokus gerückt werden.
    Kinder und Jugendliche weisen alters- und entwicklungsspezifische Sorgebedarfe
auf. Diese kulturelle und politische Übereinkunft ist das Ergebnis der Kindheitskon-
zepte, die die Moderne prägen (Ariès 1975). Die Notwendigkeit einer Gewährleistung
von Kinderschutz ist die logische Folge einer solchen Überzeugung in die spezifische
Sorgebedürftigkeit der nachwachsenden Generation: Die Kindheit stellt eine vulnera-
ble (verletzliche) Lebensphase dar (vgl. Andresen/Koch/König 2015). Gegenüber der
Erwachsenenphase bringt sie daher, so die Annahme, einen größeren Bedarf an Schutz
mit sich. Kinderschutzprogramme werden deshalb, gerade auch in jüngerer Zeit, mit
explizitem Verweis auf die konstitutive Vulnerabilität oder Verletzlichkeit von Kin-
dern begründet (Ziegenhain et al. 2014). Ein solcher Begründungszusammenhang hat
für unsere Frage nach politischer Korrektheit mindestens zwei Konsequenzen: (1.) Die

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Annahme einer konstitutiven Vulnerabilität von Kindern schreibt diesen potenziell
eine Position der Schwäche zu. (2.) Vulnerabilität unterstellt eine potenzielle Einheit-
lichkeit aller Kinder, was wiederum eine Verallgemeinerung der Gewaltprävention
mit sich bringt, da alle Kinder per se als potenzielle Opfer (Homogenisierung) und
daraus eine gleichförmige Form des Opferschutzes (Standardisierung) abgeleitet wird.
Konsequenz ist hier die Etablierung eines Generalverdachts gegen potenziell alle für
das Aufwachsen verantwortlichen Personen.
    Der Hinweis auf die Verletzlichkeit des Menschen kann in einer politischen
Ethik (vgl. Butler 2005), und damit verbunden in sorgetheoretischen Perspektiven,
überzeugend auf die Verwiesenheit des Menschen auf andere Menschen aufmerksam
machen. In ihrer Version als Begründungsfigur, z.B. von Kinderschutzprogrammen,
erfährt das Konzept der Vulnerabilität allerdings eine deutliche Schlagseite. Die
hier vorgenommene Unterscheidung in konstitutive Positionen der Stärke und der
Schwäche (z.B. Erwachsene gegenüber Kindern) macht gerade die politisch-ethische
und sorgetheoretische Pointe übersehen, dass das Mensch-Sein aufgrund seiner Ver-
letzlichkeit in das „Leben anderer einbezogen (ist)“ (Butler, S. 45), und somit auf eine
potenzielle „Gemeinsamkeit“ (ebd., S. 54) verweist. Denn geht man davon aus, dass
Kinder sich per se in einer Position der Schwäche befinden, folgert daraus logisch,
dass sich die für ihr Aufwachsen verantwortlichen Positionen ebenso grundlegend
in einer Position der Stärke befinden. Sie verfügen in dieser Logik per se über die
Entscheidungshoheit in sozialen Interaktionen und Konstellationen mit Kindern,
stellen aber auch die Adressat_innen jeder Form der politischen und kulturellen An-
rufung dar, was die Umsetzung von Kinderschutzzielen angeht. (Menschen-)Rechts-
theoretisch lässt sich dagegen einwenden: Kinder geraten in solchen verkürzten
Vulnerabilitätskonzepten nur als zu berücksichtigende, nicht als anzuerkennende
Akteur_innen in den Blick (vgl. Kessl 2017; grundlegend Menke 2013; 2015).
    Kinderschutzbezogene Vulnerabilitätskonzepte befördern außerdem eine
Homogenisierung der Gruppe der Kinder (‚Kind-Sein heißt verletzlich sein‘).
Eine solche identitätspolitische Grundierung des Vulnerabilitätsverständnisses
widerspricht aber ebenfalls dessen politisch-ethischer Konzeption: Diese geht
zwar von einer potenziellen „Gemeinsamkeit“ (Butler 2015, S. 54) aller Menschen
aufgrund ihrer konstitutiven Verletzlichkeit aus. Doch diese Möglichkeit der Ge-
meinsamkeit darf nicht mit einer gegebenen Homogenität verwechselt werden.
Ganz im Gegenteil: Die potenzielle Gemeinsamkeit der Menschen muss erst
politisch erkämpft und durchgesetzt werden, und kann nicht als Ausgangspunkt
angenommen werden, wie dies identitätspolitische Perspektiven mit ihrer Betonung
der konstitutiven Gruppenzugehörigkeit (Kinder als vulnerable Akteure) unter-
stellen. Diese Homogenitätsunterstellung verwischt aber auch die politisch-ethi-
sche Pointe, dass Vulnerabilität als Verweis auf die Verwiesenheit des Menschen
auf andere Menschen gerade deren Unterschiedlichkeit, also die Fremdheit des

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Anderen (alter) im Vergleich zum Ich (ego), in den Blick rückt (Butler 2015, S.
63). Mit der Homogenitätsfigur wird innerhalb der Kinderschutzdebatten also eine
weitere konzeptionelle Engführung produziert, da diese Einheitlichkeitsbehaup-
tung, mindestens latent, übersehen macht, dass Kinder – erstens – erst in ihrer
gegenseitigen Verwiesenheit in Bezug auf Erwachsene wie auf andere Kinder als
verletzlich zu bestimmen sind, nicht aus ihrer Zugehörigkeit zu einer vermeintlich
einheitlichen Gruppe der Kinder heraus. Die Unterschiedlichkeit der Menschen
ergibt sich eben nicht aus einer gruppenförmigen Homogenität unterschiedlich
verletzlicher Gruppen, sondern aus der konstitutiven Differenz zwischen allen
Menschen (Fremdheit zum Anderen). Zweitens ist diese Fremdheit zum Anderen
als jeweils spezifische Konstellation der Verletzlichkeit von einzelnen Kindern zu
berücksichtigen. Dies formt sich nicht zuletzt in der Tatsache der sehr unterschied-
lichen Beeinflussung des jeweiligen kindlichen Alltags durch sozial-strukturelle
und soziokulturelle Bedingungen (soziale Milieus) aus.
    Vergewissert man sich der aufgezeigten Engführungen des Vulnerabilitätskon-
zeptes im Rahmen der Kinderschutzdebatten wird die Dynamik, die politische
Korrektheitsfiguren hier erzeugen, weiter greifbar: Auch wenn im Unterschied zu
den Studierendeninitiativen, die am Campus von Universitäten ihren eigenen Schutz
gegenüber potenziellen triggern in Lehrmaterialien einfordern, Kinder nicht selbst
die Akteur darstellen, die ihren Schutz einfordern, lässt sich doch eine hohe Ana-
logie ausmachen. Auch im Kinderschutz wird eine generell gefährdete Generation
(triggered generation) identifiziert, wenn nun auch von außen, die als Argument
für die Vorrangigkeit des (Kinder-)Schutzes herangezogen wird. Der Kinderschutz
dominiert gegenüber einer subjektbezogenen Gestaltung pädagogischer Orte und
somit auch gegenüber einer Eröffnung von ergebnisoffenen (Selbst-)Bildungs- und
subjektiven Entwicklungsmöglichkeiten. Die Neujustierung, insbesondere der
öffentlichen Jugendhilfe, die z. B. in digital basierten Systemen der Bearbeitung von
Verdachtsmeldungen einer Kindeswohlgefährdung ihren Ausdruck findet, befördert
so durchaus auch einen neuen Paternalismus: Kinder werden in ihrer Position als
potenzielle Opfer betrachtet, da sie einer Kindeswohlgefährdung ausgesetzt sein
könn(t)en. Die verallgemeinerte Gewaltprävention entpuppt sich als Modell des
„präventiven Opferschutzes“ (Kessl 2013, S. 113; grundlegend Krasmann 2003).
Ein solcher Kinderschutz als „Gefahrenabwehrkonzept“ (Biesel 2011, S. 18) gerät
aber nicht nur allzu leicht in die Gefahr, das fachliche Tun nur mehr unter sicher-
heits- und damit verbundenen präventionspolitischen Perspektiven zu denken und
zu betreiben denn unter (sozial)pädagogischen. Die Konsequenz der Beurteilung
von Einzelfällen unter der standardisierten Gefährdungsbrille ist zudem eine
tendenzielle Entmündigung und Entsubjektivierung der Kinder und ihrer Eltern.
    Die Durchsetzungskraft gewinnt der vorherrschende Kinderschutz in seiner
Form als präventiver Opferschutz aus seiner, scheinbar offensichtlichen, moralischen

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Überzeugungskraft: Welches Argument sollte es gegen einen Schutz von Kindern
geben? War dies nicht, die Grundintention der Etablierung einer öffentlichen Ver-
antwortung für das Aufwachsen von Kindern seit dem 19. Jahrhundert? Ja, mehr
noch: Nehmen die vorherrschenden Kinderschutzkonzepte am Beginn des 21. Jahr-
hunderts nicht die Forderungen der sozialen Bewegungen (v. a. Frauenbewegung
und Heimkampagne/Heimrevolte) aus den 1960er und 70er Jahren auf?
    Das Dilemma einer solchen politischen Korrektheit, die Kinderschutzpositionen
einnehmen, ist, dass sie pädagogische Bestrebungen befördern, die kindlichen
Entwicklungsprozessen ihre Risikohaftigkeit nehmen wollen. Bildungsprozesse
lassen sich aber nicht derart risiko-kalkulativ (vgl. Kessl/Richter 2006) regulieren.
Sie erfordern statt einer verallgemeinerten Gewaltprävention die „Ermöglichung
und Eröffnung von Bildungsräumen zur Ausbildung von Erfahrungsfähigkeit im
wechselseitigen Austausch“ (ebd., S. 319) – eine pädagogische Aufgabe, die auch
menschliche Fehlleistungen auf Seiten der Erwachsenen akzeptieren muss. Dies
überhaupt zu denken, ist in gegenwärtig dominierenden Kinderschutzkonzepten
bereits nicht mehr zulässig, weil jede potenzielle Fehlleistung schon vorab als mo-
ralisch unzulässig gegeißelt ist. Politisch korrekt ist dagegen nur die Forderung nach
einer verallgemeinerten Gewaltprävention. Eine Forderung, wie die hier formulierte,
nach der Akzeptanz von Fehlleistungen wird demgegenüber sofort als Legitimation
von möglichen Gewaltakten gegen Kinder zurückgewiesen. Im bundesdeutschen
Kinderschutz greift also ein “progressiver Moralismus“ (Fraser 2017), den sich
Kinderschutzbefürworter, in dem geschilderten Sinne auf die Fahnen schreiben
können. Das schwierige, und eben risikobeladene Bildungsgeschäft, das mit seiner
Aktivität der Bereitstellung von Bildungsräumen, und damit der Gestaltung von
pädagogischen Orten, der Subjektivität des Einzelnen (Kindes) Raum geben möchte,
wird ersetzt durch eine (digital) administrierte Gefahrenabwehr, gerade im ASD.
Diese macht es auch nicht mehr notwendig, die individuellen Lebenslagen von Kin-
dern und ihrer Familien in die professionelle Alltagsgestaltung mit einzubeziehen.
    Durchsetzen kann sich eine solche politische Korrektheitsdynamik im Bereich
des Kinderschutzes nicht zuletzt, weil sie auch frühere oppositionelle Positionen
aus den sozialen Bewegungen, zumindest semantisch, eingemeindet: War doch die
justizielle Etablierung einer ‘präventiven Jugendhilfe‘ im SGB VIII (KJHG) auch
ein Ergebnis des langen Kampfes von sozialen Bewegungen, die autoritäre (und
gewaltförmige) Jugendhilfe der 1950er und 60er Jahre zu überwinden.

                      Etablierung von Diversitätssensibilität

Eine noch direktere Affinität zu bewegungspolitischen Kontexten weisen die
Debatten um diversity auf. Sie lassen sich zunächst in einem ähnlichen Kontext

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verorten, wie Hall dies für political correctness beschrieb: Im Zuge des cultural
turns und der Pluralisierung und Fragmentierung verschiedenster politischer An-
liegen taucht diversity als politisch-programmatisches Schlagwort auf, das politisch
verschiedene Gruppenanliegen, theoretisch verschiedene ‚Differenzen‘ unter der
allgemeinen Prämisse der Anerkennung vielfältiger Identitäten wieder zusam-
menführen will. Auch in der Fachdebatte der Sozialen Arbeit werden verschie-
dene „Differenzlinien“ (vgl. Leiprecht 2011a) bzw. Macht, Differenz und Identität
thematisch (vgl. dazu Mecheril 2008; Mecheril und Plößer 2011; Leiprecht 2011a;
Eggers 2013). Normativ geht es um die Frage, wie die Adressat_innen vor einem
diskriminierenden und machtvollen Zugriff seitens der Sozialen Arbeit geschützt
werden können, sodass damit ein gerechterer (Heite 2008, S. 77; Leiprecht 2011b,
S. 7; Plößer 2013, S. 257 f.), weniger diskriminierender (Leiprecht 2011a, S. 40)
oder auch weniger machtvoller (Mecheril 2008) Bezug auf diese ermöglicht wird.
Auch wenn bisher kaum bekannt ist, in welchem Ausmaß diversity Eingang in die
Kinder- und Jugendhilfe gefunden hat, lässt der rasch gewachsene Markt an Fort-
bildungsangeboten (Mecheril 2007) auf eine zunehmende Relevanz von diversity
im Sinne einer Kompetenzanforderung an Professionelle schließen.
    Es lässt sich nun fragen, inwiefern sich in der diversitätssensiblen Praxis auch
Korrektheitsdynamiken manifestieren. Diese Frage wird im Folgenden im Hinblick
auf die diversity-sensiblen Professionellen erörtert. Grundlage für die folgende Ar-
gumentation bilden Interviews3, die mit Fachkräften aus verschiedenen Bereichen
Sozialer Arbeit geführt wurden, die sich selber als „diversity-geschult“ bezeichnen
bzw. auch bereits darin fortgebildet sind, also an Trainings teilgenommen haben.
    Korrektheit zeigt sich in den Interviews zunächst ebenfalls in einer moralisie-
renden Form: Mittels des Aufstellens und Befolgens von Regeln wird die eigene
Identität als korrekt, d.h. als moralisch gute Identität gefestigt, während andere
in ihrem Verhalten zugleich als moralisch unkorrekt abgewertet werden. Themen
in den Interviews sind hierbei etwa die Zuschreibung von Heteronormativität,
die Setzung der bürgerlichen Kleinfamilie als Normalfall, oder auch die einer
christlich-deutschen Normalität. So sollten etwa bestimmte Fragen gegenüber den
Adressat_innen vermieden werden, die Normalvorstellungen beinhalten würden,
die die Lebensrealität der Adressat_innen verfehle, sie aber auch einschränken oder
verletzen könnten. Sven R., eine Fachkraft aus dem betreuten Wohnen, stellt zum
Beispiel die Regel auf, man dürfe einen männlichen Jugendlichen nicht fragen,
ob er eine Freundin habe, da dieser ja auch schwul oder asexuell sein könne, und
er sich vielleicht nicht traue, sich zu outen. Er empört sich dementsprechend über
eine Mitarbeiterin vom Jugendamt, die dies einen Jugendlichen gefragt habe und
problematisiert, dass die Jugendämter bezüglich diversity oder queer hier „nicht auf
dem neusten Stand“ (Interview 8, Z. 255) seien. Dementgegen versichert er selber,
dass „wir halt alles offen lassen“ (Interview 8, Z. 253–267). Ohne die Relevanz

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solcher Auseinandersetzungen mit Normalitätsannahmen zu bestreiten, lässt sich
hier erkennen, wie mit der Formulierung solcher fachpolitischen Anliegen zugleich
eine moralisierende Abwertung gegenüber anderen Professionellen einhergeht,
wenn diese etwa als uninformiert und anachronistisch beschrieben werden („nicht
auf dem neusten Stand“).
     Es wäre jedoch verkürzt, das Korrektheitsmoment nun in einem Set klarer
und festgefügter Verhaltensregeln, was man sagen, fragen, tun darf, und einer
entsprechenden Moralisierung der anderen Professionellen zu verorten. Statt
einer Aufstellung klarer Sprachregeln, die angewendet und durchgesetzt wer-
den, zeichnet sich der diversitätssensible Blick vielmehr durch die Einsicht aus,
dass im Alltag permanent Diskriminierung und Ausgrenzung geschieht und
sich auch die eigenen (diskriminierenden) Vorannahmen nicht endgültig unter
Kontrolle bringen lassen.4 Daher bemühen sich die Professionellen weniger um
feste Verhaltensregeln, sondern eher darum, das eigene Selbst permanent auf
diskriminierende Zuschreibungen hin zu befragen. So äußert sich Melek D.,
eine sozialpädagogische Familienhelferin, mit den Worten: „[…] obwohl ich an
zwei Trainings teilgenommen habe; der Arbeit; dennoch tapp ich selber in diese
(.) Zuschreibungen; und auch Stereotypen; dass auch da ist die Gefahr immer
noch“ (Interview 5, Z. 329–331).
     Nicht nur von den Anderen, sondern auch vom eigenen Selbst scheint potenziell
immer eine Gefahr auszugehen. Professionelle nehmen sich dann weniger als Hel-
fende gegenüber ihren Adressat_innen wahr, sondern vornehmlich als diejenigen,
die die vielfältigen Jugendlichen im Alltag permanent gefährden und ausgrenzen.
Dies hat eine ständige (Selbst-)Korrektur zur Folge: „sich eben auch selber auch
infrage stellen“ (Interview 7, Z. 524) bzw. sich zu reflektieren: „ich finde wir soll-
ten uns alle, (.) immer wieder reflektieren“ (Interview 1, Z. 935). Eine permanente
Selbstbefragung ist daher das zentrale subjektivierende Moment, in welcher nun
eine Adressierung der Kinder und Jugendlichen ohne gesellschaftlich-normative
Anrufungen („alles offen lassen“), zum Ideal wird. Darüber wacht ein strenges
Über-Ich. Die Korrektheitsanforderung liegt also weniger in der Verwendung einer
korrekten Sprache, sondern in der Bereitschaft zu einer permanenten Infrage-
stellung der eigenen Setzungen. Damit verbunden ist eine moralische Bewertung
der eigenen und der Kategorisierungen von Kolleg_innen: Nimm jemand nicht
eine ständige Selbstkorrektur vor, wird dies als überholt oder als „null reflektiert“
(Interview 2, Z. 696) abgewertet.
     Zeitdiagnostische Subjektdiagnosen, die an dieser Stelle nur angedeutet
werden können, können über die Logik dieser politischen Korrektheitsdynamik
aufklären. Im Anschluss an Žižek und Soiland lässt sich die permanente Selbst-
befragung als charakteristisch für postödipale Subjektivitäten interpretieren,
die sich, psychoanalytisch gesprochen, im Zuge des Untergangs der klassischen

250
väterlichen Autorität gebildet haben (Žižek 2001, S. 443, 500; Soiland 2014, S.
110–121). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass jeglicher Herrensignifikant, der
der vielfältigen Welt ein ordnendes Prinzip auferlegen könnte, abgelehnt wird
(Žižek 2009, S. 91f): „Heute fehlt gerade dieser allgemein anerkannte Bezugs-
punkt, sodass wir in einen Prozess der radikal offenen und endlosen symbolischen
(Neu-)Verhandlung und (Neu-)Erdichtung gestoßen sind, der sich nicht einmal
auf den Anschein eines zugrunde liegenden Sets von vorausgesetzten Normen
berufen kann“ (Žižek 2001, S. 459).
     Ohne damit einer Rückkehr zu patriarchalen Herren oder einer heteronorma-
tiven Ordnung das Wort zu reden, lässt sich mit solchen Gegenwartsdiagnosen
problematisieren, dass gegenwärtige Selbstverhältnisse, die über eine (normative)
Offenheit strukturiert sind, keineswegs in einen herrschaftsfreien Zustand geführt
haben, sondern genau diese Offenheit zur neuen zentralen ideologischen Anrufung
geworden ist. Zu fragen wäre daher, inwiefern mit der permanenten Selbstkorrektur
die Phantasie eines unbeschädigten, selbstidentischen vielfältigen Subjekts jenseits
von jeglichen gesellschaftlichen Anrufungen steckt, und das Ausleben der eigenen
Identität in spätkapitalistischen Gesellschaften längst zum Imperativ geworden
ist (vgl. Soiland 2014, S. 110–114). Psychoanalytische Zeitdiagnosen sehen darin
den Aufstieg eines Imperativs des Genießens, der nun im Sinne einer „sozialen
Pflicht“ (Soiland 2014, S. 111) zur ordnenden Über-Ich-Instanz wird (ebd., vgl.
McGowan 2004).
     Angesichts dessen stellt sich die Frage nach der damit verbundenen Ausgestal-
tung des (korrekten) pädagogischen Verhältnisses. Hierzu ein weiterer Intervie-
wausschnitt: Hanna R., eine Fachkraft aus dem betreuten Wohnen, empört sich an
einer Stelle darüber, dass ihre Kolleg_innen mit den muslimischen Jugendlichen
immer nur Weihnachten feiern würden. Stattdessen sollten die Jugendlichen viel-
mehr so angenommen werden, „wie sie sind“ (Interview 2, Z. 862):

    Hanna R..: […] also wenn sie jetzt Muslima sind, dann nehm ich sie bitte als Muslima
an. So [...] frage sie nicht unbedingt wie hast du Weihnachten gefeiert; mag ja sein dass sie
vielleicht irgendwie sich mit irgendjemandem getroffen hat, oder so aber (.) grundsätzlich
Weihnachten ist bei den meisten Jugendlichen jedenfalls bei uns, (.) ähm kein Thema. So wir
feiern dann Weihnachten; prima; habt ihr mal @gefragt ob die jugendlichen Weihnachten@
feiern wollen? Die wollen dann schon, klar die wollen dann auf den Weihnachtsmarkt und
die wollen auch Geschenke, und so (.) äh wollen sie dann schon haben, aber die feiern in
den wenigsten Fällen mit ihren Familien Weihnachten (Interview 2, Z. 865–874).

Auch hier wird wieder deutlich, dass die Berücksichtigung von diversity mit
einer moralischen Adressierung der anderen Professionellen einhergeht. Die an
sich wichtige Einsicht, dass eine christliche Normalität nicht für alle gilt, wird
dabei in die Forderung übersetzt, die Jugendlichen so anzunehmen, „wie sie

                                                                                        251
sind“. Interessant ist an der zitierten Argumentation nun, dass die Position der
muslimischen Jugendlichen kaum eine Rolle spielt: Entgegen der Behauptung,
Weihnachten sei für die meisten kein Thema, wollen die Jugendlichen offenbar
Weihnachten feiern. Sie wollen auf den Weihnachtsmarkt und sie wollen auch
Geschenke, wie die Fachkraft bemerkt. Diese Wünsche der Jugendlichen werden
jedoch in paradoxer Weise gerade in ihrem Namen übergangen. Der Wunsch der
Fachkraft, Zuschreibungen zu vermeiden und etwas anderes als Weihnachten
zu feiern, scheint hier von der Frage, ob sich die Jugendlichen verletzt fühlen,
und wenn ja, wodurch, eher abgelöst zu sein. Zudem wird den Jugendlichen eine
Ich-Konformität jenseits der normativen Zuschreibungen der Fachkräfte unter-
stellt: Indem die (muslimischen) Jugendlichen so angenommen werden sollen,
„wie sie sind“, wird bestritten, dass auch sie ein gespaltenes Verhältnis zu sich
selber, zur eigenen Herkunft, zu bestimmten Zuschreibungen usw. einnehmen
könn(t)en. Somit ist es gerade eine Korrektheitsphantasie, die an der Stelle dazu
führt, dass die Jugendlichen weniger als Subjekte in Erscheinung treten können
und ihre Artikulation Raum bekommt – wobei ‚Subjekt‘ an dieser Stelle weniger
eine autonome oder gar voluntaristische Handlungseinheit beschreibt, sondern,
im Anschluss an Lacanianisch- feministische Perspektiven, die Frage nach dem
Begehren berührt, und damit nur ausgehend von einer grundsätzlichen Alteritäts-
und Verwiesenheitsstruktur zu denken ist (vgl. dazu Soiland 2010; Soiland 2014,
S. 105–109; Rendtorff 2014). Das Begehren meint hier etwas ‚im‘ Subjekt, das
sich nicht mittels korrekter Formen zufrieden stellen lässt, sondern eher eine be-
unruhigende Instanz darstellt, die jegliche Phantasie einer Selbstidentität, auch
die plurale, vereitelt. Aus solchen Perspektiven erscheint die Unterstellung einer
Ich-Konformität in der Vielfaltsphantasie somit eher als eine phantasmatische
Auskleidung der grundsätzlichen Gespaltenheit und Verwiesenheit des Subjekts
(Soiland 2014, S. 113).
    Wenngleich es sich in den Korrektheitsphantasien auch nicht um einen klassi-
schen Paternalismus handelt, so sollte sichtbar geworden sein, dass die pädagogi-
sche Beziehung in der Vorstellung einer diversitätssensiblen Arbeit doch eine
eigentümlich bevormundende Ausgestaltung erhält, die paradoxer Weise im Namen
von Differenz ohne den Anderen auskommt. Die Fachkräfte nehmen dabei gerade
keine klassische Rolle einer väterlich-paternalistischen Autorität ein: Begründet
über die potenzielle Bedrohung und Verletzlichkeit der vielfältigen Identitäten,
geht diese bevormundende Geste von Gerechtigkeits- und Gleichheitsbestrebun-
gen aus, die eigentlich eine Egalisierung herrschaftsförmiger und abwertender
pädagogischer Beziehungen anvisieren. Liest man dies vor dem Hintergrund
der Zeitdiagnose eines Genießens-Imperativs, erweist sich die Anrufung der
Jugendlichen als daran anschlussfähig: Die bevormundende Geste steckt in der

252
Aufforderung, gerade jenseits von bevormundenden Autoritäten nun vielfältige
Identitäten auszuleben und zu verwirklichen.

                   Perspektive: Vulnerabilität als konstitutive
                  Verwiesenheit, nicht als individuelles Moment

Das Gemeinsame des Kinderschutzes als verallgemeinerter Gewaltprävention und
der Diversitätssensibilisierung ist ihr Fokus auf die Verletzlichkeit von Kindern und
Jugendlichen und auf Erwachsene als potenziell Gefährliche. Unter Bezug darauf
wird das Verhältnis zwischen pädagogischen Fachkräften und Adressat_innen auf
eine spezifische Weise neu justiert. Beide Programme können als Versuche gelten,
Machtverhältnisse in pädagogischen Beziehungen einzudämmen und Beschädi-
gungen zu vermeiden. Im vorliegenden Text haben wir aber gezeigt, dass sie zu-
gleich spezifische Formen der politischen Korrektheit in (sozial-)pädagogischen
Feldern dynamisieren. Kinderschutz wie Diversitätssensibilisierung befördern
eine deutliche Moralisierung, die Einwände gegen ihre verallgemeinerte Form
erschwert. Das Problematische daran ist, dass eine solche Moralisierung die
pädagogische Arbeit potenziell erschwert, da sie deren konstitutiv risikohafte
Dimension durch eine standardisierte Gefahrenabwehr oder mittels einer perma-
nenten Selbstkorrektur auszuschließen versucht. Erfolgreich ist diese Moralisie-
rungstendenz nicht zuletzt dadurch, dass ihre Protagonist_innen es verstehen,
kritische Impulse aus den Neuen Sozialen Bewegungen konzeptionell einzubinden
und dabei aber gesellschaftliche Verhältnisse in eine permanente moralische Ver-
dachtslogik übersetzen, die das Verhältnis der Fachkräfte untereinander neu an-
ordnet. Die Kehrseite der Verheißung einer pädagogischen Beziehung jenseits von
Verletzungen ist daher die zunehmende Wahrnehmung der sozialpädagogischen
Fachkräfte unter sicherheits- und kontrollpolitischen Aspekten. Außerdem werden
im Hinblick auf die Adressat_innen Prozesse der Homogenisierung (Kinderschutz)
oder der Unterstellung von Ich-Konformität jenseits gesellschaftlicher Anrufungen
(diversity) sichtbar, welche die Kinder und Jugendlichen gerade nicht in ihrer kons-
titutiven Bezogenheit und Verwiesenheit verstehen. Als paternalistisch haben sich
Korrektheitsdynamiken in Form von Standardisierung und Selbstregulation dabei
insofern erwiesen, als die darin enthaltene Antizipation von Verletzlichkeit im
Namen des Wohls der Kinder und Jugendlichen zugleich ohne diese auszukommen
vermag. Eine Alternative besteht nun nicht darin, auf den Fokus auf Verletzlich-
keit zu verzichten, sondern diesen im Sinne von Verwiesenheit und Bezogenheit
angemessener zu konzipieren. Deutungsangebote in diese Richtung sehen wir in
den aufgezeigten unterschiedlichen sorge- und subjekttheoretischen Perspektiven.

                                                                                 253
Anmerkungen

1   Hall geht es damit um nicht weniger als die Warnung vor einem Rückfall in avantgar-
    distische Politikkonzeptionen der 1970er Jahre. Dieser können sich deshalb durchset-
    zen, weil die Linke in den 1980er Jahren deutlich geschwächt worden sei (Hall 1994,
    S. 174–181). Halls Warnung gilt entsprechend solch einer autoritären Politik, die alte
    Autoritäten lediglich durch neue ersetzen wolle (ebd., S. 181f.).
2   Abgesehen davon ignoriert es auch wichtige Einsichten aus der Traumaforschung zur
    Komplexität von retraumatisierenden Triggern und der Schwierigkeit ihrer bewussten
    Vermeidung.
3   Das Material stammt aus einem laufenden Dissertationsprojekt (Marie Frühauf), in
    welchem leitfadengestützte, problemzentrierte Interviews mit Fachkräften aus unter-
    schiedlichen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe geführt wurden, die sich als
    diversity-geschult verstehen und bereits an unterschiedlichen diversity-Trainings teil-
    genommen haben. Alle Namen wurden anonymisiert.
4   So etwa Anna S..: „[..,] wir wissen ja allein durch die ganzen Studien, aber auch durch
    den Alltag in der Praxis; (.) dass es einfach ständig Ausgrenzung gibt, und diese Kin-
    der und Jugendlichen, oder auch wir Erwachsene, ständig Ausgrenzungserfahrungen
    machen“ (Interviews 6, Z. 178–181).

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