Delir im Alter 22. Oktober 2021 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Prof.Dr.med.Egemen Savaskan - Psychiatrische Universitätsklinik ...
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Delir im Alter 22. Oktober 2021 Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Prof.Dr.med.Egemen Savaskan
Empfehlungen der SGAP ● Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD) 2014 ● Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie des Delirs im Alter 2017 ● Empfehlungen der Swiss Memory Clinics für die Diagnostik der Demenzerkrankungen 2018 ● Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie der Depression im Alter 2019 ● Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie der Abhängigkeitserkrankungen im Alter 2021 ● Empfehlungen zur Prävention, Diagnostik und Therapie der Psychosen im Alter 2021 ● (Buchkapitel) Zwangsstörungen im Alter 2021
Schweizerische Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner Schweizer Verein für Pflegewissenschaft
Delir Hippokrates von Kos (ca.460-377v.Chr.): „Bei akutem Fieber, Lungenentzündung, Meningitis und akuten Kopfschmerzen beobachte ich, dass die Patienten mit den Händen in der Luft umherfuchteln, auf der Bettdecke Flusen zupfen und Spreu von der Wand pflücken. Alle diese Zeichen sind ungünstig, im Grunde tödlich.“ • Arathäus (1.Jh.v.Chr.): delirare (wahnsinnig sein) • Celsus: „de lira ire“ (aus der Spur geraten) • Galen (2.Jh.n.Chr.): primäres/sekundäres Delir • Frankreich (19.Jh.): alle Störungen der Intelligenz • England (19.Jh.): Störung von Denken/Orientierung • Sutton (1813): Delirium Tremens • Boenhoeffer (1908): Akuter exogener Reaktionstyp/ Durchgangssyndrom/Akutes Psychoorganisches Syndrom Unspezifische Reaktion des Gehirns auf unterschiedliche Noxen: endogene spezifische organische Faktoren oder exogene auslösende Faktoren/Agens (Trauma, Stress, Substanz) • Dilling et al. (1993): ICD-10 • Sass et al. (1996): DSM-IV
Prävalenz vom Delir im Alter ● Bei älteren Menschen, vor allem mit Demenz, sehr häufig mit hoher Mortalität Lipowski 1989, 1992; Davis et al. 2014; Wetterlin 1994 ● Die Prävalenz steigt mit zunehmendem Alter bei über 65-jährigen 1-2% bei über 85-jährigen bis zu 10% ● Bei Personen mit einer Demenz-Erkrankung bis zu 22% sein De Lange et al. 2013 ● Bei 6-14% der Bewohner von Alters- und Pflegeheimen Cacchione et al 2003 ● Am häufigsten ist Delir nach chirurgischen Eingriffen: bis zu 65%, vor allem wenn vorbestehende kognitive Störungen vorhanden sind Rudolph&Marcantonio 2011
Delir-Prävalenz ● 311 Patienten im somatischen Spital Durchschnittliches Alter 69J ● Delir-Prävalenz: 19.6% Bei über 80J: 34.8% ● Demenzhäufigkeit insgesamt: 17.7% ● Demenzhäufigkeit bei deliranten Patienten: 50.9% Ryan et al. 2013
ICD-10: Delir (F05) Nicht durch Alkohol oder psychotrope Substanzen bedingt ● Störung des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit ● Globale Störungen der Kognition, Wahrnehmungsstörungen, Illusionen und meistens optische Halluzinationen ● Psychomotorische Störungen ● Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus ● Affektive Störungen wie Depressionen, Angst oder Furcht, Reizbarkeit, Euphorie, Apathie, Ratlosigkeit ● Akut, im Tagesverlauf wechselnd, Gesamtdauer weniger als 6 Monate
Delir: Subtypen ● Hyperaktives Delir: ca. 22% ● psychomotorische Unruhe (bis zur Erregung) ● erhöhte Irritabilität, ungerichtete Angst Hyperaktives Hyperaktives Delir Delir Hypoaktives Hypoaktives Delir Delir Gemischtes Gemischtes Delir Delir ● Halluzinationen, ausgeprägte vegetative Zeichen z.B. Delirium Tremens Gesteigerte Motorik Reduzierte Motorik Hyperaktive Ruhelosigkeit Verlangsamung und ● Hypoaktives Delir: ca. 26% Umherwandern Passivität Hypoaktive ● scheinbare Bewegungsarmut Agitation Apathie Symptome ● kaum Kontaktaufnahme Aggressivität Ggf.psychotische im Wechsel Stimmungsschwankungen Symptome ● Halluzinationen erst durch Befragen möglich Psychotische Symptome ● kaum vegetative Zeichen Vegetative Entgleisung z.B. bei Medikamentenintoxikation ● Gemischtes Delir: ca. 42% O’Keeffe 1999; Meagher 2009; Stagno 2004 z.B. Delir bei Demenz Sandberg 1999
Klinische Unterscheidungsmerkmale von Delir und Demenz Merkmale Delir Demenz Bewusstsein Getrübt Klar Orientiertheit Schwer gestört (Zeit) Gestört Sprache Inkohärent Wortfindungsstörungen Halluzinationen Optisch, akustisch Häufig keine, oft in späteren Phasen Wahn Häufig Selten Psychomotorik Hypo-/Hyperaktiv Bei Beginn unauffällig Tagesverlauf Fluktuierend Beständig Körperliche Meist vorhanden Meist fehlend Symptome Mod. nach Haupt 2002
Hypoaktives Delir vs Depression Eigenschaften: Hypoaktives Delir: Depression: Aufmerksamkeit Reduziert Unauffällig, wach Kognition Kurzzeitgedächtnis-Störungen, Verlangsamung, Desorientierung, Agnosia, Konzentrationsstörungen Aphasia, Dysnomia Beginn Akut Schleichend Wahrnehmungsstörungen Bei 75%, vor allem optische Selten, nur bei zusätzlichen Halluzinationen psychotischen Symptomen Denkstörungen Paranoide Wahninhalte Hoffnungslosigkeit, Schuld, Wahn nur bei Psychose Affektive Symptome Affektlabil, traurig, gereizt, Immer depressive Stimmung Suizidalität infolge bis Suizidalität Enthemmung Psychomotorik Hypoaktiv, ruhig, verlangsamt Hypoaktiv, verlangsamt Familiengeschichte Meistens nicht vorhanden Oft positiv Varriert nach Breitbart&Alici 2008
Periphere Symptome • Trockene Haut und Schleimhäute • Fieber • Mydriasis • Harnverhalt • Obstipation, Subileus • Tachykardie, Vorhofflimmern • Blutdruckveränderungen
Delir: Risikofaktoren Savaskan&Hasemann 2017
Delir: Risikofaktoren Savaskan&Hasemann 2017
Delir: Risikofaktoren Savaskan&Hasemann 2017
Delir: Risikofaktoren Es empfiehlt sich, folgende Delir-Risikofaktoren bei jedem Spitaleintritt im Patientendossier festzuhalten: Alter, Indikation für die Hospitalisation, eingenommene Medikamente, Infektionen, Anwendung von Fixierungsmassnahmen, leichte und schwere neurokognitive Störungen, Schweregrad der akuten Krankheit, Sehminderungen
Delir: Folgen im Alter Meta-Analyse von 51 Studien: ● Erhöhte Mortalität 38% vs 27% ● Erhöhte Institutionalisierung 33% vs 10% ● Mehr Demenz-Erkrankungen in Folge 62% vs 8% nach 4.1 Jahren Witlox et al 2010
Pathophysiologie ● Hypoxie im ZNS ● Stressreaktionen mit Kortisol-Anstieg und Neuroinflammation ● Überschuss vom Dopamin und Defizit vom Acetylcholin ● Zusätzliche Systeme: Noradrenalin, GABA und Glutamat ● Generalisierte Verlangsamung im EEG ● Ev. Zusammenhang mit Whitematter-Disease O’Hanlon et al 2013; Soiza et al 2008
Delir: Pathophysiologie Neuroinflammation-Hypothese des Delirs: ● Periphere Inflammation stimuliert Hirnparanchymzellen und proinflammatorische Zytokine im ZNS ● Neuroinflammation verstärkt neuronale und synaptische Dysfunktion sowie kognitive und behaviorale Symptome ● Neuroinflammation wird bei der neurodegenerativen Erkrankungen zusätzlich verstärkt Cerejeira et al. 2010
Diagnostik ● Klinisch nach ICD-10: Organische Ätiologie mit Störungen in den Bereichen Bewusstsein, Kognition, Psycho- Motorik, Schlaf-Wach-Rhythmus und Affekt ● Im Vordergrund steht die Diagnostik, die auf Ursachenabklärung zielt ● Assessmentskalen Über 50% der Delirien werden nicht erkannt! Young&Inouye 2007
Diagnostik • Apparative Diagnostik: • Klinische Untersuchung: Bewusstseinsgrad, Aufmerksamkeitsstörung, neurologische Untersuchung • Vitalparameter • Potentielle Infektquellen (pulmonal, abdominal, oral), Meningismus und Haut • Folgende Untersuchungen sind zur Identifikation der Ursache empfohlen: • Hämatogramm, CRP, Kreatinin, Elektrolyte (Natrium, Kalium, Kalzium), Leberparameter , Glucose, Vit.B12 und TSH • Urinstatus • Blutkulturen bei Fieber oder Hypothermie oder klinischem Verdacht auf einen bakteriellen Infekt • O2 Sättigung • Röntgen-Thorax • EKG • Erweiterte apparative Diagnostik: • Bildgebung bei fokal neurologischen Ausfällen, bei Sturz v.a. auch wenn der Patient oral antikoaguliert ist und falls Hirndruckzeichen bestehen • EEG kann bei Verdacht auf einen nicht konvulsiven Status Epilepticus oder bei einem Verdacht auf einen Temporallappen Epilepsie • Lumbalpunktion bei Status febrilis unklarer Ursache, klinischer Verdacht auf eine Meningitis oder Enzephalitis. Savaskan&Hasemann 2017
Assessment ● 61 publizierte Delir-Erfassungsinstrumente ● 56 Übersichtsartikel ● 145 Publikationen zur Validierung ● 28 Skalen im allgemeinmedizinischen Bereich, 2 in der Geriatrie, 7 im Intensivbereich, 4 in der Onkologie, 9 gemischt medizinisch-chirurgisch, 3 in der Palliativmedizin, 2 in der Neurologie/Psychiatrie und 2 Skalen für Betreuer ● Sprachen: hauptsächlich Englisch aber auch französisch, holländisch, japanisch und türkisch ● In der Regel wird grob zwischen Skalen für Kinder und Erwachsene unterschieden Es gibt keine Allround-Skala hinsichtlich des Screenings oder Assessments von Delirien für alle Settings
Assessment: Empfohlene Skalen Savaskan&Hasemann 2017
Prognose ● Verlängerung der Hospitalisationsdauer ● Bleibende Funktionsstörungen ● Kognitive Verschlechterung ● Bei anhaltendem Delir erhöhtes Demenzrisiko ● Höheres Mortalitätsrisiko postdelir ● Finanzielle und soziale Folgekosten ● Belastung der Angehörigen und Betreuer
Delir: Prävention Prävention und Behandlung von kognitiven Störungen und/oder Orientierungsstörungen: • Angemessene Beleuchtung, klare Ausschilderung der Toilette usw., Uhr und Kalender anbringen • Durch wiederholte Fragen Hilfe bei der Reorientierung leisten: Wo befinden Sie sich? Wer ist alles im Zimmer? Wer sind Sie? Welches sind Ihre Beschwerden bzw. warum sind Sie im Spital? • Massnahmen zur kognitiven Stimulation durchführen ohne Überstimulation (mit Fotos von Familienangehörigen o. ä.) • Besuche von Angehörigen und Freunden ermöglichen und befürworten, jedoch Überstimulation vermeiden. Grund: Zu viele Personen im Raum gelten bei Aufmerksamkeitsstörungen als Stressor Prävention und Behandlung von Dehydratation und Obstipation: • Ausreichend Flüssigkeit zuführen, um einer Dehydratation vorzubeugen: Patientin oder Patient regelmässig zum Trinken auffordern (gegebenenfalls Infusion anlegen, s. c. oder i. v.) • Gegebenenfalls und im Falle eines anhaltenden Delirs Flüssigkeitsbilanz erstellen und/oder die Person wägen, insbesondere bei Polymorbidität (z. B. Herzinsuffizienz) • Stuhlausscheidung gut überwachen, um einer Obstipation entgegenwirken zu können, die besonders in der postoperativen Phase auftreten kann (durch die Verabreichung von Opiaten gegen Schmerzen) • Bei Dehydratation sind isoosmolare Abführmittel wie Magrogol besser geeignet als Laxantien, die über Elektrolyt- und Wasserverschiebungen im Darm ihre Wirkung ausbreiten • Gegebenenfalls und/oder wenn klinisch empfohlen Sauerstoffsättigung optimieren. Savaskan&Hasemann 2017
Delir: Prävention Prävention und Behandlung von Infektionen: • Infektion erkennen und entsprechend behandeln • Auf das Einlegen von Kathetern wenn möglich verzichten und intravenöse Infusionen baldmöglichst entfernen • Bei sedierten Patientinnen und Patienten Aspirationspneumonie verhindern Prävention und Behandlung von Immobilität oder eingeschränkter Mobilität: Patientinnen und Patienten dazu ermuntern: • Sich möglichst bald nach der Operation zu bewegen • Spazieren zu gehen (geeignete Hilfsmittel anbieten) • Bewegungsübungen im Bett zu machen Physiotherapeutische oder ergotherapeutische Beratung einholen, um: • Sturzrisiken zu evaluieren • Einsatz von Hilfsmitteln zu prüfen • Gleichgewichtssinn zu fördern Prävention und Behandlung von Schmerzen: • Schmerzen kontinuierlich evaluieren (Selbsteinschätzung) • Bei Personen, die nicht verbal kommunizieren können, regelmässig auf nonverbale Schmerzäusserungen achten (Fremdeinschätzung) • Schmerztherapie durchführen und laufend evaluieren • Vorsicht ist bei deliranten Patientinnen und Patienten in dissoziativem Zustand geboten, bei denen Schmerzen mitunter schwer einzuschätzen sind (Selbst- und Fremdeinschätzung) Die verschiedenen verabreichten Medikamente im Patientendossier vermerken (Name des Präparats und Dosis) • Adhärenz in Bezug auf die Medikamenteneinnahme beobachten Savaskan&Hasemann 2017
Delir: Prävention Prävention und Behandlung von Mangelernährung und/oder inadäquater Ernährung: • Nahrungszufuhr täglich erfassen • Gegebenenfalls Nahrungsergänzungsmittel verabreichen • Ernährungsberatung einholen • Zahnprothesen überprüfen • Mund und Schleimhäute regelmässig auf Infektionen und Mykosen hin untersuchen • Patientin oder Patient dazu bewegen, die Mahlzeiten im Essraum oder in anderen fürs Essen eingerichteten Räumlichkeiten einzunehmen • Angehörige und Freunde dazu einladen, gemeinsam mit der Patientin oder dem Patienten zu essen Prävention und Behandlung von Seh- und Hörminderungen: • Brille auf- und Hörgeräte einsetzen; (Brillen)Korrekturen vornehmen. Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus vermeiden: • Möglichst keine pflegerischen oder medizinischen Interventionen während der Schlafenszeit vornehmen, auch nicht bei Zimmernachbarn • Lärm während der Schlafenszeit auf ein Minimum reduzieren Savaskan&Hasemann 2017
Angehörigenbetreuung • Delir ist mit seiner fluktuierenden Symptomatik und plötzlichem Auftreten oft sehr verstörend und unverständlich. • Betreuung und Information der Angehörigen unerlässlich und fördert die Kooperation • Angehörigen sind wichtig bei der Erhebung der Anamnese • Die wechselhafte Symptomatik des Delirs, den multifaktoriellen Ursprung, Risikofaktoren, Prognose, Therapie und die Folgen für den Patienten und seine Umgebung ansprechen • Aufklärung über die vielfältigen Ursachen des Delirs • Angehörige in die Prävention und Therapie einzubeziehen • Folgende Punkte ansprechen: Verfügbarkeit für Hilfeleistungen bei der Nahrungsaufnahme, Möglichkeit über Nacht zu bleiben, Wichtigkeit der Adhärenz in Bezug auf die Medikamenteneinnahme. • Die Angehörigen werden gebeten allfällige Verhaltensveränderungen oder auch Schmerzen, Unruhe- und Angstzustände, Halluzinationen sowie plötzliche Inkontinenz zu melden • Angehörige können selbst Belastungsreaktionen bis zu einer Depression entwickeln: Prävention und Therapie • Austrittsvorbereitung inkl. Austrittsgespräch und die Planung der fortzuführenden Versorgungsmassnahmen mit den Angehörigen. • Alzheimer Schweiz: Broschüre „Verwirrte Patienten im Akutspital“: • www.delir.info Savaskan&Hasemann 2017
Fixierungsmassnahmen • Die körperliche Fixierung von deliranten älteren Patientinnen und Patienten ist unangemessen und potentiell gefährlich • Bei freiheitsbeschränkenden Massnahmen sind verbindlich die Richtlinien des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts zu beachten • Fixierungsmassnahmen werden zu oft eingesetzt und verursachen Delir! • Sie werden nicht empfohlen! Forrester et al. 2000; Inouye et al 2007 McCusker et al 2001
Psychopharmakotherapie • Die kausale Therapie, Prävention und nicht-pharmakologische Interventionen haben Vorrang • Die Therapie ist interdisziplinär und interprofessionell • Betreuer/Angehörige sollen miteinbezogen werden • Psychopharmaka werden in erster Linie bei Patienten mit einem hyperaktiven Delir mit Agitation und psychotischen Symptomen eingesetzt. • Für die medikamentöse Therapie des hypoaktiven Delirs gibt es im Moment keine etablierte Behandlungsmethode • Ausführliche Delir-Diagnostik muss dem Einsatz der Psychopharmaka vorangehen. Bei persistierendem Delir muss die Diagnostik vertieft wiederholt werden. • Grundsätzlich sollte die Therapie des Delirs somatisch-stationär erfolgen Savaskan&Hasemann 2017
Pharmakologische Therapie • Grundsätze der Psychopharmaka-Behandlung im Alter und bei Demenz: • In erster Linie nicht-medikamentöse Therapien • Ein individueller Therapieplan • Indikationsprüfung/Reduktion/Absetzen der Medikamente: Pharmakotherapie vereinfachen • Wenn möglich Monotherapie • Serielle und nicht parallele Interventionen, d.h. eine Substanz nach der Anderen • Wenn möglich Rezeptorantagonisten (d.h. Anticholinergika, Antihistaminika, Dopaminantagonisten) vermeiden • Tiefe Startdosis, langsames Aufdosieren • Die Betreuung der Angehörigen ist zu gewährleisten • Zur Evaluation ungeeigneter Medikamente: Beers-Kriterien: https://www.dcri.org/trial-participation/the-beers-list/ Priscus-Liste: http://priscus.net/download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf • Zur Evaluation möglicher Interaktionen: MediQ Mod. nach Mosimann&Müri 2011
Psychopharmakotherapie • Regelmässige Indikationsprüfung, klinische Kontrollen und Überprüfung möglicher Nebenwirkungen sind notwendige begleitende Massnahmen • Der Einsatz muss in Abhängigkeit von Symptomen zeitlich begrenzt sein • Dosis muss individuell angepasst werden: mit der niedrigsten möglichen Dosierung anfangen und individuell der Symptomatik anpassen • Langsames Aufdosieren und Ausschleichen der Medikamente sind notwendig • Für die meisten Substanzen bestehen keine ausreichenden kontrollierten Studien. Deswegen wird die klinische Erfahrung der Fachexperten berücksichtigt
Antipsychotika • Antipsychotika sind in vielen Therapieleitlinien die bevorzugten Psychopharmaka in der symptomatischen Behandlung • Bei älteren Patienten sind wenige kontrollierte Studien vorhanden • Kritische Stimmen: für den Einsatz von Antipsychotika (oder für Psychopharmaka im Allgemeinen) bei älteren deliranten Personen mit kognitiven Störungen besteht keine ausreichende Evidenz!! Antipsychotika werden eingesetzt wenn die Patienten psychiatrische Begleitsymptome aufweisen, die Diagnostik, Therapie und Betreuung erschweren Inouye et al 2014; Cole et al 2002; Leentjens&van der Mast 2005
Klassische Antipsychotika • Haloperidol • am meisten untersucht • reduziert nicht die Inzidenz aber Schweregrad • bei hyperaktiven deliranten Patienten mit psychotischen Symptomen, Agitiertheit und Aggressivität • Vor dem Einsatz EKG: QTc-Zeit-Verlängerung bis zu ventrikulären Arrhythmien und Torsade de pointes QTc-Zeit-Verlängerung, welche grösser als 450 msec oder mehr als 25% des Ausgangwertes beträgt, bedarf weiterführender Untersuchung und die Reduktion oder das Absetzen des Medikaments • EPS, die dosisabhängig sind • Senkt die Krampfschwelle (vorsicht bei Demenz-Patienten!) • Orthostatische Dysregulation mit Hypotonie: Stürze • Kontraindiziert bei Koma-Patienten, bei M.Parkinson und Lewy-Körperchen-Demenz • Haloperidol wirkt bei hohen Dosierungen selbst delirogen • Es wird empfohlen die Tagesdosis von 4-5 mg nicht zu überschreiten. • Ab 4mg/d steigt das Risiko für Nebenwirkungen, vor allem EPS • Oft sind max. Tagesdosierungen von 1.5-2mg ausreichend, verteilt auf 3-5 Tagesdosis • Es empfiehlt sich mit 2-3 Tropfen als Einzeldosis anzufangen und bei Bedarf dies bis zu 3-4 Mal am Tag zu widerholen Rosen 1979; Smith et al 1974; Breitbart et al 1996; Meagher 2001, 2013; Vella-Brincat&Macleod 2001; Conn&Lieff 2001; Hu et al 2006; Fong et al 2009; Kalisvaart et al 2005; Crouch et al 2003; Naksuk et al 2012; Boettger et al 2015
Atypische Antipsychotika • Olanzapin, Risperidon, Quetiapin, Ziprasidon • Insgesamt ein niedrigeres Nebenwirkungsprofil als Haloperidol • Kein besonderer Vorteil in der Wirksamkeit • bei Patienten mit M.Parkinson und Lewy-Körperchen-Demenz vorteilhafter • Nebenwirkungen wie QTc-Zeitverlängerung, metabolische Störungen und Gewichtszunahme • erhöhtes Risiko für zerebralen Insult und erhöhte Mortalitätsrate • In der Delir-Therapie ist die Verwendung dieser Medikamente „off-label-use“. Entsprechende Regeln müssen beachtet werden Hu et al 2006; Fong et al 2009; Lonergan et al 2009; Han&Kim 2004; Kiyama 2003; Matsumoto et al 2003; Sipahimani&Masand 1998; Al- Samarrai et al 2003; Breitbart et al 2002; Devlin et al 2010; Skrobik et al 2004; Kim et al 2001; Pae et al 2004 ; Boettger et al 2015
Use and safety of antipsychotics in behavioral disorders in elderly people with dementia Gareri et al., J Clin Psychopharmacol 2014 Risiken: Notwendige Abklärungen vor ● Sterberisiko (bis zu 4.5% nach US FDA) dem Einsatz: ● Zerebrovaskuläre Ereignisse (bei allen Antipsychotika) ● Kardiale Effekte: Sinus tachykardie, atriale und verntrikuläre Extrasystole, QTc-Verlängerung, ● Klinische Anamnese T-Wellenumkehr, ST-Senkung, ● EKG mit QTc-Interval atrioventrikuläre Blockaden ● Elektrolyten ● Metabolische Effekte:Gewichtszunahme, Diabetes, Adipositas, ● Familienanamnese (z.B. für Dyslipidämie, metabolisches Syndrom Torsades des pointes) ● Andere: Pneumonie, Tiefenvenenthrombose, ● Medikamenteninteraktionen Blutbildveränderungen 36
● Zwölf RCT und 22 offene Studien ● Olanzapin und Quetiapin wirksamer als Plazebo ● Risperidon und Haloperidol mehr Nebenwirkungen ● Haloperidol, Olanzapin, Risperidon und Quetiapin ähnlich wirksam ● Weniger EPS unter atypischen Neuroleptika ● Ziprasidon wenig effektiv
Atypsiche Antipsychotika • Risperidon: in höherer Dosierung Sedation und EPS bis max. 1mg/d (ab 2mg/d erhöhtes EPS-Risiko) • Olanzapin: Sedation und Stürze 2.5 bis max. 7.5mg/d • Quetiapin keine EPS, aber Sedation bis max. 50mg/d • Clozapin wird aufgrund starker anticholinerger Nebenwirkungen nicht empfohlen.
Cochrane Database of Systematic Reviews 2018, Issue 6. Art. No.: CD005594. DOI: 10.1002/14651858.CD005594.pub3 ● Neun Studien mit 727 Teilnehmern ● Keine Evidenz, dass Antipsychotika die Dauer eines Delirs verkürzen ● Kein Unterschied zwischen typischen und atypischen Antipsychotika ● Die Mortalität unterscheidet sich nicht im Vergleich zu nicht-antipsychotischen Substanzen ● Nebenwirkungen meist nicht berücksichtigt, ebenso langfristige Endpunkte wie zerebrovaskuläre Ereignisse oder QTc-Zeit Verlängerung ● Erhöhtes Auftreten von EPS bei klassischen Antipsychotika
Antipsychotika • Antipsychotika sind Medikamente der ersten Wahl • Die meiste Evidenz besteht momentan für Haloperidol • Zur symptomatischen Behandlung wenn Therapie gewährleistet werden muss • Klinische Untersuchung und EKG vor dem Einsatz • Mit der niedrigsten Dosierung anfangen und die Dosis dem Symptomverlauf anpassen (Abgabe bei Bedarf!) • Der Einsatz muss zeitlich limitiert erfolgen
Benzodiazepine • Bei Entzugsdelir (Abhängigkeitserkrankungen) Therapie der ersten Wahl • Da sie selber delirogen sind, wird der Einsatz nur in Ausnahmefällen wenn die Antipsychotika schlecht toleriert werden oder in Notfallsituationen empfohlen • Es sind kurzwirksame Benzodiazepine ohne Kumulationsgefahr zu bevorzugen, z.B. Lorazepam oder Oxazepam • Das Absetzen muss langsam und schrittweise erfolgen weil ein plötzliches Absetzen Delir verursachen kann Breitbart et al 1996; Pandharipande et al 2006
Cholinesteraseinhibitoren • Acetylcholinmangel ist ein Teil der Delir-Pathogenese • Studien bei Patienten nach einem operativen Eingriff als präventive Gabe • Hauptsächlich sind Donepezil und Rivastigmin untersucht • keine Reduktion in der Inzidenz aber in der Anzahl der Episoden und Dauer des Delirs • Preoperative Gabe von Cholinesteraseinhibitoren schützt nicht vor postoperativem Delir Die präventive Gabe zur Delir-Prophylaxe wird nicht empfohlen • Bei Antipsychotika resistentem Delir eine positive additive Wirkung Insgesamt ist die Studienlage nicht ausreichend für die Empfehlung des Einsatzes • Eine Multizenterstudie, welche Rivastigmin einsetzte, musste wegen erhöhter Mortalität in der Verum-Gruppe abgebrochen werden Koponen 1999; Moretti et al 2004; Wengel et al 1999, 1998; Gleason 2003; Dautzenberg et al 2004; Kalisvaart et al 2004; Kobayashi et al 2004; Oldenbeuving et al 2008; Liptzin et al 2005; Sampson et al 2007; Gamberini et al 2009; Sheldon 2010
Andere Medikamente • Mianserin, Melatonin, Methylphenidat, und Valproat wurden untersucht • Evidenz ist unzureichend für eine Empfehlung • Eine Fallstudie hat für Trazodon gute Wirksamkeit nachgewiesen • In einer Pilotstudie wurde nachgewiesen, dass Gabapentin das Risiko für postoperatives Delir senkt (wahrscheinlich als ein indirekter Effekt der Schmerzbehandlung) • Insgesamt ist es noch sehr früh eine dieser Substanzen für die Delir-Therapie zu empfehlen Uchiyama et al 1996; Hanania&Kitain 2002; Gagnon et al 2005; Bourgeois et al 2005; Okamoto et al 1999; Leung et al 2006
Medikamentöse Delirprophylaxe • Keine sichere medikamentöse Prophylaxe • Haloperidol reduziert die Inzidenz des Delirs zwar nicht, jedoch Schweregrad • Insgesamt spielt die nichtmedikamentöse Prophylaxe des Delirs eine bedeutende Rolle: Risikopatienten für ein Delir rechtzeitig erkennen und das multimodale nichtmedikamentöse Therapiekonzept umsetzen • Eine medikamentöse Prophylaxe sollte wenn überhaupt nur bei Hochrisiko- Patienten vorgenommen werden Inouye et al 1999; Kalisvaart et al 2005
Entzugsdelir bei Abhängigkeitserkrankungen • Alkoholabhängigkeit und Abhängigkeit von Tranquilizer, Sedativa, Analgetika, Stimulantien • Die Jahresprävalenz für Alkoholabhängigkeit ist bei über 65-jährigen Männern 3.1% und bei Frauen 0,5% • In der Schweiz zeigen 7.6% der 65- bis 74-jährigen risikoreichen Alkoholkonsum • Etwa 14% der über 64-jährigen zusätzlich eine tägliche Einnahme eines psychoaktiven Medikaments • Delir und Stürze sind die häufigsten Gründe für eine stationäre Behandlung • Delir beim Entzug weist Mortalitätsraten bis zu 8% auf • Risikofaktoren: Hohes Alter komorbide somatische und chirurgische Erkrankungen Dauer des Konsums Delir und Krampfanfälle in der Vorgeschichte schwere initiale Entzugssymptome Dehydratation Hyponatriämie, Hypokalämie, erhöhtes AST und GGT niedrige Thrombozyten-Zahl strukturelle Hirnläsionen Wang&Andrade 2013; Ilomäki et al 2013; Wu&Blazer vorbestehende kognitive Störungen 2014; Wolter 2011; Suchtmonitoring Schweiz 2012; Kattimani&Bharadwaj 2013; Ferguson et al 1996;
Entzugsdelir bei Abhängigkeitserkrankungen • Therapie: • Die Therapie von Betroffenen mit einem Entzugsdelir muss stationär erfolgen • Gleich bei der Aufnahme müssen ein Zugang gelegt und notfallmässige Labor-Untersuchungen durchgeführt werden • Auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist zu achten und Elektrolyten-Ungleichgewichte müssen korrigiert werden. Überwachung der Vitalzeichen ist zu gewährleisten • Nicht-pharmakologische Interventionen: Systematisches Erheben der Alkohol- und Substanzanamnese Regelmässiges Assessment der Symptomentwicklung mittels Skalen Sicherheit schaffen Supportive Umgebungsgestaltung für Ruhe und Orientierung Präventionsmassnahmen zur Vermeidung von Stürzen Überwachung von Ernährung, Flüssigkeitseinnahme und Ausscheidung Sicherstellung der Einnahme notwendiger Medikation
Entzugsdelir bei Abhängigkeitserkrankungen • Pharmakologische Interventionen: • Ausreichende Flüssigkeitszufuhr • Thiamin-, Kalium- und Magnesium-Substitution • Benzodiazepine: Lorezepam und Oxazepam «fixed schedule», «front-loading», «symptom-triggered» • Antipsychotika: Haloperidol (ev. Risperidon oder Aripiprazol, weniger Olanzapin oder Quetiapin) • Antiepileptika: Als Anfallsprophylaxe • Barbiturate: werden nicht empfohlen; hohe Nebenwirkungsrate und Interaktionen • Sympathicolytika: β-Blocker (Atenolol, Propranolol) und α2-Agonisten (Clonidin) bei Tachykardie, Tremor, kardiale Arrhythmie, erhöhter Blutdruck und Craving; delirogene Wirkung • Andere Substanzen: • Clomethiozol: Schwere Nebenwirkungen wie Abhängigkeit, Interaktion mit Alkohol, Phlebitis und Hämolysis; keine ausreichende Datenlage • Paraldehyd und Promazin werden aufgrund der starken Nebenwirkungspotentials nicht empfohlen • Gabapentin und Baclofen: Datenlage noch unausreichend Denison et al 1994; Saitz&O’Malley 1997; Cook et al 1998; Kraemer et al 1999; Wolter 2011; Shaw et al 1981; Sellers et al 1983; Levkoff et al 1994; Mayo-Smith 1997; Onen et al 2005; Seitz et al 2007; Chu 1979; Bernus et al 1997; Bonnet et al 2009
Entzugsdelir bei Abhängigkeitserkrankungen Savaskan& Laimbacher 2021
Abteilung für Psychiatrische Forschung und Klinik für Alterspsychiatrie DANKE! egemen.savaskan@pukzh.ch
Fallbeispiel • 48-jährige Frau wird aufgrund von psychomotorischer Unruhe, „Verwirrtheit“ und Schlafstörungen zur Praxis gebracht • Patientin ist bewusstseinsklar aber zeitlich und örtlich desorientiert; Im Denken sprunghaft, vorbeiredend; Im Affekt gereizt, ratlos; Im Antrieb gesteigert • Fremdanamnestisch ist zu erfahren dass sie nach dem Tod des Ehemannes kürzlich eine Depression entwickelte und einen Psychiater aufgesucht hat • Aktuelle Medikation: Saroten® (Amitriptylin), Valium® (Diazepam), Noroxin® (Norfloxacin) aufgrund eines Harninfekts • Während der Untersuchung fluktuieren der Bewusstseinszustand und die kognitiven Störungen der Patientin stark
Fallbeispiel • 82-jährige, schwer demente Patientin wird aufgrund starker Verwahrlosung und Verschlechterung des Allgemeinzustandes in die Klinik eingewiesen • Patientin mit starkem Gewichtsverlust und Dehydratation • Sie ist bewusstseinsklar, in allen Qualitäten desorientiert, mit Gedächtnis- und Auffassungsstörungen; Im Affekt apathisch wirkend mit gelegentlicher Aggression • Tochter berichtet dass sie sich sehr vernachlässigt habe, unregelmässig esse und vor allem nachts unruhig sei, aus dem Haus laufe und dann wieder schwer die Wohnung finde • Im Labor Anzeichen einer leichten Niereninsuffizienz, reduzierte Vitamin B12 und Folsäure • Neuropsychologie und Bildgebung bestätigen eine fortgestrittene Demenz
Fallbeispiel • 59-jähriger Patient mit „non-small cell“ Lungenkarzinom und Hirnmetastasen • Schwäche der unteren Extremitäten, Gangstörung und Schmerzen • Fremdanamnestisch: Wesensveränderung • Gereizt, unkooperativ und verbal aggressiv • Unter Lorazepam und Dexamethason Zunahme der Aggressivität und Unruhe • Nach Schmerzbehandlung mit Morphin Abnahme der Gereiztheit • Finale Behandlung nur mit Haloperidol
Fallbeispiel • 64-jähriger Gastwirt wird nach akutem Erregungszustand auf die Notfallstation aufgenommen • Kopf stark errötet; Puls beschleunigt; Blutdruck hoch; Foetor aethylicus; Hepatomegalie • Situativ und zur Person orientiert, aber nicht zeitlich; Verminderte Aufmerksamkeit; Verstärkte psychomotorische Aktivität; Optische Halluzinationen; Gereiztheit; Affektlabilität • Gibt an dass er sich über abfällige Äusserungen eines Kunden aufgeregt habe; konsumiere selten Alkohol, „nur was sein Beruf mit sich bringt“; sei nie in der Psychiatrie gewesen und will auch keine Behandlung • Im Labor sind die Leberenzyme erhöht • Erregungszustand während der Untersuchung und epileptischer Anfall
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