Demokratie unter Beschuss - Die EU muss Resilienz nach innen und außen zeigen.
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Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik Nr. 5 August 2021 POLICY BRIEF Demokratie unter Beschuss Die EU muss Resilienz nach innen und außen zeigen.* Verschiedene Schlüsselereignisse der letzten Jahre haben die Ver- wundbarkeit westlicher Gesellschaften gegenüber Desinformation, Propaganda und gezielter Wahlbeeinflussung offengelegt und Handlungsbedarf erkennen lassen. Angesichts dieser neuartigen Prof. Dr. Christian Calliess hybriden Bedrohungen für die Demokratie sind die EU und ihre Mit- Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht, gliedstaaten dazu aufgerufen, aktiv Maßnahmen zu ihrem Schutz Freie Universität Berlin zu ergreifen und ihre demokratische und digitale Resilienz zu stärken. – Desinformation, gezielte politische Online-Werbung und Cyberattacken stellen eine Gefahr für den Prozess der öffent- lichen Meinungsbildung, die Integrität der Wahlen sowie die Handlungsfähigkeit des Staates dar. – Die Komplexität der neuen Bedrohungslandschaft erfordert ein geschlossenes Vorgehen der demokratischen Verfassungs- staaten Europas unter Einbeziehung der Unternehmen und Akteure der Zivilgesellschaft sowie der Partner jenseits des Atlantiks. – Deutschland und die EU sollten sich bei der Entwicklung einer gemeinsamen Strategie von den Prinzipien der Transparenz, Glaubwürdigkeit, Medienkompetenz und geteilten Ver- antwortung leiten lassen. * Das vorliegende Policy Paper beruht in Teilen auf Arbeiten, mit denen ich während meiner Tätigkeit als Rechtsberater des beim Präsidenten der Europäischen Kommission angesiedelten Strategieteams (EPSC) und Leiter von dessen Institu- tionellem Team von 2015-2018 befasst war.
2 Policy Brief Nr. 5 | August 2021 Demokratie unter Beschuss POLICY BRIEF EINLEITUNG von ihnen unterstütze) europäische den werden, wie selbst in Ländern und amerikanische Akteure sie nut- mit langer demokratischer Tradition Demokratie unter Beschuss zen, um Desinformation und „Leaks“ die Demokratie innerhalb kurzer Zeit von politischen Hackern zu verbreiten nachhaltigen Schaden nehmen kann, Seit einigen Jahren stehen die west- oder illegal an große Mengen priva- wenn nicht rechtzeitig Gegenmaßnah- lichen Demokratien in Europa (und ter Nutzerdaten zu gelangen. Insoweit men ergriffen werden. Dies gilt umso den USA) verstärkt unter „digitalem geht es nicht mehr um die von der In- mehr, als Deutschland und die EU be- Beschuss“. Inländische sowie auslän- formations- und Meinungsfreiheit reits jetzt nachweislich Ziel gezielter dische Akteure versuchen, mittels geschützte Aktivität der Nutzerinnen Desinformationskampagnen und Ha- gezielter Desinformationskampag- und Nutzer von werbefinanzierten So- ckerangriffe (vor allem aus Russland) nen, politscher Online-Werbung und cial-Media-Plattformen, sondern um sind.3 Cyberattacken den öffentlichen Mei- Drittstaaten oder von ihnen bezahl- nungsbildungsprozess zu ihren te private Akteure, die die Plattformen Mit Blick auf das hohe Schutzgut der Gunsten zu beeinflussen und demo- zielgerichtet nutzen (missbrauchen), Demokratie und der für ihre Vertrau- kratische Institutionen zu schwächen, um das Vertrauen der Bürgerinnen und enswürdigkeit und ihren Fortbestand um der Demokratie nachhaltig Scha- Bürger in die Demokratie der EU durch bedeutsamen Institutionen, können den zuzufügen. Lüge und Hetze sowie illegal erlangte die demokratischen Verfassungsstaa- Informationen zu erschüttern. ten der EU ebenso wenig wie die EU Z a h l re i c h e B e i s p i e l e s i n d d o k u - selbst tatenlos zusehen, wie sich ihre mentier t. Diese reichen von der Handeln, bevor es zu spät ist Grundlagen von innen heraus auflösen. Einflussnahme auf den US-Wahlkampf Empirische Belege, die eine hinrei- 2016 unter Mitwirkung des Daten- Anders als die USA, sind die EU chende Wahrscheinlichkeit im Sinne analyse-Unternehmens Cambridge und ihre Mitgliedstaaten, darunter der Gefahrenabwehr begründen, er- Analytica über die inzwischen belegte Deutschland, von den negativen Fol- lauben und erfordern ein Handeln der Beeinflussung des Brexit-Referendums gen der genannten Phänomene bislang verantwortlichen staatlichen Stellen durch gezielte Desinformation1 bis hin weitestgehend verschont geblieben. zum Schutz der Demokratie. Wehr- zur aktuellen Corona-Pandemie, wel- Daraus darf aber nicht geschlossen hafte Demokratie bedeutet, dass die che laut WHO mit einer regelrechten werden, dass dies auch in Zukunft so Politik und Gesellschaft in demokra- „Infodemie“2 einhergeht. bleibt. Ebenso wenig sollte blind in tischen Verfassungsstaaten insoweit sensibel sind und nicht erst reagieren, wenn es zu spät ist. Auch wenn der Begriff „Demokra- tie“ aus rechtlicher Perspektive nicht Es sollte nicht blind in die natürli- ganz einfach zu fassen ist (sowohl Art. 20 GG als auch Art. 2 i.V.m. Art. 9 che Resilienz demokratischer Gesell- bis 12 AEUV definieren lediglich Ele- mente der Demokratie), lassen sich schaften in der EU vertraut werden. drei Aspekte identifizieren, die in die- sem Zusammenhang von Bedeutung sind: Erstens der Prozess der öffent- lichen Meinungsbildung, zweitens Dabei kommt Social-Media-Platt- die natürliche Resilienz der demokra- das unmittelbare zeitliche Vorfeld der formen wie Facebook, Twitter und tischen Gesellschaften innerhalb der Wahlen sowie die Integrität des Wahl- YouTube eine Schlüsselrolle zu. Diese EU vertraut werden. Die Vorkommnis- vorgangs als solchem und drittens die stehen zunehmend im Fokus der Kri- se der letzten Jahre in den USA sowie Funktionsfähigkeit demokratischer tik seit bekannt wurde, dass staatliche dem Vereinigten Königreich sollten Institutionen. Geheimdienste ebenso wie (mitunter als mahnende Beispiele dafür verstan- 1 Vgl. Disinformation and “fake news”: Final report, https://publications.parliament.uk/pa/cm201719/cmselect/cmcumeds/1791/1791.pdf, vom 18. Februar 2019. 2 WHO, Managing the COVID-19 infodemic: Promoting healthy behaviours and mitigating the harm from misinformation and disinformation, https://www.who.int/news/ item/23-09-2020-managing-the-covid-19-infodemic-promoting-healthy-behaviours-and-mitigating-the-harm-from-misinformation-and-disinformation, vom 23. September 2020. 3 Der East StratCom Taskforce des EAD zufolge, ist Deutschland der am stärksten von Desinformation betroffene Mitgliedstaat der EU und das Hauptziel russischer Desinformationskampagnen, EU vs Disinfo, Vilifying Germany; Wooing Germany, https://euvsdisinfo.eu/villifying-germany-wooing-germany/, vom 9. März 2021.
Policy Brief Nr. 5 | August 2021 3 POLICY BRIEF Demokratie unter Beschuss BEDROHUNGSSZENARIEN behauptungen, deren Unwahrheit wird auf die eigentlich zum Zwe- nicht dem Vorsatz, sondern der Un- cke gezielter Werbung entwickelte Die Verlagerung vieler, für die De- wissenheit oder Fahrlässigkeit des Technik des sogenannten Microtarge- mokratie relevanter Prozesse in Äußernden geschuldet ist 6 (Fehlin- ting zurückgegriffen, welche es dem den Online-Kontext sowie die Di- formation). Die Abgrenzung zwischen Werbetreibenden erlaubt, einzel- g i talisierung hat zu einer neuen diesen beiden Formen der Falschin- nen Nutzerinnen und Nutzern – meist Bedrohungslandschaft geführt, die formationen dürfte sich in der Praxis ohne ihre Kenntnis - auf sie zuge- neue Gefahren für den demokratischen indes als schwierig erweisen. schnittene Inhalte zu präsentieren. Verfassungsstaat schafft. Obwohl das genaue Ausmaß der Herausforderun- Somit entsteht eine Grauzone zur für Das Risiko gezielter politischer On- gen bislang noch nicht gänzlich bekannt die Demokratie unabdingbaren In- line-Werbung liegt dabei weniger in ist, lassen sich dennoch zwei für das formations- und Meinungsfreiheit, den vermittelten Inhalten (sofern es sich dabei nicht um Desinformation handelt) als in der damit verbundenen Manipulationsgefahr begründet: Sie kann unter anderem dazu eingesetzt Es reichen mitunter schon einige werden, auf eine geringere Wahl- beteiligung hinzuwirken oder aber 10.000 Wählerstimmen aus, um ein unentschiedene Wählergruppen ge- zielt in die eine oder andere Richtung anderes Ergebnis herbeizuführen. zu beeinflussen. Bedenkt man den sehr knappen Ausgang des Brexit-Referen- dums oder der US-Wahl 2020, reichen mitunter schon einige 10.000 Wähler- stimmen aus, um ein anderes Ergebnis Schutzgut Demokratie relevante Be- welche ein differenziertes Vorgehen herbeizuführen. drohungsszenarien benennen, welche erfordert. Gezielte, sich gegen be- im Folgenden näher dargestellt werden stimmte Inhalte richtende staatliche Noch problematischer wird es, wenn sollen. Erstens die Bedrohung für den Maßnahmen kommen daher – wenn zum Zwecke der politischen Online- Prozess der öffentlichen Meinungsbil- überhaupt – nur als Ultima Ratio in Be- Werbung auf Daten zurückgegriffen dung und zweitens Cyberangriffe. tracht. Vielversprechender scheint es, wird, die – wie im Falle von Cambridge die Medienkompetenz der Bürgerinnen Analytica – ohne Einwilligung der Erstes Bedrohungsszenario und Bürger zu stärken, den Zugang zu betroffenen Nutzerinnen und Nut- vertrauenswürdigen Inhalten zu er- zer erlangt wurden. Angesichts der Das erste Bedrohungsszenario betrifft leichtern und ein Informationsumfeld mit politischer Online-Werbung ver- das Schutzgut Demokratie durch Des- zu schaffen, in dem Desinformationen bundenen finanziellen Anreize für information, politische Werbung und leichter identifiziert werden können Unternehmen steht zu befürchten, technologische Verstärker. (s.u.). dass in Europa ein Markt für poli- tisches Microtargeting entstehen Bedrohung durch Desinformation Bedrohung durch politische Werbung könnte. Desinformationen stellen insoweit eine War Wahlkampf in analogen Zeiten Bedrohung durch technologische Gefahr für die Demokratie dar, als sie noch ein aufwendiges Unterfangen, Verstärker den Meinungsbildungsprozess verzer- hat die Akkumulation großer Daten- ren und ihm die Grundlage entziehen. mengen durch private Unternehmen Fast alle großen Internetkonzerne be- Die Verbreitung von Desinformatio- („Big Data“) und das dadurch ermög- treiben heutzutage ein werbebasiertes nen ist – zumindest nach deutschem lichte Profiling von Nutzerinnen und Geschäftsmodell. Um die von ihnen verfassungsrechtlichem Verständnis Nutzern dazu geführt, dass politi- (vermeintlich) kostenlos angebotenen – daher auch nicht von der Meinungs- sche Werbung heute um ein Vielfaches Dienste rentabel zu machen, sammeln freiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) gedeckt.45 gezielter geschaltet werden kann die Unternehmen massenhaft Verhal- Anders verhält es sich mit Tatsachen- als noch vor wenigen Jahren. Dabei tensdaten, die die Nutzerinnen und 4 Zu dieser Frage: Steinbach, JZ 2017, 653 ff. 5 BVerfGE 90, 241 (247) (Auschwitzlüge). 6 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig Grundgesetz, Art. 5, Rn. 49.
4 Policy Brief Nr. 5 | August 2021 Demokratie unter Beschuss POLICY BRIEF Nutzer beim Besuch der Plattformen bestehenden Anschauungen entspre- Stimmabgabe. 10 Der Ruf nach neuen hinterlassen. Aus diesen Daten wer- chen. Dem demokratischen Diskurs Möglichkeiten der elektronischen den dann Profile erstellt, aus denen wird somit die gemeinsame Diskussi- Stimmenabgabe ist aufgrund der Co- sich auf die Präferenzen einzelner onsgrundlage entzogen. rona-Pandemie zuletzt jedoch wieder Nutzer(gruppen) schließen lässt. Diese lauter geworden. Dabei erscheint der Profile bilden sodann die Grundlage Ein weiterer Faktor, der zur Verzer- Zugang zu den Systemen der Stimm- für das Schalten von gezielter On- rung des Prozesses der öffentlichen auszählung, mit denen Wahlbeamte line-Werbung durch werbetreibende Meinungsbildung beiträgt, ist der Ein- die Wahlergebnisse der 70.000 Stimm- Dritte, welche zu diesem Zweck in satz sogenannter Social Bots. 8 Dies bezirke verschicken, schon jetzt nicht Echtzeit Werbeflächen von den Inter- sind automatisierte, künstliche Ac- sicher. 11 Für den f lächendeckenden netzkonzernen erwerben. counts, die unter Ausnutzung der Einsatz von Wahlcomputern bei Bun- destags- und Europawahlen fehlt es an verbindlichen Sicherheitsvorga- ben für Hersteller und Lieferanten und einer daran anknüpfenden euro- Seit Jahren kommt es immer paweit gültigen Zertifizierung, durch die ausgeschlossen werden kann, dass wieder zu Hackerangriffen auf in die Maschinen beispielsweise Mal- ware oder Sleeper-Befehle eingebettet staatliche Institutionen. werden. Zum anderen kommt es seit Jahren immer wieder zu Hackerangriffen auf staatliche Institutionen, insbesonde- Um aus der unglaublichen Masse der vorherrschenden (und oftmals ve- re den deutschen Bundestag, die deren auf den Plattformen vorhandenen In- hement verteidigten) Anonymität Funktionsfähigkeit gefährden. formationen die für Nutzerinnen und im Internet dazu eingesetzt werden, Nutzer relevanten Inhalte heraus- Trends zu erzeugen und Mehrheiten zufiltern, setzen die Unternehmen zu fingieren. MASSNAHMEN ZUR sogenannte Empfehlungsalgorithmen STÄRKUNG DER ein.7 Diese Algorithmen sind am oben Zweites Bedrohungsszenario DEMOKRATISCHEN beschriebenen Geschäftsmodell der RESILIENZ Plattformen ausgerichtet. Dies führt Das zweite Bedrohungsszenario be- dazu, dass die Algorithmen vor allem trifft das Schutzgut Demokratie durch Die EU sollte die Mitgliedstaa- solche Inhalte bevorzugen, die beim Cyberangriffe in Hinblick auf die ten, Unternehmen und Akteure der Nutzer Gefühle wie Sensationslust, Integrität der Wahlen sowie die Funk- Zivilgesellschaft zum Schutz der eu- Angst oder Wut auslösen. Dazu gehö- tionsfähigkeit staatlicher Institutionen. ropäischen Demokratie mobilisieren ren vor allem Desinformationen, Lügen („Multi-Stakeholder Forum“). Zugleich und Hassnachrichten, die sich unge- Bedrohung durch Cyberangriffe sollte sie sich auf der anderen Seite hindert auf den Plattformen ausbreiten des Atlantiks (USA, Kanada) und in an- können. Cyberangriffe können zum einen deren Teilen der Welt nach Partnern den Zugang zu elektronischen Wahl- umsehen, die sich den Bemühungen Die von den Algorithmen bewirkte per- maschinen oder digital verwalteten um Sicherung der Demokratie und der sonalisierte Informationsauswahl kann Wahlergebnissen ermöglichen und Stärkung der digitalen Resilienz an- zudem dazu führen, dass sich Nutze- diese, ohne Spuren zu hinterlassen, schließen. Diese Bemühungen könnten rinnen und Nutzer in „Filterblasen“ manipulieren. In Deutschland gibt in der OECD oder einer neuen „Alli- oder „Echokammern“ wiederfinden, es zwar ähnlich wie in fast allen Mit- anz für digitale Demokratie“ verankert in denen sie nur noch mit Inhalten gliedstaaten der EU 9 bislang nicht werden und zu einem Forum werden, konfrontiert werden, die ihren schon die Möglichkeit einer elektronischen in dem Praktiken und neue Anliegen 7 Dazu u.a. Schemmel, Der Staat (57), 2018, 501 (506). 8 Dazu grundlegend Milker, ZUM 2017, 216 ff. 9 https://www.euractiv.de/section/europawahlen/news/vor-den-wahlen-eu-testet-cybersicherheitssysteme/ (zuletzt abgerufen am 13.3.2021). 10 BVerfGE 123, 39 ff. (Wahlcomputer). 11 https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2017-09/bundestagswahl-wahlsoftware-hackerangriff-sicherheit-bsi-bundeswahlleiter (zuletzt abgerufen am 13.3.2021).
Policy Brief Nr. 5 | August 2021 5 POLICY BRIEF Demokratie unter Beschuss ausgetauscht werden. Deutschland und die EU sollten sich bei all ihren Maßnahmen auf die folgenden Leit- Die bislang selbstverständliche An- prinzipien stützen. onymität im Internet wird zuneh- Leitprinzipien mend zu einer Herausforderung. Transparenz Die Öffentlichkeit soll wissen kön- nen, wer die Quelle einer Anzeige ist Geteilte Verantwortung Kontrolle durch politisch unabhängi- und mit wem oder was die Bürgerin- ge Gremien sowie Verfassungsgerichte nen und Bürger über soziale Medien Demokratie ist im demokratischen unterworfen sein. Auf entsprechen- agieren. Es sollte erkennbar sein, was Verfassungsstaat eine gemeinsame der Grundlage sollte auch über einen ein Bot ist und was nicht. Die bis- Verantwortung von Politik und Ge- Europäischen Öffentlichen Rund- lang selbstverständliche Anonymität sellschaft, EU und Mitgliedstaaten, funk nachgedacht werden, der die im Internet wird zunehmend zu einer Unternehmen und Verbrauchern. Vor Politiken der EU und die Entschei- Herausforderung. Je mehr sich der diesem Hintergrund sollte die EU über dungsprozesse in Brüssel, Straßburg Cyberraum zu einer zweiten (vir- ihre im Rahmen der Wettbewerbs- und Luxemburg transparenter und tuellen) Lebenswelt der Menschen politik angestrengten individuellen verständlicher macht. Dabei müsste entwickelt, desto mehr sollte über Maßnahmen hinaus Standards für die der Auftrag an einen solchen „Euro- Möglichkeiten nachgedacht werden, sozialen Medien und die Datenerhe- pafunk“ so definiert werden, dass er Identitätsfeststellungen analog der bung durch Plattformen formulieren. im Zuge seiner Begrenzung auf die eu- klassischen (realen) Lebenswelt zu ropäische Grundversorgung nicht nur ermöglichen. Maßnahmen mit Blick auf Bedro- eine sinnvolle Koexistenz mit priva- hungsszenario 1 ten Medien eingeht, sondern privaten Glaubwürdigkeit Qualitätsmedien vielleicht sogar neue Mit Blick auf Bedrohungsszenario 1 Einnahmequellen erschließt, indem er Ohne feststellbare Identitäten wird das könnte die EU eine Gesetzgebung auf (statt Google) auch als Plattform für Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger den Weg bringen, mit der (über das bereits vorhandene journalistische In- in Social-Media-Plattformen und in NetzDG hinaus) die Verantwortung halte fungiert. die digitale demokratische Konversati- für Inhalte in den sozialen Medien on mit der Zeit schwinden. Die Medien geregelt wird. Der Vorschlag der Kom- Ebenso sollte die Zusammenarbeit sollten versuchen, ihre eigene Glaub- mission für ein Gesetz über digitale mit Technologieunternehmen gesucht würdigkeit und Integrität zu wahren, Dienste12 stellt einen ersten Schritt in werden, um deren soziale Verant- vielleicht sogar eine nichtstaatliche diese Richtung dar. wortung auf Plattformen und bei Rating-Agentur schaffen. Algorithmen zu erhöhen. Insoweit Ergänzend könnte der Rat Empfehlun- könnten Grundsätze für die digitale Medienkompetenz gen formulieren, wie die nationalen Verwaltung durch Technologieunter- Wahlgesetze und -regeln in der EU zu nehmen geschaffen werden, die die Mittelfristig geht es darum, die Me- aktualisieren sind, um intransparente Identifizierung gefälschter Online- dienkompetenz der Menschen, politische Werbung und unverhältnis- Nachrichten gewährleisten. insbesondere der Jugend im Rahmen mäßige Einflussnahme zu begrenzen. der Schulbildung, zu erhöhen und Maßnahmen mit Blick auf Bedro- zugleich sicherzustellen, dass jour- Überdies könnte der öffentlich-recht- hungsszenario 2 nalistische Qualitätsprodukte in den liche Rundfunk in den Mitgliedstaaten Ergebnissen von Suchmaschinen bes- gestärkt und – wo nicht existent – mit Die Erfahrung hat gezeigt, dass po- ser dargestellt werden. einem dem Demokratieprinzip ver- litisches Hacking und andere pflichteten Informationsauftrag zur Cyberangriffe gegen einen Mitglieds- Grundversorgung aufgebaut wer- staat of t über Server in anderen den. Eine solche öffentlich-rechtliche Mitgliedsstaaten initiiert werden. Grundversorgung sollte der strikten Allerdings fehlt in der EU ein gesetzli- 12 Kommission, DSA proposal, COM (2020) 825 final, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC0825&from=en.
6 Policy Brief Nr. 5 | August 2021 Demokratie unter Beschuss POLICY BRIEF cher Rahmen, der es den angegriffenen Agentur) auch als Schnellreaktions- Der Präsidentin/Dem Präsidenten der Mitgliedsstaaten erlaubt, schnell mit kapazität herangezogen werden, um Europäischen Kommission sollte eine Strafverfolgungsbehörden und Inter- massiven Desinformationskampag- Struktur für das Krisenmanagement netanbietern außerhalb ihrer eigenen nen mit allen zur Verfügung stehenden zur Verfügung stehen, die es ihm und Grenzen zu interagieren und den An- Instrumenten entgegenzuwirken (ein- seinen Kommissaren ermöglicht, ko- griff abzuschalten. schließlich einer Stand-by-Option für ordiniert auf hybride Bedrohungen nationale Wahlen). Diese Europäische (wozu Desinformation und politisches Auch fehlt der EU ein wirksamer Kri- Agentur für Cybersicherheit wäre zu- Hacking gezählt werden) zu reagieren. senreaktionsmechanismus, der sofort gleich eine geeignete Schnittstelle, um In diesem Zusammenhang sollten die auf gegen die EU gerichtete Angrif- – angesichts der beim Thema Cyber- Kapazitäten von EU-StratCom genutzt fe reagieren kann und die Ressourcen sicherheit verschmelzenden Grenzen und gestärkt werden. Die Abteilung der EU insgesamt, vor allem aber auch zwischen innerer und äußerer Sicher- für strategische Kommunikation im der zuständigen Generaldirektio- heit – eine wirksame Zusammenarbeit EAD hat drei Teams mit geografischem nen der Europäischen Kommission mit Akteuren der europäischen Sicher- Schwerpunkt: South mit vier Mitar- wirksam koordinieren kann. In einem heits- und Verteidigungspolitik (etwa beitern, Western Balkans mit zwei ersten Schritt könnte beim Präsiden- einer Europäischen Cyberbrigade) und Mitarbeitern und East Stratcom mit ten der Europäischen Kommission den korrespondierenden Einheiten der 14 Mitarbeitern. Nur East Stratcom eine Task Force etabliert werden, die NATO zu gewährleisten. hat ein spezielles Mandat des Euro- alle Akteure innerhal b der Kom- päischen Rates. EU-StratCom benötigt mission zusammenführt. Zugleich Darüber hinaus sollten nationale ein eigenes Budget, mit dem die Ein- könnte das EU-Koordinierungszen- Wahlen als Schutzgut und Wahltech- heit in die Lage versetzt wird, Arbeiten trum für Notfallmaßnahmen dem nologie als „kritische Infrastruktur“ auszulagern und in ihren Bereichen Generalsekretariat der Kommission in die Richtlinie zur Netz- und In- Forschung und Projekte in Auftrag zu unterstellt werden. formationssicherheit (NIS-Richtlinie) geben. aufgenommen werden. Das im Vor- Ein zweiter Schritt wäre die Einrich- feld der Wahlen zum Europäischen Überdies sollten die Mitgliedstaaten tung einer EU-Plattform, die ENISA, Parlament von der NIS Cooperati- Anreize erhalten, um nationale Ex- die bestehenden Einrichtungen des on Group erstellte „Compendium on pertinnen und Experten längerfristig Europäischen Auswärtigen Diens- Cyber Security of Election Technolo- abzuordnen und solchermaßen ein tes (EAD), also INTCEN, StratCom, gy“ ist mangels Verbindlichkeit nicht arbeitsteiliges Zusammenwirken zwi- Hybrid-Fusionszelle etc., sowie Euro- hinreichend und kann nur ein erster schen EU und Mitg liedstaaten zu pol und Vertreter der Mitgliedstaaten Schritt sein. Erforderlich sind ver- gewährleisten. Indem sie Digital-In- zusammenbringt. Einen interessan- bindliche Sicherheitsvorgaben für genieurinnen und -Ingenieure aus ten Vorstoß, der auch mit Blick auf Hersteller und Lieferanten und einer Technologieunternehmen einsetzt den Schutz der Demokratie als Vor- daran anknüpfenden europaweit gülti- und sie mit langjährigen Expertinnen bild dienen könnte, hat jüngst die gen Zertifizierung. und Experten der Kommission in Ver- Europäische Zentralbank (EZB) mit bindung bringt, könnte die EU eine ihrer Allianz zur Bekämpfung von Schaffung neuer institutioneller natürliche Gemeinschaft für die Dis- Cyberrisiken unternommen. Diese Strukturen kussion von Werten in der Technologie EU-Plat tform könnte als Vorläu- innerhalb „der Blase“ schaffen. fer einer vollwertigen Europäischen Abseits der oben geschilderten Maß- Agentur für Cybersicherheit wirken, nahmen sollte auf EU-Ebene zudem Schließlich könnte die ENISA ein die die Expertise der bereits vorhan- über institutionelle Strukturen nach- Forum bilden, um den Austausch von denen, aber fragmentierten Akteure gedacht werden, die ein „Ownership“ Erfahrungen mit politischem Ha- unter Respektierung ihrer institutio- im Hinblick auf den Schutz der Demo- cking und Desinformation im Kontext nellen Eigenheiten unter einem Dach kratie in Europa gewährleisten: von Wahlen zwischen EU und Mit- koordiniert. Mit ihrer Expertise könn- gliedstaaten zu erleichtern und zu te eine solche Plattform (mittelfristig koordinieren.
Rauchstraße 17/18 10787 Berlin Tel. +49 (0)30 25 42 31 -0 info@dgap.org www.dgap.org @dgapev Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP) forscht und berät zu aktuellen Themen der deutschen und euro- päischen Außenpolitik. Dieser Text spiegelt die Meinung der Autorinnen und Autoren wider, nicht die der DGAP. Herausgeber Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. ISSN 2198-5936 Redaktion Jana Idris Layout/Satz Mark McQuay Design Konzept: WeDo Fotos Autorinnen und Autoren © DGAP Der vorliegende DGAP-Policy Brief entstand im Rahmen des von der Stiftung Mercator geförderten Projekts „Ideenwerkstatt Deutsche Außenpolitik“. Des- sen Ziel ist es, deutsche Außenpolitik auf den Prüfstand zu stellen und mittels Analysen und Debatten zur Stärkung der deutschen und europäischen außen- Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – politischen Handlungsfähigkeit beizutragen. Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
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