DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift

Die Seite wird erstellt Lasse Strobel
 
WEITER LESEN
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
MAGAZIN DER DBZ FÜR JUNGE ARCHITEKTEN UND INGENIEURE.

DER ENTWURF                                             November 2021

KOPRODUKTIVE
STADTGESTALTUNG
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
KRALL DIR
DIE VORTEILE!

Du studierst Architektur?
Willst mit zukunftsweisender CAD-/BIM-Software planen?
Dann bist du hier genau richtig! Wir sind die WILDCADS,
die junge Community für kreatives Entwerfen mit Archicad.
Mit wilden Vorteilen: Archicad Studentenversion,
Online-Kurse, BIMcloud – alles kostenlos.

Sei dabei:
wildcads.graphisoft.de
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
KOLUMNE

                                                                                                                 Foto: Penthaus à la Parasit
Klimagerät, Lüftungsan-                                                                                           und das Flachdach zum
lage, Abgasrohr, Rauch-                                                                                           Stadtraum zu erklären?
und Wärmeabzug – die                                                                                              Rein ins Treppenhaus,
Liste der Protagonist:-                                                                                           raus ins Vergnügen!
innen des auf Bitumen-                                                                                            Weg vom dröhnenden
bahnen gebetteten, unbe-                                                                                          Straßenlärm, raus aus
wegten Schauspiels auf den Flachdächern unserer            Auch eine alternative     der stickigen Luft! Jede Nutzer:innengemeinschaft
                                                          Flachdachnutzung: Das
Städte liest sich seit Jahrzehnten spannungsverhei-      Projekt Penthaus à la Pa-   erhielte ihr eigenes, von ihren Mitglieder:innen in
ßend wie die Inhaltsangabe einer Flasche Mineral-          rasit eignet sich freie   Zusammenarbeit mit einer Stadt-auf-der-Stadt-Pla-
wasser. Wäre es nicht an der Zeit, das Ensemble zu         Dachflächen in Groß-      nungsgesellschaft entwickeltes Konzept. Damit wür-
                                                          städten wie Berlin oder
vergrößern und vor ein anständiges Bühnenbild zu         München an, um auf die
                                                                                     den Dachlächen urbar gemacht und ihrem neuen
stellen? Vor allem in großen Städten rücken die (drin-    Verdrängungslogik des      einzigartigen, weil mit Ideen und Erfahrungen, Wün-
gend notwendigen) Nachverdichtungsbemühungen              Wohnungsmarktes auf-       schen und Träumen gefütterten Verwendungszweck
                                                           merksam zu machen.
Kleingartenbesitzenden zu Leibe, die durch ihre            Damit wandelt es den
                                                                                     zugeführt. Obst- und Gemüsegärten, angelegt mit-
Wohnsituation in Mietobjekten ohne zugehörige Grün-      Tauschwert der brachen      hilfe eines von Landschaftsarchitekt:innen kon-
lächen keine Möglichkeit der Aneignung privater Au-       Flächen in einen realen    zipierten Baukastensystems, teilten sich die fünfte
                                                            Gebrauchswert um
ßenräume haben. Zugleich liegen hektarweise unbe-                                    Fassade mit multifunktionalen Dachterrassen für
wirtschafteter Flächen nur ein, zwei Treppenläufe                                    Yogasessions, Tanzabende und Geburtstagsfeiern,
entfernt und warten darauf,                                                                                    mit Freiluftkinosälen, von
von nachbarschaftlichen In-
itiativen beplanzt und be-
tanzt zu werden. Wohnblö-
                                   Dächer zu Tanzflächen                                                       Imker:innen bewirtschaf-
                                                                                                               teten Wildblumenwiesen
                                                                                                               und Hängemattengärten für
cke und Bürotürme, Parkhäuser und Einkaufszentren,                                   das in immer heißeren Sommern nicht unattraktive
Universitäten und Schulen – sie bilden eine men-                                     Schlafen unter freiem Himmel.
schengemachte, von Straßenschluchten durchzogene,                                    Nicht alle Dachlächen sind gleichermaßen für die
steinerne, stählerne und gläserneTopograie, die von                                  ganze Stadt begehbar. FürViele gelten die Eingangs-
Wanderwegen und Parks überzogen werden will. Je-                                     türen der Mehrfamilienhäuser und die Drehtüren
des Gebäude, jeder Straßenzug, jeder noch so eng                                     der Bürokomplexe als Filter – für einige Wenige gibt
bebaute Stadtteil kann Qualitäten entwickeln, mit de-                                es Zugänge über Außentreppen und -aufzüge. Brü-
nen Pauschalreisekataloge und Hotelbuchungsportale                                   ckenschläge ergeben sich dort, wo sich Nutzer:in-
alpine Sehnsuchtsorte bewerben. Eine Fernsicht über                                  nengruppen zusammenschließen und sich Syner-
die Dachlandschaften offenbart mobile und ixe Orien-                                 gien zwischen den Dachorten ergeben.
tierungspunkte wie Baukräne, Funktürme und Büro-                                     Eine Stadt, deren Dächer zum Stadtraum dazuge-
hochhäuser vor der Kulisse eines sich im Sonnenver-                                  hören, bietet nicht nur die Möglichkeit des Genusses
lauf verändernden Himmels, der im urbanen Alltag                                     von Sonnenuntergängen und der Flucht vor dem
meist nur aus der Froschperspektive sichtbar ist.                                    Chaos des motorisierten Verkehrs. Sie hält ein bis-
Diese Sicht weckt Assoziationen an dörliche Struk-                                   lang unausgeschöpftes Potential an Räumen und
turen mit wenigen, dafür prägnanten Hochpunkten                                      Flächen zur Aneignung bereit, die vielleicht dafür
in Form von Kirchtürmen und dem ein oder anderen                                     sorgen können, dass mehr Identiikation mit dem
erloschenen Schlot einer alten Ziegelei, der sich über                               eigenen Lebensraum stattindet, dass nachbar-
eine meist homogene Dachlandschaft erhebt.                                           schaftliche Verbindungen gestärkt werden und die
Das Erlebnis von Einsamkeit und Ruhe auf den                                         pandemiegebeutelte Stadtgesellschaft wieder nä-
höchsten Türmen, Zip-Line-Action von Blockrand zu                                    her zusammenrücken kann.
Blockrand, free-loating-electric-micro-Zeppelin-sha-
ring-Systeme für den unkomplizierten Individualver-
kehr von Attika zu Attika – die Möglichkeiten der Nut-                Dennis Rolfes (*1993) arbeitet als angestellter Architekt in Hamburg an
                                                                      nachhaltigen Holzbauprojekten und verbringt am liebsten Zeit auf dem
zung scheinen unbegrenzt. Wie viel mehr haben                         Dach seiner Wohnung im fünften Stock.
unsere Städte zu bieten, wenn man sich erlaubt, hin
und wieder einen Perspektivwechsel vorzunehmen

02                        | November 2021
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
FKG"PGWG"
                                                                                                                             FGHKP
                                                                                            GUT ZU WISSEN

                                           Foto: Andreas Ohse
                                                                    Eines der zu bearbei-
                                                                    tenden Objekte ist die

                                                                                                                               VKQP
                                                                    Schachtanlage Paul II bei
                                                                    Deuben im Burgenland-
                                                                    kreis

                                                                                                                                XQP"
Studentischer Wettbewerb:
Entwerfen im historischen Umfeld
Im Rahmen der europäischen Leitmesse „denkmal“                                    April inden die Exkursionen zu den

                                                                                                                               QDG
indet 2022 der bundesweite, studentische Archi-                                   Bestandsgebäuden statt, Abgabeter-
tekturwettbewerb Messeakademie statt. Unter dem                                   min ist der 31. August 2022. Die Ar-
Motto „Entwerfen im historischen Umfeld Altbau.                                   beiten der Preisträger*innen erhalten
Umbau. Neubau.“ können Student*innen der Fach-                                    Preisgelder im Gesamtwert von 1500

                                                                                                                            HNÅEJG
richtungen Architektur und Bauingenieurwesen                                      Euro. Zusätzlich werden sie in einer
Konzepte und Lösungen zur Nutzung denkmalge-                                      Dokumentation veröffentlicht. Die ins-
schützter Bausubstanz einreichen. Im Fokus steht                                  gesamt zehn besten Entwurfsarbeiten
2022 vor allem, Bestandsgebäude durch Neu- oder                                   werden im Rahmen der denkmal vom
Ergänzungsbauten zu bereichern. Die ausführlichen                                 24. bis 26. November 2022 in Leipzig
Exposés zu allen Objekten werden ab Januar 2022                                   präsentiert.
auf der denkmal-Website zur Verfügung stehen. Im                                  www.denkmal-leipzig.de

Parasite Parking                                                    Tipps und Tools für die selbst-
                                                                    gemachte Stadt
Ende September tauchte in Chicago
das Schwesterprojekt zum Penthaus                                   Freiraum-Fibel, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und
à la Parasit auf: Parasite Parking. Auch                            Raumforschung (BBSR): Broschüre mit Wissens-
mit dieser Intervention werfen die                                  wertem für Stadtmacher*innen, vor allem zu
Initiator*innen Fragen des öffent-                                  Rechtsgrundlagen und Genehmigungen, Bestellung
lichen Raumes und dessen Aneignung                                  und Download kostenfrei unter www.bbsr.bund.de
und Privatisierung auf. Parasite Par-                               Organisiert euch!, Urban Equipe und Kollektiv Raum-
king besteht aus einem als Parkplatz                                station: Sammlung von Wissen und Erfahrungen von
getarnten Objekt, das einen Parkplatz                               über 20 Kollektiven, kostenfreier Download und Be-
okkupiert. Im Anschluss kann sich die-                              stellung unter www.oganisiert-euch.org
ser neue Parkplatz zum Lebens- und                                  Partizipation und Pandemie, Senatsverwaltung für
Veranstaltungsort wandeln und somit                                 Stadtentwicklung und Wohnen Berlin (siehe Seite 7):
Räume zurückerobern. Hintergrund                                    Download kostenfrei unter
ist die Privatisierung von Parkplätzen                              www.stadtentwicklung.berlin.de
in Chicago für die nächsten 75 Jahre.                               Pop im Kiez Toolbox, Clubkommission Berlin e.V.:
Dieser Vorgang warf einmal mehr die                                 Informationen über bauliche, technische und kom-
Frage auf: Wem gehört eigentlich der                                munikative Maßnahmen zur Konliktprävention und
öffentliche Raum?                                                   -lösung für Veranstaltungen im öffentlichen Raum,
www.parasite-parking.net                                            www.kiez-toolbox.de

                                                                                                                           Die ultramate VEKA SPECTRAL
                                                                    Glossar zur gemeinwohlorientierten Stadtentwick-
                                                                    lung, BBSR: Erklärung von Begriffen rund um das
                                                                    Thema Gemeinwohl, inklusive inspirierender Pro-        Oberfläche ermöglicht einzig-
                                                                    jekte, Bestellung und Download kostenfrei unter        artig reflexionsarme Entwürfe.
                                                                                                                           Sie ist zudem in elf Farbvarian-
                                                                    www.bbsr.bund.de

                                                                                                                           ten verfügbar. So vereinen Sie
                                                                    Stadtmacher-Portal, Nationale Stadtentwicklungs-
                                                                    politik: Webseite mit hilfreichen Informationen für
                                           Foto: Parasite Parking

                                                                    Stadtmacher*innen sowie einer Liste verschiedener      höchste Qualität und Funktion
                                                                    Netzwerke und Vereine,                                 mit ästhetischem Anspruch.
                                                                                                                           Mehr unter create.veka.de
                                                                    www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de
                                                                    Leerstandsmelder: Liste von ungenutzten Räumen
                                                                    in Deutschland, jede*r kann Leerstände hinzufügen
                                                                    und sich mit anderen Nutzer*innen über Ideen zum
                                                                    konstruktiven Umgang mit ihnen austauschen,
                                                                    www.leerstandsmelder.de

                                                                              November 2021 |                        03
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
FACHBEITRAG | Lehrmethode DesignBuild

Lehrmethode DesignBuild:
Bauen im Studium

                                                                                                                                Foto: design.build studio der Technischen Universität Wien
An dieser Stelle zeigen wir normalerweise Projekte, die
Student*innen im Rahmen des Studiums realisieren – Erst-
werke. In dieser Ausgabe wirft Jakob Bahret einen Blick auf
Potentiale und Schwächen der Lehrmethode, die diesen
Projekten zugrunde liegt.
                                                                                                                                                                                             Baustelle „OBENauf in
                                                                                                                                                                                             Unternalb“ Retz, Österrei-
        Zehn Stunden am Tag auf der Baustelle arbeiten
                                                                                                                                                                                             ch, Projekt der TU Wien
        und dafür bezahlen, Sonnenbrand trotz LSF 50 und
        Betonieren mit Schubkarre und Eimern bei strö-
        mendem Regen. Das erlebte ich auf der DesignBuild
        Baustelle in Tansania, an der ich 2015 teilnahm.
        Als DesignBuild werden in der Architekturlehre Pro-
        jekte bezeichnet, bei denen neben der Planung auch
        die Realisierung von Student*innen durchgeführt
        wird. Lernen durch tatsächliches Bauen ist der me-                                          Die Projekte eint auch heute kein einheitliches Kon-
        thodische Ansatz. Letztes Jahr widmete das Archi-                                           zept, die Ansätze sind vielseitig, die Namen unter-
        tekturmuseum der TU München diesem Thema eine                                               schiedlich; „DesignBuild“ ist nur einer von ihnen.
        Ausstellung und lieferte zusammen mit dem Kata-                                             Auch die Ziele sind nicht gleichlautend definiert,
        log einen Überblick, auch über die das Thema be-                                            wodurch sich die Projekte schwer vergleichen und
        gleitende Diskussion: „Experience in Action! Desi-                                          evaluieren lassen und die Diskussion diffus wirkt.
        gnBuild in der Architektur“. Die TUM selbst führt seit                                      Häufig werden Gebäude im globalen Süden von
        Jahren DesignBuild-Projekte durch.                                                          Institutionen und Student*innen aus dem globalen
        Die Geschichte dieser Lehrmethode ist lang. Die                                             Norden gebaut. Kritisiert werden die neokolonialen
        Kuratorin der Ausstellung, Vera Simone Bader, be-                                           Strukturen, die durch solche Projekte reproduziert
        schreibt sie in ihrem Beitrag im Katalog – das Bau-                                         würden und sich festigten. Als Rechtfertigung dient
        haus, das Black Mountain College in den USA und                                             der soziale Anspruch, dem sich die Projekte ver-
        die Ciudad Abierta in Chile sind Beispiele aus dem                                          pflichtet fühlen. Ob dieser erfüllt wird, ist fraglich.
        letzten Jahrhundert. Neben der praktischen Erfah-                                           Es wäre wichtig, sich näher mit postkolonialen
        rung bot die Lehrmethode Raum für unterschied-                                              Machtstrukturen, aber auch einfach mit den frem-
        liche experimentelle didaktische Ideen: Aktivismus,                                         den Gegebenheiten und Lebensgewohnheiten zu
        das Aufbrechen hierarchischer Strukturen der Leh-                                           beschäftigen. Oft sehen die Student*innen die ein-
        re und interdisziplinäre Ansätze wie soziologische                                          heimische Bevölkerung und das Grundstück das
        Methoden, beispielsweise in der Bedarfsermittlung                                           erste Mal, wenn sie ankommen, um zu bauen – und
        solcher Bauvorhaben im Bauhaus.                                                             das meistens unter großem Zeitdruck.

                                                                                                    Entwurfsprozess beim
                                                                                                    Workshop in Tacloban,
                                                                                                    Philippinen; Projekt der
                                                                                                    NTNU Trondheim, Nor-
                                                                                                    wegen

                                                                                                    Jakob Bahret ging nach dem Abitur mit dem „weltwärts-Programm“ des
                                                                 Foto: Alexander Eriksson Furunes

                                                                                                    BMZ für ein Jahr nach Tansania. Seitdem engagiert er sich für den Aus-
                                                                                                    tausch mit Tansania und beschäftigt sich mit der Entwicklungszusammen-
                                                                                                    arbeit. Im ersten Semester seines Architekturstudiums an der TUM war er
                                                                                                    auf einer Baustelle in Kibwigwa in Tansania. Als HiWi arbeitete er mit an
                                                                                                    der Ausstellung „Experience in Action! DesignBuild in der Architektur“
                                                                                                    und dem begleitend publizierten Katalog.

04                  | November 2021
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
Foto: TUM DesignBuild

Als Lehrangebot müssen die Projekte sich dem Curri-            DesignBuild könnte ein Instrument sein, um der kom-                                          Baustelle des Gäste-
culum unterordnen, Leistung wird auch hier benotet.            plexer werdenden Realität einer globalisierten Welt zu                                       hauses vom Krankenhaus
                                                                                                                                                            in Ngaoubela, Kamerun;
In gewisser Weise gelten viele der Kritikpunkte an De-         begegnen. Nachhaltigkeit, globale Verständigung und                                          Projekt der TU München
signBuild auch für weite Bereiche der Architektur. Auch        soziale Gerechtigkeit müssten keine add-ons, sondern
sie bildet bestehende Machtverhältnisse ab, das Bau-           Grundlage und Inhalt von Architektur und dessen Leh-
en, also das Produzieren von Gebäuden, scheint wich-           re werden. So könnte DesignBuild „vor der eigenen
tiger als die wenig lukrative selbstkritische Evaluation.      Haustüre“ aktivistisch wirksam werden. Wenn Projekte
Reglementierung und Bürokratie engen den Hand-                 im globalen Süden stattfinden sollen, sollten die Pri-
lungsspielraum ein und machen das Experiment sehr              vilegien des globalen Nordens geteilt, Menschen vor
unattraktiv. Muss Architektur so sein?                         Ort eingebunden und mit ihnen und nicht für sie Ent-
Die Lehre und in ihr DesignBuild-Projekte böten auch           scheidungen gefällt werden, um wirklich voneinander
heute eine Möglichkeit, Dinge etwas anders zu ma-              zu lernen. Manche DesignBuild-Projekte haben erste
chen. Und das ist auch ihr Potential. Besonders wich-          Schritte in diese Richtung                                                                   Die Ausstellung „Expe-
tig scheinen das fertige Gebäude und die schönen               aufgezeigt. Welchen nega-                                                                    rience in Action!“ wurde
Bilder zu sein, die Institutionen als Beweis ihrer             tiven Einfluss das Bauen                                                                     im Frühjahr 2020 zunächst
                                                                                                                                                            im Architekturmuseum der
sozialen, internationalen und nachhaltigen Ausrich-            haben kann, zeigt nicht                                                                      TU München gezeigt. Da-
tung präsentieren. Wenn wir die Lehre ernst nehmen,            nur die Kritik der Gegner                                                                    nach war sie in Hamburg
                                                                                                                        Foto: Yale School of Architecture

muss aber auch der Prozess berücksichtigt werden,              von DesignBuild- Projek-                                                                     und schließlich in Berlin zu
                                                                                                                                                            sehen. Begleitend dazu er-
nicht nur das Resultat. Diese Sichtweise haben wir             ten, sondern auch der                                                                        schien ein umfangreicher
auch in der Ausstellung betont. In vier thematischen           enorme negative Einfluss                                                                     Katalog, in dem Hinter-
Schwerpunkten, Recherche, Dialog, Entwerfen und                aufs Klima, den der                                                                          gründe zur Lehrmethode
                                                                                                                                                            erklärt und ausgewählte
Bauen, wurden 16 Projekte verschiedener Institu-               Bausektor hat. Also bitte

                                                                                                          GROSS
                                                                                                                                                            DesignBuild-Projekte ge-
tionen vorgestellt.                                            mehr anders!                                                                                 zeigt werden

                                                                                                        FLÄCHIG
                                                                                                         PLANEN
                                                    Von Grund auf durchdacht: VEKAMOTION 82. Das innovative Hebe-Schiebetürsystem
                                                    überzeugt durch maximierte Glasflächen bei höchster Stabilität. Für ästhetische
                                                    Lebensräume und lichtdurchfluteten Wohnkomfort. Mehr unter create.veka.de
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
FACHBEITRAG | Referat für Stadtverbesserung

            Mit der Aktion „100 Meter Zukunft“
            simulieren die Stadtverbesser*innen eine
            alternative Realität der Schwanthalerstraße

                                                                                                                                                                         Foto: Referat für Stadtverbesserung*
      Student*innen gestalten die Stadt

Sechs Architektur- und Urbanistikstudent*innen der TU München nutzten im Herbst
2019 die Gelegenheit, ihre Visionen für ein autofreies München zu Papier zu brin-
gen. Auf ihren Semesterentwurf folgte ein realisiertes Projekt und die Gründung
des „Referats für Stadtverbesserung“. Hier berichten sie von ihren Erfahrungen.

                                                                                                                  In dem Uniprojekt „Take back the streets!“ entwi-
Am mobilen Stammtisch kamen
die Organisator*innen mit den                                                                                     ckelten wir Ideen und Bilder für ein autofreies Mün-
Besucher*innen ins Gespräch                                                                                       chen. Insbesondere beschäftigten wir uns mit der
                                                                                                                  Schwanthalerstraße und dem südlichen Bahnhofs-
                                                                                                                  viertel – eine Herausforderung, wie sich heraus-
                                                   Foto: Elif Simge Fettahoğlu, Technische Universität München,

                                                                                                                  stellen sollte: Die Schwanthalerstraße ist eine bis
                                                                                                                  zu dreispurige Einfallstraße in die Münchner Alt-
                                                                                                                  stadt, spielte aber bei den lokalen Diskussionen
                                                                                                                  über die Verkehrswende lediglich eine Nebenrolle.
                                                                                                                  Das kommunale Engagement konzentrierte sich
                                                                                                                  eher auf angrenzende Stadtteile wie das Glocken-
                                                                                                                  bachviertel. Aber auch dort wurden nur wenige der
                                                   Lehrstuhl Urban Design

                                                                                                                  bereits beschlossene Konzepte und Ideen realisiert-
                                                                                                                  – viel politisches Engagement auf der einen und
                                                                                                                  wenig Umsetzungen auf der anderen Seite. Wie
                                                                                                                  kann das sein?

12                      | November 2021
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
Foto: Elif Simge Fettahoğlu, Technische Universität
                                                    München, Lehrstuhl Urban Design
                                                                                                   Anhand eines großen Modells konnte
                                                                                                   über die Zukunft und den Transformations-
                                                                                                   prozess diskutiert werden

Wir tun mal so, als wären wir eine Behörde
In der Universität hatten wir bisher nur die Entwick-
lung, nicht aber die Umsetzung von Konzepten ge-
lernt. Unser einziges Werkzeug für die Umsetzung
unserer Ideen aus dem Semesterprojekt war die
Partizipation – ein Wort mit vielen offenen Fragen.
Bei der Vorstellung von Entwürfen hört man häuig:
                                                                                                              Für das Semesterprojekt, das die
„... und hier gibt es Raum für die Bürger*innen.“                                                             Grundlage für die Aktion „100 Meter
Aber wer sind diese Bürger*innen, die eine bessere                                                            Zukunft“ war, entwarfen die
Stadt gestalten sollen? Und was ist dann eigentlich                                                           Student*innen Vorher-Nachher-Szenarien:
                                                                                                              Kreuzung Schwanthalerstraße
unsere Rolle? Sind wir keine Bürger*innen? Dürfen                                                             Hermann-Lingg-Straße heute
wir nicht einfach versuchen, unsere Ideen umzuset-
zen und dann anhand der Ergebnisse darüber dis-
kutieren? Von diesen Fragen geleitet waren wir uns
nach Semesterende sicher: Wir müssen uns fern der
Universität in den Dialog einbringen und selbst an
der Verbesserung des Stadtraums partizipieren. Vol-
ler Tatendrang gründeten wir das Referat für Stadt-
verbesserung. Die Idee ist einfach: Wir tun mal so,

                                                                                                                                                             Abb.: Referat für Stadtverbesserung*
als wären wir eine Behörde, und zeigen, wie Stadt
besser geht. Letztlich simulieren wir Zukunft, damit
sie Schritt für Schritt Realität werden kann.

„100 Meter Zukunft“: ein etwas anderes Uniprojekt
Eine Demonstration anmelden, das Uniprojekt aus-
stellen, ein Parklet auf einem Stellplatz bauen:
Hauptsache, das Projekt aus dem Wintersemester
irgendwie weiterverfolgen, bevor es sich im Som-
mersemester verläuft und das Referat für Stadtver-
besserung schneller aufgelöst als gegründet ist – so
der Stand im Frühjahr 2020, vor der Coronapande-

                                                                                                                                                             Abb.: Referat für Stadtverbesserung*
mie. Damals wussten wir noch nicht, dass Studieren
im nächsten Semester komplett anders werden
sollte. Zusammen im Studio arbeiten, gemeinsame
Kaffeepausen, Exkursionen in andere Städte und
Länder, das würde es vorerst nicht geben. Vieles,
was einige von uns für das Sommersemester ge-
plant hatten, war also erstmal verschoben, sodass
es genug Zeit für das Referat für Stadtverbesserung
gab. Das erste reale Projekt sollte die temporäre
Umgestaltung eines Parkplatzes sein. Aus den an-                                                              City Cooling im Jahr 2027

fangs geplanten fünf Metern sind letztlich 100 Meter
geworden. In Form eines freien Projekts planten wir
an den Lehrstühlen für Urban Design und Architek-
turinformatik die Sperrung der Schwanthalerstraße.
Auf 100 Metern wollten wir den Akteur*innen der
Stadt und den Menschen vor Ort einen Tag lang ein
alternatives Straßenlayout im Maßstab 1 : 1 präsen-
tieren – und so Lust auf Stadtverbesserung machen.
Den Menschen zeigen, wie die Stadt aussehen
könnte, wenn man mal Platz macht und die Flächen
resilient und lexibel umgestaltet.

                                                                                                                           November 2021 |              13
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
FACHBEITRAG | Referat für Stadtverbesserung

              Mit Yoga, Straßenpicknick
               und Musik eigneten sich

                                                                                                                                               Foto: Elif Simge Fettahoğlu, Technische Universität München, Lehrstuhl Urban Design
              die Menschen die Straße
                            vielfältig an

                                                                                      Wenn man es hier umsetzen kann, dann geht es
                                                                                      überall
                                                                                      Rückblickend sind wir stolz, dass wir verschiedene
                                                                                      Lehrstühle und Initiativen überzeugen konnten, an
                                                                                      dem Projekt „100 Meter Zukunft“ mitzuwirken. Denn
                                                                                      Stadtverbesserung erreicht man nicht als studen-
Parkplätze vor Marieluise-                                                            tische Gruppe allein – sie benötigt aktives Networ-
Fleißer-Realschule heute                                                              king mit sogenannten Stadtmacher*innen. Ein Groß-
                                                                                      teil der Vorbereitung bestand deshalb aus digitalen
                                                                                      Treffen mit Einzelpersonen und Organisationen, de-
                                                                                      nen wir unsere Ideen vorstellten und die sich schließ-
                                                                                      lich an der Aktion beteiligten. Der BUND Naturschutz
                                                                                      veranstaltete ein Picknick. Park Dein‘ Park kamen mit
                                                                                      ihrem beplanzten Kleintransporter vorbei. Make
                                                                                      Munich Weird designten Spiele für Bauzäune. Die
                                               Abb.: Referat für Stadtverbesserung*

                                                                                      Band Hills Like White Elephants spielten auf der Stra-
                                                                                      ße. Veronica leitete eine Yoga-Stunde zum Mitma-
                                                                                      chen. Zwischendurch fühlte sich das Projekt fast wie
                                                                                      ein Selbstläufer an, auch weil wir uns die große Be-
                                                                                      teiligung und Unterstützung nie hätten träumen las-
                                                                                      sen. Vor allem der Verein Green City und das Eine-
                                                                                      WeltHaus München waren wichtige Türöffner zu
                                                                                      Ressourcen. Als Sieger des Wettbewerbs „Gestalte
                                                                                      Deine Stadt – Grünes Licht für Deine Ideen!“ er-
                                                                                      hielten wir von Green City inanzielle Unterstützung
                                                                                      und Ratschläge für das Einholen von Genehmi-
                                                                                      gungen. Als Einrichtung vor Ort stellte uns das Ei-
                                                                                      neWeltHaus in der Schwanthalerstraße unter ande-
                                                                                      rem Räumlichkeiten, Strom und Wasser für den
                                               Abb.: Referat für Stadtverbesserung*

                                                                                      Veranstaltungstag und die Zeit davor zur Verfügung.
                                                                                      Letztlich konnte der Tag mit geringen inanziellen
                                                                                      Mitteln – unter anderem durch die Förderung der
                                                                                      Sto-Stiftung – und dank der Unterstützung Vieler
                                                                                      stattinden. Dazu trug auch bei, dass das Projekt Teil
                                                                                      des Studiums war. Denn so konnten wir sechs Tage
                                                                                      der Woche unentgeltlich an dem Projekt „100 Meter
                                                                                      Zukunft“ arbeiten – ein Privileg, wie wir heute als
Schulhof auf der                                                                      Berufseinsteiger*innen feststellen müssen.
Schwanthalerstraße im                                                                 Die Geschichte klingt bis jetzt sehr reibungslos. Das
Jahr 2027

14                           | November 2021
DER ENTWURF KOPRODUKTIVE STADTGESTALTUNG - November 2021 - Deutsche BauZeitschrift
Foto: Elisa Scheidt, Green City e.V.
ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Vor allem die
Genehmigung war mit vielen Unsicherheiten ver-
bunden. Viele haben uns anfangs von der Schwan-
thalerstraße östlich des Bavariarings abgeraten – im
Westend oder in einer kleineren Parallelstraße ließe
sich das Projekt einfacher durchführen. Die Schwan-
thalerstraße zu sperren sei aufgrund ihrer verkehr-
                                                                                      REFERAT FÜR STADTVERBESSERUNG*
lichen Bedeutung zu schwierig. Aber genau das war
für uns der Reiz. Wenn man es hier umsetzen kann,                                     Maximilian Steverding, Markus Westerholt, Annika Hetzel,
dann geht es überall. Es brauchte viele Gespräche                                     Michelle Hagenauer, Magdalena Schmidkunz, Linus
und Umplanungen, bis wir die Genehmigung und                                          Schulte

damit das Go erhielten. Erst zwei Tage vor der Ver-
anstaltung wussten wir: Die monatelangen Vorbe-
                                                                                      *jegliche Ähnlichkeit zu bestehenden Institutionen ist
reitungen waren nicht umsonst. Die Idee des Pro-                                      rein zufällig. Das Referat für Stadtverbesserung agiert in
jektes, die städtischen Diskussionen auf ein bisher                                   München, steht aber nicht in Verbindung mit der Stadt
                                                                                      München.
wenig betrachtetes Gebiet zu lenken, scheint aufzu-
gehen. Nun rücken die verschiedenen Quartiere ent-
lang der Straße ins Blickfeld der Stadtplanung und
Initiativen. Wie zum Beispiel in den der Münchner       auf der Volkartstraße in München ein Freiraumbü-
Initiative Nachhaltigkeit und ihrem Projekt Westend-    ro ein. Vorbeilaufende Bürger*innen können so mit
Kiez sowie in den des Zusammenschlusses Frei-           uns ins Gespräch kommen und über die Straße
raum-Viertel südlich des Münchner Bahnhofes.            diskutieren. Wir nennen
                                                        das Walk-in Partizipation
Das Studium endet irgendwann, Stadtverbesse-            – eine kooperative Form
                                                                                  Viel politisches Engagement auf
rung nie                                                der Stadtgestaltung.
                                                                                  der einen und wenig Umset-
Für einige von uns war das Projekt „100 Meter Zu-       Den öffentlichen Raum
                                                                                  zungen auf der anderen Seite. Wie
kunft“ die letzte Semesterarbeit in dieser Form. Wir,   fern des Verkehrs nutzen
                                                                                  kann das sein?
und damit auch das Referat für Stadtverbesserung,       und dadurch Irritationen
wachsen langsam aus der Studienzeit heraus. Das         erzeugen, die Diskussionen und Veränderungen
verändert auch die Referatsarbeit: Einige haben         ermöglichen, ist eine unserer Herangehensweisen,
nicht mehr so viel Zeit wie vor einem Jahr oder         der wir uns auch in Zukunft widmen werden. Denn
orientieren sich um, Neue kommen hinzu, Räum-           das Studium endet irgendwann, Stadtverbesserung
lichkeiten und Organisationsformen müssen ge-           nie.
funden werden. Zwischen Rechtsformen und An-
trägen verliert man da manchmal den Überblick
und auch den Spaß. Der Einfachheit halber viel-
leicht doch in einem Büro anstellen lassen und die
Referatsarbeit in die Freizeit schieben? Bleibt dann    Teil des Projektes war ein webbasierter Audioguide, die
noch genug Zeit für Stadtverbesserung? Sicherlich       „Stadtverführung“. Anders als bei einer Stadtführung
hätte uns eine niederschwellige Beratung geholfen.      beschreibt der Guide nicht den Status quo, sondern eine
                                                        Alternativrealität. Im Rahmen des Mobilitätskongresses
Jedoch sind Beratungsstellen an der TU München          der Stadt München soll die Stadtverführung um weitere
eher auf Start-ups mit einer klaren Produktidee als     Projekte – auch von anderen Initiativen – erweitert wer-
auf gemeinnützige Arbeit und Planungsaufgaben           den. Das Ziel ist es, verschiedene Zukünfte für München
                                                        abzubilden und diese den Bürger*innen unterhaltsam
ausgelegt. Auch Arbeitsräume würden das weitere         nahezubringen
Engagement erleichtern. Als Studierende stehen
einem 24/7 Räumlichkeiten zur Verfügung, was die
Zusammenarbeit sehr vereinfacht. Manchmal eig-
nen sich auch die eigenen vier Wände oder digitale
Räume – aber eben nicht immer. Wir werden also
                                                                                                                   Foto: Referat für Stadtverbesserung*

weitersuchen und improvisieren. Inzwischen jedoch
nicht mehr als studentische Gruppe, sondern als
Verein. Das ermöglicht uns, auch in diesem Som-
mer Projekte zu realisieren und Themen zu adres-
sieren, die wir für längst überfällig halten. Zum
Beispiel widmen wir uns der Frage, wie sich alltäg-
liche Wohn- und Geschäftsstraßen im Sinne der
Verkehrswende ändern müssen. Hierfür richten wir

                                                                                                 November 2021 |                                          15
FACHBEITRAG | IBA Thüringen STADTLAND

Kooperative Vorsorge auf dem Land
Wie können sich Orte in ländlichen Gebieten besser miteinander vernetzen und so
für eine bessere soziale Versorgung garantieren? Und wie unterstützt die räum-
liche Gestaltung neue soziale Angebote? Diesen und anderen Fragen widmet sich
die Internationale Bauausstellung Thüringen.

16             | Novemer 2021
Abb.: Kerstin Faber

November 2021 |
17
                  Abb.: Maria Garcia Perez, raumlaborberlin, 2015
FACHBEITRAG | IBA Thüringen STADTLAND

                                                        HALTESTELLE
                                                                                        GESUNDHEITSKIOSK
                                                                                        - Information
                                                                                        - Versorgung
                                                                                        - Vernetzung

                                                       TABLETT
                                                                                                                      SERVICE WAND
                                                                                                                      - Sitzbank
                                                                                                                      - Regal
                                                                                                                      - Pop-Up-Store mit
                                                                                                                        Kasse des Vertrauens
                                                                                                                      - E-Bike Ladestation
                                                                                                                      - WLAN Hotspot
                                                                                                                      - Landplausch

                                                                                                                                               Abb.: Pasel-K Architects, Berlin, 2020
     GEMEINSCHAFTSBEET
     - Co- Gardening
                                                                                               WARTEBEREICH
                                                                                              - Sozialer Treffpunkt
                                                                                              - Austausch

                                                                     TOURISTEN-
                                                                     INFORMATION

                        Komplexe gesellschaftliche Veränderungen bewir-            Diese Fragen haben sich die vier Gemeinden Blan-
                        ken, dass in vielen ländlich geprägten Regionen            kenburg, Kirchheilingen, Sundhausen und Tottleben
                        nicht nur immer weniger Menschen leben, auch               vor über zehn Jahren gemeinsam mit der Agrar-
                        das Verhältnis zwischen Stadt und Land, Alten und          genossenschaft gestellt und die Stiftung Landleben
                        Jungen gerät immer stärker aus dem Lot. Vor die-           gegründet, dessen Vorsitzender Frank Baumgarten
                        sem Hintergrund entstehen neue regionale Ko-               heute ist. Stiftungsziele sind die Umsetzung alters-
                        operationen zwischen Stadt und Land, die durch             gerechten Wohnens und die Wiederbelebung der
                        Vernetzung Ressourcen bündeln. Sie engagieren              ländlichen Bausubstanz sowie, ganz allgemein, die
                        sich für Mobilität, Bildung, Kultur, Wirtschaft und        Versorgung des ländlichen Raums. Kurz: Man küm-
                        Soziales und stiften durch den kollektiven Gestal-         mert sich um Fragen der Daseinsvorsorge und Le-
                        tungsprozess neuen Gemeinsinn. Das bindet nicht            bensqualität einfach selbst. Mittlerweile hat die
                        nur Menschen stärker an die Region, es fördert             Stiftung barrierefreien Wohnraum auf innerört-
                        durch die Organisation von Wissen und Teilhabe             lichen Brachen geschaffen, Sanierungsprojekte für
                        auch das demokratische Verständnis und Selbstbe-           leer stehende Häuser angestoßen und ein ehren-
                        wusstsein vor Ort. Dies ist umso wichtiger, je po-         amtliches Mobilitätsangebot für ältere Menschen
                        larisierender die räumlichen Entwicklungen sind.           eingeführt.

                        Gutes Leben auf dem Land                                   Kooperative Vorsorge
                        Frank Baumgarten ist Landwirt und im Vorstand der          Seit 2017 unterstützt die Stiftung Landleben den
                        Agrargenossenschaft e.G. Kirchheilingen in Thürin-         Verein Landengel e.V., der ein neues, überge-
                        gen. Er lebt schon immer auf dem Land und will auch        meindliches Plege- und Gesundheitskonzept ent-
                        in Zukunft hier gut leben. Aber nicht nur er wird älter,   wickelt. Die schlechtere Anbindung an die gesund-
                        auch die gesamte Region wird es. Und die Menschen          heitliche Primärversorgung durch den Rückbau der
                        werden weniger. Die Durchschnittsbürger*in ist in          öffentlichen Mobilitätsstrukturen bei gleichzeitig
                        Thüringen mit 47 Jahren neun Jahre älter als noch          alternder Bevölkerung vermindern die Lebensqua-
                        im Jahr 1990. Gleichzeitig ziehen junge Menschen in        lität. Zusätzlich fehlen Ansprechpartner*innen. Das
                        die größeren Städte, den höheren Bildungsabschlüs-         gemeindeübergreifende Konzept Landengel will
                        sen und neuen Berufszweigen hinterher, während             deshalb ein neues Gesundheits-, Plege- und Ver-
                        die älteren vornehmlich zurückbleiben. Was aber be-        sorgungsnetzwerk in der Dorfregion aufbauen.
                        deutet ein gutes Leben auf dem Land vor diesem             Dazu gehören ein Landzentrum mit Kita, Tagesple-
                        Hintergrund? Und wie wird man hier gut alt, wenn           ge sowie verschiedenen Gesundheitsangeboten
                        alle anderen auch älter werden?                            und Dienstleistungen unter einem Dach sowie „Ge-

18                     | Novemer 2021
sundheitskioske“ als Anlaufstelle und dezentraler             Wie können soziale Angebote wie ein Ge-
Treffpunkt für Versorgungsfragen und Beratungen               sundheitskiosk räumlich und gestalterisch
in den beteiligten Orten.                                     sichtbar gemacht werden?
Der Verein wird beherzt geführt und aufgebaut von
Christopher Kaufmann, gelernter Krankenpleger
und Betriebswirt und mittlerweile Bürgermeister        Kioske je Gemeinde als architektonische Familie
der Gemeinde Sundhausen. Mit Hilfe einer Förde-        begreift, die trotz unterschiedlicher Standorte ein
rung unterstützt ihn seit Januar 2019 eine Kümme-      zusammenhängendes Ganzes darstellen. Sie die-
rin als Landengel. Sie führt regelmäßige Sprech-       nen jeweils als Beratungsraum genauso wie als
stunden in provisorisch hergerichteten Räumen in       zuschaltbarer Wartebereich für den Bus und haben
den jeweiligen Gemeinden durch, erarbeitet Lö-         eine Toilette integriert. Als Holzkonstruktion aus-
sungen für Probleme in den Bereichen Mobilität,        geführt, wird die Bauweise je Standort und Ge-
Wohnen, Plege und Gesundheit und leistet Hilfe-        meinde individuell erfolgen, um gleichzeitig neue
stellung bei bürokratischen Fragen. Das Vorhaben       Wege Thüringer Holzbaukulturen vorzustellen.
ist bis heute auf 16 Partner*innen gewachsen, der      Die weitere Planung dazu erfolgt seit Sommer 2021
Verein zählt 250 Mitglieder*innen – Tendenz stei-      als IBA Bauhüttenprozess mit offenem Baubüro.
gend. Etwa 300 Menschen werden je Quartal seit-        Im Wintersemester 21/22 wird ein DesignBuild-
dem beraten, unterstützt und versorgt.                 Prozess der TU-Berlin angedockt, der wiederum
Doch wie kann man dieses erfolgreiche Angebot          den Ausbau der Bauhütte – ein leer stehendes Kon-
räumlich und gestalterisch nachhaltiger sichtbar       sumgebäude – gemeinsam mit Student*innen und
machen? Wie und in welcher Gemeinde soll das           Auszubildenden zum Ziel hat. Um die Gesundheits-
Landzentrum entwickelt werden? Und was sind            kioske als Orte des Gemeinwohls zu etablieren und
eigentlich „Gesundheitskioske“, die es ja noch gar     ihnen Wertigkeit und Wertschätzung zu verleihen,
nicht gibt? Um diese Fragen zu beantworten, wur-       ist nicht nur eine gute und nachhaltige Gestaltung,
den die Akteur*innen Projektkandidaten der Inter-      sondern auch ein integrativer und sichtbarer Ent-
nationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen. Das         wicklungsprozess identitätsstiftend.
über zehnjährige Planungs- und Baukulturformat         Im Jahr 2022 werden vier Kioske fertiggestellt sein.
mit Abschluss im Jahr 2023 geht unter dem Motto        Auch das angedachte Landzentrum könnte in we-
STADTLAND neuen Entwicklungsansätzen nach.             nigen Jahren einen neuen Beitrag zur Versorgung
Hier wird an der Schnittstelle von lokal und global,   und Lebensqualität leisten. Dazu wurde aktuell
Stadt und Land, urban und rural gearbeitet. Über       eine Machbarkeitsstudie durch Atelier Fanelsa ge-
30 Vorhaben begleitet, unterstützt oder leitet das     meinsam mit der L.I.S.T. GmbH aus Berlin erarbei-
Team der IBA im gesamten Freistaat. Es gestaltet       tet, die Standorte, Rahmenbedingungen, Finanzie-
und moderiert die Entwicklungsprozesse ab der          rung, Trägerschaft, Betrieb und Gestaltungsregeln
Phase Null für die Architektur-, Kultur- und Land-     für das größere Bauvorhaben untersuchte und ge-
schaftsprojekte, die beispielhaft Antworten auf        meinsam mit den Akteuren vor Ort erarbeitete. Die
gesellschaftliche und räumliche Stadt-Land-Frage-      nächsten Entwicklungsschritte werden gerade vor-
stellungen entwickeln. Im Vordergrund stehen ko-       bereitet. Im Präsentationsjahr der IBA Thüringen
operative Zusammenarbeit, Nachhaltigkeit und           2023 werden die Ergebnisse vorgestellt, die Arbeit
Lebensqualität gepaart mit einem innovativen Ge-       geht jedoch weiter: natürlich kooperativ.
staltungsanspruch.

Gemeinsamer Gestaltungsprozess
Kooperativ wird im Rahmen der IBA Thüringen
deswegen auch weitergearbeitet. In Tischgesprä-        VITA
chen mit den Gemeinden der Dorfregion Selten-
rain, der Stiftung Landleben und dem Verein Land-      Kerstin Faber, M. Arch., ist seit 2014 Projektleiterin der Internationalen Bauausstellung
                                                       (IBA) Thüringen STADTLAND. Als Prozessgestalterin leitet sie Projekte zu Themen der
engel wurden zunächst Vorschläge diskutiert, die       klimagerechten Stadtumbaukultur und neuen Klimakulturlandschaften, der kooperativen
sogenannten Gesundheitskioske an den zentralen         Gestaltung ländlicher Räume und nutzerorientierten Stadtentwicklung. Von 2003 bis 2010
Bushaltestellen der Gemeinden anzudocken. Pasel-       war sie Projektentwicklerin der IBA Stadtumbau 2010 zum Thema schrumpfende Städte
                                                       und co-kuratierte die Abschlussausstellung im Bauhaus Dessau. Von 2011 bis 2014 lehrte
K Architects aus Berlin entwickelten im Auftrag der    sie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Fachbereich Internationaler Städtebau.
IBA Thüringen daraufhin ein Design-Manual, das         Sie ist u.a. Mitherausgeberin der Publikation »Raumpioniere in ländlichen Regionen« ge-
diese Idee räumlich und gestalterisch untersuchte      meinsam mit Prof. Philipp Oswalt und Gastredakteurin des Arch+ Magazins »Stadtland.
                                                       Der neue Rurbanismus«.
und öffentlich zur Diskussion stellte. Entstanden
ist ein Konzept, das die maximal 25 m2 großen

                                                                                                 November 2021 |                              19
FACHBEITRAG | Thema

                                                                                                                                   Placemaking an einem
                                                                                                                                   innerstädtischen Un-
                                                                                                                                   Ort in Mannheim: Die

                                                                                                                Foto: Alex Münch
                                                                                                                                   Haltestelle Fortschritt
                                                                                                                                   2017 machte einen un-
                                                                                                                                   genutzten Stadtraum
                                                                                                                                   wieder sichtbar

Koproduktion in Architektur und Stadtgestaltung löst positive Effekte auf mehre-
ren Ebenen aus. So beurteilt es auch Wulf Kramer. Der Architekt ist an mehreren
Projekten in verschiedenen Akteurskonstellationen beteiligt.

Offene Angebote statt Hochglanzge-
staltungsabsichten
                             Stadt selber machen hat Konjunktur! Das zeigten         le für das soziale Miteinander wurde offensichtlich.
                             unzählige Initiativen, Gruppen und Vereine in den       Aber bereits vor der Pandemie hatten viele Projekte
                             letzten Jahren und auch aktuell immer wieder. Wo-       und Akteur*innen die Absicht, neue öffentliche Orte
                             mit die Projekte häufig starten, ist die Vorstellung,   im Quartier und für die Nachbarschaft zu realisie-
                             dass es dieses Mal doch anders ablaufen kann als        ren, die einen Kontrapunkt der gängigen öffent-
                             nach Schema F. Und dass es doch bestimmt ein bes-       lichen Orte darstellen, sich einer kommerziellen
                             seres Projekt wird, wenn man gemeinsam überlegt,        Verwertungslogik entziehen und niederschwellig
                             welche öffentlichen (Innen-)Räume und Plätze wir        erreichbar sind. Diese Orte funktionieren eher durch
Mit der OASE soll die        brauchen und wie diese genutzt, entwickelt und          ihr Programm und ihre offenen Angebote, welche
ehemalige Biergartenflä-
che an der Kurpfalzbrücke    schließlich auch betrieben werden sollen. Die tem-      sich in einem ersten Schritt als relevanter erweisen
in Mannheim zu einem         poräre Umsetzung urbaner Prototypen aktiviert die       als architektonische Qualität und Hochglanzgestal-
bleibenden öffentlichen      Anwohnerschaft und lokale Akteur*innen, über mög-       tungsabsichten.
und konsumzwangfreien
Raum werden, der die         liche Zukünfte nachzudenken. Zugleich schaffen sie      Koproduktion, also die aktive Beteiligung und
Bewohner*innen des           eine neue Ausgangsposition für die Diskussion mit       Zusammenarbeit über sektorale Grenzen hinweg,
Quartiers mit niedrig-       städtischen und politischen Akteur*innen.               schafft es, dass die Akteur*innen selbst zu Besit-
schwelligen Kultur-, Bil-
dungs- und Freizeitange-     Während der Pandemie hat sich die Bedeutung zu-         zer*innen des Prozesses werden. So ergänzen ko-
boten zusammenbringt         gänglicher und attraktiver Orte verstärkt – ihre Rol-   produktive Ansätze Projekte mit lokalem Wissen und
                                                                                     verankern sie im Quartier. Sie schaffen neue Netz-
                                                                                     werke und stärken den sozialen Zusammenhalt. Ne-
                                                                                     ben diesen weichen Faktoren generieren die Projekte

                                                                                     VITA

                                                                                     Wulf Kramer ist Mitgründer von Yalla Yalla! – studio für
                                                                                     change, einer Planungs- und Innovationsagentur, die sich
                                                                                     auf Aktivierungs- und Betreiberkonzepte sowie Creative
                                                                                     Placemaking spezialisiert hat. Seit Sommer 2020 ist er
                                                                                     außerdem Co-Projektleiter des vom BBSR geförderten
                                                    Foto: Alex Münch

                                                                                     Pilotprojektes der Nationalen Stadtentwicklungspolitik
                                                                                     „OASE“ in Mannheim.

24                          | November 2021
auch einen inanziell messbaren Mehrwert für das          Anwohner*innen, städtischen Ämtern und der
Quartier und die Gemeinschaft vor Ort, wie Doina         städtischen Projektentwicklungsgesellschaft. Aus-
Petrescu et. al aufzeigen (D. Petrescu et. al: „Calcu-   gangsgpunkt ist das Projekt ALTER, das vom dafür
lating the value of the commons: Generating resili-      gegründeten Verein POW! e.V. 2018 als kulturelle Zwi-
ent urban futures“). Dieser Mehrwert ergibt sich,        schennutzung einer vormals ungenutzten Restläche
wenn man statt einer auf rein ökonomischen Fak-          gestartet wurde und zum öffentlichen Wohnzimmer               Die OASE entwickelt sich
toren beruhenden Kosten-Nutzen-Analyse soziale           des Stadtteils avancierte, zeitlich aber befristet ist. Die   ständig weiter. Im mo-
                                                                                                                       natlichen Montagstreff
Komponenten wie z.B. individuelles Wohlbeinden,          OASE ist mehr ein Prozess als tatsächlich Planung,            können alle Interessier-
Lebensqualität und Gesundheit in monetäre Größen         der auch zum Ziel hat, ein gemeinsames Verständnis            ten über die Zukunft des
übersetzt und in die Analyse mit einbezieht. Gleich-     des Ortes, seiner Nutzung und Angebote zu schaffen.           Ortes diskutieren und ge-
                                                                                                                       meinsam Pläne entwi-
zeitig schaffen viele Projekte eigene, bezahlte Stel-    Ziel ist ein langfristiges und von Quartiersakteuren          ckeln
len und akquirieren Förder- und Projektmittel.           und der Bewohnerschaft
                                                         mitgetragenes Nut-
Wie schaut das auf der Projektebene aus?                 zungskonzept.
Die Haltestelle Fortschritt – ein 10-tägiges Pop-up-
Festival, das Brachlächen temporär aktiviert und         Wie geht es jetzt weiter?
mit einem vielseitigen Programm bespielt – fand          Während es schon zahl-
das erste Mal 2017 an einer unwirtlichen Stelle di-      reiche und hochqualita-
rekt am Rande der Mannheimer Innenstadt statt und        tive Projekte mit einem

                                                                                                                                                    Foto: Alex Münch
zeigte unerwartete Qualitäten und Nutzungsmög-           koproduktiven Ansatz
lichkeiten des Ortes. Organisiert wurde es gemein-       gibt und die Mehrwerte
sam von Yalla Yalla! und Studio Brückner&Brückner        ausführlich bewiesen
mit der Unterstützung des Kulturamtes, des Bezirks-      worden sind, mangelt
beirats, der Kulturellen Stadtentwicklung und des        es gleichzeitig an struk-
Quartiermanagements. An Ort und Stelle hat sich          turellen Anpassungen.
seitdem wenig verändert, obwohl es Stimmen gab,          Erste lokale und kom-
die den Ort weiter bespielen wollten. Was es aber        munale Entwicklungen,
gibt und auf die Initiative der Macher*innen und         passendere Verwal-
Förderer zurückgeht, ist ein Aktionsfonds für urbane     tungsstrukturen aufzu-
Interventionen, der vom Gemeinderat beschlossen          bauen, wie z.B. in Mann-

                                                                                                                                                    Foto: Alex Münch
wurde und – mit etwas Verzögerung – im kommen-           heim mit der Kulturellen
den Jahr verfügbar sein wird. Mit ihm werden wei-        Stadtentwicklung oder
tere Akteur*innen inanziell und mit Know-how un-         mit dem Referat für Kre-
terstützt, um eigene Projekte anzugehen und              ative Stadt in Kiel, stim-
                                                                                                                       ALTER ist ein befristetes
umzusetzen. Man merkt, auch temporäre Projekte           men hoffnungsfroh. Wir sind also weiterhin optimi-            Projekt in Mannheim, aus
können zu strukturellen Veränderungen führen.            stisch, dass die Potentiale einer koproduktiven               dem sich die OASE entwi-
Bei der OASE Mannheim – ein vom BBSR gefördertes         Stadtentwicklung und der Stadt-Anders-                        ckelte. Kostenlose Sport-
                                                                                                                       und Kulturangebote so-
und auf drei Jahre ausgelegtes Projekt – steht Kopro-    Macher*innnen von weiteren Akteur*innen aufge-                wie ein Kiosk bieten Platz
duktion im Sinne einer gemeinsamen Ideenindung           griffen und umgesetzt werden, während gleichzeitig            zum Verweilen und Spaß-
im Vordergrund. Dabei geht es um die dauerhafte          auch notwendige strukturelle Anpassungen ange-                haben

Entwicklung einer zentral gelegenen Brachläche un-       gangen werden. Die Alternative dazu hat nämlich
weit der Mannheimer Innenstadt gemeinsam mit den         schon viel zu lange unsere Städte geprägt!
FACHBEITRAG | Alte Mu Kiel

                                                       Die ehemaligen Gebäude der Muthesius Kunsthoch-
                                                       schule in Kiel werden mittlerweile von verschiedenen
                                                       Akteur*innen genutzt. Sie organisierten sich zunächst
                                                       über einen Verein und gründeten nun eine Genossen-
                                                       schaft, um Raum zum Wohnen und Wirken zur
                                                       Verfügung zu stellen und das Grundstück durch ein
                                                       Erbbaurecht langfristig der Spekulation zu entziehen

Das kreative Dorf in der Stadt         Foto: 3komma3

              Die Alte Mu ist ein Zusammenschluss verschiedener Projekte, die sich
              das leerstehende Gelände der ehemaligen Muthesius Kunsthochschu-
              le in Kiel angeeignet haben. Mittlerweile haben die Pioniere die Alte
              Mu zu einer festen Institution in Kiel gemacht. Im Gespräch erzählen
              Friederike Kopp und Florian Michaelis, wie es dazu kam und wie sich
              die Alte Mu weiterentwickeln soll.

              Was heißt für euch „Recht auf Stadt“?                                                               Wie kam es zu eurem Zusammenschluss?
              Friederike Kopp: Die Stadt gehört uns allen; wir                                                    FK: Früher war hier die Muthesius Kunsthochschu-
              wollen aber auch alle Verantwortung für diese Stadt                                                 le, deswegen heißen wir auch Alte Mu. Als die aus-
              übernehmen. Das zeigen wir, glaube ich, in der Al-                                                  gezogen ist, standen viele Räume leer. Innerhalb
              ten Mu sehr gut, dass Leerstand nicht besetzt wer-                                                  kürzester Zeit kamen etwa zwölf Projektgruppen
              den muss. Wenn es Bedarf gibt und Platz und Res-                                                    zusammen, die schnell gemerkt haben, sie wollen
              sourcen, dann sollten sie geteilt werden.                                                           hierbleiben und sich zusammen organisieren.
              Florian Michaelis: Das Recht auf Stadt bedeutet                                                     Schließlich wurde der Verein gegründet, Alte Mu
              auch, zu ermächtigen Städte mitzugestalten. In der                                                  Impuls Werk e.V., um eine Institution zu haben, für
              Stadtentwicklung der letzten 50 oder 100 Jahre wur-                                                 den Kampf bleiben zu dürfen. Dass wir noch immer
              den die Antworten auf die Fragen, wie wir leben                                                     dabei sind, um die Zukunft zu kämpfen und uns
              wollen oder wie die Stadt von morgen aussieht,                                                      dieses Recht auf Stadt erarbeiten, gehört, glaube
              nicht in der Breite der Gesellschaft gesucht, son-                                                  ich, auch viel zu unserer Geschichte.
              dern nur bei denjenigen, die tatsächlich an der Pla-                                                FM: Das Recht auf Stadt hat inzwischen eine andere
              nung beteiligt waren. Wir sagen: Eigentlich haben                                                   Dimension bekommen. Wir sind nicht mehr dabei,
              alle ein Interesse daran, wie die gebaute Umwelt                                                    Gebäude zu besetzen, sondern jetzt versuchen wir,
              aussieht.                                                                                           das Projekt zu verstetigen über eine Beteiligung ba-
                                                                                                                  sisdemokratischer Art. Von einer Zwischennutzung,
                                                                                                                  die auch schon stetiger war als das davor, hin zu einem
                                                                                                                  99 Jahre geltenden Erbbaurechtsvertrag mit der tat-
                                                                                                                  sächlichen Verantwortung für das ganze Gelände.

                                                                                                                  Aufgrund der Vorgabe der Stadt Kiel, Wohnraum auf
                                                                                                                  dem Gelände der Alten Mu zur Verfügung zu stellen,
                                                                                Foto: Daniela Meise Photography

                                                                                                                  entwickelten die Mitglieder*innen des Vereins ein
                                                                                                                  kooperatives Verfahren zur Neugestaltung des Areals.
                                                                                                                  Es besteht im Wesentlichen aus drei öffentlichen
                                                                                                                  Ideenwerkstätten, zu denen drei Architekturbüros
                                                                                                                  eingeladen wurden (im Bild der erste Termin Anfang
                                                                                                                  September). Am Ende des Prozesses wird ein Entwurf
                                                                                                                  stehen, der gemeinschaftlich entwickelt wurde und
                                                                                                                  der anschließend umgesetzt werden soll

26           | November 2021
Foto: Daniela Meise Photography
                            Bei der zweiten Ideenwerkstatt Anfang Oktober
                            präsentierten die Architekturbüros ihre ersten Ideen. Die
                            Jurysitzung findet Ende November, nach einer weiteren
                            Bearbeitungsphase für die Entwerfer*innen, als öffentliche
                            Veranstaltung statt. In der Jury sitzen neben der Alten
                            Mu auch die Stadt Kiel mit einem Vertreter des Beirats für
                            Stadtgestaltung, die Arbeitsgemeinschaft zeitgemäßes
                            Wohnen sowie zwei Partnerprojekte der Alten Mu

Zu Anfang war nicht klar, dass ihr so lange in den
alten Hochschulgebäuden bleiben könnt. Was stand
dem im Weg?
                                                                         Das Recht auf Stadt hat inzwi-
FK: Das ganze Grundstück gehört dem Land Schles-
                                                                         schen eine andere Dimension
wig-Holstein und als die Kunsthochschule ausgezo-
                                                                         bekommen – wir sind nicht
gen ist, sollte es neu genutzt werden. Davon wussten
                                                                         mehr dabei, Gebäude zu beset-
wir Jungen, Kreativen, Naiven aber natürlich nichts.
                                                                         zen.
Ich war eine von denen, die einfach nur in dieser Stadt
lebte und Lust hatte, was zu machen. Ich hatte mir
noch gar nicht so viele Gedanken gemacht, was da-         Welche Mehrwerte und Schwierigkeiten entstehen
hintersteckt. Das habe ich alles erst jetzt kapiert.      dadurch, wenn so viele Leute gemeinsam ein Ziel
                                                          verfolgen?
Gab es denn schon konkrete Pläne für das Grund-           FM: Koproduktion bereichert durch das Mehr an
stück?                                                    Ideen, das Mehr an Identiikation und die Strahlkraft.
FK: Es gab Briefe an das Land und Anrufe von Leuten,      Nur so können wir uns tatsächlich einen Ort schaffen,
die das Grundstück kaufen und „den Kreativen“ einen       mit dem wir uns identiizieren. Ein Projekt, das von
Mietvertrag für eine gewisse Zeit geben wollten. Aber     oben gestaltet wird und bei dem gesagt wird – so
für uns war immer klar: Wir wollen das gemeinschaft-      sieht das jetzt aus und ihr müsst euch dem Ort an-
lich besitzen, deswegen wollen wir ein Erbbaurecht        passen, kann solche Mehrwerte nicht erreichen. Wir
und eine Genossenschaft gründen. Es soll möglich          kehren das Bild um, das dauert aber ein bisschen
sein Dinge basisdemokratisch zu gestalten.                länger.
                                                          FK: Genau. Die lange Zeit, die dieser Prozess schon
Da hattet ihr ja Glück, dass am Ende alles so ge-         dauert, führt auch zu Schwierigkeiten. Manchmal
klappt hat, wie ihr euch das vorgestellt habt.            wechseln die Ansprechpersonen in den beteiligten
FK: Ich glaube wir haben es geschafft, weil wir auf       Projekten und dann kostet es viel Energie, alle Leute
eine Mischung der wirtschaftlichen Interessen bei         wieder auf einen Punkt zu bringen. Aber das macht
der Kreativszene geachtet haben. Dass wir eben Kul-       riesigen Spaß, auch, weil man dadurch bereits Er-
tur und Subkultur haben, aber auch Unternehmen,           arbeitetes nochmal überdenken kann. Es ist wichtig,
die viele Arbeitsplätze schaffen. Wir können auch im-     dass wir viel kommunizieren und gemeinsam erar-
mer damit argumentieren, dass wir hier was für das        beiten, weil dann auch das Verständnis für Umpla-
Gemeinwohl tun, dass wir Veranstaltungen machen,          nungen größer wird. Beispielsweise stehen wir ge-
aber auch in nachhaltige Bildung investieren.             rade vor der Herausforderung, was mit einer großen
FM: Und damit, dass die Projekte, die hier vor Ort        Bürogemeinschaft, die gern zusammenbleiben will,
sind, sich mit Innovationen und Nachhaltigkeit aus-       passieren soll, weil sie in ihren jetzigen Räumen nicht
einandersetzen. Also Immobilienhändler wären hier         bleiben können. Mit denen kommunizieren wir früh-
fehl am Platz. Das stellen wir durch die Gemein-          zeitig, damit sie Verständnis haben: Ich muss mich
schaft sicher und dadurch, dass wir uns auf einen         verändern, damit du dich verändern kannst. Das ist
Kodex geeinigt haben, wie wir leben wollen.               ein großer Gewinn.

                                                                                    November 2021 |                                 27
FACHBEITRAG | Alte Mu Kiel

                                                                                                                                                   Abb.: graadwies
        Visualisierung von
  graadwie auf Grundlage
  einer Volumenstudie für
        die Bauvoranfrage

                              Inzwischen plant ihr sogar bauliche Veränderungen.           Es klingt so, als wäre die Stadt euch gegenüber sehr
                              Wie sieht der Gestaltungsprozess aus?                        wohlgesonnen. War das schon immer so?
                              FM: Da muss man in der Geschichte ein bisschen               FK: Ich glaube, wir haben uns mittlerweile gegen-
                              zurückgehen. Warum gibt es diesen Prozess? Wir               seitig kennengelernt. Ein aktuelles Beispiel: Bei der
                              müssen, da wir Fördergelder in Anspruch nehmen,              Dachgartenplanung sind wir ins Stocken geraten,
                              zur städtebaulichen und architektonischen Quali-             weil man uns sagt, dass sie wegen des Denkmal-
                              tätssicherung ein konkurrierendes Verfahren durch-           und Lärmschutzes nicht möglich ist. Das wird ein
                              führen. Aus unserer Sicht würde aber eine solche             Thema in der anstehenden Ideenwerkstatt, wo wir
                              Vorgehensweise zuwider den Interessen und dem                eine Lösung finden wollen, weil die Stadt ja auch
                              Charakter des Projektes sein, diesem langsam ent-            da sein wird. Wenn wir zu solchen Problemen kom-
                              standenen Humus, den wir für ganz essenziell hal-            men, fragen wir beharrlich nach dem Warum, bis
                              ten. Wir würden wachsen, wachsen, wachsen, wie               wir es selbst verstanden haben oder bis wir einen
                              ein kleines Pflänzchen und dann würde ein Pflaster-          gemeinsamen Kompromiss gefunden haben.
                              stein obendrauf gesetzt werden, das Pflänzchen               FM: Wir haben immer politische Ziele abgesteckt
                              wäre tot. Deswegen haben wir uns lange mit der               und unser Handeln damit untermauert. Zum Bei-
                              Architektenkammer und der Stadt Kiel auseinan-               spiel: Was hat das, was wir tun, mit dem Gemein-
                              dergesetzt und haben ein Verfahren entwickelt, das           wohl zu tun? Dadurch hatten wir immer eine gute
                              uns ermöglicht, kooperativ mit drei eingeladenen             Argumentationsgrundlage gegenüber der Stadt-
                              Architekturbüros einen Entwurf für die Alte Mu               verwaltung und der Politik. Wir mussten dann ei-
                              herauszuarbeiten – transparent und die ganze Zeit            gentlich nur noch Wege mit der Verwaltung finden
                              öffentlich.                                                  – entweder zu einem Kompromiss, einer Rebellion
                                                                                           oder zum Einverständnis. Inzwischen hat die Alte
                                                                                           Mu so viele Impulse in die Stadt gegeben, dass wir
                                                                                           gut miteinander reden können. Aber anfänglich hat-
VITAE                                                                                      ten wir hatten auch sprachliche Barrieren. Nicht nur
                                                                                           intern, auch mit der Stadt. Was bedeutet denn ei-
Friederike Kopp studierte Kunstgeschichte und Germanistik an der CAU Kiel. Seit 2015
ist sie in diversen Funktionen in der Alte Mu tätig: Kulturarbeit im Fahrradkinokombinat   gentlich „privatrechtliche Zustimmung“? Inzwischen
e.V., Vorstandsarbeit im Alte Mu Impuls-Werk e.V., Projekt- und Kulturmanagement im        ist dieses Wörterbuch der Kommunikation Alte Mu
Planungsbüro für Urbane Transformation GmbH. Aktuell betreibt sie das Community-           – Stadt ziemlich dick geworden und damit können
Management für die Alte Mu und ist an der Projektentwicklung in der Urbane Impulse
GmbH beteiligt. Seit April 2021 ist sie Teil des Vorstands der Alte Mu eG.                 wir sehr gut arbeiten. Aber das braucht Zeit und
                                                                                           Vertrauen und eine faire Kommunikationsebene.
Florian Michaelis ist aktives Mitglied des Alte Mu Impuls-Werk e.V. und gründete 2017
das Büro graadwies transformative Architektur & Stadtentwicklung, das Teil der Alten Mu
ist. Zur Professionalisierung der Projektentwicklung der Alten Mu gründetet er gemein-     Das Gespräch fand am 31. August statt. Mittlerwei-
sam mit anderen die „Planungsbüro für Urbane Transformation GmbH“. Außerdem ist            le sind zwei der drei Ideenwerkstätten abgeschlos-
er Mitbegründer der Alte Mu eG und der Urban Beta UG zur Erforschung nomadischer           sen, die Jurysitzung wird Ende November folgen.
Quartiere zur Bekämpfung der Wohnungsknappheit (Zukunft Bau).
                                                                                           Die Ergebnisse werden unter www.altemu-eg.de
                                                                                           zu sehen sein.

28                           | November 2021
Sie können auch lesen