Unterbringung von geflüchteten Menschen und die Corona-Pandemie - AWO STANDPUNKTE MIGRATION UND FLUCHT
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Unterbringung von geflüchteten Menschen und die Corona-Pandemie Forderungen an die Politik und Empfehlungen an die Praxis AWO STANDPUNKTE MIGRATION UND FLUCHT
IMPRESSUM AWO Bundesverband e.V. Heinrich-Albertz-Haus Blücherstraße 62/63 10961 Berlin Telefon: +49(0)30-26309-0 E-Mail: info@awo.org Internet: www.awo.org Verantwortlich: apl. Prof. Dr. jur. habil. Jens M. Schubert, Vorstandsvorsitzender Redaktion: Manuel Armbruster, Thomas Heser, Sinje Vogel Layout/Satz: Linda Kutzki, Sebastian Wagner – textsalz.de Lektorat: Dr. Joachim Schwend Bild: iStockphoto.com © AWO Bundesverband e. V. Berlin, Oktober 2021 Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher vorheriger Zustimmung des AWO Bundesverband e. V.
UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Inhaltsverzeichnis 4 Einleitung 6 I. (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünfte als Teilhabe-Hemmnis 10 II. Eingeschränkte gesundheitliche Teilhabe 16 III. Mangelnde soziale Teilhabe durch fehlende digitale Zugänge 18 IV. Besondere Schutzbedarfe 22 V. Gewalt 26 VI. Fazit 28 Literaturverzeichnis 3
4 UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Einleitung Seit über einem Jahr hat die Corona-Pande- § 53 AsylG). Einheitliche, bundesweite und ver- mie große Veränderungen für alle Menschen bindliche Mindeststandards für Erstaufnahme- in so gut wie jedem Lebensbereich herbeige- sowie Folgeeinrichtungen bestehen noch immer führt. Dieses Papier richtet den Fokus auf die nicht. Zugleich wurde seit 2015 die Verpflich- pandemiebedingten Erschwernisse, die sich für tung in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu woh- Schutzsuchende in Unterkünften1 für geflüch- nen schrittweise von drei auf 18 Monate erwei- tete Menschen2 ergaben. Geflüchtete in (Erst-) tert.3 Die Herangehensweisen der Bundesländer Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschafts- und Kommunen in Bezug auf Aufnahmestan- unterkünften sind im besonderen Maße von dards, Wohnfläche, Betreuungsrelationen sowie der Pandemie betroffen, da die vorgefundenen Vorgaben bezüglich Lage, Infrastruktur der Ein- Wohnbedingungen einen kaum ausreichenden richtungen sowie der Qualifikation des Betreu- Schutz zulassen. Obwohl gerade die Bewoh- ungspersonals variieren enorm.4 ner*innen von Geflüchtetenunterkünften dem Virus stark ausgesetzt sind (vgl. Monitor 2020), Eine Thematisierung der Probleme der (Erst-) hat diese Gruppe kaum Beachtung gefunden. Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsun- Häufig kam es zu sogenannten Kollektiv- oder terkünften in Zeiten der Pandemie steht daher auch Kettenquarantänen, was für die Bewoh- vor der Schwierigkeit der äußerst heterogenen ner*innen der Unterkünfte Auswirkungen auf Ausgestaltung der Unterbringung sowie einer Asylverfahren, Gesundheit, Beruf, Ausbildung großen Varianz der vor Ort getroffenen Maß- und Schule und so letztendlich auf ihre soziale nahmen zum Infektionsschutz. So zeichnet sich, Teilhabe hatte. bundesweit betrachtet, eine hohe Heteroge- nität in der Aufklärung der Bewohner*innen, Geflüchtete werden entsprechend gesetzli- den allgemeinen Infektionsschutzmaßnahmen, cher Verpflichtungen und im staatlichen Auf- dem Umgang mit sozialen und gesundheitlichen trag in (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen der Angeboten sowie Test- und Quarantänemaß- Länder und anschließend in Gemeinschaftsun- nahmen ab (vgl. Bendel et al. 2021). terkünften untergebracht. Neben der Zuweisung des Aufenthaltsortes finden sich im Asylgesetz jedoch nur wenige Vorgaben zu den konkre- ten Unterbringungsbedingungen (§§ 44ff. und 1 Der Terminologie des Asylgesetzes (AsylG) folgend, gibt es Aufnahmeeinrichtungen (§ 47), die die Länder unterhalten sowie Gemeinschaftsunterkünfte (§ 53), die i.d.R. von den Kommunen unterhalten werden. Ver- schiedene Landesaufnahmegesetze verwenden teilweise jedoch andere Terminologien. 2 Die AWO verwendet den Begriff Geflüchtete für alle Schutzsuchenden, die durch eine erzwungene Emigration nach Deutschland gekommen sind und beschreibt damit nicht den Status, den die Menschen innehaben. Er umfasst dabei Schutzsuchende mit verschiedenen Aufenthaltsformen (Asylberechtigte und andere Schutzbe- rechtigte, Asylbewerber*innen, Geduldete, Inhaber*innen von sog. Grenzübertrittsbescheinigungen und Ille- galisierte). 3 Die Aufenthaltsdauer in der Aufnahmeeinrichtung wurde im Oktober 2015 durch das Asylverfahrensbeschleu- nigungsgesetz von drei auf sechs Monate erhöht und schließlich 2019 mit dem Zweiten Gesetz zur besse- ren Durchsetzung der Ausreisepflicht auf bis zu 18 Monate angehoben. Durch die Bestimmungen des § 47 Abs. 1b AsylG können die Bundesländer die Wohnverpflichtung auf bis zu 24 Monate erhöhen. Bei Verstößen gegen die Mitwirkungspflicht oder auch Personen aus sog. sicheren Herkunftsstaaten (§ 29a AsylG) können verpflichtet werden, über 18 Monate hinaus in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (§ 47 AsylG). Familien mit minderjährigen Kindern sind für maximal sechs Monate verpflichtet, in der für ihre Aufnahme zuständi- gen Einrichtung zu wohnen. 4 Über die Verweildauer, Lebenssituation und besonderen Schutzbedarfe von Geflüchteten in Sammelunter- künften bundesweit gibt es nur wenige statistische Daten. Umfassende statistische Informationen könnten Aufschluss über die Umsetzung bestehender menschenrechtlicher Verpflichtungen geben und eine evidenz- basierte Ausrichtung politischer Entscheidungen ermöglichen. Siehe hierzu auch: Deutsches Institut für Men- schenrechte (2014): Menschenrechtliche Verpflichtungen bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Empfeh- lungen an Länder, Kommunen und den Bund. 4
UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Die AWO kann auf langjährige Erfahrungen als diese, entsprechend einer veränderten Geset- Trägerin von zahlreichen Einrichtungen, Diens- zeslage und den Erfahrungen, die während der ten und Unterkünften für geflüchtete Men- Corona-Pandemie gemacht wurden, weiter. schen im gesamten Bundesgebiet zurückgrei- fen. Sie tritt für eine menschenrechtskonforme Die Herausforderungen der Pandemie und die und entwicklungsfördernde Umgebung auch für erarbeiteten Lösungsansätze werden als eine geflüchtete Menschen ein und positioniert sich Chance betrachtet, die Praxis der Unterbrin- entschieden gegen inklusionsfeindliche Ten- gung von Geflüchteten stärker an dem gesund- denzen, die sich durch die politische Entschei- heitlichen, menschenrechtlichen und sozialar- dungspraxis der letzten Jahre ergeben haben. beiterischen Gebotenem auszurichten. Unsere Für uns ist Inklusion ein Leitprinzip, um die Forderungen und Empfehlungen basieren auf gleichberechtigte Teilhabe aller an der Gesell- Rückmeldungen aus AWO-Einrichtungen und schaft zu verwirklichen. Strukturelle Benachtei- Migrationsfachdiensten, der Mitarbeit in Fach- ligungen, Diskriminierung sowie Zugangsbarri- gremien sowie der Hinzuziehung aktueller Stu- eren von der politischen bis zur institutionellen dien. Das Papier beginnt mit einer generel- Ebene gilt es zu identifizieren und abzubauen. len Rundumschau der Lebenssituation in (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsun- Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, terkünften und richtet den Blick auf die teilha- dürfen wir die Auswirkungen der spezifischen behemmenden Faktoren dieser Unterbringung. Lebensbedingungen von geflüchteten Menschen Die Pandemie hat vor allem Versäumnisse in der nicht aus dem Blick verlieren. Die Corona-Pan- gesundheitlichen und digitalen Teilhabe ver- demie hat die wunden Punkte der Unterbrin- deutlicht, auf die hier detailliert eingegangen gungsform von geflüchteten Menschen stär- wird. Weitere relevante Aspekte der Unterbrin- ker in den Vordergrund gerückt. Es gilt, gerade gung sind die Berücksichtigung von besonderen diese wunden Punkte zu benennen und ent- Schutzbedarfen der Bewohner*innen und Maß- sprechende Forderungen an die Politik sowie nahmen, die präventiv Gewalt verhindern und Empfehlungen an die Praxis auszusprechen, um reaktiv auf Gewalt reagieren sollen. Die Forde- den Schutz und eine gleichberechtigte Teilhabe rungen und Empfehlungen leiten sich jeweils aus an der Gesellschaft für geflüchtete Menschen zu den verschiedenen Themenfeldern ab. gewährleisten (AWO Bundesverband 2016a). Die AWO ist sich bewusst, dass sie als Trägerin von Unterkünften für geflüchtete Menschen im Spannungsfeld zwischen dem menschenrechtli- chen und sozialarbeiterischen Ideal der Unter- bringung und dessen pragmatischer Umsetzung entsprechend der rechtlichen und finanziel- len Rahmenbedingungen steht (vgl. AWO Bun- desverband 2013, 2018). Diesem Widerspruch begegnet die AWO, indem Standards definiert werden, die auf Bundesebene wie auch in unse- ren Gliederungen und Trägerstrukturen politi- sche Entscheidungsprozesse unterstützen und eine Orientierung für ein fachliches Selbstver- ständnis in der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen bieten können. Die hier vorliegende Publikation möchte diese Aufgabe erfüllen und knüpft damit an die 2016 herausgegebe- nen „AWO Positionen und Empfehlungen zur Unterbringung von Menschen nach der Flucht“ an (AWO Bundesverband 2016b) und entwickelt 5
6 UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE I. (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschafts unterkünfte als Teilhabe-Hemmnis Die Verpflichtung in (Erst-) Aufnahmeeinrichtun- beinhalten5. Aus ihnen leiten sich Ansprüche auf gen und Gemeinschaftsunterkünften zu woh- Gewährleistung des Gesundheitsschutzes, den nen wird durch bundesgesetzliche Regelungen Zugang zu Bildung, Gewaltschutz und zu Sozi- bestimmt. Ergänzt werden diese Regelungen alleistungen ab. Diese Ansprüche sollten sich in durch die Bestimmungen des Grundgesetzes und der Ausgestaltung der Unterbringung wiederfin- völker- und europarechtlichen Vorgaben, die u.a. den. eine Fürsorge- und Schutzpflicht des Staates Gesetzliche Grundlagen und Widersprüche der Unterbringung Eine menschenrechtskonforme Unterbringung Die tatsächlichen Wohn- und Lebensbedingun- von Geflüchteten setzt bereits bei der Standort- gen von Geflüchteten in (Erst-) Aufnahmeein- bestimmung von Unterkünften ein. So beinhal- richtungen und Gemeinschaftsunterkünften tet etwa das Recht auf Gesundheit das Recht auf sind einem Paradox verhaftet. Einerseits bietet faktischen Zugang zum Gesundheitswesen und die Unterbringung einen gewissen humanitä- zum Recht auf Bildung gehört es, dass Kinder ren Schutz, die Möglichkeit einer Erstorientie- einen zu bewältigenden Schulweg haben und rung, die Unterstützung bei den ersten Schrit- tatsächlich zur Schule gehen können. ten des „Ankommens“ sowie die Möglichkeit der Beratung und Weiterleitung an andere (Fach-) Neben der Lage von Unterkünften, kann auch die Beratungsstellen. Zugleich wirkt sie strukturell Größe von Relevanz sein, um eine Verwirklichung limitierend auf die Rechte der Schutzsuchen- der Rechtsansprüche sicherzustellen. Hierzu muss den (vgl. Junghans 2021: 53). Geflüchtete fin- die Größe der Einrichtung in einem angemesse- den eine für sie gesetzte und bevormundende nen Verhältnis zur Größe der lokalen Einwoh- Situation vor, an die sie sich anpassen müs- ner*innenzahl und Infrastruktur stehen. Insbe- sen und in der sie wenige Handlungsspielräume sondere bei längerem Aufenthalt wird die Größe haben; ihre Selbstständigkeit und Eigenverant- von Einrichtungen als zentraler Belastungsfaktor wortung werden stark beschnitten. Die Unter- gewertet und geht häufig mit geringeren Rück- bringung in (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und zugsmöglichkeiten sowie stärkerer Reglementie- Gemeinschaftsunterkünften geht dementspre- rung des Alltags innerhalb der Unterkunft ein- chend mit Eingriffen in elementare Grund- und her – bei gleichzeitig oft schlechterer Anbindung Menschenrechte einher, die nur unter Achtung an den Sozialraum und erschwertem Zugang zu rechtsstaatlicher Prinzipien zulässig sind (vgl. Beratungs-, Unterstützungs- und Freizeitan- Lederer 2018: 8) geboten, Schulen, Kindertagesbetreuung und Gesundheitsversorgung außerhalb der Unter- kunft (vgl. Deutscher Verein 2020: 4). 5 Diese Rechte sind etwa in der EU-Aufnahmerichtlinie, der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, im Internationalen Pakt über bür- gerliche und politische Rechte, in der UN-Frauenrechtskonvention, in der UN-Behindertenrechtskonvention oder in der UN-Kinderrechtskonvention festgehalten. 6
UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Förderung der Passivität Während des Aufenthalts in (Erst-) Aufnah- Abs.2 und 3 AsylbLG), wonach nur der notwen- meeinrichtungen werden die Möglichkeiten dige Bedarf (u.a. Ernährung) in Form von Sach- der sozialen Teilhabe an der Gesellschaft, wie leistungen abgedeckt wird, fördert die Passivi- etwa der Zugang zum Arbeitsmarkt, erschwert tät der Bewohnenden in Unterkünften. bis verunmöglicht6. Eine derartig erzwun- gene Passivität durch ein Arbeitsverbot ist bei Hinzu kommt ein, im Vergleich zum SGB II/XII, einer längeren Verweildauer für die Betroffe- verringerter Regelsatz mit Anspruchseinschrän- nen unzumutbar und schafft zudem Potential kungen für Bezieher*innen von Sozialleistungen für Konflikte innerhalb und außerhalb der Ein- nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (§§ 1a, richtung. Auch das sog. Sachleistungsprinzip (§ 3 5, 5a, 5b und 11 AsylbLG)7. Isolation durch AnkER-Einrichtungen Mit der Modifizierung der Aufnahmeeinrich- Eine Evaluation der sogenannten AnkER- tung hin zu einer sogenannten Ankunfts-, Einrichtungen und funktionsgleicher Einrich- Entscheidungs- und Rückführungseinrichtung tungen zeigt jedoch, dass die verfolgten Ziele (AnkER-Einrichtung), wurde auch der Verbleib nicht erreicht wurden (vgl. BAMF 2021). Zugleich in der Erstaufnahmeeinrichtung verlängert. Die ist diese Art der Unterbringung aus flüchtlings- Asylbewerber*innen sollen von ihrer Ankunft bis und menschenrechtlicher Sicht, aber auch aus zum Abschluss des Asylverfahrens in der glei- einem zuwanderungs- und arbeitsmarktpoliti- chen Aufnahmeeinrichtung untergebracht sein. schen Blick, ein fehlgeleiteter Ansatz im Umgang Durch die Etablierung dieser AnkER-Einrichtun- mit den geflüchteten, schutzsuchenden Men- gen sowie funktionsgleicher Einrichtungen wird schen. Die AnkER-Einrichtungen isolieren und die politische Zielsetzung verfolgt, das Asylver- grenzen aus, sie verhindern die Inklusion in die fahren zu beschleunigen. Es sollen möglichst nur Gesellschaft, die vom ersten Tag an geschehen noch Menschen mit Schutzstatus bzw. langfris- muss, nicht erst nach sechs bzw. 18 Monaten. tiger Bleibeperspektive in die Kommunen ver- teilt werden und alle übrigen Schutzsuchenden Auch wird die Erstaufnahmeeinrichtung einer direkt aus der Aufnahmeeinrichtung zurückge- ihrer wesentlichen Ziele, das Grundrecht auf Asyl führt werden8. in Anspruch nehmen zu können, nicht gerecht. Bei der Erstaufnahme geht es um mehr als die bloße Notunterbringung zur Vermeidung von 6 Geflüchtete, die in Aufnahmeeinrichtungen wohnen, unterliegen der Residenzpflicht (§ 56 AsylG) und einem absoluten Erwerbsverbot innerhalb der ersten neun Monate (§ 61 Abs. 1 AsylG). Abgelehnte Asylbewerber*in- nen, bei denen die Abschiebung aus selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden kann, können ebenfalls Arbeitsverboten und einer Residenzpflicht unterliegen (§§ 60a, 60b und 61 AufenthG). 7 Siehe hierzu auch Voigt, Claudius (2020): Das Sanktions-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Aus- wirkungen auf das AsylbLG. In: Asylmagazin 1-2/2020, S.12-21. Hier wird dargelegt, weshalb die migrati- onspolitisch motivierten Leistungskürzungen gemessen an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht haltbar sind. 8 Siehe hierzu weiterführend Devlin, Julia (2021): ANKER:KASERNE:FABRIK: Zur Architektur Sozialer Kontrolle. Julia Devlin beleuchtet AnkER-Einrichtungen und deren Kontroll-, Steuerungs- und Begrenzungsfunktion für die (Flucht-)Migration nach Deutschland. Hierbei wird die Verringerung der sozialen Teilhabemöglichkeiten bewusst einkalkuliert um einen Spurwechsel aus dem Asylrecht in die Erwerbsmigration zu erschweren und die Bereitschaft zur „freiwilligen“ Ausreise zu fördern. 7
8 UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Obdachlosigkeit. Das eigentliche Ziel der Erstauf- Besonderen auf ihre Anhörung beim Bundes- nahme ist es, sicherzustellen, dass Flüchtlinge amt für Migration und Flüchtlinge konzentrieren zur Ruhe kommen und sich unter guten Rah- sowie die Anhörung vor- und nachbereiten kön- menbedingungen auf ihr Asylverfahren und im nen9. Kein adäquates Aufnahmeverfahren Die humanitäre Ausgestaltung der Flüchtlings- Können Menschen beispielsweise ihre Flucht- aufnahme hat einen engen Wirkungszusam- gründe oder besondere Verfahrensgarantien menhang mit einem fairen und rechtsstaatli- nicht umfassend im Asylverfahren vorbringen, chen Verfahren. Dementsprechend sollte zum weil Zeit, Vertrauen und Beratung fehlen, pro- Schutz des Grundrechts auf Asyl die Unterbrin- duziert dies unsachgemäße Entscheidungen, die gung von Geflüchteten nicht mit asylfremden wiederum Rechtsmittel- und Folgeverfahren Maßnahmen des staatlichen Rückkehrmanage- nach sich ziehen. Aus einer Beschleunigung am ments10 verbunden sein. Auch darf eine ver- Anfang des Verfahrens wird dann am Ende eine meintliche Beschleunigung des Asylverfah- Verlängerung der Gesamtverfahrensdauer (vgl. rens keine Qualitätseinbuße mit sich bringen. terre des hommes 2020: 30). Forderungen • Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben implementiert werden. Europäische sowie nationale rechtliche Vor- gaben müssen umgesetzt und die Fürsorge- • Herabsetzung der Aufenthaltsdauer und Schutzpflicht für Geflüchtete ernst gen- Die verpflichtende Aufenthaltsdauer in Auf- mmen werden. nahmeeinrichtungen, die zuletzt auf bis zu 18 Monate (§ 47 Abs. 1 S. 3 AsylG) verlängert • Rechtsstaatliche Aufnahmeverfahren worden war, ist auf drei Monate herabzuset- implementieren zen. Anschließend sollten Geflüchtete unge- Beschleunigte Verfahren müssen abgeschafft achtet ihrer weiteren Bleibeperspektive den und eine behördenunabhängige Asylverfah- Kommunen zugewiesen werden. rensberatung finanziert und flächendeckend 9 Zur Unterstützung eines qualitativen, fairen und rechtsstaatlichen Asylverfahrens ist eine behördenunabhän- gige Rechtsberatung vor Asylantragstellung bzw. spätestens vor der Anhörung von besonderer Relevanz. Hierzu muss im Asylverfahren angemessener Zeitraum zur Verfügung stehen. Vgl. hierzu auch BAGFW (2019): Stel- lungnahme der BAGFW zur gesetzlichen Verankerung der Asylverfahrensberatung (§ 12a AsylG-E). 10 Im Rahmen des „integrierten Rückkehrmanagements“ werden „Freiwillige Rückkehrmaßnahmen“ und Abschiebungen zusammengeführt, um die Rückführungen zu erhöhen. Näheres zu dem Programm beschreibt das BMI unter folgendem Link: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/migration/rueckkehrpolitik/rueck� - kehr-und-rueckfuehrungen/rueckkehr-und-rueckfuehrungen-node.html (letzter Zugriff am 13.09.2021) 8
UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE • Massenunterkünfte vermeiden • Verbindliche Standards für eine menschen- Große Sammelunterkünfte sind grundsätz- rechtskonforme Unterbringung lich zu vermeiden. AnkER-Einrichtungen und Bundesweit müssen einheitliche Mindest- sog. funktionsgleiche Einrichtungen müssen standards für (Erst-) Aufnahmeeinrichtun- abgeschafft werden. gen und Gemeinschaftsunterkünfte gesetz- lich festgeschrieben und kontrolliert werden. • Unterkünfte für Geflüchtete unter men- schenwürdigen, schützenden und fördern- • Abschaffung des Sachleistungsprinzips den Rahmenbedingungen Alle Leistungsberechtigten gemäß Asylbewer- Dezentrale Unterkünfte mit unterstützenden berleistungsgesetz müssen in das SGB II und Angeboten der aufsuchenden (Flüchtlings-) SGB XII überführt werden. Sozialarbeit haben Vorrang vor Gemein- schaftsunterkünften11. Empfehlungen • Verbindliche Standards für eine • Informationen zu Beratungsdiensten und menschenrechtskonforme Unterbringung zum lokalen Unterstützungssystem für alle- In AWO Unterkünften gibt es schriftlich ver- zugänglich machen fasste Mindeststandards zur Qualitätssicherung Informationen zu den Beratungsstellen vor und Gewährleistung der Grund- und Men- Ort müssen niedrigschwellig und verständ- schenrechte. Die entsprechende Hausordnung lich zur Verfügung stehen. Zielgruppenge- muss allen Mitarbeitenden, Bewohner*innen rechte Angebote werden den Bewohner*in- und den Sicherheitskräften bekannt sein und nen bekannt gemacht und für die Teilnahme in allen in der Unterkunft gesprochenen Spra- geworben. chen zur Verfügung stehen12. 11 Für eine dezentrale Unterbringung in privaten Wohnungen sprechen nicht nur die beschriebenen menschen- rechtlichen Herausforderungen, sondern auch der bedeutsame Einfluss der Wohnsituation auf die gesell- schaftliche Teilhabe und die individuelle Lebensqualität. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen privaten Unterkünften und Gemeinschaftsunterkünften. Vgl. Tanis, Kerstin (2020): Entwicklungen in der Wohnsituation Geflüchteter. Ausgabe 05|2020 der Kurzanalysen des Forschungszentrums Migration, Integra- tion und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg. 12 Als Hilfestellung für die Erstellung menschenrechtskonformer Hausordnungen, kann folgendes Papier dienen: Deutsches Institut für Menschenrechte (2018): Hausordnungen menschenrechtskonform gestalten. Online abrufbar: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/ANALYSE/Ana� - lyse_Hausordnungen_menschenrechtskonform_gestalten.pdf (letzter Zugriff am 13.09.2021) 9
10 UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE II. Eingeschränkte gesundheitliche Teilhabe Die Gesundheitslage geflüchteter Menschen in verdeutlicht die Mängel in den Wohn- und (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemein- Lebensbedingungen sowie in den gesetz- schaftsunterkünften ist durch mehrere Belas- lich festgeschriebenen Gesundheitsleistungen, tungsfaktoren bestimmt, die im Zusammen- die zu einer gesundheitlichen Gefährdung der hang mit den Wohn- und Lebensbedingungen in Bewohnenden beitragen und gesundheitliche den Unterkünften stehen. Die Corona-Pandemie Teilhabe erschwert. Unterbringung als Gesundheitsrisiko Die Bedingungen in den (Erst-) Aufnahmeein- und zum anderen mit der Begrenzung der Art richtungen und Gemeinschaftsunterkünften und des Umfangs der Gesundheitsversorgung führen nicht nur zu einem erhöhten Risiko psy- für Anspruchsberechtigte nach dem Asylbewer- chische Erkrankungen zu entwickeln, sondern berleistungsgesetz (§ 4 AsylbLG) in den ersten reduzieren auch die Bewältigungsressourcen 18 Monaten ihres Aufenthalts. Nach § 6 Abs. 1 zur Genesung, da es an den dafür notwendigen AsylbLG können zwar im Einzelfall sonstige Leis- Erholungsmöglichkeiten fehlt und der Zugang zu tungen gewährt werden, die zur Sicherung der gesundheitlicher Versorgung nur eingeschränkt Gesundheit unerlässlich sind, doch dies führt in zur Verfügung steht (vgl. Kooperationsverbund der Praxis oft zu umständlichen Aushandlungs- Gesundheitliche Chancengleichheit 2021: 20). prozessen mit der leistungsgebenden Stelle. Psychosoziale Belastungen und Retraumatisie- Zudem variiert regional, welche Behandlungen rungen können durch verschiedene Faktoren als erforderlich und welche Krankheitsbilder als in den Lebensumständen hervorgerufen oder akut behandlungsbedürftig eingestuft werden verstärkt werden, wie beengte Wohnverhält- (vgl. Weiser 2020: 333ff.) Erst nach Erteilung des nisse, fehlende Rückzugsmöglichkeiten, nächt- Aufenthaltstitels oder nach Ablauf der o.g. 18 liche Ruhestörungen, Gewalt und fehlender Monate steht ihnen der volle Leistungsumfang Schutz vor Übergriffen, Lärm oder Ruhestörun- der gesetzlichen Krankenkassen zu.14 Doch auch gen und die Anwesenheit uniformierter Perso- hier wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung nen13. Dies hängt zum einen mit dem Standort häufig durch begrenzte Sprachkenntnisse, bzw. und der Größe der Unterkunft im Verhältnis zur fehlende Sprachmittler*innendienste erschwert. lokalen medizinischen Infrastruktur zusammen 13 Weiterführende Informationen zu den psychischen Belastungsfaktoren bei Kindern sind folgend nachzulesen: BAfF (2020b): Living in a box. Psychosoziale Folgen des Lebens in Sammelunterkünften für geflüchtete Kinder. 14 Siehe zu den rechtliche Grundlagen der Gesundheitsversorgung von Geflüchteten in Deutschland: Lindner, Katja 2021: Ansprüche auf Gesundheitsleistungen für Asylsuchende in Deutschland. Rechtslage und Reform- bedarfe, MIDEM-Policy Paper 02/21, Dresden; Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit (2021): Gesundheitsförderung mit Geflüchteten. Lücken schließen – Angebote ergänzen. Anhang 1; Deut- scher Verein (2016): Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Förderung der Integration geflüchteter Men- schen. 10
UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Infektionsrisiko in (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften In (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemein- Sanitärräume gemeinsam nutzen.16 Effektive schaftsunterkünften besteht ein erhöhtes Infek- Maßnahmen der physischen Distanzierung sind tionsrisiko. Das gilt auch für die SARS-CoV-2-In- im Normalbetrieb einer Unterkunft aufgrund der fektion, bei der das kumulative Inzidenzrisiko Belegungsdichte und der baulichen und orga- (Ausbreitungspotential) unter Bewohner*innen nisatorischen Struktur nur schwer möglich. Auf von Aufnahmeeinrichtungen überdurchschnitt- behördliche Anordnung erfolgt auch während lich hoch ist (vgl. Hintermeier et. al 2021: 1). der Pandemie weiterhin die Sammelunterbrin- Mit einer durchschnittlichen Fallzahl von ca. 21 gung von mehreren Personen in einem Zimmer. Infizierten pro Ausbruch zählt das Infektions- Aber auch im Falle der Einzelbelegung von Zim- umfeld in (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und mern erfolgt in den meisten (Erst-) Aufnahme- Gemeinschaftsunterkünften zu den größten, einrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften noch vor Alten- und Pflegeheimen (Buda et. unverändert eine gemeinschaftliche Nutzung al. 2020: 6). In einzelnen Einrichtungen wurde, von Sanitäranlagen und Küchen. In diesen Set- trotz Eindämmungs- und Quarantänemaßnah- tings kollidiert die gängige Unterbringungspra- men, bei mehr als 50% der Bewohner*innen xis mit den im Rahmen der jeweiligen Corona- eine Infektion mit SARS-CoV-2 nachgewiesen.15 schutzverordnungen vorgesehenen Maßnahmen der Infektionskontrolle, weshalb die Gemein- Das erhöhte Infektionsrisiko resultiert aus den schaftsunterbringung von Asylsuchenden sowohl Wohn- und Lebensbedingungen in (Erst-) Auf- epidemiologisch als auch normativ-rechtlich nahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunter- problematisch ist (vgl. Bozorgmehr et al. 2020: künften, wo viele Menschen auf engem Raum 17). zusammen leben und Wohn-, Küchen-, Ess- und Kollektiv- und Kettenquarantänen und ihre gravierenden Folgen Neben Schwierigkeiten bei der Umsetzung praktischen „Ausbruchsmanagement“ in (Erst-) von Präventionsmaßnahmen zeigten sich im Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschafts- Laufe der Pandemie auch Probleme bei dem unterkünften, zumal ein Rückgriff auf fachliche 15 In der unter Quarantäne stehenden Landeserstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen (Baden-Württemberg) war Ostern 2020 die Hälfte der Bewohner*innen mit dem Coronavirus infiziert: https://www.faz.net/aktuell/ politik/inland/fluechtlinge-in-ellwangen-jeder-zweite-hat-corona-16726558.html; https://www.swp.de/ suedwesten/staedte/crailsheim/ellwangen-lea-bundeswehr-corona-infiziert-gesundheit-45721487.html (letzter Zugriff am 13.09.2021) 16 Ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht auch für Mitarbeiter*innen in Sammelunterkünften. In den Geflüchte- tenunterkünften des Kreisverbandes AWO Berlin Mitte haben sich knapp 11% der Beschäftigten mit Covid- 19 infiziert. Siehe Pressemitteilung vom 11.05.2021. Online abrufbar: https://awo-mitte.de/2021/05/11/ senat-bricht-vereinbarung-zur-impfverteilung/ (letzter Zugriff am 13.09.2021) 11
12 UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Empfehlungen mangels erarbeiteter Pandemie- empfunden. Unter Quarantänebedingungen pläne für diese Unterkünfte nicht möglich war17. steigert sich diese Belastung zu einem konkre- Vielerorts wurden im Zuge von Corona-Erkran- ten Risiko nicht nur für die mentale, sondern kungen komplette Unterkünfte mit mehre- auch für die körperliche Gesundheit der Bewoh- ren hundert Bewohner*innen, darunter vielen ner*innen. Hinzu kommt die Angst vor einem Kindern, für Wochen in sogenannte Kollekti- gefährlichen und schwer einschätzbaren Virus. vquarantäne genommen. Wenn weitere Per- Ausweichmöglichkeiten außerhalb sowie Ange- sonen erkrankten, wurde die Quarantäne18 in bote innerhalb der Unterkünfte sind aufgrund der Regel verlängert (sogenannte Kettenqua- der Infektionsschutzmaßnahmen vielfach weg- rantäne), in Einzelfällen erfolgte dies bis hin zu gebrochen. acht Wochen. Die Verhängung einer Kollektivquarantäne ist Die mit der Kollektivquarantäne einhergehen- ein Eingriff in die Grundrechte der Bewoh- den Einschränkungen sind gravierend: auch ner*innen, so dass diese nur dann rechtsstaat- nicht-infizierte Personen dürfen die Einrich- lich zulässig ist, wenn dieser Eingriff dem Ver- tung nicht verlassen. Eine häufige Folge ist hältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht. Da die der Verlust des Arbeitsplatzes. Die Teilnahme Kollektivquarantäne ganzer Einrichtungen, bei an Deutsch- oder Integrationskursen und der gleichzeitig fehlender Möglichkeit physischer Besuch der Regelschulen sind, wenn überhaupt, Distanzierung, zu einem erhöhten Ausbrei- nur eingeschränkt möglich. Auch Termine in tungspotential führt19, ist die Verhältnismäßig- Beratungsstellen oder beim Rechtsbeistand keit eben nicht gewahrt. Demzufolge sind Kol- können nicht wahrgenommen werden, was lektivquarantänen unter allen Umständen zu sich negativ auf die aufenthaltsrechtliche Situ- vermeiden.20 ation der Betroffenen auswirken kann. Bereits außerhalb von Pandemiezeiten wird das Leben Bereits frühzeitig lagen Studien über die gegen- in (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemein- teiligen Effekte von Kollektivquarantäne vor (vgl. schaftsunterkünften aufgrund der dort herr- Bozorgmehr et al. 2020). Dennoch wurde diese schenden räumlichen Verhältnisse und das Feh- Praxis, unter teils verstärkten Sicherheitsmaß- len der Privatsphäre oft als psychisch belastend nahmen und Widerstand der Bewohner*innen, 17 So waren Geflüchtete und ihre spezielle Situation in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünf- ten im Nationalen Pandemieplan sowie dessen Ergänzung im Zuge der COVID-19 Pandemie bisher kaum berücksichtigt (Bozorgmehr K. et al. 2020: 7). Inzwischen gibt es ausgearbeitete Empfehlungen des Robert Koch-Instituts für Gesundheitsämter zu Prävention und Management von COVID-19-Erkrankungen in Auf- nahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften für Schutzsuchende. Online abrufbar: https://www.rki. de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/AE-GU/Aufnahmeeinrichtungen.html;jsessionid=52714C60BB- FDCE6CAA9A1811508AC2AF.internet072?nn=13490888#doc14256998bodyText22 (letzter Zugriff am 13.09.2021). Des Weiteren entstanden auch Rahmenkonzepte auf Landesebene zur Vermeidung des Aus- bruchs und der Ausbreitung von COVID-19. Beispielsweise in Nordrhein-Westfalen. Online abrufbar: https:// www.mkffi.nrw/sites/default/files/asset/document/rahmenkonzept.pdf (letzter Zugriff am 13.09.2021) 18 Die Anordnung einer Quarantäne ist in § 30 Infektionsschutzgesetz (IfSG) unter dem Terminus „Absonderung“ geregelt und wird durch die zuständige Behörde, in der Regel das örtliche Gesundheitsamt, vorgenommen. 19 Hintermeier et al. stellen fest, dass das Ausbreitungspotential in Aufnahmeeinrichtungen unter Kollektivqua- rantäne bei 15,7%, gegenüber 6,6% bei konventionellen Eindämmungsmaßnahmen, (d.h. Isolation positiv getesteter Personen und Quarantäne nur von engen Kontaktpersonen) liegt. (Hintermeier et al. (2021): SARS- CoV-2 bei Migrant*innen und geflüchteten Menschen. Bremen: Kompetenznetz Public Health COVID-19, S. 4.) 20 Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit muss das gewählte Mittel der Kollektivquarantäne im Hinblick auf den verfolgten Zweck, die Infektion einzudämmen, verhältnismäßig sein. Ob dieser Zweck mit diesem Mittel erreicht werden kann, ist allerdings höchst fraglich. Innerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte führen Kollek- tivquarantänen mitunter zu einem höheren Infektionsrisiko und können das Gesundheitssystem in einem zusätzlichen Maße belasten. Um Infektionen außerhalb der Einrichtungen einzudämmen, könnte die Isola- tion positiv getesteter Personen den Zweck als milderes Mittel ebenso erreichen. 12
UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE weiter angeordnet.21 Statt einer Kollektivqua- den Empfehlungen des RKI, eine Isolation positiv rantäne für alle Bewohner*innen einer Unter- getesteter Personen und Quarantäne von Kon- kunft, auch für die Nicht-Infizierten, schlagen taktpersonen vor (Hintermeier et al. 2021: 2).22 Expert*innen eine präventive Entzerrung der Entscheidend hierbei ist die starke Reduzierung Belegung, Kohortierung und Unterbringung in der Belegungsdichte in den (Erst-) Aufnahme- Einzelzimmern sowie im Ausbruchsfall, gemäß einrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften. Testungen und Impfungen in (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften Das erhöhte Infektionsrisiko für Bewohner*in- Bewohnende und Mitarbeitende von Unter- nen in (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und künften für geflüchtete Menschen anfänglich – Gemeinschaftsunterkünften spiegelt sich in trotz der Einordnung in die Prioritätsgruppe 2 der Coronavirus-Testverordnung und Coronavi- – bei den Impfangeboten übergangen. Besteht rus-Impfverordnung wider. ein Impfangebot in (Erst-) Aufnahmeeinrichtun- gen oder Gemeinschaftsunterkünften, liegt die So haben Bewohnende in diesen Unterkünften tatsächliche Zahl der Geimpften trotz der hohen Anspruch auf präventive Testungen zur Verhü- Impfpriorität zwischen 20 und 60%.23 Es gilt, die tung der Verbreitung des Coronavirus (§ 4 Abs. teilweise vorhandene Impfskepsis durch mehr- 2 Nr. 2 TestV) und bzgl. der Schutzimpfung sind sprachige Informationen, der richtigen Ansprache sie Anspruchsberechtigte mit „hoher Priorität“ und Beratung aufzuheben. Häufig sind es dann (§ 3 Abs. 1 Nr. 11 CoronaImpfV). In der Umset- die Betreiber*innen oder auch externe Unterstüt- zung von Testungen und Impfungen zeigen sich zer*innen, die durch verschiedene Maßnahmen jedoch diverse Problematiken. Für die Betrei- versuchen, die Informationen zu der Impfung ber*innen von (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen niedrigschwellig aufzubereiten und zu verbrei- und Gemeinschaftsunterkünften ist die Durch- ten.24 führung von Tests ein Mehraufwand für den sie Personal und entsprechende Schutzausrüs- tung benötigen. Zwar werden die entsprechen- den Tests und die Leistung zur Durchführung von Tests vergütet (§ 12 Abs. 3 TestV), dies ist allerdings in Anbetracht eines engen Personal- schlüssels eine zusätzliche Belastung für Betrei- ber*innen dieser Unterkünfte. Auch wurden 21 Dazu nachzulesen unter folgendem Link: https://taz.de/Schutz-vor-Corona-fuer-Gefluechtete/!5673786/ (letzter Zugriff am 13.09.2021). 22 Siehe auch Bendel et. al. (2021): Hier werden anhand einer Analyse der ergriffenen Pandemiemaßnah- men priorisierte Bedarfe zur wirksamen Eindämmung der COVID- 19-Pandemie in Sammelunterkünften für Geflüchtete herausgearbeitet. 23 Der evangelische Pressedienst hat eine Impfquote von 30 – 60 % bei Bewohnenden von Unterkünften erho- ben, wobei die Impfquoten stark vom jeweiligen Bundesland und den vor Ort getätigten Informationen zur Impfung abhängig sind: https://www.evangelisch.de/inhalte/186760/29-05-2021/corona-geringe-impfbe� - reitschaft-fluechtlingsheimen (letzter Zugriff am 13.09.2021). Eine Umfrage innerhalb der AWO Gliederungen zeigte, dass das Impfangebot zwar bei 93% aller Unterkünfte in AWO Trägerschaft gegeben ist, jedoch erst knapp über 20 % der Bewohnenden geimpft sind. 24 Siehe hierzu auch folgenden Beitrag über eine Social Media Kampagne des Flüchtlingsrats Niedersachsen, in der zielgruppenorientiert über die Corona-Impfung aufgeklärt wird: https://taz.de/Impf-Kampagne-fuer-Ge� - fluechtete/!5773389/ (letzter Zugriff am 13.09.2021). 13
14 UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Forderungen: Gesetzliche Krankenversicherung für alle • Dezentrale Unterbringungsformen Geflüchteten ermöglichen Geflüchtete müssen von Beginn an Gesund- Aus allen (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen heitsleistungen nach dem SGB V in Anspruch und Gemeinschaftsunterkünften sollte so nehmen können anstatt der eingeschränk- früh wie möglich eine Umverteilung in Woh- ten Gesundheitsleistungen nach §§ 4 und 6 nungen oder wohnungsähnliche Unterbrin- AsylbLG. Der Leistungskatalog der gesetz- gungsformen erfolgen, um das Ansteckungs- lichen Krankenversicherung definiert die risiko zu minimieren. medizinisch notwendigen Leistungen. Dies gilt insbesondere für gesundheitlich-ge- fährdete Personen (ältere Menschen, Per- • Abschaffung des Asylbewerberleistungs sonen mit Vorerkrankungen, Personen mit gesetzes Behinderungen) sowie Familien und Allein- Alle Leistungsberechtigten gemäß Asylbe- erziehende mit kleinen Kindern. werberleistungsgesetz müssen in das SGB II und SGB XII überführt werden. • Kollektivquarantäne vermeiden Statt der Verhängung einer Kollektivqua- • Verpflichtende Schutzmaßnahmen und rantäne für alle Bewohner*innen in (Erst-) gesundheitliche Versorgung sicherstellen Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschafts- Entsprechend der Fürsorge- und Schutz- unterkünften, sollten eine präventive Ent- pflicht des Staates gegenüber den Unterge- zerrung der Belegung, Kohortierung und brachten, muss auch in einer epidemischen Unterbringung in Einzelzimmern sowie im Lage der Zugang zu gesundheitlicher Versor- Infektionsfall die Isolierung von Erkrankten gung sowie die Wahrung des individuellen vollzogen werden. Rechts auf Vorbeugung und Bekämpfung epi- demischer Erkrankungen sichergestellt wer- • Zugang zu Impfungen erleichtern den. Hierzu sind die Aufnahmebehörden in Die Länder müssen Bemühungen anstreben, der Pflicht, die Infektionsschutzmaßnahmen um die Impfquoten auch für Geflüchtete in umzusetzen (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemein- schaftsunterkünften zu erhöhen. Dazu zäh- • Auskömmliche Finanzierung für len eine mehrsprachige Aufklärung und die Schutzmaßnahmen Kontaktherstellung zu Ärzt*innen, die ggf. Sammelunterkünfte für Geflüchtete müssen in den Unterkünften gemeinsam mit Dol- auskömmlich finanziert werden, damit vor metscher*innen Aufklärungsarbeit leisten. Ort notwendige Schutzmaßnahmen umge- Der Bund sollte den Ländern entsprechende setzt werden können. Empfehlungen aussprechen • Aufhebung der Wohnverpflichtung Ist ein hinreichender Infektionsschutz in der Erstaufnahmeeinrichtung nicht zu realisieren, muss die Wohnverpflichtung nach § 47 auf- gehoben werden. Dies ist gemäß § 49 Abs. 2 AsylG aus Gründen der öffentlichen Gesund- heitsvorsorge oder aus sonstigen Grün- den möglich. Bei der Verlegung muss zuvor- derst eine Verteilung von Personen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krank- heitsverlauf sowie besonders Schutzbedürf- tige berücksichtigt werden. 14
UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Empfehlungen: • Belastende Faktoren reduzieren • Empfehlungen des RKI befolgen Soweit wie möglich sollen die individuellen Alle Möglichkeiten zur physischen Distan- Bedürfnisse der Bewohnenden Berücksichti- zierung und Hygiene sollen genutzt werden. gung finden und geschützte Räume geschaf- Hierfür bietet sich eine reduzierte Belegung fen werden. an, idealerweise in Einzelzimmern. Familien und Risikogruppen sollten in abgeschlosse- • Beratung und Unterstützung sicherstellen nen Wohneinheiten mit eigenem Koch- und Informationen zum Gesundheitsschutz und Sanitärbereich untergebracht sein. zu rechtlichen Möglichkeiten müssen bereit- gestellt werden. Betroffene werden bei der • Alternative Unterkünfte und Ausweichmög- Beantragung und Rechtsdurchsetzung von lichkeiten in Betracht ziehen Gesundheitsleistungen unterstützt. Gerade zu Pandemiezeiten bedarf es einer Förderung alternativer Unterbringungsfor- • Gewährleistung gesundheitlicher Teilhabe men sowie der Entzerrung der Belegschaft. Um gesundheitliche Teilhabe sicherzustel- len, bedarf es eines Austausches und einer • Informationen zu Infektionsrisiken und Zusammenarbeit aller notwendigen Akteure Schutzmöglichkeiten anbieten – Ratsuchende, professionelle Beratungs- Informationen zu aktuell geltenden Coro- stellen, medizinische Regelversorgung in den na-Schutzbestimmungen müssen allen Kommunen sowie psychosoziale/psychothe- Bewohner*innen in einer für sie verständ- rapeutische Einrichtungen. lichen Sprache zur Verfügung stehen. Auch müssen Informationen zu den Corona-Schut- • Aktuelle Hygienepläne in (Erst-) Aufnah- zimpfungen verständlich und zugänglich in meeinrichtungen und Gemeinschaftsunter- der Unterkunft zur Verfügung stehen. künften Betreiber*innen dieser Unterkünfte müs- • Regelmäßige Testung und Impfung der sen innerbetriebliche Verfahrensweisen zur Bewohner*innen Infektionshygiene bestimmen, die im Hygi- Die Planung und Organisation der Testung eneplan festgelegt sind (§ 36 IfSG) und ent- und Impfung von Bewohner*innen in (Erst-) sprechend den aktuellen Empfehlungen Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschafts- regelmäßig aktualisiert werden. Hierbei sind unterkünften muss umgesetzt werden. die Bewohner*innen bestmöglich einzube- ziehen und in einer für sie verständlichen Sprache zu informieren. 15
16 UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE III. Mangelnde soziale Teilhabe durch fehlende digitale Zugänge Die digitale Teilhabe ist in immer stärkerem Ein funktionierender Internetzugang ist in Pan- Maße eine wesentliche Voraussetzung für die demiezeiten ein wichtiges Instrument, um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Teilhabe. Informationen über die Erkrankung, allgemeine Durch die Corona-Pandemie hat sich der Prozess Schutzmaßnahmen und Verhalten im Krank- der Digitalisierung massiv beschleunigt und ver- heitsfall in der benötigten Sprache einzuholen. schiedenste soziale Dienstleistungen, die Kom- munikation mit Behörden, Schulunterricht und In (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemein- Sprachkurse sowie Beratungsangebote wurden schaftsunterkünften bestehen allerdings oft teilweise komplett in den digitalen Raum ver- Defizite im digitalen Zugang – so verfügen lagert. Digitale Zugänge wurden dadurch unab- nur wenige Unterkünfte über WLAN und wenn, dingbar und deren Vorhandensein zweifelsohne ist der Zugang auf wenige räumliche Punkte zu einem wesentlichen Aspekt des soziokultu- beschränkt oder es fehlt an den erforderlichen rellen Existenzminimums (vgl. Diakonie 2021). technischen Endgeräten wie Computer oder Dru- cker. Eine Beseitigung der digitalen Defizite wird Durch digitale Zugänge können fehlende Ange- durch die aktuell geltenden sozialrechtlichen bote kompensiert, Informationen eingeholt Normen erschwert.25 Hinzu kommen bei einzel- und Kontakte zur Familie, Angehörigen und nen Unterkünften auch bauliche Begebenhei- Freund*innen aufrechterhalten werden. Insbe- ten, die den Ausbau der digitalen Infrastruktur sondere Schüler*innen benötigen eigene digi- erschweren. tale Endgeräte und einen stabilen Internetzu- gang sowie eine ruhige Lernatmosphäre, um den Anforderungen des digitalen Fernunter- richts gerecht werden zu können (vgl. Eckert 2020). Ebenso ist nunmehr für die Erfüllung verwal- tungsrechtlicher Mitwirkungspflichten im Asyl- und gerichtlichen Verfahren ein Internetzugang unabdingbar (vgl. Lederer 2020: 4), da Behör- den vermehrt auf digitale Kommunikationswege verweisen. 25 Die Regelsätze des AsylbLG sowie des SGB II und XII reichen für die Anschaffung von digitalen Endgeräten nicht aus. Es hat fast ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie gedauert, bis durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für Bezieher*innen von Leistungen nach dem SGB II am 1.02.2021 eine Weisung für den Mehrbedarf zur Anschaffung von digitalen Endgeräten für die Teilnahme am pandemiebedingten Dis- tanz-Schulunterricht erlassen wurde. Für Leistungsberechtigte nach § 3 AsylbLG entfaltet die Weisung keine direkte Wirkung, wobei vor dem Grundsatz der Gleichbehandlung aller Kinder auch hier ein Leistungsan- spruch besteht. Neben den zu geringen Pauschalen für digitale Endgeräte zeigen sich hier vor allem für die Betroffenen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der konkreten Kostenübernahme. Für mehr Rechtssicherheit und die Erweiterung der Anspruchsberechtigten um Kinder mit Asylbewerberleis- tungsbezug wäre ein Anspruch im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepaketes (§ 28 SGB II) erforderlich. Siehe hierzu auch: Wenning, Paula (2021): Finanzierung von Schulcomputern für Kinder im SGB-II-Bezug. Wie im Notfall Kosten übernommen werden können. In: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, 2/2021, S. 155-162. 16
UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE Forderungen • Digitale Zugänge schaffen räume und das notwendige Inventar bereit- Den Betreiber*innen von (Erst-) Aufnahme- stellen können.Der Zugang zu Internet sowie einrichtungen und Gemeinschaftsunterkünf- zu digitalen Endgeräten muss durch den ten müssen ausreichende Mittel zur Ver- Regelbedarf sowie durch den Mehrbedarf von fügung gestellt werden, so dass diese eine SGB II, SGB XII und AsylbLG ausreichend abge- beitragsfreie WLAN-Infrastruktur, Arbeits- deckt sein. Empfehlungen • Schaffung einer kostenfreien • Schaffung von Ruhe- und Arbeitsräumen WLAN-Infrastruktur Es sollten geschützte Räume geschaffen wer- Sozialarbeitende in den (Erst-) Aufnahmeein- den, in denen ungestört Computer genutzt richtungen und Gemeinschaftsunterkünften werden können. Dafür ist auch die Bereitstel- sowie die Migrationsfachdienste unterstüt- lung von entsprechendem Inventar und not- zen Bewohner*innen bei der Beantragung wendigen Hygienemitteln notwendig. Zudem von digitalen Endgeräten. ist die Zimmerbelegung so auszugestalten, dass Schüler*innen eine ruhige Lernatmo- sphäre garantiert werden kann. 17
18 UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE IV. Besondere Schutzbedarfe Unter den Geflüchteten in den (Erst-) Aufnah- schutzbedürftigen Flüchtlinge zählen. Diese meeinrichtungen und Gemeinschaftsunter- Gruppe weist häufig einen besonderen Unter- künften befindet sich eine große Anzahl von stützungsbedarf auf.26 Personen, die zu der Gruppe der besonders Fehlende Erkennung besonderer Bedarfe Die EU-Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/ Zu beobachten ist jedoch, dass dies häufig nicht EU) sieht vor, die spezielle Situation der Schutz- der Fall ist (vgl. AWO Bundesverband 2017). Ein bedürftigen zu berücksichtigen und dafür Sorge Grund dafür ist, dass in den Einrichtungen häu- zu tragen, dass im Rahmen der Aufnahme fig die Sensibilität, die Bereitschaft oder auch eine besondere Unterstützung gewährt wird. – nicht zuletzt aufgrund des hohen Arbeitsvo- Im Asylgesetz heißt es dazu, dass „die Länder lumens – schlicht die Möglichkeiten fehlen, den geeignete Maßnahmen treffen [sollen], um bei individuellen Bedarfen nach Schutz und Unter- der Unterbringung Asylbegehrender (…) den stützung angemessen gerecht zu werden. Schutz von Frauen* und schutzbedürftigen Per- sonen zu gewährleisten (§44 Abs. 2(a) AsylG). In Die Corona-Pandemie zeigt die Notwendigkeit einer den Beratungsstellen und Unterkünften müs- Erkennung der besonderen Schutzbedarfe jedoch sen demnach frühzeitig besondere Schutz- und noch einmal mehr auf. Die Corona-bedingten ein- Unterstützungsbedarfe erkannt und entspre- geschränkten Beratungs- und Unterstützungsmög- chende Unterstützung gewährleistet werden lichkeiten, die Hygienevorschriften und Quarantä- (vgl. AWO Bundesverband 2018). nen verstärken die schon vorhandenen Probleme in den Unterkünften und zeigen, dass diese vulne- rable Gruppe Geflüchteter in besonderer Weise von der Pandemie betroffen ist. Negative Entwicklungschancen für geflüchtete Kinder und Jugendliche (Erst-) Aufnahmeeinrichtungen und Gemein- wurden durch die Pandemie-Ausnahmesitua- schaftsunterkünfte sind per se keine Orte für tion jedoch noch weiter eingeschränkt und die Kinder und Jugendliche. Das kaum kindgerechte Entwicklungschancen und Resilienzen der jun- Umfeld, die fehlenden ungestörten und ge gen Geflüchteten negativ beeinflusst (vgl. BUMF schützten Orte sowie die nicht vorhandenen 2021: 96). So verhinderten geschlossene Schu- kindgerechten Ruhe- und Spielmöglichkeiten27 len und die häufig fehlenden digitalen Zugänge 26 Zu ihnen gehören alleinerziehende Frauen* mit minderjährigen Kindern, Kinder und Jugendliche mit oder ohne Begleitung, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, LSBTI*Q-Menschen, Betroffene von Men- schenhandel, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben. Diese Liste ist nicht abschließend, sodass auch andere Personengruppen unter die Kategorie der besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge gefasst werden können. 27 Mehr dazu: UNICEF (2017): Kindheit im Wartezustand – Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland. https://www.unicef.de/blob/137024/ecc6a2cfed1abe041d261b�- 489d2ae6cf/kindheit-im-wartezustand-unicef-fluechtlingskinderstudie-2017-data.pdf (letzter Zugriff am 13.09.2021). 18
UNTERBRINGUNG VON GEFLÜCHTETEN MENSCHEN UND DIE CORONA-PANDEMIE die Teilhabe am Schulsystem. Häufig fehlende, externe Beschäftigungs-, Unterstützungs- sowie geeignete Lern- und Arbeitsorte oder fehlende Freizeitangebote fielen weg und sorgten für Iso- technische Endgeräte verhinderten die Teil- lation und große Rückschritte bei der sozialen nahme am sog. Distanzunterricht oder das Nach- Teilhabe. holen der verpassten Lerninhalte. Interne und Anstieg psychischer Belastung, Stress und Gewalt Unter Quarantänebedingungen steigert sich die Die durch die Pandemie eingeschränkten oder Belastung zu einem konkreten Risiko nicht nur gar fehlenden Strukturen führen ebenfalls zu für die mentale, sondern auch für die körper- einem Anstieg von Stress und Gewalt in den liche Gesundheit, gerade für psychisch vorbe- Unterkünften. Besonders schutzbedürftige lastete Menschen. Die aktuelle Situation und Geflüchtete sind da besonders gefährdet, da sie die reduzierten Unterstützungsmöglichkeiten extrem vulnerabel und gerade deshalb Ziel von und Angebote können bei traumatisierten Men- Gewalttaten sind.28 schen zu einer Verstärkung ihres Traumas führen (vgl. NTFN 2020). Hohes Gesundheitsrisiko für chronisch Kranke Der Zugang zur adäquaten medizinischen Ver- zum anderen ist für diese Personen oftmals das sorgung besonders schutzbedürftiger Geflüch- Risiko einer Ansteckung höher. Gleichzeitig gel- teter ist häufig nicht gewährleistet. Das liegt ten in der Corona-Pandemie auch, neben den zum einen an der fehlenden Erkennung der in der EU-Aufnahmerichtlinie definierten Per- Bedarfe sowie an den oftmals nicht gewährten, sonen mit besonderen Schutzbedarfen, weitere notwendigen Leistungen bei erkannten chroni- Risikogruppen als besonders gefährdet. So wur- schen Erkrankungen oder anderen Bedarfen. Die den laut Robert Koch-Institut vor allem bei älte- aktuelle Pandemie-Situation führt dazu, dass ren Menschen, Menschen mit Down-Syndrom, viele der genannten besonders schutzbedürf- Adipösen und bei Menschen mit chronischen tigen Personen gesundheitlich noch schlech- Erkrankungen wie Diabetes-, Krebs-, Herz- und ter gestellt sind. So fehlt zum einen häufig die Lungenerkrankten schwere Krankheitsverlaufe entsprechende Beratung und Unterstützung, beobachtet. (RKI 2021a: Punkt 15). 28 Siehe hierzu auch die Studie von: Pro Asyl (2021): Erfahrungen von Asylsuchenden in Flüchtlingsunterkünf- ten während der Corona-Pandemie in Deutschland. Einsehbar unter: https://www.proasyl.de/wp-content/ uploads/210809_PA_Lager.pdf (letzter Zugriff am 08.09.2021). 19
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