Der Kampf ge gen Julias Vergessen

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Der Kampf ge gen Julias Vergessen
Der Kampf ge
  Wenn Julia in ihrer
  eigenen Welt versinkt,
  ist es schwer, zu ihr
  durchzudringen. Sie
  kann aber auch sehr
  kommunikativ sein.

44 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE
Der Kampf ge gen Julias Vergessen
gen Julias Vergessen

                                                                                                               Trotz allem sind
                                                                                                               Giada, Ursina, Julia
                                                                                                               und Mario (v. l.) eine
                                                                                                               fröhliche Familie.
                                                                                                               Mario: «Wir genies-
                                                                                                               sen jeden Moment.»

      Mit Wehmut erinnern sich Ursina und Mario Schmid an das Mädchen, das ihre
    Tochter einmal war. Julia hat das Sanfilippo-Syndrom, eine Art Kinder-Demenz. Alles,
      was sie konnte, verlernt sie wieder. Ihre Eltern setzen sich für die Forschung ein.

                                       T E X T S A N D R A C A S A L I N I F O T O S PA S C A L M O R A

 Genug ist genug. So sehr die klickende      die Dreisprachigkeit: Zu Hause wird                    kann sich nicht mehr alleine die Schuhe
 Kamera die siebenjährige Julia auch         neben Deutsch Italienisch gesprochen,                  anziehen. Nicht mehr mit Besteck es-
 fasziniert hat – jetzt mag sie nicht mehr   die Muttersprache vom Papa, und Ro-                    sen. Bewegt sich immer unbeholfener.
 fürs Familienfoto posieren. Julia schüt-    manisch, die Muttersprache von Mama                        Es folgt Abklärung um Abklärung.
 telt die Hand ab von Papa Mario             Ursina, 42. Dass sie mit drei Jahren im-               ADHS wird ausgeschlossen, Autismus
 Schmid, 45, und trabt über die Wiese        mer eigensinniger wird, kaum mehr auf                  ebenfalls. Dann die Diagnose. Den
 vor ihrem Elternhaus in Zizers GR. Ver-     jemanden hört, immer ihr eigenes Ding                  5. Dezember 2019 bezeichnen Ursina
 sonnen betrachtet sie die Blumen,           durchziehen will, schiebt Ursina auf                   und Mario Schmid als «schwärzesten
 spürt das Gras an ihren Waden. Ihre El-     ihre zweite Schwangerschaft.                           Tag unseres Lebens». Und zugleich als
 tern, Schwester Giada, 3, der Fotograf,                                                            Erleichterung. Denn endlich hat all
 sie sind im Bruchteil einer Sekunde         Mit fünf kommt Julia in den Kinder-                    das einen Namen: Sanfilippo-Syndrom.
 ganz weit weg von Julia.                    garten. Da geht plötzlich gar nichts                   Julia fehlt ein Enzym, das im Hirn gros-
    «Gesundes Mädchen» steht in Julias       mehr. «Sie wollte jeden Morgen in ei-                  ­se, komplexe Zuckermoleküle abbaut.
 Vorsorgeheft, eingetragen nach ihrer        nen anderen Kindergarten als den ih-                    So füllt sich ihr Hirn mit der Zeit mit
 Geburt am 9. März 2014. Julia entwi-        ren gehen. Ich konnte ihr einfach nicht                 «Abfällen», die ihr Körper nicht aus-
 ckelt sich normal. Dass sie spät spre-      erklären, dass dieser nicht ihr Kinder-                 scheiden kann. Als Folge verlernt sie in-
 chen lernt, schieben die Eltern neben       garten ist», erzählt Ursina Schmid.                     nerhalb kurzer Zeit alles, was sie in den
 den häufigen Ohrenentzündungen auf          Dann beginnen die Rückschritte. Julia                   ersten Lebensjahren gelernt hat. Julia

                                                                                                                   SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 45
Der Kampf ge gen Julias Vergessen
hat eine Art von «Kinder-Demenz».             Aber auf dem Zucker, der aus
Die Krankheit ist sehr selten – etwa ei-   zwei Glukosebausteinen besteht, ru-
nes von 70 000 Kindern ist betroffen –     hen momentan ganz viele Hoffnungen
und momentan weder therapier- noch         der Schmids. Bei Lebensmitteln ver-
heilbar. Ohne Therapie beträgt Julias      hindert Trehalose zum Beispiel sowohl
                                                                                        Ursina hofft, durch
Lebenserwartung etwa 15 Jahre.             das Austrocknen als auch das Durch-
                                                                                        Spenden für Julia
                                           weichen. Und sie wird vom Körper             die Forschung ­voran-
«Von wem bist du das Schätzeli?»,          langsam abgebaut, sodass der Blut­           treiben zu können:
fragt Mario, der seine ältere Tochter      zuckerspiegel nicht zu stark steigt. Den     www.hopeforjulia.ch

fest im Arm hält. Julia hört gebannt zu,   Tipp hat Ursi­na von Sanfilippo-Eltern
beobachtet intensiv das Gesicht ihres      aus den USA erhalten, über eine Eltern-
Vaters. Ein feines Lächeln umspielt        gruppe in den sozialen Medien. «Na-
ihre Lippen. «Papa», sagt sie. Ihr Vater   türlich ist es schwer zu sagen, ob es
lacht erleichtert auf. Die Angst vor dem   wirklich an der Trehalose liegt, aber
Moment, in dem Julia dieses Wort           wir haben das Gefühl, dass Julia seit
nicht mehr sagen kann, ist riesig. Noch    einem guten Jahr recht stabil ist und
spricht sie einzelne Worte, auch Satz-     langsamer Rückschritte macht, ja sogar
fragmente. Und Julia singt. Wenn ihr       das eine oder andere wieder dazu­
Mami das Samichlaus-Lied «Was isch         gelernt hat.» Ursina und Mario würden
das für es Liechtli» anstimmt, singt die   gern eine Studie dazu durchführen
Siebenjährige jedes Wort mit. Als sie      lassen. Doch bei der Finanzierung
ihr danach die in Joghurt aufgelöste       harzt es. Die Krankheit ist zu selten, als
Trehalose in den Mund schieben will,       dass die Pharmaindustrie daran Inte­
öffnet Julia diesen nur widerwillig.       resse hätte. Ursina und Mario Schmid
Der Kampf ge gen Julias Vergessen
haben deshalb den Verein Hope for
                                                Julia ins Leben gerufen, der unter an­
                                                derem Spenden für die Forschung
                                                sammelt. «Das Ganze ist sehr aufwen­
                                                dig. Aber es gibt uns das Gefühl, etwas
                                                zu tun», sagt Ursina. «Wir können
                                                nicht einfach zusehen, wie uns diese
                                                Krankheit Stück für Stück unsere Toch­
                                                ter wegnimmt.»

                                                Es ist Zeit für den Zvieri. Giada giesst
                                                vorsichtig ein Glas Wasser ein und
                                                reicht es Julia mit beiden Händen. Die
                                                Dreijährige ist ihrer grossen Schwester
                                                in ihren Fähigkeiten merklich voraus.
                                                «Julia ist kräftig, aber mit Giada kann
                                                sie zwischendurch auch sehr fein sein»,
                                                erzählt Ursina. Für die Kleinere ist es
                                                normal, auf ihre Schwester Rücksicht
                                                zu nehmen. Die Eltern achten darauf,
                                                auch mal etwas mit ihr allein zu ma­
                                                chen, zum Beispiel wenn Julia in der
                                                sonderpädagogischen Schule ist. «Wir
                                                hoffen, Giada kommt nicht zu kurz»,
                                                sagt ihr Mami.
                                                   Für sie selbst und ihren Mann sind

   «Wir können nicht einfach                    Zeit allein und Zeit zu zweit schon
                                                lange Fremdwörter. Job und Kinder­

     zusehen, wie uns diese
                                                betreuung haben sie sich aufgeteilt.
                                                Mario arbeitet zu 60 Prozent als Auto­
                                                matiker, Ursina, die ausgebildete Leh­

    Krankheit Stück für Stück                   rerin ist, zu 50 Prozent bei der AHV.
                                                «Ich bin froh um einen Bürojob, bei

   unsere Tochter wegnimmt»                     dem ich im Notfall auch mal verschwin­
                                                den kann.» Denn im Gegensatz zu an­
                                                deren Kindern braucht Julia, je älter sie
                             URSINA SCHMID      wird, immer mehr Betreuung. Alleine
                                                essen lassen kann man sie beispiels­
                                                weise nicht mehr. «Sie kaut nicht rich­
                                                tig und verschluckt sich.» Auch die
                                                Nächte seien mal besser, mal schlech­
                                                ter. Jede Nacht schläft ein Elternteil bei
                                                Julia, momentan meist der Papa.
                                                   Wenn Julia am Gartenzaun steht,
                                                kann Ursina kurz durchschnaufen
                                                und sich einen Kaffee machen. Hier
                                                beobachtet das Mädchen, was auf
                                                der Strasse passiert. Sie wird gegrüsst,
                                                die Leute reden mit ihr, auch wenn
                                                sie keine Antwort gibt. Im Dorf kennt
                                                man Julia. Viele unterstützen den
                                                Verein ihrer Eltern. «Es ist schön zu
                                                sehen, dass man nicht allein ist», sagt
                                                Mario. Und weiter: «Unser grösster
                                                Traum ist es, dass Julia sich irgend­
Julia liebt es, vom Garten aus zu beobachten,   wann bei allen persönlich bedanken
was auf der Strasse vor ihrem Haus geschieht.   kann.»

                                                               SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 47
Der Kampf ge gen Julias Vergessen
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