Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis - BENOÎT GRÉVIN FLORIAN HARTMANN (HG.)

Die Seite wird erstellt Lukas Kramer
 
WEITER LESEN
Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis - BENOÎT GRÉVIN FLORIAN HARTMANN (HG.)
BENOÎT GRÉVIN
FLORIAN HARTMANN (HG.)

Der mittelalterliche
Brief zwischen
Norm und Praxis
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

                       © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

                   BEIHEFTE
       ZUM ARCHIV FÜR KULTURGESCHICHTE

                             IN VERBINDUNG MIT
                        KARL ACHAM, BERNHARD JAHN,
                  EVA-BETTINA KREMS, FRANK-LOTHAR KROLL,
             TOBIAS LEUKER, HELMUT NEUHAUS, NORBERT NUSSBAUM,
                              STEFAN REBENICH

                                 HERAUSGEGEBEN VON
                                  KLAUS HERBERS

                                        BAND 92

                       © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

 DER MITTELALTERLICHE
 BRIEF ZWISCHEN NORM
       UND PRAXIS

                             Herausgegeben von

             Benoît Grévin und Florian Hartmann
                   unter Mitarbeit von Giuseppe Cusa

               Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

                       © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der RWTH Aachen University
         und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn.

        Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
      Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
                   im Internet über ­https://dnb.de abrufbar.

  © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln
    Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich
   geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen
          bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

                   Umschlagabbildung: Petrus de Vinea, Epistolae,
                    Bayerische Staatsbibliothek, clm 27352 f. 11v.
                   Wir danken für die freundliche Unterstützung.

                          Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

                                ISBN 978-3-412-51963-6

                         © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                  ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Inhalt

Vorwort. Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis  . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Benoît Grévin / Florian Hartmann

Die Polyphonie der spätmittelalterlichen ars dictaminis. Rezeption, Adaption
und Imitation italienischer Vorlagen in europäischen Werken um 1300 . . . . . . . . . 17
Florian Hartmann

Potential und Desiderata der Forschungen zur mittelalterlichen Briefstillehre.
Die Briefsammlungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Benoît Grévin

Produzione e diffusione. Prime indagini codicologiche sulle artes dictandi
italiane di successo del Duecento (Guido Faba, Giovanni di Bonandrea) . . . . . . . . 57
Sara Bischetti

Alle origini della organizzazione in summa delle epistole di Pier della Vigna  . . . 69
Fulvio Delle Donne

La place du dictamen dans la culture notariale de l’Italie communale et
des pays catalans à la fin du Moyen Âge. Éléments de comparaison . . . . . . . . . . . . . . 87
Matthieu Allingri

Notarielle Formelbücher und ihre Benutzung durch öffentliche Notare
in Bayern und Österreich im Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Magdalena Weileder

Il mondo nuovo nelle epistole. L’amore nei Carmina Ratisponensia . . . . . . . . . . . . . 149
Martina Pavoni

Retorica, adulterio e costruzione identitaria di genere
(Wien, ÖNB, Ms. 2239, ff. 119rv). Tra rappresentazione e prassi  . . . . . . . . . . . . . . 159
Francesca Battista

                                     © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                              ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

6                                                                                                                                   Inhalt

Handschriften der ars dictaminis im Zisterzienserinnenkloster Wienhausen.
Eine Fallstudie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Lena Vosding

La “revolutio” della Rota Veneris  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Luca Core

Entre ars dictaminis et ars prædicandi. Le Somnium morale pharaonis
aux frontières des genres  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
Nicolas Michel

Ahi serva Italia. Metafore dantesche tra ars dictaminis e poesia politica . . . . . . . . . . 237
Gaia Tomazzoli

Storia e geografia nel Boncompagnus di Boncompagno da Signa  . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Francesca Tarquinio

Le epistole di Giovanni Manzini letterato visconteo (1388–1389) . . . . . . . . . . . . . . 273
Marco Petoletti

Gnediger herr, last mich nit auf die fleichpank geben! Zum Einsatz von Briefen
in der politischen Kultur: Briefe zur Gradner-Fehde 1455/1456  . . . . . . . . . . . . . . . 303
Thomas Woelki

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Ortsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Handschriften- und Archivregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

                                       © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                                ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Vorwort
Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Benoît Grévin / Florian Hartmann

Eine wissenschaftliche Einführung sollte in erster Linie dazu dienen, den methodologi-
schen Rahmen und die disziplinären Ziele der folgenden Beiträge zu erklären, ohne jede
Etappe der vorbereitenden Konzeption des Bandes detailliert darzulegen. Ein Vorwort
bietet dagegen die Möglichkeit, die Vorgeschichte eines Buches zu skizzieren. Hinter
dem Titel des Bandes Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis versteckt sich
tatsächlich eine besondere Etappe in der schon vieljährigen Geschichte eines langfris-
tigen, teils formalen, teils informellen interdisziplinären Projektes, das mit viel Energie
von einem europäischen Team seit fast zehn Jahren verfolgt wird.
    Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis ist das Resultat und eine glück-
liche Nachwirkung eines von der DFG finanzierten Projekts, in dem zwischen 2013 und
2017 unter dem Titel „Die Ars dictaminis des Mittelalters in all ihren Stadien“ ein euro-
päisches Team zusammengestellt wurde, um ein kollektives Handbuch über die mittel-
alterliche Briefstillehre zur Zeit der sogenannten Ars dictaminis (also von 1080 bis ins
15. Jahrhundert) zu konzipieren. Dieses Buch ist im Frühjahr 2019 mit dem Titel Ars
dictaminis. Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre in der Reihe Monographien zur
Geschichte des Mittelalters veröffentlicht worden. Dieses Projekt war wiederum die Folge
eines vorbereitenden Arbeitszyklus, der 2009–2012 zu der Gründung und sukzessiven
Ausweitung eines informellen Netzwerkes geführt hatte, das mit einem Kongress über die
Theorie und Praxis der Ars dictaminis in Paris im Juni 2012 ein erstes konkretes Arbeits-
ergebnis vorgelegt hatte. Die Akten dieses Pariser Kongresses wurden 2015 mit wichtigen
Ergänzungen veröffentlicht unter dem Titel Le dictamen dans tous ses états. Perspectives
de recherche sur la théorie et la pratique de l’ars dictaminis (XIe–XVe siècle). Dieser erste,
in Italienisch und Französisch geschriebene vorbereitende Sammelband bot zwar eine
Reihe von Aufsätzen, die die eigenen Forschungen der verschiedenen Autorinnen und
Autoren widerspiegelte. Wenn auch chronologisch organisiert, sollte er gleichwohl eine
sehr fragmentarische Skizze über die Geschichte der Ars dictaminis bieten und mit zwei
Anhängen eine aktualisierte Bibliographie zum Thema sowie ein kommentiertes Reper-
torium der Autoren und der theoretischen Traktate des Mittelalters geben.
    Der größte Teil des vorwiegend deutsch-französisch-italienischen Teams, das in Paris
schon kooperiert hatte, hat dann auch an der Konzeption des deutschsprachigen Hand-
buchs von 2019 mitgewirkt, das bereits seit 2012 geplant wurde. Das Handbuch hat die
Materie, die in dem Sammelband von 2015 partiell kartiert worden war, in einer syste-
matischen und deutlich komplexeren Weise erfasst.

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

8                                                                  Benoît Grévin / Florian Hartmann

    Das Pariser Treffen 2012 hatte bereits unter anderen die Erkenntnis gebracht, dass
das Studium der hoch- und spätmittelalterlichen Briefstillehre und des praktischen Brief-
schreibens im Zeichen der Ars dictaminis zwar eine Art Wiedergeburt seit einigen Jah-
ren erlebt hatte (ein Trend, der sich seit 2010 fortgesetzt hat), aber dass dieses Studium
mit zwei größeren Problemen konfrontiert war: Die erste Frage betraf Möglichkeiten
und Grenzen der Kooperation zwischen literarisch ausgebildeten Philologen mit ihren
Arbeitsgewohnheiten zur Rhetorik und zu theoretischen Traktaten des Briefschreibens
(den Artes dictandi) einerseits und den Spezialisten der Praxis der Ars dictaminis, die
nicht nur Spezialisten der mittellateinischen Rhetorik oder Belletristik, sondern beson-
ders als Historiker Interesse für Kanzleipraxis, Kanzleitexte und historische Kontextua-
lisierungen hegen andererseits. Es hat sich allmählich gezeigt, dass das Studium der Ars
dictaminis und allgemein der mittelalterlichen Brieflehre nicht rein theoretisch oder rein
praktisch erfolgen kann, wenn die Forschung es ernst meint, den ganzen pragmatischen
Zyklus der mittelalterlichen Briefproduktion zu rekonstruieren.
    Einen Weg in Richtung dieser Interdisziplinarität bot der Band Le dictamen dans
tous ses états, in dem Studien über die berühmtesten Briefsammlungen (summae dicta-
minis) mit Aufsätzen und besonders mit einem großen Hilfsmittel (das Repertorium)
über die theoretischen Traktate alternieren. Angesichts der Dialektik zwischen Theo-
rie und Praxis sollte das DFG-Projekt, das eine kohärente umfassende Geschichte der
Ars dictaminis anvisierte, in dem Handbuch die Briefstillehre (also die Theorie und die
Pädagogik) betonen, ohne die Praxis zu vernachlässigen. Die vollständige Berücksichti-
gung dieser beiden Dimensionen der durch die Ars dictaminis geprägten hoch- und spät-
mittelalterlichen Briefkultur war aber kaum in sechs Jahren möglich. Deswegen wurde
letzten Endes im Handbuch der theoretischen Briefstillehre ein Vorrang gegeben. Der
vorliegende Band versucht nun, diese relative Asymmetrie zu korrigieren. Er geht auf
eine durch die RWTH Aachen und nunmehr durch das DFG-Heisenbergprogramm
geförderte internationale Tagung in Aachen im Herbst 2017 zurück, auf der die Pra-
xis der Ars dictaminis und der Brief- und Formularsammlungen im Mittelpunkt stand,
ohne dass die Theorie ganz vernachlässigt worden wäre.
    Die Aachener Tagung sollte auch eine wichtige Etappe zur Lösung eines in Paris und
während des DFG-Projekts leidenschaftlich diskutierten zweiten Problems darstellen,
eines Problems, das die Zukunft der Studien über die Ars dictaminis und seine Bezie-
hungen zur generellen Briefkultur des Hoch- und Spätmittelalters ganz direkt betrifft.
Ziel musste es sein, das Netzwerk, das sich zwischen 2009 und 2013 etabliert hat, mit
neuen Impulsen durch Nachwuchswissenschaftler_innen zu beleben und zu erweitern.
Denn die Forschung über die Normativität und die Praxis der Briefproduktion zwischen
1080 und 1500, sei es im Mittel- und humanistischen Latein, sei es in den modernen
Sprachen, fordert nicht nur eine interdisziplinäre Denkweise, sondern auch spezialisierte
Fachkenntnisse. Solche Fachleute sind allerdings nicht so leicht zu finden.
    Zum Glück zeigen in den letzten Jahren die Anstrengungen, dem Studium der
Briefstillehre zur Zeit der Ars dictaminis eine stärkere Sichtbarkeit zu geben, Ergeb-

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Vorwort                                                                                                9

nisse. Nicht nur in Italien, wo dank des Systems des „Liceo classico“ eine bis heute
hervorragende lateinische Kultur bewahrt wurde, sondern auch (wenn auch in nicht
so beeindruckender Weise) im französisch- und im deutschsprachigen Raum haben
Nachwuchswissenschaftler_innen neue Studien über die verschiedensten Aspekte der
mittellateinischen Briefstillehre und -praxis vorgelegt. Diese Entwicklung ist auch ein
Resultat des (in Italien besonders stark) erwachenden Interesses für die Ars dictaminis
als potentiell neuem Forschungsraum zwischen Kommunikationsgeschichte und latei-
nischer Philologie sowie für die Kanzleipraxis und die Frage nach dem Beginn des
Humanismus.
    Das Aachener Treffen bot reichlich Gelegenheit, das alte Netzwerk und diese neue
Generation zusammenzubringen und die potenziellen Wege für neue Forschungen zur
hoch- und spätmittelalterlichen Briefstillehre und Briefredaktionspraxis zu sondieren.
Es war in diesem Sinn nicht so sehr ein Bilanztreffen der Forschungen seit 2012, son-
dern eher Beginn eines neuen Zyklus im Rahmen der europäischen Forschungen über
die Beziehungen zwischen Ars dictaminis und Briefstillehre. Diese Forschungen erhal-
ten eine starke „karolingische Dynamik“, da die meisten Forscher_innen aus Belgien,
Deutschland, Frankreich und Italien (aber auch aus Polen und Tschechien) stammten.
Nach dem „romanisch“ französisch-italienischen zweisprachigen Band Le dictamen dans
tous ses états von 2015 und dem deutschsprachigen Handbuch von 2019 wird dieser neue
Sammelband bewusst im Zeichen der Vielsprachigkeit veröffentlicht, um diese neuen
Forschungen in Deutsch, Französisch und Italienisch widerzuspiegeln.
    Obwohl der Titel dieses Buches den Begriff Ars dictaminis nicht einschließt, han-
delt es sich hier nicht um eine weitere, generelle Studienserie über das mittelalterliche
Briefwesen – ein Thema, das zwar unerschöpflich (es gibt Hunderttausende edierter und
unveröffentlichter mittelalterlicher Briefe!), aber in den letzten Jahren viel diskutiert
worden ist. Vielmehr geht es hier um die Interaktion zwischen der rhetorischen Kunst
der Ars dictaminis und der mittelalterlichen und frühhumanistischen Briefpraxis. Diese
Interaktion hat eine Epoche des europäischen Briefes geprägt (1080–1500, besonders
intensiv aber 1180–1400), die zwar viele Kontinuitäten zur Briefkunst des Frühmittel-
alters und der Moderne aufweist, aber dennoch als eine Zeit autonomer und origineller
Versuche verstanden werden muss. Dieser Befund gilt umso mehr, als die Ars dictaminis
eine Disziplin war, die von den mittelalterlichen Litterati nicht unilateral als Briefstil-
lehre gedacht wurde, sondern auch als eine globale Kunst rhetorisierten Schreibens, und
zwar sowohl für Briefe und Dokumente als auch für andere Genres.
    Umgekehrt ist zu fragen, wie breit die Interaktion zwischen der Ars dictaminis, die
zumindest anfangs nur die lateinische Sprache betraf und zudem für traditionelle Ins-
titutionen (Klerus, Papsttum, fürstliche und königliche Kanzleien) konzipiert worden
war, und einer simpleren (z. B. kaufmännischen) Briefkommunikation war, die sich erst
allmählich ausprägte. Die Briefstillehre, die sich erst im Hochmittelalter entwickelte,
da die antike, spätantike und frühmittelalterliche Kultur keine wirkliche Brieftheorie
gegründet hatte, war Ergebnis der Veränderung der mittelalterlichen Gesellschaft im

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

10                                                                 Benoît Grévin / Florian Hartmann

11. und 12. Jahrhundert. Zunächst folgte sie der Praxis, aber allmählich wurde sie zum
Faktor in der Entwicklung einer stark autonomen Briefkultur und Briefstilistik. Dennoch
gab es auch in der Hochphase der Ars dictaminis sowohl Grenzen, bei deren Überschrei-
tung der mittelalterliche Brief dem Zwang anderer Disziplinen oder formaler Tenden-
zen unterlag, als auch breite Überschneidungen mit anderen Genres (wie dem weiten
Feld von Brief, Urkunde und Verwaltungsschriftgut).
     Besonders zentral ist die Frage, wie die Forschung die Beziehungen zwischen dem
Kern der durch die Ars dictaminis geprägten lateinischen Brieftheorie und Briefpro-
duktion einerseits und anderen Formen der hoch- und spätmittelalterlichen Briefkultur
andererseits erfassen soll. Die Ars dictaminis beeinflusste (oder tangierte jedenfalls) die
Ars notariae, die der Redaktion von Formularen, Kontrakten und anderen Urkunden
gewidmet war. Zudem prägte sie massiv das allgemeine Aufkommen einer autonomen
(aber lange untertheorisierten) Briefpraxis in den Volkssprachen. Sie hatte auch einen –
nicht zu unterschätzenden – Einfluss auf die humanistische Schreibpraxis, in deren Folge
viele Mischkulturen der Ars dictaminis mit klassischen Merkmalen aufkamen – in Italien
vorwiegend im 14. Jahrhundert, im übrigen Europa in besonderen Fällen bis 1500. Der
vorliegende Band soll diese Interaktion zwischen der Ars dictaminis und einer breiteren
(aber sie nicht ganz umfassenden) Briefpraxis beschreiben um zu zeigen, wieviele Teile
der europäischen Gesellschaft diese komplexe Dynamik erfasste.
     Das Buch ist in sechs Abschnitte unterteilt: Eine erste Sektion (I. Zum Forschungs-
feld Ars dictaminis/Briefstillehre: Einführende Synthesen) soll als methodologische,
bibliographische und konzeptuelle Einführung dienen, indem zwei Aufsätze ein Pano-
rama der umfassenden Forschungsprobleme der Ars dictandi/ars dictaminis vorstellen.
Mit der „Polyphonie der spätmittelalterlichen Ars dictaminis“ zeigt Florian Hartmann,
dass die Forschung bisher fast auf Italien (bisweilen noch auf Frankreich) orientiert ist
und zudem einseitig die theoretische Briefstillehre, und auch diese meist nur bis etwa
1300 erfasst hat. Die Arbeiten am Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre haben
dagegen gezeigt, dass die Ars dictaminis nach 1300, besonders (wenn auch nicht aus-
schließlich) in Mitteleuropa und im römisch-deutschen Reich weitgehend unerforscht
ist. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber in den unerschöpflichen Werken dieser Zeit
ein ganz breites Spektrum an Formen. Diese in Prosa, bisweilen auch in gebundener
Rede verfassten theoretischen Traktate und Briefsammlungen verschiedenster Ausrich-
tung warten nur darauf, erstmals analysiert zu werden, um die Wirkung der Ars dicta-
minis in der Gesellschaft der Jahre 1080–1500 zu verstehen.
     Benoît Grévin („Potential und Desiderata der Forschung zur mittelalterlichen Brief-
stillehre: Die Briefsammlungen“) konzentriert sich auf die methodologischen Probleme,
die die Forschung der Briefsammlungen erwartet, mit einem Schwerpunkt auf den
editorischen Desiderata und Editionsstrategien. Wie kann man Werkzeuge schaffen,
um sich künftig im Ozean der Briefsammlungen, die manchmal als fast „unveröffent-
lichbar“ erscheinen (die Sammlung des Pseudo-Marinus de Eboli enthält z. B. mehr als
3000 Stücke), besser orientieren zu können?

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Vorwort                                                                                                11

    Die zweite Sektion zeigt in zwei Fallstudien, wie neue Methoden und Fortschritte der
Grundwissenschaften dazu beitragen können, revolutionäre Perspektiven zu bieten und
Lösungen älterer Forschungsprobleme zu erreichen (II. Methodologische Probleme
der Studien über Brieftraktate und -sammlungen, von der Kodikologie zu der textu-
ellen Überlieferung). In „Produzione e diffusione: Prime indagini codicologiche sulle
artes dictandi italiane di successo del Duecento (Guido Faba, Giovanni di Bonandrea)“
untersucht Sara Bischetti das erste Mal, wie eine quantitative kodikologische Untersu-
chung unsere Kenntnisse über die Verbreitung und die Funktionalität der populärsten
theoretischen italienischen Traktate erweitern kann. Die theoretischen Traktate Guido
Fabas und Giovannis di Bonandrea wurden zu weit verbreiteten Traktaten mit einem
langfristigen Einfluss über weite Teile Europas. Die kodikologische und paläographi-
sche Analyse hilft zu verstehen, wie diese Traktate lange nach dem Tod ihrer Autoren
benutzt und verbreitet wurden, und in welcher Weise z. B. Guido Faba noch im europäi-
schen 14. Jahrhundert (und nicht nur im 13. Jahrhundert) und Giovanni di Bonandrea
im 14. und sogar noch im 15. Jahrhundert gelesen wurden. Fulvio Delle Donne („Alle
origini della organizzazione in summa delle epistole di Pier della Vigna“) zeigt, welche
riesigen Probleme die weite Verbreitung dieser sehr beliebten Sammlung (besser: meh-
rerer, genetisch verbundener Sammlungen) der Forschung bereitet. Seine philologische
Beweisführung erlaubt zu verstehen, wie weit die Forschung über die wichtigsten Samm-
lungen des 13. Jahrhunderts vorangeschritten ist: So können die 150 Handschriften nur
ungenügend in die vier Kategorien unterteilt werden, die noch Hans Martin Schaller in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgeschlagen hatte. Eine feinere Analyse der
Varianten binnen der Handschriften der kleinen sechsteiligen Redaktion, vielleicht der
ältesten Form der Überlieferung, zeigt, dass auch sie nicht einheitlich ist. Mit den sehr
verbreiteten Diffusionsformen der Codices und der Lesarten begegnen wir ähnlichen
Problemen, aber auch ähnlichen Möglichkeiten: Die Forschung über Textformen, wel-
che große Teile der europäischen Gesellschaft beeinflussten, konnte bis vor kurzem nicht
mit den Mitteln der traditionellen Philologie, Paläographie und Kodikologie geleistet
werden. Die methodologischen Fortschritte der letzten zwei Jahrzehnte erlauben, diese
riesigen Überlieferungen besser zu studieren.

III. Die Briefe, in der mittelalterlichen Gesellschaft (1). Die Kultur des Notariats
zwischen Ars dictaminis und Ars notariae. Die dritte Sektion widmet sich der Bezie-
hung zwischen der Ars dictaminis und der hoch- und spätmittelalterlichen Gesellschaft.
Eine bis jetzt fast unerforschte Frage wird hier von zwei Seiten angesprochen: die Bezie-
hungen zwischen Ars dictaminis als sozialem Gebilde und Ars notariae, die in einem Teil
der Literatur als eine Zwillingsdisziplin der Ars dictaminis bezeichnet wird (eine Vorstel-
lung, die von Ronald Witt mit guten Gründen angefochten worden ist). Wie kann man
die Grenze ziehen zwischen der „rhetorischeren“ Ars dictaminis, die mehr mit dem Brief
(oder mit der als Brief konzipierten Urkunde) zu tun hat, und der Ars notariae, die auch
von den Notaren praktiziert wurde und eine juristische Perspektive auf die Redaktion

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

12                                                                 Benoît Grévin / Florian Hartmann

von Urkunden entwickelt? Matthieu Allingri («La place du dictamen dans la culture
notariale de l’Italie communale et des pays catalans à la fin du Moyen Âge.» Éléments
de comparaison) widmet sich in einer sehr innovativen Strategie dem Problem dieser
Doppelkultur mit der Frage, wie genau das Notariat die Theorie und die Praxis der Ars
dictaminis und der Ars notariae gelehrt hat – und zwar in vergleichender Perspektive der
Kernländer des Notariats in Toskana-Umbrien und Katalonien. Die Erforschung der
Lehrstrategien der lokalen Notare zeigt nicht nur, dass große, vorhersehbare Unterschiede
zwischen den zwei Regionen existiert haben, sondern illustriert die Radikalität des Wan-
dels im spätmittelalterlichen Europa: Mit dem 14. Jahrhundert begann eine Regionali-
sierung und Verbreitung der Lehre der Ars dictaminis ebenso wie der Ars notariae in der
Toskana, die während dieser Zeit die mittleren und kleineren Zentren erreichte, wäh-
rend zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine Entkoppelung der zwei Disziplinen erfolgte.
    Magdalena Weileder („Notarielle Formelbücher und ihre Benutzung durch öffent-
liche Notare in Bayern und Österreich im Spätmittelalter“) stellt eine andere Frage: Wie
kann man die Verbreitung notarieller Formularsammlungen im spätmittelalter­lichen
südostdeutschen Raum, die von der handschriftlichen und gedruckten Überlieferung
gut bezeugt ist, mit einer konkreten notarischen Praxis koppeln? Die quellenkundige
Arbeit macht deutlich, dass das vielleicht berühmteste Formular in diesem Raum im
Spätmittelalter, das Formularium notariorum Curie aus dem Milieu Avignons, zu Beginn
des 14. Jahrhunderts entstand und direkt die potentielle Praxis des deutschen Nota-
riats mit den stilistischen Ideen des Papsttums verband (ohne dass dieses Formularium
zwangsläufig als päpstliches Kanzleimaterial zu verstehen wäre). Obwohl die Praxis der
Ars notariae, die mit ähnlichen Formularen streng verbunden war, schon am Rande der
Ars dictaminis berücksichtigt wurde, scheint es unmöglich, die stilistische Praxis des
wichtigsten mittelalterlichen Milieus, das die Ars dictaminis betrifft, also des Notariats,
zu studieren, ohne diese Grenzzone zu sondieren.

IV. Die Briefe in der mittelalterlichen Sozietät (2). Perspektiven weib­licher Brief-
kultur. Die vierte Sektion versucht, diese soziale Geschichte des Briefwesens und der
Ars dictaminis in eine andere Richtung zu entwickeln, und zwar auf dem Feld der Gen-
der-Forschung. Die mittellateinische Kultur und besonders die Ars dictaminis schei-
nen zuerst ein Raum der Maskulinität, mit sehr wenig Ausnahmen, aber bei genauerer
Prüfung kann man sich schnell davon überzeugen, dass die Geschichte des mittelalter-
lichen Briefwesens auch eine weibliche Dimension hat, die ein starkes Potential für die
Forschung darstellt. Die drei Aufsätze Martina Pavonis, Francesca Battistas und Lena
Vosdings stellen einen fast idealen chronologischen Überblick bereit, um aus verschie-
denen Perspektiven die nicht-lineare Entwicklung einer weiblichen Briefkultur zu unter-
suchen. Mit „Il mondo nuovo delle epistole. L’amore nei Carmina Ratisponensia“ ana-
lysiert Martina Pavoni die raffinierte metrische lateinische Briefkultur der Klöster des
süddeutschen Raums im Hochmittelalter: Die Existenz dieser Kultur zur Zeit der Ent-
stehung der Ars dictaminis um 1100 (aber technisch vor der Präsenz der Ars im Raum

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Vorwort                                                                                                13

nördlich der Alpen) wirft eine Reihe von Fragen auf, sei es aus literarischer, sei es aus
philologischer oder soziohistorischer Perspektive. Wie wurde eine solche, äußerst lite-
rarisierte mittellateinische epistolographische Kultur mit ihrer Rhetorik der Liebe in
dem Doppelrahmen der weiblichen Kulturen und des mittellateinischen Briefwesens
artikuliert? Was die Ars dictaminis betrifft, stellt die Sammlung ein anderes Problem
dar, nämlich die Frage der Differenzierungen zwischen einer hervorragenden mittel-
lateinischen metrischen und prosaischen Briefkultur, die schon um 1100 blühte, und
einer Vorgeschichte der theoretischen Ars dictaminis (deren früheste Entwicklung im
deutschen Raum neuerer Studien bedarf ), aber auch der Ars poetriae (die als solche vor
der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nicht konzeptualisiert worden ist). Francesca
Battista (Retorica, adulterio e costruzione identitaria di genere (Wien, ÖNB, Ms. 2239,
ff. 119rv). Tra rappresentazione e prassi) behandelt schließlich die Zeit der „klassischen“
Ars dictaminis des 13. Jahrhunderts, ebenfalls im deutschsprachigen Raum, und zwar
im Österreich des letzten Babenbergers (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts). Die Mikro­
geschichte eines Briefdossiers über eine fiktive, modellierte Ehebruchsanklage, das in
einer Briefsammlung mit Material aus der Zeit Friedrichs II. des Streitbaren überliefert
wird, erlaubt uns zu untersuchen, wie die Sexualität und die Normativität weiblichen
Verhaltens in der Gesellschaft durch die Praxis der Ars dictaminis stilisiert worden ist.
Mit dieser Studie von Francesca Battista, die zur Zeit in Wien ein Projekt über die Ars
dictaminis und die genderspezifische Briefkultur von Frauen fortsetzt („Women’s voices
in Medieval Artes Dictandi and Model Collections“), erreichen wir das Herz der sozia-
len Dynamik der voll ausgebauten Ars dictaminis und die Rückwirkungen ihrer Model-
lierungslogik auf die Gesellschaft. Lena Vosding („Handschriften der Ars D     ­ ictaminis
im Zisterzienserinnenkloster Wienhausen. Eine Fallstudie“) bringt uns endlich an die
Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, mit aufregenden Perspektiven auf die Möglich-
keiten, eine ganz unerforschte weibliche Kultur des spätesten Mittelalters im Zeichen der
Ars dictaminis zu entdecken. Die Nonnen des Wienhauser Klosters nahe Celle in Nord-
deutschland haben uns einen Handschriftennachlass überliefert, der die Vielfältigkeit
einer Briefkultur mit klaren spätmittelalterlichen Modellen (z. B. Nicolaus von Dybin)
bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts beweist. Diese vorwiegend lateinische pragmatische
Kultur eröffnete auch die Möglichkeit, (nieder-)deutsch zu schreiben: eine Übergangs-
kultur also, die das Überleben und Weiterblühen einer monastischen Ars dictaminis bis
zur Schwelle der Reformation (und darüber hinaus) demonstriert. Noch einmal können
wir feststellen, dass die Studienlage des 14. und 15. Jahrhunderts ein riesiges Potential
für das Studium des von der Ars dictaminis beeinflussten Briefwesens darstellt.

V. Im Grenzbreich zwischen den Genres. Ars dictaminis, Geschichtsschreibung, Ars
poetriae, Ars praedicandi. Mit der Sektion wird die Zeit der „klassischen“ Ars dictaminis
(also zum theoretischen Höhepunkt der Disziplin, zwischen 1180 und 1330) erreicht.
In diesem Zeitraum, in dem der Vorrang der Disziplin als strukturierende Quelle für
das Briefwesen, aber auch für ein breiteres Spektrum der mittelalterlichen Gesellschaft

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

14                                                                 Benoît Grévin / Florian Hartmann

insgesamt deutlich hervortritt, lässt sich die Beziehung zwischen dem Briefwesen, der
Ars dictaminis und anderen Kommunikations- und Wissenschaftsformen am besten
untersuchen: Besonders in Italien (aber auch in anderen Kontexten) wird der Dictator
für einige Generationen zum Modell eines rhetorisch geprägten universalen Wissens
(laut Heinrich von Isernia in seinem Epistolare dictamen soll der Dictator alle Wissen-
schaften beherrschen); er ist als Vormodell des humanistischen Strebens nach kultureller
Vorherrschaft zu verstehen. Aber was bedeutet dieses Streben nach einer hegemonia-
len Stellung in einer Zeit der kulturellen Veränderungen, mit der Entwicklung alterna-
tiver Kulturmodelle in den Volkssprachen oder weiterer Kommunikationsformen wie
der Ars praedicandi?
    Luca Core („La “revolutio” della Rota Veneris“) erinnert daran, dass das Studium des
mittellateinischen Briefwesens Ende des 12. Jahrhunderts nur schwer von parallelen (aber
auch autonomen) Redaktionsformen, die die modernen Sprachen benutzten, getrennt
werden kann. Die Rota veneris des Boncompagno da Signa, ein Modell der revolutio-
nären Traktatliteratur, das das erste Mal in der europäischen Rhetorik- und Literatur-
geschichte eine Theorie des Liebesbriefes erarbeitet, muss mit parallelen, sehr populären
Formen der okzitanischen Literatur verglichen werden, wenn wir den genauen Mechanis-
mus der Liebesrhetorik korrekt entschlüsseln wollen. Mit dem gleichen Boncompagno
da Signa, sicher einem der erfinderischsten Rhetoriklehrer des Mittelalters, beschäftigt
sich auch Francesca Tarquinio („Storia e geografia nel Boncompagnus di Boncompagno
da Signa“), die eine erste Analyse der geographisch-geschichtlichen Kultur Boncompag-
nos anhand seines riesigen Brieftraktats Boncompagnus leistet. Mit ihrer Probebohrung
in der Kultur eines der drei berühmtesten Meister des Briefwesens an der Universität
Bologna zu Beginn des 13. Jahrhunderts bietet sie nicht nur einen Überblick, sondern
legt die Mechanismen der Verbindung zwischen Briefkultur und allgemeiner Kultur
frei: Wenn das Briefwesen die ganze Breite der potentiellen gesellschaftlichen Interak-
tionen modellieren soll, ist zu erwarten, dass der Dictator (Brieflehrer/Briefschreiber)
nach Universalwissen strebt. Der Aufsatz Gaia Tomazzolis („Ahi serva Italia. Metafore
dantesche tra ars dictaminis e poesia politica“) untersucht diese universelle Dimension
der Ars dictaminis aus einer anderen, komplementären Perspektive, indem sie die zent-
rale Frage der Metaphernkultur als Schwerpunkt des kreativeren Prozesses in den beiden
Disziplinen Ars dictaminis und der Ars poetriae in einer Zeit des Wandels (die Lebenszeit
Dantes Alighieri, 1265–1321) untersucht, und zwar mit einem Doppelblick auf Latein
und Volkssprache (hier die toskanische Sprache). Wir wissen, dass seit der Zeit Bon-
compagnos der Gedanke der Metapher, im Zeichen der Transumptio-Figur, zentral für
die Konzeptualisierung der Ars dictaminis geworden war. Die vergleichende Analyse der
vielfältigen Werke Dantes erlaubt uns, die Transposition dieser metaphorischen Techni-
ken zwischen Prosa und Dichtung zu untersuchen und noch einen anderen Aspekt der
Koppelung Ars poetriae – Ars dictaminis unter die Lupe zu nehmen. Diese Kultur der
Metapher war auch für eine andere Verbindung des 13. Jahrhunderts wichtig, indem
sie die Redaktionstechnik der modernen Predigt stark konditionierte; und es ist schon

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Vorwort                                                                                                15

manchmal angenommen worden, dass die Entwicklung der Ars praedicandi (die andere
große erfolgreiche Kommunikationstechnik der Zeit 1150–1350) starke Interaktionen
mit der Metaphorisierung der Ars dictaminis hatte, also mit der Entwicklung einer rei-
chen Metapherntheorie, und parallel mit der sich immer verstärkenden Tendenz, mit
biblischen Metaphern die Kommunikationslogik zu verdichten.
    Nicolas Michel („Entre ars dictaminis et ars prædicandi. Le Somnium morale pha-
raonis aux frontieres des genres“) erlaubt uns, den konkreten Fall einer expliziten Inter-
aktion zwischen Ars praedicandi und Ars dictaminis zu studieren, weil das Somnium
morale pharaonis, eine im Spätmittelalter sehr berühmte Reihe von fiktionalen Briefen,
die die Geschichte des Pharaos und Josephs illustriert und von Jean de Limoges in der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts redigiert wurde, funktionell an der Grenze zwischen
der Ars dictaminis und der Ars praedicandi steht. Die breite handschriftliche Überliefe-
rung zeigt, dass diese Briefe im Rahmen der Ars dictaminis, ebenso wie als Modelltexte
für die Vorbereitung von Predigten genutzt worden sind.
    Nicht nur in diesem Beitrag zeigt sich, dass eine zu strenge Typologisierung der tex-
tuellen Formen dem fundierten Studium des mittelalterlichen Briefwesens im Wege
steht: Die genaue (auch nicht fixierte, aber dynamische) Stellung der Ars dictaminis
und der Doktrinen des Briefwesens in der mittelalterlichen Gesellschaft wird am besten
untersucht, wenn man die Ars dictaminis mit ihrer attraktiven Anziehungskraft deutet,
die permanent mit anderen Disziplinen und Modellen im Rahmen eines dynamischen
Kräftesystems interagiert.

VI. Die neue Briefkulturen des Spätmittelalters. Vom Humanismus zur Deutschen
Rhetorik. Und tatsächlich ist die Welt der Ars dictaminis, trotz der Wünsche manches
Dictators des 13. oder 14. Jahrhunderts, nie ganz frei von Weiterentwicklungen geblie-
ben. So schließt die letzte Sektion dieses Buchs mit einer Perspektive auf die zwei wich-
tigsten Kräfte, die in der Forschung immer wieder als die entscheidenden Faktoren für
die allmähliche Auflösung der Ars dictaminis und des „klassischen“ mittellateinischen
Briefwesens dargestellt werden: die humanistische Umwälzung, die eine andere Ideo-
logie des lateinischen Schreibens förderte, einerseits und das allmähliche Aufsteigen
eines autonomen, nicht-lateinischen Briefwesens, das teilweise die Verantwortung für
die angebliche Marginalisierung der Ars tragen soll, andererseits. Der Beitrag Marco
Petolettis („Le epistole di Giovanni Manzini letterato visconteo (1388–1389)“) ist eine
hervorragende Fallstudie darüber, welches Potential ein Studium eines humanistischen
Briefwechsels, hier die Briefe Giovanni Manzinis, eines Befürworters Gian Galeazzo
Viscontis, des Herzogs von Mailand, für unsere Kenntnis der Übergangszeit zwischen
der Ars dictaminis und dem klassischen Humanismus bietet. Das schöne, partiell noch
unveröffentlichte Briefmaterial aus dem späten 14. Jahrhundert besitzt schon alle Cha-
rakteristika humanistischer Kultur. Trotzdem folgte es noch oft den Redaktionstechni-
ken der Ars dictaminis (z. B. mit dem Cursus rhythmicus). Und vor allem ist zu beden-
ken, was die Methodologie beim Studium solcher Briefsammlungen von denjenigen

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

16                                                                 Benoît Grévin / Florian Hartmann

Forschungstechniken unterscheiden würde, die für ältere Briefsammlungen als richtig
gelten. Ist nicht nur teilweise stilistisch, sondern vorerst funktionell die Welt der huma-
nistischen Briefkultur des späten 14. Jahrhunderts in gewisser Weise ähnlich wie die
Welt der summae dictaminis und der anderen Briefsammlungen des 13. Jahrhunderts?
Man sollte hier den richtigen Abstand ermitteln, um eine übertriebene Gleichsetzung
ebenso wie eine symmetrisch übertriebene Differenzierung zwischen den beiden Brief-
techniken zu vermeiden.
    Thomas Woelki („Gnediger herr, last mich nit auf die fleichpank geben! Zum Ein-
satz von Briefen in der politischen Kultur: Briefe zur Gradner-Fehde 1455/1456“)
stellt anhand eines anderen Kommunikationsmittels (Fehdebriefe des österreichischen
15. Jahrhunderts) die gleiche Frage: In welcher Weise sollten wir die gleiche oder eine
andere Methode für das Studium einer stark veränderten brieflichen Rhetorik entwi-
ckeln, obwohl sie genetisch teilweise von der Ars dictaminis stammt? Die Notwendigkeit,
die Texte dieses Spezialgebiets der spätmittelalterlichen und frühmodernen Briefkunst
mit innovativen, teilweise autonomen Methoden zu analysieren, steht zwar außer Frage.
Es ist aber unleugbar, dass viele technische Dimensionen einer solchen Analyse, nicht
zuletzt die Rahmen der rhetorischen Formalanalyse, als ein Gemeingut der Forschung
mittelalterlicher Briefe gelten und dass die Geburt einer neuen brieflichen Rhetorik
im Rahmen der vornationalen Sprachen im Einklang mit der Fortsetzung der alten Ars
dictaminis studiert werden sollte. Die Welt des hoch- und spätmittelalterlichen Brief-
wesens war weder einheitlich noch stabil. Sie folgte gleichwohl einigen vereinenden
Tendenzen, die teilweise mit der Entwicklung der klassischen Epistolographie verges-
sen worden sind und die wir allmählich wiederentdecken müssen. Eine Voraussetzung
für diese Wiederentdeckung ist eine bessere Kenntnis der Stellung dieses Briefwesens
in der Gesellschaft, sei es im Rahmen der Lehre, der Fiktionalisierung, des Verkehrs der
Briefe oder der Erforschung ihrer modellierenden Rolle.
    In der Zusammenschau belegen die hier versammelten Beiträge in ihrer Vielfalt der
Themen, der Methodiken und nicht zuletzt der sehr disparaten Quellenkorpora das große
Potential und die immer noch großen Herausforderungen in der Erforschung spätmittel­
alterlicher Brieftheorie und -praxis. Möge der Band weitere Forschungen stimulieren!
    Abschließend möchten die Herausgeber ihren Dank zum Ausdruck bringen gegen-
über den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der RWTH Aachen University, die so
sorgfältig die vielsprachigen Beiträge redigiert haben, namentlich Julia Exarchos, Carolin
Ann Triebler, Caroline Galla und Lukas Künzel. Ein besonderer Dank gebührt Giuseppe
Cusa, der sich um die Veröffentlichung und Redaktion der Beiträge überaus verdient
gemacht hat. Darüber hinaus danken wir dem Verlag Böhlau, insbesondere Kirsti Doep­
ner für die angenehme Kooperation, und den Herausgebern der Beihefte des Archivs
für Kulturgeschichte, vor allem Klaus Herbers, für die Aufnahme des Bandes in diese
Reihe. In erster Linie danken wir den engagierten Autorinnen und Autoren, die durch
ihre hervorragenden Vorträge zum Gelingen der Tagung in Aachen und nun auch zum
Erscheinen dieses Bandes am meisten beigetragen haben.

                              © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                       ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Die Polyphonie der spätmittelalterlichen ars dictaminis
Rezeption, Adaption und Imitation italienischer Vorlagen
in europäischen Werken um 1300

Florian Hartmann

1. Einführung

Etwa seit den 1990er Jahren haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter-
schiedlicher Fächer in verschiedenen Ländern unabhängig voneinander einer bis dahin
meist verkannten Gattung mittellateinischer Textproduktion zugewandt: Der ars dicta-
minis, die man als Kunst oder als Fach definieren könnte, das sich der Konzeption eines
Textes in korrekter stilistischer und formaler Form widmet.1 Diese allmählich auflebende
Beschäftigung mit der ars dictaminis, verbunden mit den Publikationen von Arbeiten
von James J. Murphy, Martin Camargo, Charles Vulliez, Franz-Josef Worstbrock, und
Emil Polak2 haben uns dann vor fünf Jahren – nach einer Reihe von Publikationen seit

1 Kurze Überblicksdarstellungen zur Gattung im Allgemeinen bieten Malcolm Richardson, The
  Ars dictaminis, the Formulary, and Medieval Epistolary Practice, in: Letter-Writing Manuals and
  Instruction from Antiquity to the Present: Historical and Bibliographic Studies, hg. von Carol
  Poster / Linda C. Mitchell, Columbia 2007, S. 52–66; Carol Dana Lanham, Writing Instruc-
  tion from Late Antiquity to the Twelfth Century, in: A short history of writing instruction from
  ancient Greece to modern America, hg. von James J. Murphy, Mahwah 22001, S. 79–121; zur
  Definition vgl. Florian Hartmann / Benoît Grévin, Einleitung, in: Ars dictaminis. Hand-
  buch der mittelalterlichen Briefstillehre, hg. v. dens. (Monographien zur Geschichte des Mittel­
  alters 65), Stuttgart 2019, S. 11–44, hier 11.
2 Martin Camargo, Ars dictaminis. Ars dictandi (Typologie des sources du Moyen Âge occi-
  dental, Bd. 60), Turnhout 1991; James J. Murphy, Rhetoric in the Middle Ages. A History of
  Rhetorical Theory from Augustine to the Renaissance, Berkeley u. a. 1974, S. 194–268; Franz
  Josef Worstbrock / Monika Klaes / Jutta Lütten, Repertorium der artes dictandi des
  Mittel­alters. Teil I: Von den Anfängen bis um 1200 (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 66),
  München 1992; Emil J. Polak, Medieval and Renaissance Letter Treatises and Form Letters.
  A Census of Manuscripts Found in Eastern Europe and the Former U.S.S.R. (Davis Medieval
  Texts and Studies, Bd. 8), Leiden/New York/Köln 1993; Ders., Medieval and Renaissance Let-
  ter Treatises and Form Letters. A Census of manuscripts found in part of Western Europe, Ja-
  pan, and the United States of America (Davis Medieval Texts and Studies, Bd. 9), Leiden/New
  York/Köln 1994; Ders., Medieval and Renaissance Letter Treatises and Form Letters. A Cen-
  sus of Manuscripts Found in Albania, Austria, Bulgaria, France, Germany, and Italy, Leiden/
  Boston 2015; vlg. auch Claudio Felisi / Anne-Marie Turcan-Verkerk, Les artes dictandi
  latines de la fin du XIe à la fin du XIVe siècle: un état des sources, in: Le dictamen dans tous ses
  états. Perspectives de recherche sur la théorie et la pratique de l’ars dictaminis (XIe–XVe siècles).

                               © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                        ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

18                                                                                       Florian Hartmann

dem Jahr 2000 – motiviert, diese Forschungen zu bündeln, um erstmals ein Handbuch
vorzulegen, das die Gattung, ihre theoretischen Grundlagen und die regionale Verbrei-
tung der einzelnen Traktate pointiert darstellt: Ein Handbuch der Briefstillehre.3 Die
Relevanz eines solchen bislang nicht existierenden Handbuches erklärt sich für uns aus
dem Umstand, dass diese Texte im Mittelalter nicht Teil einer unbedeutenden Arkan-
wissenschaft waren. Im Gegenteil: Die Ausbildung in der ars dictaminis, in der Brief-
stillehre, war im 13. Jahrhundert zur Voraussetzung eines jeden Notars oder Kanzlei-
mitglieds geworden. Kein Universitätsstudent konnte dieses Fach in seinem Studium
umgehen.4 Kein Kanzleiprodukt, ja wahrscheinlich überhaupt kein schriftlicher Text
entstand seit dem 13. Jahrhundert in völliger Unkenntnis dieser Lehre. Fast jeder, der
schreiben konnte, war im Rahmen seiner Schreibausbildung mit den artes dictandi in
Berührung gekommen. Ein Zufallsfund in der Kloake einer ehemaligen Stadtschule in
Lübeck aus dem 14. Jahrhundert zeigt, was Schüler einer beliebigen städtischen Schule
damals lernten: Diese zufällig überlieferten Wachstafeln der Lübecker Stadtschule ent-
halten Entwürfe lateinischer Briefe, etwas unbeholfen von Schülern geschrieben, offen-
sichtlich in Kenntnis der gängigen artes dictandi.5 Dieser Zufallsfund dürfte repräsentativ
sein: Der Ubiquität der Briefstillehre – von Universitäten bis zu Kloaken – entsprechen
auch die Handschriftenbefunde. Sie sind auf dem Feld der ars dictaminis schlichtweg
nicht überschaubar. Emil Polak kommt in seinem Handschriftenzensus aus den Jahren
1993 bis 2015 auf rund 12.000 Handschriften, in denen Texte dieser Gattung überlie-
fert werden.6 Doch Stichproben zeigen, dass auch dieser überaus verdienstvolle Zensus
längst nicht vollständig ist.
    Diese Texte waren nicht nur überall verbreitet, sondern sie betrafen auch fast alle Zeit-
genossen. Mönche und Weltgeistliche, Studenten und Stadtbürger, weltliche Herrscher
und hoher Klerus: Alle waren mit der ars dictaminis konfrontiert. Und nicht nur das!

     Actes du colloque international de Paris, 5–6 juillet 2012, hg. v. Benoît Grévin/Anne-Marie
     Turcan-Verkerk (Bibliothèque d’histoire culturelle du Moyen Âge, 16), Turnhout 2015,
     S. 417–541; Anne-Marie Turcan-Verkerk, Répertoire chronologique des théories de l’art
     d’écrire en prose (milieu du XIe s. – années 1230). Auteur, oevre(s), inc., édition(s) ou manus-
     crit(s), in: Archivum Latinitatis Medii Aevi 64 (2006), S. 193–239.
3    Hartmann/Grévin (Hrsg.), Ars dictaminis, (wie Anm. 1).
4    Vgl. zu Bedeutung der ars dictaminis im universitären Curriculum Rüdiger Lorenz, Summa
     Iovis. Studien zu Text und Textgebrauch eines mittelalterlichen Lehrgedichts (Ordo, 13), Köln/
     Weimar/Wien 2013, S. 224; vgl. auch John O. Ward, Rhetoric in the faculty of arts at the uni-
     versities of Paris and Oxford in the Middle Ages: a summary of the evidence, in: Archivum La-
     tinitatis Medii Aevii 54 (1996), S. 159–231, passim.
5    Zu den Lübecker Wachstafeln vgl. Johann Warncke, Mittelalterliche Schulgeräte im Museum
     zu Lübeck, in: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 2 (1912), S. 237–
     250, wenn auch ohne stilistische Einordnung. Für den Gesamtzusammenhang vgl. auch Antje
     Kathrin Grassmann, Das Wachstafel-Notizbuch des mittelalterlichen Menschen, in: Zeit-
     schrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 4 (1986), S. 223–235, bes. S. 235.
6    Vgl. die Nachweise oben zu Polak, Medieval and Renaissance Letter Treatises (wie Anm. 2).

                                © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                         ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

Die Polyphonie der spätmittelalterlichen ars dictaminis                                                 19

Die auf diesen theoretischen Grundlagen verfassten Briefe wurden am Empfängerort
laut verlesen, kamen also auch einem weiteren Publikum zu Gehör und durften essen-
tielle Grundregeln der Briefstillehre schon deswegen nicht ignorieren.
    Aus der ars dictaminis entwickelten sich schließlich weitere Formen von Rhetorik­
lehren: Die ars arengandi, also die Kunst zur Rede in städtischen Gremien, sollte schließ-
lich aus der ars dictaminis hervorgehen.7 „Die ars dictaminis ist somit sicherlich kein
plötzlich auftauchendes und wieder verschwindendes, weil nutzlos gewordenes Phäno-
men, sondern Teil der über viele Brechungen und Kontinuitäten von der Neuzeit bis in
die Antike reichenden Tradition der Rhetorik“.8
    Die ars dictaminis ist demnach eine totale Disziplin. Deswegen wird sie zuletzt von
zahlreichen Fachgruppen erforscht. Allein ein interdisziplinäres Team ist imstande, ein
Handbuch der ars dictaminis, ein Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre, zu ver-
fassen. Dieses Handbuch liegt parallel zu diesem Tagungsband nun endlich vor.

2. Die Polyphonie der ars dictaminis

Bei der Arbeit an dem Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre hat sich rasch
gezeigt, dass sich die ars dictaminis viel weniger linear entwickelt hat und weniger ein-
heitlich war, als es in Überblicksartikeln als Meistererzählung bisweilen erscheint.9 Auf
der einen Seite ist es richtig, dass einige wenige Summae und artes dictandi, meist des
13. Jahrhunderts, in den folgenden Jahrhunderten weit verbreitet, rezipiert und beliebt
waren und deswegen im Ganzen zu einer gewissen Vereinheitlichung der Lehre und
Praxis beigetragen haben. Als Vertreter dieser wirkmächtigen Werke der so genannten
Blütephase des 13. Jahrhunderts wären beispielsweise die Sammlungen eines Petrus de

7 Lorenz, Summa Iovis (wie Anm. 4), S. 15: „Die Art von kommunikativem Akt, wie sie die
  Briefrhetorik repräsentiert, ersetzt – dies zeigt die Ubiquität des ars dictaminis-Schrifttums –
  … die forensische Beredsamkeit als primäres Exemplifizierungsschema der Rhetorik: Brief oder
  Privileg sind für die mittelalterliche Gesellschaft von ähnlicher Signifikanz wie die Gerichts­rede
  für die römische Republik; vgl. auch William D. Patt, The early ars dictaminis as response to a
  changing society, in: Viator 9 (1978), S. 133–155, bes. S. 152 f.; Camargo, Ars dictaminis (wie
  Anm. 2), S. 19 f.
8 Lorenz, Summa Iovis (wie Anm. 4), S. 16; vgl. auch Camargo, Ars dictaminis (wie Anm. 2),
  S. 42, Franz Josef Worstbrock, Art. „Ars dictaminis, Ars dictandi“, in: Reallexikon der
  deutschen Literaturwissenschaft, Bd. I, Berlin/New York 1997, Sp. 140 f.; Judith Rice Hen-
  derson, Valla’s Elegantiae and the Humanist Attack on the Ars dictaminis, in: Rhetorica 19
  (2001), S. 248−269; John Ward, Rhetorical Theory and the Rise and Decline of Dictamen in
  the Middle Ages and Early Renaissance, in: Rhetorica 19 (2001), S. 190–223.
9 Die bislang erschienen Überblickswerke dienen zunächst nur dazu, Schneisen in das Dickicht
  der Überlieferung zu schlagen. Sie sind alle höchst verdienstvoll und man wird ihnen vor dem
  Hintergrund kaum anlasten können, dass eine Folge dieser linearen Überblicksskizzen eine ge-
  wisse Reduktion und Simplifizierung zugunsten der erzählerischen Stringenz war.

                               © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                        ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Benoît Grévin und Florian Hartmann (Hg.): Der mittelalterliche Brief zwischen Norm und Praxis

20                                                                                      Florian Hartmann

Vinea10 oder Thomas von Capua11 zu nennen, dazu die artes dictandi von Guido Faba,12
Boncompagno da Signa13 oder auch Bene da Firenze.14 Dieser Befund könnte die ver-
breitete und in den Handbüchern stets apodiktisch wiederholte These unterstützen,
dass in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts ein gewisser Einschnitt erfolgt sei,
seither auf dem Feld der ars dictaminis theoretisch kaum Neues mehr hinzugekommen
sei und dass sich die ars dictaminis im 13. Jahrhundert endgültig verfestigt habe.15 Fast
unisono heißt es in der Literatur: „Inhaltlich wie formal ist ihre Entwicklung mit dem
13. Jahrhundert zwar zu einem (vorläufigen) Schluss gekommen, doch weiterhin wer-

10 Petrus de Vinea: … Friderici II. Imp. epistolarum … libri VI, ed. Joh. Rudolphus Iselius, 2 Bde.,
   Basel 1740 ND mit einer Einführung von Hans-Martin Schaller, Hildesheim 1991; vgl. jetzt
   auch Petrus de Vinea: Epistolario, ed. Edoardo D’Angelo et al., in: Ders. (Hg.), L’Epistolario
   di Pier della Vigna, unter Mitwirkung von Alessandro Boccia / Teofilo De Angelis / Fulvio Del-
   le Donne / Roberto Gamberini (Centro europeo di studi normanni, Collana Fonti e studi, n.s.,
   1) Ariano Irpino 2014; vgl. dazu aber die Einwände in der Rezension von Matthias Thumser,
   Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 124 (2016), S. 443–447.
11 Vgl. einstweilen Thomas von Capua: Summa dictaminis, Die Briefsammlung des Thomas von Ca-
   pua. Aus den nachgelassenen Unterlagen von Emmy Heller und Hans Martin Schaller, ed. Mat-
   thias Thumser / Jakob Frohmann, MGH Datenbanken, 2011. Online abrufbar unter: http://
   wfazww.mgh.de/datenbanken/ epistolae/thomas-von-capua/ (letzter Zugriff: 01.03.2018); vgl.
   auch Hans Martin Schaller, Studien zur Briefsammlung des Kardinals Thomas von Capua,
   in: Deutsches Archiv 21 (1965), S. 371–518.
12 Vgl. von Guidos zahlreichen Werken insbesondere Guido Faba: Summa dictaminis, ed. Augus-
   to Gaudenzi, in: Il Propugnatore, n. s., 3 (1890), S. 287–338, 345–393; Guido Faba: Dicta-
   mina rhetorica, ed. Antonio Gaudenzi, in: Ders., Guidonis Fabe Dictamina rhetorica, in: Il
   Propugnatore, n. s., 5/1 (1892), S. 86–129; 5/2 (1892), S. 58–109 (ND: Guido Faba: Dictamina
   rhetorica. Epistole, Bologna 1971, S. 2–97); Guido Faba: Epistolae, ed. Antonio Gaudenzi,
   in: Ders., Magistri Guidonis Epistolae, in: Il Propugnatore 6,1 (1893) S. 359–390; 6,2 (1894)
   S. 372–389 (ND in: Guido Faba, Dictamina rhetorica. Epistole, Bologna 1971, S. 99–147);
   Guido Faba: Exordia, ed. Osvald Redlich, in: Ders., Eine Wiener Briefsammlung zur Geschich-
   te des deutschen Reiches und der österreichischen Länder in der zweiten Hälfte des XIII. Jahr-
   hunderts, Wien 1894, S. 317–331; Guido Faba: Exordia, ed. Giuseppe Vecchi, in: Ders., Il
   ‘proverbio’ nella pratica letteraria dei dettatori della scuola di Bologna, in: Studi mediolatini e
   volgari 2 (1954), S. 283–302.
13 Vgl. hier vor allem Boncompagno da Signa: Rethorica antiqua, ed. Ludwig Rockinger, in:
   Ders., Briefsteller und Formelbücher des eilften bis vierzehnten Jahrhunderts (Quellen zur bay-
   erischen und deutschen Geschichte 9), Bd. 1, München 1863, S. 128–174 (Teiledition); Bon-
   compagno da Signa: Rethorica novissima, ed. Augusto Gaudenzi, in: Bibliotheca Iuridica Me-
   dii Aevi. Scripta anecdota antiquissimorum glossatorum II, Bologna 1892, S. 249–297
14 Bene da Firenze: Candelabrum, ed. Gian Carlo Alessio (Thesaurus mundi, Biblioteca scrip-
   torum latinorum mediae et recentioris aetatis, 23), Padua 1983; Bene da Firenze: Summa dicta-
   minis, ed. Giuseppe Vecchi, Bologna 1954.
15 In die Richtung etwa Murphy, Rhetoric (wie Anm. 2), S. 244–246; Camargo, Ars dictami-
   nis (wie Anm. 2), S. 39–41; vgl. auch Richardson, Ars dictaminis (wie Anm. 1), S. 57.

                               © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                        ISBN Print: 9783412519629 — ISBN E-Book: 9783412519636
Sie können auch lesen