Deutschland ab vom Wege - GEW Hamburg
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LESESPAß Deutschland ab vom Wege Henning Sußebach macht sich auf den Weg durchs Hinterland: „Ich wollte das Unbekannte kennenlernen, das Abseitige erkunden – zumal, wenn das Abseitige so groß ist, dass man es genau genommen nicht abseitig nennen kann: fast das ganze Land.“ Und so läuft er einmal längs durch Deutschland, fast vollständig ohne Straßen zu berühren, vom Darß bis zur Zugspitze, in 50 Tagen. Natürlich geht es nicht nur um die Verschiedenheit der Landschaften; es geht um die Menschen. Die Deutlichkeit, mit der die gesellschaftliche Spaltung zwischen Armen und Reichen und auch die zwischen Stadt und Land verläuft, ist für den Städter unerwartet. 1. Kapitel: Der Norden che genutzt. Unter den Nazis Unterschlupf für Inzwischen ist er ungefähr auf der Höhe von ausgebombte SS-Angehörige, nach Kriegsende Hamburg Entlausungslager für russische Kriegsgefange- ne, von 1962 an Heim für geistig Behinderte An den mecklenburgischen Seen kam der und psychisch Kranke unter Trägerschaft der Sommer zurück, als wolle er sich erklären. Bezirksnervenklinik Schwerin, seit der Wende Plötzlich war Leben im Land, Licht, von allen geführt von einer Diakoniewerk gGmbH. Seiten kam Bewegung ins Bild. Mähdrescher Ich lernte, der Legende nach heiße Dobbertin mit riesigen Heuschreckenkörpern fraßen sich «guter Ort», eine slawische Gründung, dobry, durch die Felder. Am Rande eines Hofes sah ich dobre, dobar, dober sagt man auch heute wenig einer Gruppe Mädchen beim Voltigieren zu; ein weiter östlich. Und Dobbertin war gut zu mir. Kind stand Kreis um Kreis auf dem Rücken ei- Unter den psychisch Kranken im Städtchen fiel nes Pferdes, stockgerade und stolz, Zirkus ohne ich kaum auf, als ich – bis auf wenige Schrit- Zelt. Wurde es Abend, brachten Väter ihren te asphaltfrei – über sandige Gehwege lief und Söhnen auf abgelegenen Waldwegen Motorrad- von Grünstreifen zu Grünstreifen ins Gasthaus fahren bei. Ich lief jetzt in schweren, klobigen «Zwei Linden» sprang, um etwas Warmes, Stiefeln, ein altes, krachledernes Paar, das mei- Gekochtes, Gegartes zu essen und mir in bier- ne Frau aus dem Keller geholt hatte. Wir trafen schwerer Runde Gasthofgeschichten anzuhören. uns an einer Landstraße zwischen den Dörfern Die Männer im Wirtshaus waren Handwerker Hägerfelde und Klein Upahl; ich hatte zu Fuß und Landwirte, die Frauen Lageristinnen und eine Woche dorthin gebraucht, sie mit dem Auto Kassiererinnen in den Discountern an den Rän- zwei Stunden. dern der nächstgrößeren Städte: Krakow, Plau Trockenen Fußes ging ich durch von der und Lübz. Eine junge Mutter, die bei Penny an Eiszeit geschliffene Landschaft, eher dünig als der Kasse saß, erzählte, sie habe immer eigenes hügelig, in Senken lagen kreisrunde Seen, auf Kleingeld im Kittel, den Säufern fehle andau- einem Steg saßen zwei junge Frauen, Rücken ernd ein Cent, um die Flasche Korn bezahlen zu an Rücken. Gern hätte ich beide nach ihren Le- können, oder sie suchten zu lange mit zittrigen ben gefragt, aber das hätte bedeutet, sie zu er- Fingern, da lege sie schnell die fehlende Münze schrecken. Für sie kam ich aus dem Nichts, ein dazu, «sonst gibt das nur Stress». Ein Bauer ließ Fremder, der wie auf der Flucht über die Felder wissen, er habe soeben seinen «Brotweizen» stolperte. Mir wuchs jetzt ein Bart. geerntet, genau mit dem richtigen Proteinge- Am Dobbertiner See legte ich einen Tag Pau- halt, um ihn zum Höchstpreis zu verkaufen. Den se ein, hielt am Ufer meine Füße in die Sonne, kümmerlichen Raps lasse er stehen, er hoffe auf teilte mir ihre Wärme mit einer Blindschleiche Hagelschlag und eine satte Versicherungssum- im Gras. Dies war Fontane-Land, windstill. Im me. Wasser spiegelten sich die Türme eines Klos- Am Tresen war ein Rechnen wie an der Börse, ters, trutziger Außenposten der Christianisie- die meisten wetteten in diesem Jahr auf Mais, rung, schon vor Jahrhunderten säkularisiert und auf «Futtermais» für die Rind-Brötchen-Gur- von allen folgenden Herrschern in eigener Sa- ke-Konsumenten und auf «Energiemais» für 52 hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 7-8/2021
Biogasanlagen. Die Zusammensetzung meines dungen ausgeliefert zu sein wie der Schlachter «Strommixes» fand Ausdruck in endlosen Mais- von Dobbertin. Wählte ich die Grünen, weil mir LESESPAß feldern und spitz zulaufenden Biogas-Meilern, an Umweltschutz lag, nahm ich eventuell einen oft hatte ich gleich zwei nebeneinander gesehen. etwas höheren Steuersatz in Kauf. Stimmte ich «Wie schöne, straffe Brüste, wa?», fragte ei- für die CDU, um Angela Merkel in ihrer Flücht- ner. lingspolitik zu bestärken, würde es vermutlich Ich saß in einem Gasthof in der sogenannten nichts mit einem Tempolimit auf den Autobah- Provinz, aber mir war, als liefen genau hier alle nen. Aber nie ging es um meinen Job. Fäden des Weltgeschehens zusammen. Deutsch- Als Reporter fragte ich mich, wieso so selten land war Maisland geworden, erst wegen der etwas über Menschen wie den Schlachter von Massentierhaltung, dann wegen der Energie- Dobbertin zu lesen war. Taugte er nicht zur Ro- wende. Seit 1980 hat sich die Anbaufläche von manfigur, mehr noch als AfD-Günther, weil er Mais im Land verdreifacht, nach Fukushima mit sich rang und kämpfte? bauten sie noch mal mehr an, erklärten die Bau- Warum, verdammt, traf ich diesen Mann erst ern, das Land sehe komplett anders aus als vor jetzt? wenigen Jahren. Auch im Gasthof fiel hin und wieder das Wort In Dobbertin lernte ich auch einen jungen «Lügenpresse», hinzu kam die Vokabel «Mär- Schlachter kennen, der sagte, seit den Sanktio- chenmedien», die war mir neu. Als Journalist nen gegen Russland habe er kaum noch Arbeit. weiß ich, dass es keine Verschwörung der Eli- Vor dem Krimkrieg wurden fast alle Schweine, ten gibt und der Begriff «Lügenpresse» eine Er- die er in Filets, Koteletts und Nackenstücke zer- findung der eigentlichen Lügner ist, der Hetzer legte, nach Moskau exportiert. Mit jeder Bom- vom rechten Rand. Trotzdem haben Menschen be, die Putin jetzt auch noch auf Aleppo werfen wie ich – nicht nur Journalisten, auch Filmre- lasse und jeder Vollversammlung der Vereinten gisseure, Professoren, Politiker und viele Talk- Nationen, die darauf folge, rücke die Arbeits- showdauergäste – einen Fehler gemacht. Wir losigkeit näher an sein Leben. Der Mann hatte waren träge. Das ist ein schwerer Vorwurf an zwei kleine Kinder. Leute, die von Berufs wegen neugierig sein soll- Ein außer Kontrolle geratenes Atomkraft- ten. Unser Kontakt zu viel zu vielen Menschen werk in Japan, die Besetzung einer Halbinsel ist gerissen. Vor allem zu jenen auf dem Land. im Schwarzen Meer, ein Bürgerkrieg in Syrien Die meisten Redaktionen sind voller Städter, und die Zukunft einiger Männer in einer ostdeut- die fast immer auch Akademiker sind. Das ist schen Kneipe, alles hing mit allem zusammen, kaum vermeidbar, eher systemimmanent, weil es jetzt, da nicht mehr Eiszeiten die Erdoberfläche in meinem Beruf um Lesen und Schreiben geht, prägten, sondern Subventionen, und eine Ent- nicht darum, wie man ein Schwein schlachtet, scheidung in New York, Berlin oder auf dem einen Motor wartet oder ein Dach deckt. Der Kommandostand eines russischen Flugzeugträ- Fehler ist, sich deshalb wissend zu fühlen statt gers im östlichen Mittelmeer einen Mecklenbur- beschränkt. Wer verdrängt, dass es die anderen ger zum Gewinner oder Verlierer der Geschichte sind, die etwas können und etwas erleben, ist machen konnte, je nachdem, ob er auf Mais oder verschlossen da, wo Aufgeschlossenheit ange- Fleisch gesetzt hatte. bracht wäre. Was ist heute eigentlich der Zufluchtsort für Romantiker – das Land oder die Stadt? Wo spielt 2. Kapitel: Die Mitte sich Wesentliches ab und wo Nebensächliches? Zwischen Elbe und Werra erläuft Sußebach War ich wirklich ein Aussteiger mit meinen Stie- sich die Mitte Deutschlands feln und der staubigen, taschenbesetzten Hose? Oder nicht eher ein Einsteiger? Als ich herabstieg vom Berg, lag ein Nebel- Der junge Schlachter sagte, die einzigen see im Tal, die ersten Buchen waren bronzen beiden Parteien, die gegen Sanktionen gegen gefärbt, vom trockenen Spätsommer und be- Russland seien, also am ehesten seinen Job ret- ginnenden Herbst. Hin und wieder schneite es ten könnten, wenn sie an der Regierung wären, Blätter, ein Flirren wie der Konfettiregen bei seien die Linke und die AfD. Aber er bringe es Pokalübergaben, aber in allumfassender Stille. nicht über sich, sie zu wählen. Seine Überzeu- Auf den Weiden blühte Klee, blassblau verpack- gungen waren ihm wichtiger als seine berufliche te Heurollen standen herum wie Riesenpastillen und finanzielle Sicherheit. und rochen süßlich-gärend. Oberhalb eines Or- Als Stadtkind fragte ich mich, ob ich bei Wah- tes lief ich über einen Friedhof und nahm im No- len je gegen meine Interessen gestimmt hatte. Ob tiz Notizbuch ein paar Namen voller Vokale mit, es überhaupt möglich war, in Berlin, Hamburg die auch Liviu, dem rumänischen Arzt, gefallen oder München derart existenziellen Entschei- hätten: Anneliese, Emma, Alwin und Edeltraut. hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 7-8/2021 53
Ich durchschritt einen Buchenwald hoch über obachtet von zwei Frauen hinterm Kassentresen, der Werra. Erst stieg ich bergauf, dann bergab. eine ältere, die mich beäugte, und eine jüngere, Als ich an den Waldrand kam, sah ich die Tank- die Strubbelhaare weiß gebleicht, belegte Bröt- stelle. chen arrangierend. Vier blaue Fahnen, eine vertraute Raute und Aus dem Kühlaltar nahm ich eine Flasche Ka- auf dem Tankstellendach ein luftgefüllter Wür- kao, ging zur Kasse, bestellte noch mehr Milch fel, auf dem stand: So heiß. So frisch. So lecker. in Form eines Cappuccino, dazu ein Croissant, Schlüsselworte in einer vertrauten Typographie. ewig nicht gegessen, und zwei Zeitungen. Ich Fast jede Marke hat ihre eigene Hausschrift, sagte den beiden Frauen, dass ich gern einige Mercedes-Benz eine monarchisch barocke, die Stunden in ihrem Schlaraffenland verweilen Deutsche Bahn eine sachlich serifenlose, Aral würde, und war in Sorge, sie hätten kein Ver- diese weiße, weich gerundete auf blauem Grund. ständnis, ist eine Tankstelle doch kein Ort des Die Tankstelle war die erste in Reichweite auf Bleibens, sondern des Kommens und Gehens, meiner Reise, wie etwas Vertrautes und wie ein des Schwungholens, Krafttankens und Weiter- Versprechen lag sie da, hastig stolperte ich den machens. Wenig später merkte ich, dass das ein Hang hinab und musste an den Sozialgeogra- Irrtum war. phen denken, der von Tankstellen als Landmar- An einem Stehtisch, auf einem Barhocker sit- ken der Gegenwart gesprochen hatte: «Früher zend, trank ich, aß ich, las in der Zeitung von ei- sah man von weitem die Kirchtürme, mit ihrem ner Waschbärenplage und schaute Klassenfotos Glockenspiel und ihren Uhren synchronisierten der Schulanfänger an, erwartungsfrohes Zahnlü- sie den Alltag. Dann kamen Rathaustürme dazu; ckenlächeln. Es war später Vormittag, Handwer- im Mittelalter war ja die Trinität von Markt, Kir- kerzeit, Männer in Zimmermannshosen kauften che und Rathaus von Bedeutung. Jetzt gibt es Bockwürste, die schrumpelig im Heizglas stan- wieder andere Markierungen und symbolische den und an anatomische Absonderlichkeiten im Repräsentationen.» So heiß! So frisch! So le- Keller einer medizinischen Fakultät erinnerten. cker! Nach vier Wochen mit lauwarmem Wasser Die Kunden trugen Arbeitskleidung mit rotem und Rohkost, die das Land mir mal reichlich und Engelbert-Strauss-Label, dem Statussymbol des mal rationiert zugeteilt hatte, war es eine berau- Landvolks, aus Bein- und Brusttaschen ragten schende Vorstellung, die Wahl zu haben – in ei- Zollstöcke und Bleistifte. Es gab keinen Rucola- ner Tankstelle, von der das fahrende Volk denkt, Salat und kein Bärlauchpesto, die Brötchen wa- dort finde es nur das Nötigste. ren mit Butter beschmiert und mit Remoulade Ich gestand mir einige Schritte auf Asphalt getränkt; es gab wenig, was ein Städter geges- zu, die womöglich verboten waren, zumindest sen, und viel, worüber er gelächelt hätte, aber nach Maßstäben und Prinzipien der Stadt, de- über allem lag der fürsorgliche Ton der beiden ren moralischem Überlegenheitsgefühl ich mehr Frauen, von denen ich mittlerweile wusste, dass als 400 Kilometer entlaufen war, ging auf die die ältere Renate hieß und die jüngere Mandy. gläserne Schwingtür zu wie ein Pilger auf eine «Soll ich’s in Folie packen?» Klosterpforte, trat ein in eine Fülle von Farben «Na, ausgeschlafen?» und Formen, Kühlschrankgesumm und Kassen- «Grüß mal zu Hause!» gepiep. Zum Nötigsten gehörten: Eis, Chips, «Wie war der Urlaub?» Schnaps, Schokolade, Nüsse, Zigaretten, Zei- In einer ruhigen Viertelstunde kam Mandy an tungen, Bonbons, Illustrierte, Croissants, Salz- meinen Tisch und erklärte mir den Tagesablauf, stangen, Sonnenbrillen, Bockwürste, Ketchup, den Wechsel der Kundschaft je nach Uhrzeit: Motorenöle, Prepaidkarten, Scheibenwischer, Dies war Waldland, Holzfällerland, Sägewerk- Schwämme, Brot, löslicher Kaffee, Konserven- land. Morgens um fünf kämen Männer wie suppen, Ladekabel, Stromadapter, Blumensträu- Frauen, Schichtarbeiter auf dem Weg zur Arbeit ße, Mandala-Malbücher, Scheibenklar, Tief- oder nach Hause, gegen neun die Handwerker, kühlpizzen, Nudeln, Gewürzgurken, Hörbücher, am späten Vormittag die Hausfrauen auf Ein- Teebeutel, Senftuben. An der Stirnwand dieser kaufstour, nachmittags die Büroangestellten Kirche des Konsums stand ein achtflügeliger und Kinder auf der Jagd nach Pokémon-Kar- Altar, der Getränkekühlschrank. Darin war das ten, abends junge Leute, die Pizza und Bier für Angebot von Tugend zu Laster sortiert, begann Hauspartys kaufen, nachts übermüdete Lastwa- links mit Wasser, ging nach rechts in Säfte über, gen- und Langstreckenfahrer, zu jeder Tages- dann in Limonaden, Energydrinks, Bier-Misch- und Nachtzeit Notärzte, Polizisten, Mitarbeiter Getränke, Bier, zuletzt härtere Sachen. Ich zähl- von Pflegediensten. Mandy war nicht nur Kas- te 20 Sorten Wasser, 22 Energydrinks und 36 siererin, sondern auch Brötchen-Schmiererin, Biere, stand unschlüssig herum, überfordert von Lottoschein-Annehmerin, Spülmaschinen-Ein- der sofortigen Verfügbarkeit von allem und be- räumerin, Tankdeckel-Öffnerin, Reifenwechs- 54 hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 7-8/2021
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lerin, Scheibenwischwassereinfüllhelferin und Wieder war es ein heißer Tag, der Sommer, so Café-Barista, vor allem Zuhörerin, Beichtmut- spät im Jahr gekommen, wollte nicht weichen. ter, Trösterin. «Abends öffnen sich die Herzen», Dreißig Grad und mehr im September, die Erde sagte sie, dann geht es um Ehekrisen, Entlassun- rissig, auch meine Haut, die Augenlider schor- gen, Schichtstress, Geldsorgen und Erziehungs- fig, die Unterarme verbrannt. Vor vielerlei Au- kummer. gen stieg ich eine Steintreppe hinab in den Fluss, So saß ich in einer Tankstelle und dachte: ohne Schuhe, aber in Hemd und Hose, voller Vielleicht müssen wir doch nicht alle miteinan- Staub und Schweiß. Als die Kühle des Wassers der wandern gehen, sondern nur 24 Stunden an alles durchdrungen hatte, zog ich mich aus, diesem wohl letzten klassenlosen Ort verbrin- wrang alles zusammen wie einen Schwamm, gen, dieser Kathedrale des zu Ende gehenden warf ein nasses Bündel ans Ufer und schwamm Karbonzeitalters, immer er- durch den Fluss, einmal unter leuchtet, immer geöffnet für die Weiden auf der anderen Katholiken, Protestanten, Seite und zurück, schwamm Muslime, Hindus, Agnosti- gegen die Strömung, die ker und Atheisten, für Junge nach regenlosen Wochen und Alte, für Müde und Wa- nur noch schwach war, holte che, für Reiche und Arme, Luft, tauchte unter und trank einem Ort, an dem alle das- Mainwasser, so sehr war mir selbe suchen, in der gleichen nach Abkühlung von außen Schlange warten und den- und von innen. selben Preis bezahlen, denn Zeltplatz war das falsche Tanken muss jeder, der ein Wort für den Ort, an den ich Auto hat, und das sind in an diesem Tag geraten war. Deutschland viele. Ich über- Ein Provisorium war so ver- legte, ob all die Meinungs- häuslicht worden, dass es forscher, die zuletzt so oft kein Provisorium mehr war. danebenlagen bei der Frage, Soweit ich sehen konnte, war was das Volk beschäftige, mein Zelt das einzige zwi- sich einmal ausführlich mit schen Hunderten von Wohn- Mandy unterhalten sollten. mobilen und Wohnwagen Und ob Redaktionen eben- am Flussufer. Die Menschen so viele Hinterland- wie waren mit ihren Autos «raus Hauptstadtkorrespondenten in die Natur» gefahren, um beschäftigen müssten, um dort dicht an dicht auf einer Antworten auf Fragen zu be- ISBN 978-3-499-63169-6 parzellierten Wiese zu sitzen kommen, die sie von selbst und alles zu tun, um beim nicht stellen. Um ein Ohr zu haben für jede An- Grillen den grillenden Nachbarn zu ignorieren. sicht, jede Dummheit, jede Hoffnung, jede Idee, Die Grenzen der Stellplätze waren mit Gerani- jede Einfalt, jede Vielfalt, jede Alltäglichkeit, entöpfen markiert. Viele Gäste hatten Fahnen jede Angst – nicht, um sie sich anzueignen, aber gehisst: bayerische Rauten, fränkisches Rot- um sie zu kennen. Um herauszufinden, was an- Weiß, das Südstaatenkreuz, Totenköpfe. Überall deren wichtig ist. Nicht uns. Quietschen und Klappern, das beim Öffnen und Schließen von Tupperdosen entsteht, dazu das 3. Kapitel: Der Süden Surren kleiner Kühlschränke. Männer drehten Ab der Rhön geht es dann mit großen Markisen aus den Dächern ihrer Wohnmobi- Schritten auf den Endpunkt der Wanderung le. Frauen wedelten ihre frisch lackierten Nä- zu: die Zugspitze gel trocken. Ich sah Paare, die mit Handbesen Baguettekrümel von Stuhlpolstern fegten. Am Zum Ende der fünften Woche erreichte ich nächsten Morgen putzten sie Vogelscheiße von den Main. Nicht dort, wo sich der Fluss wie ein den Windschutzscheiben ihrer Autos, mit destil- Postkartenmotiv durch sein Tal windet, sondern liertem Wasser. in einer ebenen Auenlandschaft bei Schwarz- Alles war so eng wie in Woodstock, nur ohne ach. Hier reihte sich Zeltplatz an Zeltplatz. Lust auf Gemeinschaft. Oder war ich nur nei- Männer auf Jetskis quirlten das Wasser auf. disch auf die anderen? Auf ihre frisch gewasche- Ihre Frauen saßen auf Plastikstühlen am Ufer, ne Wäsche, ihre gekühlten Getränke, ihre einge- leckten die Fingerkuppen feucht und blätterten cremten Beine? durch Modezeitschriften. Mit der Betoniertheit des Landes kam die Be- 56 hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 7-8/2021
toniertheit des Denkens zurück, auch bei mir. In tigam machte ein Schmerzensgesicht im Wind, der Stille des Nebeneinanders konnten allerlei dazu lachten Enten ihr Schnatterlachen. LESESPAß Vorurteile wachsen, schaute ich so abschätzig Auch Dollnstein hatte einst an einer Römer- auf die anderen wie sie auf mein hüfthohes Zelt. straße gelegen, Archäologen gruben hier Reste Ich ging tags darauf durch streng gekämmte einer Villa Rustica aus, eines antiken Landgu- Weinberge, barocke Örtchen mit Schnörkel- tes. Im Mittelalter war der Ort ein bedeutender kirchen klebten an den Hängen, ich naschte Markt, bis heute prägt eine Burg die Silhouette. Trauben, gedrückt von dem Gefühl, größeren Jetzt ist Dollnstein nur noch Durchgangsstation Mundraub zu begehen als beim Mais. Hier stahl von Rad- und Bootstouristen, die der Altmühl in ich Kulturgüter. Der Kontakt zu den Menschen Richtung Donau folgen. Über dem Ort lag eine brach ab, aber die Landschaft wurde einladender, Saisonschlussmüdigkeit, die meiner Erschöp- lieblicher – noch ein altes Wort, das gebraucht fung angesichts des nahenden Endes ähnelte. werden wollte. Jedem Feldquadrat war Pflege, Im leeren Gastraum hörte ich Radio, wie jedem Rebstock Handarbeit anzusehen. Städter zur Reintegration. Auf Bayern 3 lief Werbung, nehmen Landschaft meist als etwas Gegebenes bald war «Weltreifentag … Winterreifen nicht wahr, dabei steckt schon im Begriff das Men- vergessen», es folgten die Nachrichten, Syrien, schgemachte, das Schaffen, das Gemeinschafts- Merkel, Islamischer Staat, Trump und «ein Wet- werk: Mannschaft, Nachbarschaft, Landschaft. ter, da möchte man gar nicht vor die Tür gehen», Jetzt erkannte ich die Mühen, die Akkuratesse sagte die Sprecherin. Der Verkehrsfunk meldete und meine kleine, trotzige Wilderei darin. Stau und stockenden Verkehr, hier «eine Vier- telstunde Zeitverlust» und dort «sogar zwanzig Als wolle das Wetter mein Stimmungstief il- Minuten». Dann Durchhalte-Musik und eine lustrieren, sandte es eine Kaltfront vom Atlantik Gute-Laune-Moderatorenstimme, die den ra- nach Mitteleuropa. Sie erreichte das Altmühltal dioüblichen Countdown bis zum Wochenende zur selben Zeit wie ich, am vierzigsten Tag. Das anzählte: Tal war tief, schmal; Wolken legten sich wie ein «Nur noch drei Tage, dann …» grauer Deckel darüber, es regnete pausenlos, Die Zeit lief wieder linear. die Welt wurde eng. Nebel ließ Blicke ins Leere Die Wirtin und ich saßen beisammen und laufen, auch waren da keine Geräusche aus der sprachen. «Die Leut’», sagte die Frau, «die Ferne mehr, nur noch nahes Tropfen, Triefen, hatten’s nie so eilig wie heute.» Vor dreißig Klöppeln und das Rascheln des Regenponchos. Jahren habe sie mit ihrem Mann das Lokal von Es war so feucht, dass die Brillengläser beschlu- den Eltern übernommen, damals kamen Sonn- gen. Ich lief durch Fichtenwälder, in denen Näs- tagsausflügler und blieben zwei Stunden. «Heut’ se die Baumstämme schwarz gefärbt hatte; die wollen alle schon beim Bestellen bezahlen.» Der Nadeln unter den Sohlen knirschten nicht mehr, typische Tourist? Ein Radler, der darauf besteht, jedem Schritt folgte ein Schmatzen, bei jeder Er- sein 2000-Euro-Gefährt auf der Sonnenterrasse schütterung verwandelten sich Kieselsteine vor direkt neben den Tisch zu stellen, statt es unten meinen Stiefeln in Kröten und sprangen davon. am Fluss anzuschließen, der dann Rhabarber- Irgendwo hier verlief der Limes, die alte schorle ordert und patzig wird, wenn es mal nur Grenze zwischen Raetien und Barbaricum; eini- Apfel, Traube, Johannisbeere oder Kirsche gibt, ge Römerstraßen sollten noch erhalten sein, als der bei seiner Beschwerde der Wirtin aber kaum bemooste Dämme in den Wäldern. Auf ihnen zu in die Augen schaut, weil er zur selben Zeit auf laufen, hätte ich mir erlaubt, obwohl diese Wege seinem Tachometer die gefahrene Strecke, die der Anfang von etwas gewesen waren; antike Durchschnittsgeschwindigkeit und Trittfrequenz Autobahnen. Jetzt fand ich sie nicht. Manchmal prüft. Selbst Hotelgäste haben keine Ruhe mehr, sah ich die Altmühl, der Regen malte Ringe in schlafen nicht aus, sondern wollen sonntags um den Fluss. Auf Uferwiesen lagen Kanus, schlank sieben Uhr frühstücken und dann weiter. Zum wie Fischleiber. Die Wetterwarte der Zugspitze Buffet kommen sie mit Helmen, Handschuhen meldete Schnee. Noch 160 Kilometer. und Windschutzbrillen. Wie ein Sondereinsatz- In Dollnstein quartierte ich mich in einem kommando vor einer Geiselbefreiung. Gasthof am Fluss ein und blieb zwei Tage. In «Die genießen nicht mehr, die machen nur dem Haus war alles verblasst, die Fassade, die Strecke und ziehen Bilanz», sagte die Wirtin. Markise, die Teppiche, die Gardinen. Ich schien «Jetzt ist den Leuten die Gemütlichkeit sogar im der einzige Gast zu sein, im Frühstücksraum saß Urlaub verlorengegangen. Versteh ich nicht.» ich allein. Tags sah ich aus meinem Fenster in Als Geschäftsfrau hatte sie ihre Schlüsse daraus den Regen. Einmal posierte ein Hochzeitspaar gezogen. «Seit ich die Salatplatte Vitalis nenne», unten am Fluss, spitzfingrig zog die Braut ihr sagte sie, «verkaufe ich sie viel öfter als früher.» Kleid hoch und stakste durch Pfützen, der Bräu- hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 7-8/2021 57
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