Umweltrechte und Rohstoffkonflikte in Lateinamerika
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NR. 1 JANUAR 2021 Einleitung Umweltrechte und Rohstoffkonflikte in Lateinamerika Das Escazú-Abkommen kann 2021 in Kraft treten Günther Maihold / Viktoria Reisch Am 5. November 2020 ratifizierte Mexiko als elfter Staat das sogenannte Escazú-Abkom- men, eine Vereinbarung der Staaten Lateinamerikas und der Karibik zur Etablierung regionaler Transparenz- und Umweltstandards. Da somit die vorgegebene Mindest- zahl an Ratifikationen erreicht worden ist, kann das Abkommen im Jahr 2021 in Kraft treten. Dadurch wurde ein innovatives multilaterales Instrument geschaffen, das für mehr Bürgerbeteiligung und eine bessere Durchsetzung von Bürgerrechten in Umwelt- belangen sorgen soll. In Lateinamerika sind wirtschaftliche Interessen an der Aus- beutung von Rohstoffen dominant, außerdem gibt es eine hohe Zahl an Ressourcen- konflikten. Vor diesem Hintergrund eröffnet das Abkommen betroffenen indigenen Völkern und Verteidigern von Menschenrechten in Umweltbelangen neue Möglich- keiten der Information, Partizipation und des Zugangs zum Justizwesen. Trotz dieses ersten verbindlichen Schritts nach vorne fehlen noch die Ratifizierungen maßgeb- licher Staaten der Region. Viele von ihnen wollen dem Abkommen gegenwärtig nicht beitreten, da sie ihre nationale Souveränität und Entscheidungsfreiheit durch Ver- tragsbestimmungen verletzt sehen. Deutschland und Europa bietet das Abkommen neue Ansatzpunkte bei der Formulierung von Lieferkettengesetzen. Insgesamt zwölf Staaten Lateinamerikas Export (Extraktivismus) einhergingen, ist und der Karibik haben bis Ende des Jahres lang. Die damit verbundenen sozio-öko- 2020 das »Abkommen für den Zugang zu logischen Konflikte sind Teil der Erfah- Information, die öffentliche Teilnahme und rungen anhaltender Gewalt auf dem Sub- den Zugang zur Justiz in Angelegenheiten kontinent. der Umwelt in Lateinamerika und der Kari- Das im März 2018 in Escazú (Costa Rica) bik« ratifiziert. Das »Escazú-Abkommen« geschlossene Abkommen bezieht sich auf wird als Durchbruch bei den Bemühungen Grundsatz 10 der Rio-Erklärung über Um- angesehen, Umweltrechte zu wahren. welt und Entwicklung aus dem Jahr 1992, Die Geschichte der Zerstörungen von Öko- nach dem Transparenz, Beteiligung und systemen in der Region, die mit der Aus- Zugang zu Rechtswegen für Bürger gelten beutung natürlicher Ressourcen für den soll, die von Umweltproblemen betroffen
Karte 1 sind. Es wurde nach zähen, vier Jahre dau- wird angeführt, die Länder könnten bei ernden Verhandlungen von 24 Staaten der Geltung des Abkommens nicht mehr eigen- Region im Jahr 2018 unterzeichnet. Der im ständig über die Nutzung ihrer Gebiete September 2018 angelaufene Ratifizierungs- bestimmen. Einige Parlamente wie jene in prozess gestaltet sich gleichermaßen Peru und Paraguay haben das Thema dar- schwierig. um wieder von der Tagesordnung genom- Zwar wurde mit der Ratifizierung durch men. In anderen Ländern wiederum, darun- Mexiko nun die Mindestzahl der Ratifikatio- ter Kolumbien, sind Ratifizierungsprozesse nen erreicht, die für das Inkrafttreten des eingeleitet worden, so dass mit weiteren Abkommens im Jahr 2021 erforderlich ist. Beitritten gerechnet werden kann. Doch haben sich wichtige Länder wie Bra- silien, Chile, Peru und Venezuela, die im Rohstoffabbau und -export aktiv sind, noch Die vier Pfeiler des nicht zu diesem Schritt entschließen kön- Escazú-Abkommens nen. Vielmehr artikuliert sich dort – vor allem von Sektoren aus der Wirtschaft – Mit dem Abkommen wird ein gemeinsamer massiver Widerstand gegen die Reichweite regionaler Rechtsrahmen geschaffen, in der Regelungen, die als Eingriff in die natio- dem vier Elemente zusammengeführt wer- nale Souveränität angesehen werden. So den, die neue Formen nachhaltiger Ent- SWP-Aktuell 1 Januar 2021 2
wicklung in Lateinamerika ermöglichen von Unternehmen: So sollen öffentliche sollen: Zugang zu Umweltinformationen, und private Unternehmen (insbesondere Partizipationsrechte, Klagerechte der von Großunternehmen) Nachhaltigkeitsberichte Ressourcenausbeutung betroffenen Bürger erstellen, um ihre soziale und ökologische sowie Schutzmechanismen für Umwelt- Bilanz offenzulegen. aktivisten. Insoweit werden die Prinzipien Die Realität ist davon weit entfernt: Viel- Vorbeugung, Vorsorge und Monitoring fach werden Lagerstätten erkundet und durch Umwelt- und Sozialverträglichkeits- erschlossen, ohne dass die dort angesiedelte studien sowie Schadensausgleich mit Rechts- Bevölkerung einbezogen oder befragt wird. wegegarantien verbunden. Dabei soll das Gegen grundlegende Transparenzgebote Abkommen präventiv wirken und konkret wird auch bei der Aufklärung über Umwelt- die Eskalation sozio-ökologischer Konflikte belastungen, Langzeitfolgen und Emissionen zum Ausbruch offener Gewalt verhindern. verstoßen, die Möglichkeit der Beschwerde Das Escazú-Abkommen ist das weltweit zudem systematisch unterlaufen. Letztlich erste Dokument, das Verfahrensgarantien geht es daher um die Transformation sozio- zum Schutz von Aktivisten festschreibt, die ökologischer Konflikte insbesondere mit sich für die Bewahrung natürlicher Ressour- dem Ziel, deren gewaltförmige Austragung cen einsetzen. Insofern geht dieses Abkom- zu verhindern. Ein weiteres wichtiges men auch über die europäische Aarhus- Anliegen ist es, Umweltaktivisten vor Ein- Konvention aus dem Jahr 1998 hinaus. Mit schüchterung und Anfeindungen ebenso der Verleihung individueller Rechte auf zu schützen wie vor Gefährdungen für Leib Information, Beteiligung und Rechtsschutz und Leben. erweitert Lateinamerika zugleich die Mög- lichkeiten, sowohl internationale als auch nationale Umweltstandards nachhaltiger Sozio-ökologische Konflikte umzusetzen. Die im Abkommen vorgesehenen Betei- Seit Beginn des neuen Jahrhunderts regis- ligungsformate werden als Mittel zur Kon- trieren (zivilgesellschaftliche) Organisatio- fliktverhütung und zur Einhaltung der nen und Wissenschaftler einen Anstieg an grundlegenden Menschenrechte verstan- Land- und Umweltkonflikten in Lateiname- den, wie sie etwa bereits in Konvention 169 rika – anfangs vor allem in den Anden- der Internationalen Arbeitsorganisation ländern, spätestens von den 2010er Jahren (ILO; kurz: ILO 169) zum Schutz der indi- an in ausnahmslos allen lateinamerika- genen Völker enthalten sind. Auf diese nischen Staaten. Der Environmental Justice Weise sollen regionale Mindeststandards Atlas verzeichnet für Lateinamerika die welt- festgelegt werden: Jeder Staat muss die for- weit höchste Zahl an Umweltkonflikten. mulierten Normen annehmen, um die Aus- Unter sozio-ökologischen Konflikten übung der genannten Rechte zu gewähr- wird die Mobilisierung meist lokaler Ge- leisten. Die Standards sind dadurch zu meinden oder zivilgesellschaftlicher Orga- erreichen, dass die Staaten Maßnahmen nisationen verstanden, die sich gegen wirt- umsetzen, die ihre nationalen Institutionen schaftliche Aktivitäten richten, deren Fol- verbessern; außerdem müssen sie Mecha- gen für die Umwelt ein Schlüsselelement nismen zur Verwaltung ihrer Informatio- ihrer Beschwerden sind. Typische Aus- nen schaffen und Entscheidungsverfahren drucksformen sind Protestmärsche, Land- optimieren, die interkulturelle und ge- besetzungen, Straßenblockaden oder Hun- schlechtsspezifische Ansätze einbeziehen. gerstreiks. Der Begriff Umweltkonflikt wird Insbesondere verpflichten sich die Unter- hier meist synonym mit dem Begriff sozio- zeichner, die Rechtspflege mit dem Ziel zu ökologischer Konflikt verwendet. stärken, Umweltschäden zu verhüten und Auch wenn aufgrund von Einschränkun- den Umweltrechten Beachtung zu verschaf- gen bei der Berichterstattung und im Moni- fen. Bedeutsam ist dabei die Einbeziehung toring mit einer nicht zu vernachlässigen- SWP-Aktuell 1 Januar 2021 3
Grafik 1 den Dunkelziffer in anderen Regionen der Gefahren für Verteidiger von Welt gerechnet werden muss, lassen die Zah- Land- und Umweltrechten len auf eine erhöhte Konfliktivität in vielen Ländern der Amerikas schließen. Der Berg- Diejenigen, die sich für Land- und Umwelt- bausektor erweist sich dabei als besonders rechte in Lateinamerika einsetzen, sind die konflikthaft. Über 40% der Umweltkonflik- am stärksten von derlei Konflikten betrof- te in den zehn konfliktreichsten Ländern fene Akteursgruppe. Sie bewegen sich in des Kontinents sind mit dem Abbau von Lateinamerika »On Dangerous Grounds«, Mineralien verbunden (vgl. Grafik). Darüber wie es im Titel des Berichts von Global Wit- hinaus weisen Quellen Gewalteskalationen ness über das Jahr 2015 heißt. In derselben auch in anderen Sektoren nach, etwa in der Ausgabe spricht die internationale Nicht- Energieproduktion, die wegen dessen hoher regierungsorganisation (NGO) vom tödlich- Energieintensität eng mit dem Bergbau ver- sten Jahr für diese Personengruppe, seitdem bunden ist. Neben volkswirtschaftlichen sie 2002 mit der Aufzeichnung entspre- Themen wie fehlenden Effekten auf die chender Vorfälle begonnen hat. Doch in Beschäftigung im produktiven Sektor, Ab- den darauffolgenden Jahren verzeichnete hängigkeit von Rohstoffpreisen auf dem sie weitere Anstiege. Weltmarkt und hohen ökologischen Kosten Unter den gefährlichsten Staaten für lässt sich auch eine Vielfalt gesellschaft- Aktivisten im Land- und Umweltsektor fin- licher Konfliktlinien ausmachen. Kaum ein den sich zahlreiche lateinamerikanische Konflikt, der aus dem Extraktivismus resul- Länder, angeführt von Kolumbien, Brasilien tiert, kann als monothematisch klassifiziert und Mexiko. Für den Bergbausektor, der werden. Häufig geht es um die Zerstörung eine sehr hohe Konfliktträchtigkeit auf- von Lebensraum und Biodiversität, um weist, wird auch die höchste Zahl an ermor- die Vertreibung oder Umsiedlung lokaler deten Aktivisten verbucht. Die Verteidiger Gemeinden, aber auch um die angemessene indigener Rechte, denen es meist um die Beteiligung an Einnahmen aus dem Roh- Wahrung der Umwelt- und Territorial- stoffabbau und die Teilhabe an Entschei- rechte von Indigenen geht, stehen unver- dungsprozessen. hältnismäßig stark unter Druck. In der Mehrzahl der Fälle gehen Drohungen oder Angriffe auf spätere Opfer oder deren Um- kreis den Morden voraus. SWP-Aktuell 1 Januar 2021 4
CIVICUS, ein globales Bündnis zivil- vador), manche haben deren grundlegende gesellschaftlicher Organisationen und Akti- Prinzipien auch in ihre Verfassung auf- visten, führt in seinem jährlich erscheinen- genommen. Von einer systematischen Um- den Bericht die fünf häufigsten repressiven setzung kann jedoch kaum die Rede sein. Akte in Lateinamerika auf: Festnahme von Ähnlich wie im Falle von Menschen- Protestierenden, Angriffe auf Journalisten, rechtsstandards gilt auch hier: Länder mit Einschüchterung und exzessive Anwen- fortschrittlichen Umwelt- und Konsulta- dung von Gewalt gegen Demonstranten, tionsvorschriften (etwa Brasilien oder Peru) Festnahme von Journalisten. Hinzu kom- kommen den Selbstverpflichtungen oft men subtile und oft nicht direkt als Bedro- nicht nach, die sie eingegangen sind. Für hung wahrgenommene Formen der Ein- die Missstände sind aber nicht nur Förder- schränkung, etwa fehlerhafte Konsulta- interessen verantwortlich, sondern auch tionsverfahren, bei denen bestimmten Per- die internationale Gemeinschaft, die bisher sonengruppen rechtliches Gehör verweigert keine bindenden Regelwerke erlassen hat, wird, oder Bedrohung sowie Kooptations- in manchen Fällen außerdem nationale druck von Seiten der (zum Teil auch staat- und internationale Entwicklungsbanken, lichen) Unternehmen, um Konflikte gar die an Infrastrukturmaßnahmen und Pro- nicht erst aufkommen zu lassen. Die Inten- jekten der Rohstoffausbeutung beteiligt sität der Gewalt gegen Verteidiger von Men- sind. Bei Verstößen oder Menschenrechts- schenrechten darf insofern nicht nur an der verletzungen kommt es selten zu eingehen- Zahl der Morde gemessen werden, vielmehr den Untersuchungen, Gerichtsprozesse oder sind auch die vielfältigen nicht-tödlichen Verurteilungen sind kaum zu verzeichnen. Angriffe zu berücksichtigen. Diese weitgehende Straflosigkeit verstetigt Als Grund für die besonders hohe Ge- die Gewaltspirale und führt zum Verlust an fährdung der Verteidiger von Land- und Vertrauen in die nationale Justiz. Ein brei- Umweltrechten in Lateinamerika sind die ter Zugang zu Informationen und die Betei- Gewinninteressen anzusehen, die beim ligung an Entscheidungsprozessen haben Abbau natürlicher Ressourcen eine zentrale dagegen das Potential, Konflikte beizulegen, Rolle spielen. Diese können die Oberhand bevor sie sich verschärfen. über die Schutzpflichten gewinnen, vor allem in einem Umfeld, in dem Korruption grassiert, Regierungen schwach sind und Der Widerstand gegen das Armut herrscht. Die erwähnten Berichte Abkommen weisen außerdem wiederholt auf die Mit- verantwortung von Regierungen und Unter- Zahlreiche große Staaten, die für Latein- nehmen hin. Kriminalisierung von Land- amerikas Außenpolitik eine wichtige Rolle und Umweltaktivisten und deren Straf- spielen, weigern sich bislang, das Escazú- verfolgung würden dazu genutzt, Proteste Abkommen zu ratifizieren. Neben Bra- gezielt zu unterdrücken. silien, dessen Regierung keinerlei entspre- Viele Staaten missachten das Recht chende Neigung zeigt, zählen dazu Peru, indigener Völker auf Konsultation, das in das eine besonders hohe Zahl an Land- und der oben schon genannten Konvention 169 Umweltkonflikten aufweist, sowie Chile, der Internationalen Arbeitsorganisation wo Umweltkonflikte seit Jahren zunehmen. festgeschrieben ist. Staaten, die diese Kon- Das ist umso bemerkenswerter, als Chile zu vention unterzeichnet haben, sollen die den Initiatoren des Abkommens gehörte. freie, informierte und vorherige Zustim- Doch hat es das Abkommen bislang nicht mung Indigener zu projektierten Investitio- einmal unterzeichnet. nen im Rohstoffbereich sicherstellen. Die meisten lateinamerikanischen Staaten haben die Konvention sogar ratifiziert (Aus- nahmen sind Uruguay, Panama und El Sal- SWP-Aktuell 1 Januar 2021 5
Chile: ein radikaler Richtungs- mens zusätzliche Transparenzpflichten wechsel geschaffen werden und sich vor allem deren Umsetzung im Sinne regionaler Chile hatte eine Führungsrolle bei den Vor- Standards überwachen lässt. bereitungen und Verhandlungen des Escazú- Chile hatte im Dezember 2019 den Vor- Abkommens. Nach etwa zwei Jahren Vor- sitz der UN-Klimakonferenz (kurz COP25). bereitungszeit kam es im November 2014 in In diesem Zusammenhang erwarteten viele seiner Hauptstadt zu der »Entscheidung von chilenische zivilgesellschaftliche Organisa- Santiago«, das vorbereitete Dokument zu ver- tionen, die sich für Umwelt- und Menschen- abschieden. Chile wurde dabei zusammen rechtsbelange engagieren, dass die Regie- mit Costa Rica die Ko-Präsidentschaft der rung ihre Position zum Escazú-Abkommen anschließenden Verhandlungen zugewie- ändert, um als Vorbild auf der internatio- sen. In den folgenden vier Jahren fanden nalen Bühne auftreten zu können. Umso insgesamt neun Verhandlungsrunden statt. größer war die Enttäuschung über die vehe- Zum Umschwung kam es wenige Tage vor mente Weigerung, das Abkommen zu un- Verabschiedung des endgültigen Textes An- terzeichnen, und über die schwache Füh- fang Oktober 2018. Maßgeblichen Einfluss rungsrolle Chiles in der COP25, die in San- darauf hatte wohl auch das Ergebnis der Prä- tiago de Chile stattfinden sollte, als Folge sidentschaftswahlen 2017, das einen Wech- sozialer Proteste im Land aber nach Madrid sel von der Mitte-Links-Regierung unter Prä- verlegt wurde. sidentin Michelle Bachelet zu einer rechts- konservativen Koalition unter Sebastián Peru: Sorge um autonomes Han- Piñera zur Folge hatte, die wirtschaftlichen deln bei der Rohstoffausbeutung Interessen größere Bedeutung beimisst. Als Hauptbeweggrund für die Ablehnung 2018 gehörte Perus damalige Umweltminis- des Abkommens führen die amtierenden terin Fabiola Muñoz zu den Erstunterzeich- chilenischen Entscheidungsträger die Sorge nern des Escazú-Abkommens. Das Land galt an, dass Chile an Souveränität verlieren daher lange Zeit als ein starker Befürworter könnte und die Einmischung in interne und damit auch als Kandidat für eine Angelegenheiten bzw. insbesondere bi- schnelle Ratifizierung. Diese wurde indes laterale Streitigkeiten (etwa mit dem Nach- bei der parlamentarischen Behandlung des barland Bolivien) fürchten müsse. Zuletzt Vertrags immer wieder aufgeschoben. Die argumentierte die chilenische Regierung, finale Entscheidung, das Abkommen letz- die nationale Gesetzgebung enthalte bereits tlich nicht zu ratifizieren, wurde im Okto- alle zentralen Regelungen des Escazú- ber 2020 gegen das Votum des peruanischen Abkommens. Spezielle Gesetze für Umwelt- Präsidenten getroffen. aktivisten würden diese sogar bevorteilen, was eine Ungleichheit verschiedener Men- schenrechts-Gruppen vor dem Gesetz bedin- Die Tragfähigkeit der Kritik am ge. Zwar trifft es zu, dass Chile gesetzliche Abkommen Regelungen in Bereichen getroffen hat, die auch im Abkommen berücksichtigt sind; Ähnlich wie in Chile wird auch in Peru mit sie betreffen nicht zuletzt staatliche Groß- dem Verlust von Souveränitätsrechten argu- unternehmen wie den Kupferkonzern mentiert, den man durch eine mögliche CODELCO. Doch decken diese nationalen Zuständigkeit internationaler Gerichte er- Regelungen oft nur einen Teil der Escazú- leiden könne. Des Weiteren wurde eine un- Vorschläge ab oder werden allenfalls un- verhältnismäßige Bevorzugung von NGOs zureichend erfüllt. Insofern geht es jenseits gesehen, die durch die im Abkommen fest- der Notwendigkeit rechtlicher Anpassungen gelegten Beteiligungsrechte eine starke auch darum, dass mit einem nationalen Stimme in Beschwerdemechanismen erlan- Plan zur Umsetzung des Escazú-Abkom- gen könnten. Dies berge die Gefahr, dass SWP-Aktuell 1 Januar 2021 6
solche NGOs Bergbau- und Infrastruktur- und Sorgfaltspflichten. Sowohl in Peru mit projekte verhindern könnten, die für die seiner nationalen Ombudsstelle als auch in nationale Wirtschaft wichtig sind. Gerade Chile, etwa mit dem Nationalen Menschen- Wirtschafts- und Industrieverbände äußer- rechtsinstitut, gibt es bereits Einrichtungen, ten in öffentlichen Verlautbarungen mas- deren Aufgabe es ist, die Wahrung von sive Bedenken. Dabei verwiesen sie auf die Grundrechten – auch im Bergbau mit Blick Ablehnung des Abkommens durch andere auf Umwelt und Menschenrechte – zu wirtschaftsstarke Länder wie Brasilien oder beobachten und zu gewährleisten. Sie ge- die Mitglieder der Pazifik-Allianz – beste- nießen eine hohe Legitimität in der Bevöl- hend aus Peru, Chile, Kolumbien und Mexiko kerung, im Unterschied zu anderen staat- (das das Escazú-Abkommen zu diesem Zeit- lichen Organen. Somit verfügen beide Län- punkt noch nicht ratifiziert hatte), die in die- der über eine institutionelle Grundlage, die sem Rahmen eine Freihandelszone gegrün- es ihnen ermöglicht, die im Escazú-Abkom- det haben. Folglich wird in Peru wird mit men festgelegten Verpflichtungen einzu- einem möglichen Wettbewerbsnachteil für halten und gleichzeitig ihre Einrichtungen das eigene Land argumentiert und sugge- zur Konfliktprävention und -bearbeitung zu riert, dass die genannten Staaten gute Grün- stärken. de hätten, die Ratifizierung abzulehnen. Die Argumente Chiles und Perus gegen das Abkommen stehen auf schwachen Das Escazú-Abkommen und die Füßen: In Artikel 3 der Escazú-Vereinbarun- Verregelung internationaler gen wird sowohl das Prinzip der ungebro- Lieferketten chenen Souveränität der Staaten über ihre natürlichen Ressourcen als auch jenes der Als regionale Vereinbarung wird das Escazú- souveränen Gleichheit aller Mitgliedstaaten Abkommen einheitliche länderübergreifende bekräftigt. Dies umfasst auch die Freiheit Standards setzen und einen Prozess in Gang eines Staates, seine Umweltpolitik autonom bringen, bei dem institutionelle und gesetz- zu regeln. Die Tatsache, dass Mexiko sich geberische Asymmetrien zwischen den ver- zuletzt doch für eine Ratifizierung ent- schiedenen Staaten der Region ausgeglichen schied und dies auch in Kolumbien gesche- werden, damit am Ende ein möglichst glei- hen soll, entzieht dem Argument eines ches Niveau bei den im Escazú-Abkommen möglichen Nachteils im wirtschaftlichen enthaltenen vier Pfeilern zu Schutz, Garan- Wettbewerb die Grundlage. Das Abkom- tie und Förderung der Zugangsrechte er- men verpflichtet die Staaten dazu, ihre reicht wird. Durch kooperative Verfahren Politik nach den darin festgelegten Schutz- können die beteiligten Staaten Lernerfah- verpflichtungen zu gestalten, dies würde es rungen und »best-practice«-Muster unter- ihnen erleichtern, mit der internationalen einander austauschen, was auch die Um- Beobachtung der Einhaltung von Arbeits- setzung bzw. Einhaltung der Standards und Umweltstandards umzugehen. Würden verbessern würde. Als Konkretisierung der Chile und Peru diese Schutzverpflichtungen UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Men- akzeptieren, könnte sich für sie auch ein schenrechte aus dem Jahr 2011 könnte das Reputationsgewinn ergeben, da ihre natio- Escazú-Abkommen zusammen mit den nale Gesetzgebung internationalen Ansprü- Umweltstandards der Amerikanischen Men- chen gerecht wird. Zudem sind damit Chan- schenrechtskonvention (1969) Synergien cen für die Beteiligung an Programmen der schaffen, um einen regional einheitlichen Entwicklungszusammenarbeit verbunden, so und verbindlichen Rahmen zum Schutz der dass diese Pflichten besser zu erfüllen wären. Umwelt und der Menschenrechte durch Darin liegt eine Chance, aber auch die Unternehmen und Staaten zu bilden. Ent- Herausforderung des Escazú-Abkommens scheidend für die Wirksamkeit des Abkom- im Kontext neuer internationaler Ansprü- mens wird sein, wie robust die rechtlichen che auf Einhaltung von Menschenrechten Bestimmungen und finanziellen Vorausset- SWP-Aktuell 1 Januar 2021 7
zungen (etwa für Umweltverträglichkeits- umgesetzt. Gerade in Unternehmen des prüfungen) angelegt werden und wie kon- Bergbausektors sind auf Basis geltender sequent die Gerichtsbarkeit dabei agiert, die Vereinbarungen – etwa über Gütesiegel Bestimmungen durchzusetzen. wie den FairTrade-Standard bei Gold und Auch wenn Lateinamerikas verarbeitende Silber – auch Standard-Audit-Zertifizie- Industrie nicht in großem Umfang Teil von rungsmodelle implementiert worden. Die Lieferketten ist, so beziehen sich Regelwerke Verbreitung solcher freiwilliger Standards wie das Escazú-Abkommen in zentraler für Unternehmensverantwortung sollte Weise auf die umfassende Unternehmens- jedoch zugunsten einer größeren Kohärenz verantwortung bei der Ausbeutung und zurückhaltend betrieben werden, was nicht © Stiftung Wissenschaft Verarbeitung von Rohstoffen. Die aktuellen zuletzt auch im unternehmerischen Inter- und Politik, 2021 Diskussionen, die in Deutschland und Eu- esse liegen sollte. Bislang gelten diese Rege- Alle Rechte vorbehalten ropa über Lieferkettengesetze stattfinden, lungen oftmals nicht für Zulieferbetriebe werden in der Region sehr genau wahr- und lokale Produktionsprozesse. Das Aktuell gibt die Auf- genommen, die Herausforderungen kritisch Neben der Beachtung von Arbeitsbedin- fassung des Autors und der Autorin wieder. diskutiert, die sich für die daraus abzulei- gungen gilt das Hauptaugenmerk den Um- tenden Unternehmens- und Staatenpflich- weltfolgen: So sind etwa bei der Kupfer- In der Online-Version dieser ten ergeben. Das Escazú-Abkommen greift ausbeutung die massive Wassernutzung, Publikation sind Verweise Regelungstatbestände auf, die auch in den der Landverbrauch, Energieeinsatz und die auf SWP-Schriften und gegenwärtigen Debatten über die Ausgestal- Abraumlast sowie langfristige Emissionen wichtige Quellen anklickbar. tung der Unternehmensverantwortung rele- in Rechnung zu stellen. All diese Faktoren SWP-Aktuells werden intern vant sind. Die Gesetzgeber sollten daher die erfasst die Kupferindustrie nun bei Minen einem Begutachtungsverfah- in der Region formulierten Standards (etwa und Hütten im Rahmen eines freiwilligen ren, einem Faktencheck und des Escazú-Abkommens) aufgreifen und Prüfprozesses, sie sollen künftig in dem einem Lektorat unterzogen. in ihre Überlegungen einbeziehen. Gerade Gütesiegel der sogenannten »Copper Mark« Weitere Informationen aus der Komplementarität internationaler, zusammengeführt werden. Eine solche zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- regionaler und lokaler Standardsetzung Transparenzinitiative wie auch ergänzende Website unter https://www. könnte sich eine Steuerungswirkung für allgemeine Bergbau-Standards wie die Ini- swp-berlin.org/ueber-uns/ das Verhalten von Unternehmen ergeben, tiative for Responsible Mining Assurance qualitaetssicherung/ die über freiwillige Selbstverpflichtungen (IRMA) greifen jedoch deutlich kürzer als hinausgeht. Wenn aber eine Vielfalt von die Regelungen des Escazú-Abkommens. SWP Stiftung Wissenschaft und Regelungsansprüchen und Verpflichtungen Außerdem sehen sie keine Sanktionen vor, Politik auf Standards entstehen sollte, die nicht um menschen- und umweltrechtliche Sorg- Deutsches Institut für aufeinander bezogen sind, wird dieser Zu- faltspflichten durchzusetzen und Schutz- Internationale Politik und stand regulativer Heterogenität das Bestre- verpflichtungen gerecht zu werden. Daher Sicherheit ben beeinträchtigen, Menschenrechts- und sollten Bemühungen in Deutschland und Umweltstandards größere (Be)Achtung zu Europa bei der Regelungstiefe des Escazú- Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin verschaffen. Abkommens ansetzen und darauf abzielen, Telefon +49 30 880 07-0 Dabei wird um die Wirksamkeit freiwil- dessen Standards für europäische Unter- Fax +49 30 880 07-100 liger und gesetzlicher Regelungen gestrit- nehmen einerseits und für die Regierungs- www.swp-berlin.org ten: Umfassende Standards, wie sie etwa zusammenarbeit andererseits verpflichtend swp@swp-berlin.org die »Initiative für Transparenz im rohstoff- zu machen; zugleich sollte deren Umset- ISSN 1611-6364 gewinnenden Sektor« (Extractive Industries zung unterstützt werden. Dies könnte etwa doi: 10.18449/2021A01 Transparency Initiative – EITI) zu setzen in Gestalt nationaler Aktionspläne für Men- versucht, die für mehr Finanztransparenz schenrechte und Umwelt und die Anferti- und Rechenschaftspflicht im Rohstoffsektor gung von Berichten zum Stand der Imple- sorgen soll, werden in den Förderländern mentierung des Abkommens erfolgen. Lateinamerikas alles andere als einheitlich Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP und Leiter des SWP-Anteils am Forschungsnetzwerk Nachhaltige Globale Lieferketten. Viktoria Reisch ist Forschungsassistentin im Projekt »Transnationale Governance-Ansätze für nachhaltige Rohstoff- lieferketten im Andenraum und im südlichen Afrika«. Das Projekt wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche SWP-Aktuell 1 Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert. Januar 2021 8
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