Umweltrechte und Rohstoffkonflikte in Lateinamerika

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Umweltrechte und Rohstoffkonflikte in Lateinamerika
NR. 1 JANUAR 2021                      Einleitung

Umweltrechte und Rohstoffkonflikte
in Lateinamerika
Das Escazú-Abkommen kann 2021 in Kraft treten
Günther Maihold / Viktoria Reisch

Am 5. November 2020 ratifizierte Mexiko als elfter Staat das sogenannte Escazú-Abkom-
men, eine Vereinbarung der Staaten Lateinamerikas und der Karibik zur Etablierung
regionaler Transparenz- und Umweltstandards. Da somit die vorgegebene Mindest-
zahl an Ratifikationen erreicht worden ist, kann das Abkommen im Jahr 2021 in Kraft
treten. Dadurch wurde ein innovatives multilaterales Instrument geschaffen, das für
mehr Bürgerbeteiligung und eine bessere Durchsetzung von Bürgerrechten in Umwelt-
belangen sorgen soll. In Lateinamerika sind wirtschaftliche Interessen an der Aus-
beutung von Rohstoffen dominant, außerdem gibt es eine hohe Zahl an Ressourcen-
konflikten. Vor diesem Hintergrund eröffnet das Abkommen betroffenen indigenen
Völkern und Verteidigern von Menschenrechten in Umweltbelangen neue Möglich-
keiten der Information, Partizipation und des Zugangs zum Justizwesen. Trotz dieses
ersten verbindlichen Schritts nach vorne fehlen noch die Ratifizierungen maßgeb-
licher Staaten der Region. Viele von ihnen wollen dem Abkommen gegenwärtig nicht
beitreten, da sie ihre nationale Souveränität und Entscheidungsfreiheit durch Ver-
tragsbestimmungen verletzt sehen. Deutschland und Europa bietet das Abkommen
neue Ansatzpunkte bei der Formulierung von Lieferkettengesetzen.

Insgesamt zwölf Staaten Lateinamerikas       Export (Extraktivismus) einhergingen, ist
und der Karibik haben bis Ende des Jahres    lang. Die damit verbundenen sozio-öko-
2020 das »Abkommen für den Zugang zu         logischen Konflikte sind Teil der Erfah-
Information, die öffentliche Teilnahme und   rungen anhaltender Gewalt auf dem Sub-
den Zugang zur Justiz in Angelegenheiten     kontinent.
der Umwelt in Lateinamerika und der Kari-       Das im März 2018 in Escazú (Costa Rica)
bik« ratifiziert. Das »Escazú-Abkommen«      geschlossene Abkommen bezieht sich auf
wird als Durchbruch bei den Bemühungen       Grundsatz 10 der Rio-Erklärung über Um-
angesehen, Umweltrechte zu wahren.           welt und Entwicklung aus dem Jahr 1992,
Die Geschichte der Zerstörungen von Öko-     nach dem Transparenz, Beteiligung und
systemen in der Region, die mit der Aus-     Zugang zu Rechtswegen für Bürger gelten
beutung natürlicher Ressourcen für den       soll, die von Umweltproblemen betroffen
Umweltrechte und Rohstoffkonflikte in Lateinamerika
Karte 1

                     sind. Es wurde nach zähen, vier Jahre dau-       wird angeführt, die Länder könnten bei
                     ernden Verhandlungen von 24 Staaten der          Geltung des Abkommens nicht mehr eigen-
                     Region im Jahr 2018 unterzeichnet. Der im        ständig über die Nutzung ihrer Gebiete
                     September 2018 angelaufene Ratifizierungs-       bestimmen. Einige Parlamente wie jene in
                     prozess gestaltet sich gleichermaßen             Peru und Paraguay haben das Thema dar-
                     schwierig.                                       um wieder von der Tagesordnung genom-
                         Zwar wurde mit der Ratifizierung durch       men. In anderen Ländern wiederum, darun-
                     Mexiko nun die Mindestzahl der Ratifikatio-      ter Kolumbien, sind Ratifizierungsprozesse
                     nen erreicht, die für das Inkrafttreten des      eingeleitet worden, so dass mit weiteren
                     Abkommens im Jahr 2021 erforderlich ist.         Beitritten gerechnet werden kann.
                     Doch haben sich wichtige Länder wie Bra-
                     silien, Chile, Peru und Venezuela, die im
                     Rohstoffabbau und -export aktiv sind, noch       Die vier Pfeiler des
                     nicht zu diesem Schritt entschließen kön-        Escazú-Abkommens
                     nen. Vielmehr artikuliert sich dort – vor
                     allem von Sektoren aus der Wirtschaft –          Mit dem Abkommen wird ein gemeinsamer
                     massiver Widerstand gegen die Reichweite         regionaler Rechtsrahmen geschaffen, in
                     der Regelungen, die als Eingriff in die natio-   dem vier Elemente zusammengeführt wer-
                     nale Souveränität angesehen werden. So           den, die neue Formen nachhaltiger Ent-

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Umweltrechte und Rohstoffkonflikte in Lateinamerika
wicklung in Lateinamerika ermöglichen          von Unternehmen: So sollen öffentliche
sollen: Zugang zu Umweltinformationen,         und private Unternehmen (insbesondere
Partizipationsrechte, Klagerechte der von      Großunternehmen) Nachhaltigkeitsberichte
Ressourcenausbeutung betroffenen Bürger        erstellen, um ihre soziale und ökologische
sowie Schutzmechanismen für Umwelt-            Bilanz offenzulegen.
aktivisten. Insoweit werden die Prinzipien        Die Realität ist davon weit entfernt: Viel-
Vorbeugung, Vorsorge und Monitoring            fach werden Lagerstätten erkundet und
durch Umwelt- und Sozialverträglichkeits-      erschlossen, ohne dass die dort angesiedelte
studien sowie Schadensausgleich mit Rechts-    Bevölkerung einbezogen oder befragt wird.
wegegarantien verbunden. Dabei soll das        Gegen grundlegende Transparenzgebote
Abkommen präventiv wirken und konkret          wird auch bei der Aufklärung über Umwelt-
die Eskalation sozio-ökologischer Konflikte    belastungen, Langzeitfolgen und Emissionen
zum Ausbruch offener Gewalt verhindern.        verstoßen, die Möglichkeit der Beschwerde
   Das Escazú-Abkommen ist das weltweit        zudem systematisch unterlaufen. Letztlich
erste Dokument, das Verfahrensgarantien        geht es daher um die Transformation sozio-
zum Schutz von Aktivisten festschreibt, die    ökologischer Konflikte insbesondere mit
sich für die Bewahrung natürlicher Ressour-    dem Ziel, deren gewaltförmige Austragung
cen einsetzen. Insofern geht dieses Abkom-     zu verhindern. Ein weiteres wichtiges
men auch über die europäische Aarhus-          Anliegen ist es, Umweltaktivisten vor Ein-
Konvention aus dem Jahr 1998 hinaus. Mit       schüchterung und Anfeindungen ebenso
der Verleihung individueller Rechte auf        zu schützen wie vor Gefährdungen für Leib
Information, Beteiligung und Rechtsschutz      und Leben.
erweitert Lateinamerika zugleich die Mög-
lichkeiten, sowohl internationale als auch
nationale Umweltstandards nachhaltiger         Sozio-ökologische Konflikte
umzusetzen.
   Die im Abkommen vorgesehenen Betei-         Seit Beginn des neuen Jahrhunderts regis-
ligungsformate werden als Mittel zur Kon-      trieren (zivilgesellschaftliche) Organisatio-
fliktverhütung und zur Einhaltung der          nen und Wissenschaftler einen Anstieg an
grundlegenden Menschenrechte verstan-          Land- und Umweltkonflikten in Lateiname-
den, wie sie etwa bereits in Konvention 169    rika – anfangs vor allem in den Anden-
der Internationalen Arbeitsorganisation        ländern, spätestens von den 2010er Jahren
(ILO; kurz: ILO 169) zum Schutz der indi-      an in ausnahmslos allen lateinamerika-
genen Völker enthalten sind. Auf diese         nischen Staaten. Der Environmental Justice
Weise sollen regionale Mindeststandards        Atlas verzeichnet für Lateinamerika die welt-
festgelegt werden: Jeder Staat muss die for-   weit höchste Zahl an Umweltkonflikten.
mulierten Normen annehmen, um die Aus-            Unter sozio-ökologischen Konflikten
übung der genannten Rechte zu gewähr-          wird die Mobilisierung meist lokaler Ge-
leisten. Die Standards sind dadurch zu         meinden oder zivilgesellschaftlicher Orga-
erreichen, dass die Staaten Maßnahmen          nisationen verstanden, die sich gegen wirt-
umsetzen, die ihre nationalen Institutionen    schaftliche Aktivitäten richten, deren Fol-
verbessern; außerdem müssen sie Mecha-         gen für die Umwelt ein Schlüsselelement
nismen zur Verwaltung ihrer Informatio-        ihrer Beschwerden sind. Typische Aus-
nen schaffen und Entscheidungsverfahren        drucksformen sind Protestmärsche, Land-
optimieren, die interkulturelle und ge-        besetzungen, Straßenblockaden oder Hun-
schlechtsspezifische Ansätze einbeziehen.      gerstreiks. Der Begriff Umweltkonflikt wird
Insbesondere verpflichten sich die Unter-      hier meist synonym mit dem Begriff sozio-
zeichner, die Rechtspflege mit dem Ziel zu     ökologischer Konflikt verwendet.
stärken, Umweltschäden zu verhüten und            Auch wenn aufgrund von Einschränkun-
den Umweltrechten Beachtung zu verschaf-       gen bei der Berichterstattung und im Moni-
fen. Bedeutsam ist dabei die Einbeziehung      toring mit einer nicht zu vernachlässigen-

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Grafik 1

                den Dunkelziffer in anderen Regionen der        Gefahren für Verteidiger von
                Welt gerechnet werden muss, lassen die Zah-     Land- und Umweltrechten
                len auf eine erhöhte Konfliktivität in vielen
                Ländern der Amerikas schließen. Der Berg-       Diejenigen, die sich für Land- und Umwelt-
                bausektor erweist sich dabei als besonders      rechte in Lateinamerika einsetzen, sind die
                konflikthaft. Über 40% der Umweltkonflik-       am stärksten von derlei Konflikten betrof-
                te in den zehn konfliktreichsten Ländern        fene Akteursgruppe. Sie bewegen sich in
                des Kontinents sind mit dem Abbau von           Lateinamerika »On Dangerous Grounds«,
                Mineralien verbunden (vgl. Grafik). Darüber     wie es im Titel des Berichts von Global Wit-
                hinaus weisen Quellen Gewalteskalationen        ness über das Jahr 2015 heißt. In derselben
                auch in anderen Sektoren nach, etwa in der      Ausgabe spricht die internationale Nicht-
                Energieproduktion, die wegen dessen hoher       regierungsorganisation (NGO) vom tödlich-
                Energieintensität eng mit dem Bergbau ver-      sten Jahr für diese Personengruppe, seitdem
                bunden ist. Neben volkswirtschaftlichen         sie 2002 mit der Aufzeichnung entspre-
                Themen wie fehlenden Effekten auf die           chender Vorfälle begonnen hat. Doch in
                Beschäftigung im produktiven Sektor, Ab-        den darauffolgenden Jahren verzeichnete
                hängigkeit von Rohstoffpreisen auf dem          sie weitere Anstiege.
                Weltmarkt und hohen ökologischen Kosten            Unter den gefährlichsten Staaten für
                lässt sich auch eine Vielfalt gesellschaft-     Aktivisten im Land- und Umweltsektor fin-
                licher Konfliktlinien ausmachen. Kaum ein       den sich zahlreiche lateinamerikanische
                Konflikt, der aus dem Extraktivismus resul-     Länder, angeführt von Kolumbien, Brasilien
                tiert, kann als monothematisch klassifiziert    und Mexiko. Für den Bergbausektor, der
                werden. Häufig geht es um die Zerstörung        eine sehr hohe Konfliktträchtigkeit auf-
                von Lebensraum und Biodiversität, um            weist, wird auch die höchste Zahl an ermor-
                die Vertreibung oder Umsiedlung lokaler         deten Aktivisten verbucht. Die Verteidiger
                Gemeinden, aber auch um die angemessene         indigener Rechte, denen es meist um die
                Beteiligung an Einnahmen aus dem Roh-           Wahrung der Umwelt- und Territorial-
                stoffabbau und die Teilhabe an Entschei-        rechte von Indigenen geht, stehen unver-
                dungsprozessen.                                 hältnismäßig stark unter Druck. In der
                                                                Mehrzahl der Fälle gehen Drohungen oder
                                                                Angriffe auf spätere Opfer oder deren Um-
                                                                kreis den Morden voraus.

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CIVICUS, ein globales Bündnis zivil-        vador), manche haben deren grundlegende
gesellschaftlicher Organisationen und Akti-    Prinzipien auch in ihre Verfassung auf-
visten, führt in seinem jährlich erscheinen-   genommen. Von einer systematischen Um-
den Bericht die fünf häufigsten repressiven    setzung kann jedoch kaum die Rede sein.
Akte in Lateinamerika auf: Festnahme von          Ähnlich wie im Falle von Menschen-
Protestierenden, Angriffe auf Journalisten,    rechtsstandards gilt auch hier: Länder mit
Einschüchterung und exzessive Anwen-           fortschrittlichen Umwelt- und Konsulta-
dung von Gewalt gegen Demonstranten,           tionsvorschriften (etwa Brasilien oder Peru)
Festnahme von Journalisten. Hinzu kom-         kommen den Selbstverpflichtungen oft
men subtile und oft nicht direkt als Bedro-    nicht nach, die sie eingegangen sind. Für
hung wahrgenommene Formen der Ein-             die Missstände sind aber nicht nur Förder-
schränkung, etwa fehlerhafte Konsulta-         interessen verantwortlich, sondern auch
tionsverfahren, bei denen bestimmten Per-      die internationale Gemeinschaft, die bisher
sonengruppen rechtliches Gehör verweigert      keine bindenden Regelwerke erlassen hat,
wird, oder Bedrohung sowie Kooptations-        in manchen Fällen außerdem nationale
druck von Seiten der (zum Teil auch staat-     und internationale Entwicklungsbanken,
lichen) Unternehmen, um Konflikte gar          die an Infrastrukturmaßnahmen und Pro-
nicht erst aufkommen zu lassen. Die Inten-     jekten der Rohstoffausbeutung beteiligt
sität der Gewalt gegen Verteidiger von Men-    sind. Bei Verstößen oder Menschenrechts-
schenrechten darf insofern nicht nur an der    verletzungen kommt es selten zu eingehen-
Zahl der Morde gemessen werden, vielmehr       den Untersuchungen, Gerichtsprozesse oder
sind auch die vielfältigen nicht-tödlichen     Verurteilungen sind kaum zu verzeichnen.
Angriffe zu berücksichtigen.                   Diese weitgehende Straflosigkeit verstetigt
   Als Grund für die besonders hohe Ge-        die Gewaltspirale und führt zum Verlust an
fährdung der Verteidiger von Land- und         Vertrauen in die nationale Justiz. Ein brei-
Umweltrechten in Lateinamerika sind die        ter Zugang zu Informationen und die Betei-
Gewinninteressen anzusehen, die beim           ligung an Entscheidungsprozessen haben
Abbau natürlicher Ressourcen eine zentrale     dagegen das Potential, Konflikte beizulegen,
Rolle spielen. Diese können die Oberhand       bevor sie sich verschärfen.
über die Schutzpflichten gewinnen, vor
allem in einem Umfeld, in dem Korruption
grassiert, Regierungen schwach sind und        Der Widerstand gegen das
Armut herrscht. Die erwähnten Berichte         Abkommen
weisen außerdem wiederholt auf die Mit-
verantwortung von Regierungen und Unter-       Zahlreiche große Staaten, die für Latein-
nehmen hin. Kriminalisierung von Land-         amerikas Außenpolitik eine wichtige Rolle
und Umweltaktivisten und deren Straf-          spielen, weigern sich bislang, das Escazú-
verfolgung würden dazu genutzt, Proteste       Abkommen zu ratifizieren. Neben Bra-
gezielt zu unterdrücken.                       silien, dessen Regierung keinerlei entspre-
   Viele Staaten missachten das Recht          chende Neigung zeigt, zählen dazu Peru,
indigener Völker auf Konsultation, das in      das eine besonders hohe Zahl an Land- und
der oben schon genannten Konvention 169        Umweltkonflikten aufweist, sowie Chile,
der Internationalen Arbeitsorganisation        wo Umweltkonflikte seit Jahren zunehmen.
festgeschrieben ist. Staaten, die diese Kon-   Das ist umso bemerkenswerter, als Chile zu
vention unterzeichnet haben, sollen die        den Initiatoren des Abkommens gehörte.
freie, informierte und vorherige Zustim-       Doch hat es das Abkommen bislang nicht
mung Indigener zu projektierten Investitio-    einmal unterzeichnet.
nen im Rohstoffbereich sicherstellen. Die
meisten lateinamerikanischen Staaten
haben die Konvention sogar ratifiziert (Aus-
nahmen sind Uruguay, Panama und El Sal-

                                                                                              SWP-Aktuell 1
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Chile: ein radikaler Richtungs-                 mens zusätzliche Transparenzpflichten
                wechsel                                         geschaffen werden und sich vor allem
                                                                deren Umsetzung im Sinne regionaler
                Chile hatte eine Führungsrolle bei den Vor-     Standards überwachen lässt.
                bereitungen und Verhandlungen des Escazú-          Chile hatte im Dezember 2019 den Vor-
                Abkommens. Nach etwa zwei Jahren Vor-           sitz der UN-Klimakonferenz (kurz COP25).
                bereitungszeit kam es im November 2014 in       In diesem Zusammenhang erwarteten viele
                seiner Hauptstadt zu der »Entscheidung von      chilenische zivilgesellschaftliche Organisa-
                Santiago«, das vorbereitete Dokument zu ver-    tionen, die sich für Umwelt- und Menschen-
                abschieden. Chile wurde dabei zusammen          rechtsbelange engagieren, dass die Regie-
                mit Costa Rica die Ko-Präsidentschaft der       rung ihre Position zum Escazú-Abkommen
                anschließenden Verhandlungen zugewie-           ändert, um als Vorbild auf der internatio-
                sen. In den folgenden vier Jahren fanden        nalen Bühne auftreten zu können. Umso
                insgesamt neun Verhandlungsrunden statt.        größer war die Enttäuschung über die vehe-
                   Zum Umschwung kam es wenige Tage vor         mente Weigerung, das Abkommen zu un-
                Verabschiedung des endgültigen Textes An-       terzeichnen, und über die schwache Füh-
                fang Oktober 2018. Maßgeblichen Einfluss        rungsrolle Chiles in der COP25, die in San-
                darauf hatte wohl auch das Ergebnis der Prä-    tiago de Chile stattfinden sollte, als Folge
                sidentschaftswahlen 2017, das einen Wech-       sozialer Proteste im Land aber nach Madrid
                sel von der Mitte-Links-Regierung unter Prä-    verlegt wurde.
                sidentin Michelle Bachelet zu einer rechts-
                konservativen Koalition unter Sebastián         Peru: Sorge um autonomes Han-
                Piñera zur Folge hatte, die wirtschaftlichen    deln bei der Rohstoffausbeutung
                Interessen größere Bedeutung beimisst.
                   Als Hauptbeweggrund für die Ablehnung        2018 gehörte Perus damalige Umweltminis-
                des Abkommens führen die amtierenden            terin Fabiola Muñoz zu den Erstunterzeich-
                chilenischen Entscheidungsträger die Sorge      nern des Escazú-Abkommens. Das Land galt
                an, dass Chile an Souveränität verlieren        daher lange Zeit als ein starker Befürworter
                könnte und die Einmischung in interne           und damit auch als Kandidat für eine
                Angelegenheiten bzw. insbesondere bi-           schnelle Ratifizierung. Diese wurde indes
                laterale Streitigkeiten (etwa mit dem Nach-     bei der parlamentarischen Behandlung des
                barland Bolivien) fürchten müsse. Zuletzt       Vertrags immer wieder aufgeschoben. Die
                argumentierte die chilenische Regierung,        finale Entscheidung, das Abkommen letz-
                die nationale Gesetzgebung enthalte bereits     tlich nicht zu ratifizieren, wurde im Okto-
                alle zentralen Regelungen des Escazú-           ber 2020 gegen das Votum des peruanischen
                Abkommens. Spezielle Gesetze für Umwelt-        Präsidenten getroffen.
                aktivisten würden diese sogar bevorteilen,
                was eine Ungleichheit verschiedener Men-
                schenrechts-Gruppen vor dem Gesetz bedin-       Die Tragfähigkeit der Kritik am
                ge. Zwar trifft es zu, dass Chile gesetzliche   Abkommen
                Regelungen in Bereichen getroffen hat, die
                auch im Abkommen berücksichtigt sind;           Ähnlich wie in Chile wird auch in Peru mit
                sie betreffen nicht zuletzt staatliche Groß-    dem Verlust von Souveränitätsrechten argu-
                unternehmen wie den Kupferkonzern               mentiert, den man durch eine mögliche
                CODELCO. Doch decken diese nationalen           Zuständigkeit internationaler Gerichte er-
                Regelungen oft nur einen Teil der Escazú-       leiden könne. Des Weiteren wurde eine un-
                Vorschläge ab oder werden allenfalls un-        verhältnismäßige Bevorzugung von NGOs
                zureichend erfüllt. Insofern geht es jenseits   gesehen, die durch die im Abkommen fest-
                der Notwendigkeit rechtlicher Anpassungen       gelegten Beteiligungsrechte eine starke
                auch darum, dass mit einem nationalen           Stimme in Beschwerdemechanismen erlan-
                Plan zur Umsetzung des Escazú-Abkom-            gen könnten. Dies berge die Gefahr, dass

SWP-Aktuell 1
Januar 2021

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solche NGOs Bergbau- und Infrastruktur-            und Sorgfaltspflichten. Sowohl in Peru mit
projekte verhindern könnten, die für die           seiner nationalen Ombudsstelle als auch in
nationale Wirtschaft wichtig sind. Gerade          Chile, etwa mit dem Nationalen Menschen-
Wirtschafts- und Industrieverbände äußer-          rechtsinstitut, gibt es bereits Einrichtungen,
ten in öffentlichen Verlautbarungen mas-           deren Aufgabe es ist, die Wahrung von
sive Bedenken. Dabei verwiesen sie auf die         Grundrechten – auch im Bergbau mit Blick
Ablehnung des Abkommens durch andere               auf Umwelt und Menschenrechte – zu
wirtschaftsstarke Länder wie Brasilien oder        beobachten und zu gewährleisten. Sie ge-
die Mitglieder der Pazifik-Allianz – beste-        nießen eine hohe Legitimität in der Bevöl-
hend aus Peru, Chile, Kolumbien und Mexiko         kerung, im Unterschied zu anderen staat-
(das das Escazú-Abkommen zu diesem Zeit-           lichen Organen. Somit verfügen beide Län-
punkt noch nicht ratifiziert hatte), die in die-   der über eine institutionelle Grundlage, die
sem Rahmen eine Freihandelszone gegrün-            es ihnen ermöglicht, die im Escazú-Abkom-
det haben. Folglich wird in Peru wird mit          men festgelegten Verpflichtungen einzu-
einem möglichen Wettbewerbsnachteil für            halten und gleichzeitig ihre Einrichtungen
das eigene Land argumentiert und sugge-            zur Konfliktprävention und -bearbeitung zu
riert, dass die genannten Staaten gute Grün-       stärken.
de hätten, die Ratifizierung abzulehnen.
   Die Argumente Chiles und Perus gegen
das Abkommen stehen auf schwachen                  Das Escazú-Abkommen und die
Füßen: In Artikel 3 der Escazú-Vereinbarun-        Verregelung internationaler
gen wird sowohl das Prinzip der ungebro-           Lieferketten
chenen Souveränität der Staaten über ihre
natürlichen Ressourcen als auch jenes der          Als regionale Vereinbarung wird das Escazú-
souveränen Gleichheit aller Mitgliedstaaten        Abkommen einheitliche länderübergreifende
bekräftigt. Dies umfasst auch die Freiheit         Standards setzen und einen Prozess in Gang
eines Staates, seine Umweltpolitik autonom         bringen, bei dem institutionelle und gesetz-
zu regeln. Die Tatsache, dass Mexiko sich          geberische Asymmetrien zwischen den ver-
zuletzt doch für eine Ratifizierung ent-           schiedenen Staaten der Region ausgeglichen
schied und dies auch in Kolumbien gesche-          werden, damit am Ende ein möglichst glei-
hen soll, entzieht dem Argument eines              ches Niveau bei den im Escazú-Abkommen
möglichen Nachteils im wirtschaftlichen            enthaltenen vier Pfeilern zu Schutz, Garan-
Wettbewerb die Grundlage. Das Abkom-               tie und Förderung der Zugangsrechte er-
men verpflichtet die Staaten dazu, ihre            reicht wird. Durch kooperative Verfahren
Politik nach den darin festgelegten Schutz-        können die beteiligten Staaten Lernerfah-
verpflichtungen zu gestalten, dies würde es        rungen und »best-practice«-Muster unter-
ihnen erleichtern, mit der internationalen         einander austauschen, was auch die Um-
Beobachtung der Einhaltung von Arbeits-            setzung bzw. Einhaltung der Standards
und Umweltstandards umzugehen. Würden              verbessern würde. Als Konkretisierung der
Chile und Peru diese Schutzverpflichtungen         UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Men-
akzeptieren, könnte sich für sie auch ein          schenrechte aus dem Jahr 2011 könnte das
Reputationsgewinn ergeben, da ihre natio-          Escazú-Abkommen zusammen mit den
nale Gesetzgebung internationalen Ansprü-          Umweltstandards der Amerikanischen Men-
chen gerecht wird. Zudem sind damit Chan-          schenrechtskonvention (1969) Synergien
cen für die Beteiligung an Programmen der          schaffen, um einen regional einheitlichen
Entwicklungszusammenarbeit verbunden, so           und verbindlichen Rahmen zum Schutz der
dass diese Pflichten besser zu erfüllen wären.     Umwelt und der Menschenrechte durch
   Darin liegt eine Chance, aber auch die          Unternehmen und Staaten zu bilden. Ent-
Herausforderung des Escazú-Abkommens               scheidend für die Wirksamkeit des Abkom-
im Kontext neuer internationaler Ansprü-           mens wird sein, wie robust die rechtlichen
che auf Einhaltung von Menschenrechten             Bestimmungen und finanziellen Vorausset-

                                                                                                    SWP-Aktuell 1
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zungen (etwa für Umweltverträglichkeits-                      umgesetzt. Gerade in Unternehmen des
                               prüfungen) angelegt werden und wie kon-                       Bergbausektors sind auf Basis geltender
                               sequent die Gerichtsbarkeit dabei agiert, die                 Vereinbarungen – etwa über Gütesiegel
                               Bestimmungen durchzusetzen.                                   wie den FairTrade-Standard bei Gold und
                                  Auch wenn Lateinamerikas verarbeitende                     Silber – auch Standard-Audit-Zertifizie-
                               Industrie nicht in großem Umfang Teil von                     rungsmodelle implementiert worden. Die
                               Lieferketten ist, so beziehen sich Regelwerke                 Verbreitung solcher freiwilliger Standards
                               wie das Escazú-Abkommen in zentraler                          für Unternehmensverantwortung sollte
                               Weise auf die umfassende Unternehmens-                        jedoch zugunsten einer größeren Kohärenz
                               verantwortung bei der Ausbeutung und                          zurückhaltend betrieben werden, was nicht
© Stiftung Wissenschaft        Verarbeitung von Rohstoffen. Die aktuellen                    zuletzt auch im unternehmerischen Inter-
und Politik, 2021              Diskussionen, die in Deutschland und Eu-                      esse liegen sollte. Bislang gelten diese Rege-
Alle Rechte vorbehalten        ropa über Lieferkettengesetze stattfinden,                    lungen oftmals nicht für Zulieferbetriebe
                               werden in der Region sehr genau wahr-                         und lokale Produktionsprozesse.
Das Aktuell gibt die Auf-
                               genommen, die Herausforderungen kritisch                         Neben der Beachtung von Arbeitsbedin-
fassung des Autors und der
Autorin wieder.                diskutiert, die sich für die daraus abzulei-                  gungen gilt das Hauptaugenmerk den Um-
                               tenden Unternehmens- und Staatenpflich-                       weltfolgen: So sind etwa bei der Kupfer-
In der Online-Version dieser   ten ergeben. Das Escazú-Abkommen greift                       ausbeutung die massive Wassernutzung,
Publikation sind Verweise      Regelungstatbestände auf, die auch in den                     der Landverbrauch, Energieeinsatz und die
auf SWP-Schriften und
                               gegenwärtigen Debatten über die Ausgestal-                    Abraumlast sowie langfristige Emissionen
wichtige Quellen anklickbar.
                               tung der Unternehmensverantwortung rele-                      in Rechnung zu stellen. All diese Faktoren
SWP-Aktuells werden intern     vant sind. Die Gesetzgeber sollten daher die                  erfasst die Kupferindustrie nun bei Minen
einem Begutachtungsverfah-     in der Region formulierten Standards (etwa                    und Hütten im Rahmen eines freiwilligen
ren, einem Faktencheck und     des Escazú-Abkommens) aufgreifen und                          Prüfprozesses, sie sollen künftig in dem
einem Lektorat unterzogen.     in ihre Überlegungen einbeziehen. Gerade                      Gütesiegel der sogenannten »Copper Mark«
Weitere Informationen
                               aus der Komplementarität internationaler,                     zusammengeführt werden. Eine solche
zur Qualitätssicherung der
SWP finden Sie auf der SWP-    regionaler und lokaler Standardsetzung                        Transparenzinitiative wie auch ergänzende
Website unter https://www.     könnte sich eine Steuerungswirkung für                        allgemeine Bergbau-Standards wie die Ini-
swp-berlin.org/ueber-uns/      das Verhalten von Unternehmen ergeben,                        tiative for Responsible Mining Assurance
qualitaetssicherung/           die über freiwillige Selbstverpflichtungen                    (IRMA) greifen jedoch deutlich kürzer als
                               hinausgeht. Wenn aber eine Vielfalt von                       die Regelungen des Escazú-Abkommens.
SWP
Stiftung Wissenschaft und
                               Regelungsansprüchen und Verpflichtungen                       Außerdem sehen sie keine Sanktionen vor,
Politik                        auf Standards entstehen sollte, die nicht                     um menschen- und umweltrechtliche Sorg-
Deutsches Institut für         aufeinander bezogen sind, wird dieser Zu-                     faltspflichten durchzusetzen und Schutz-
Internationale Politik und     stand regulativer Heterogenität das Bestre-                   verpflichtungen gerecht zu werden. Daher
Sicherheit                     ben beeinträchtigen, Menschenrechts- und                      sollten Bemühungen in Deutschland und
                               Umweltstandards größere (Be)Achtung zu                        Europa bei der Regelungstiefe des Escazú-
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin                   verschaffen.                                                  Abkommens ansetzen und darauf abzielen,
Telefon +49 30 880 07-0           Dabei wird um die Wirksamkeit freiwil-                     dessen Standards für europäische Unter-
Fax +49 30 880 07-100          liger und gesetzlicher Regelungen gestrit-                    nehmen einerseits und für die Regierungs-
www.swp-berlin.org             ten: Umfassende Standards, wie sie etwa                       zusammenarbeit andererseits verpflichtend
swp@swp-berlin.org
                               die »Initiative für Transparenz im rohstoff-                  zu machen; zugleich sollte deren Umset-
ISSN 1611-6364
                               gewinnenden Sektor« (Extractive Industries                    zung unterstützt werden. Dies könnte etwa
doi: 10.18449/2021A01          Transparency Initiative – EITI) zu setzen                     in Gestalt nationaler Aktionspläne für Men-
                               versucht, die für mehr Finanztransparenz                      schenrechte und Umwelt und die Anferti-
                               und Rechenschaftspflicht im Rohstoffsektor                    gung von Berichten zum Stand der Imple-
                               sorgen soll, werden in den Förderländern                      mentierung des Abkommens erfolgen.
                               Lateinamerikas alles andere als einheitlich

                               Prof. Dr. Günther Maihold ist Stellvertretender Direktor der SWP und Leiter des SWP-Anteils am
                               Forschungsnetzwerk Nachhaltige Globale Lieferketten.
                               Viktoria Reisch ist Forschungsassistentin im Projekt »Transnationale Governance-Ansätze für nachhaltige Rohstoff-
                               lieferketten im Andenraum und im südlichen Afrika«. Das Projekt wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche
      SWP-Aktuell 1            Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert.
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